Jahrhundertgewitter - Martin M. Falken - E-Book

Jahrhundertgewitter E-Book

Martin M. Falken

2,0

Beschreibung

Drei unterschiedliche Männer stehen vor einer großen Entscheidung in ihrem Leben. Da ist der unzufriedene Medizinstudent Lars, dem von seiner Tante angeboten wird, ihr Ferienhaus in den österreichischen Alpen zu übernehmen; da ist Sven, der die verhängnisvolle Affäre mit seinem Stiefsohn endlich beenden und bei seiner Ehefrau ein Geständnis ablegen will; und da ist Tobi, der mit seinem Verlobten Leo Hochzeitspläne schmiedet. Zunächst stehen die Männer unwissend miteinander in Verbindung. Lars und Sven tauschen sich als noch anonyme Chat-Freunde im Internet aus. Dabei berichtet Lars nicht nur davon, sein Studium abzubrechen, sondern auch von seiner neuen Liebe David. Dieser wiederum ist Leos Ex-Freund und trägt zu dessen Leidwesen Tobis Hochzeitsring ...

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Martin M. Falken

Jahrhundertgewitter

Von Martin M. Falken bisher im Himmelstürmer Verlag erschienen:

„Model zu haben ?“ ISBN print: 978-3-86361-328-0

„Schatten eines Engels“ ISBN print: 978-3-86361-281-8

„Unter Beobachtung“ ISBN print: 978-3-86361-269-6

„Zusammenstöße“ ISBN print: 978-3-86361-172-9

„Papas unterm Regenbogen“ ISBN print: N 978-3-86361-352-5

„Familie unterm Regenbogen“ ISBN print: 978-3-86361-400-3

„Nachwuchs unterm Regenbogen“ ISBN print: 978-3-86361-473-7

„Gaylos“ ISBN print: 978-3-86361-479-9

 

Alle Bücher auch als E-book

 

 

 

Himmelstürmer Verlag, Kirchenweg 12, 20099 Hamburg,

Himmelstürmer is part of Production House GmbH

www.himmelstuermer.de

E-mail: [email protected]

Originalausgabe, Juli 2016

Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des Verlages

Rechtschreibung nach Duden, 24. Auflage.

Coverfoto: dreamstime.com

Umschlaggestaltung: Olaf Welling, Grafik-Designer AGD,

Hamburg. www.olafwelling.de

E-Book-Konvertierung: Satzweiss.com Print Web Software GmbH

 

 

ISBN print 978-3-86361-561-1

ISBN epub 978-3-86361-562-8

ISBN pdf: 978-3-86361-563-5

 

Die Handlung und alle Personen sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeiten mit realen Personen wären rein zufällig.

Lars

In der Ecke des Zimmers sammelte sich ein Haufen verschmutzter Bettwäsche. Kaffeeflecken auf dem Kopfkissen, hellgelbe Flecken auf dem weißen Bettlaken und Spuren von Tomatenketchup auf der Tagesdecke. Lars war solche Anblicke gewohnt, er regte sich nicht darüber auf. Einmal Kochwäsche und schon ist alles wieder weiß, ja, durch den neuen Weichspüler dürfte es weißer als vorher sein. Insofern war es ihm gleichgültig, ob Ketchup- oder Rotweinflecken auf der Bettwäsche waren. Allerdings ekelten ihn die gebrauchten Kondome unterm Bett an. Im Flur stand neben dem Putzzeug ein Set Putzhandschuhe bereit, die er sich überstreifte, bevor er mit angewiderter Miene und spitzen Fingern die Kondome an der Öffnung packte. Nur so gewährleistete er, dass sie ihren wabernd-flüssigen Inhalt nicht verloren. Er warf sie in den Papierkorb, in dem viele Himbeerjoghurt-Becher, Taschentücher und zwei Verpackungen von gekauften Marmorkuchen lagen. Den Mülleimer sah er sich immer ganz genau an, manchmal zog er eine zerknüllte Plastikpackung heraus, um zu sehen, was die Gäste für kulinarische Vorlieben zwischen den Mahlzeiten hatten. Hier liebte er den Marmorkuchen und sie den Himbeerjoghurt. Oder andersrum, das konnte Lars nicht beurteilen. Heute zog er die Becher nicht heraus, um vielleicht noch eine andere Sorte zu finden, denn nun lagen die Kondome im nicht sauber ausgelöffelten Joghurtbecher.

Er putzte immer langsamer, während ihm sein Bewusstsein aufzwang, sich vorzustellen, wie die beiden Mittvierziger, die jeden Abend aufgebrezelt in ihrem silbernen Mercedes zum Abendessen fuhren, es miteinander trieben und danach einen Becher Joghurt zur Stärkung auslöffelten. Oder der Joghurt hatte eine andere Funktion, eine weitaus erotischere.

Er verdrängte die Fantasien, die er nicht mehr unter Kontrolle zu haben schien. Schweißtropfen fielen auf den gefliesten Boden, auf dem sich noch die Wasserspuren abzeichneten. Alle Türen und Fenster waren geschlossen, dabei heizte die mittägliche Julisonne den Raum durch die Panoramafenster besonders auf. Lars stellte den Schrubber beiseite, öffnete alle Fenster, machte Durchzug und streifte sich sein Shirt ab. In Dreiviertel-Shorts und Flipflops war es für ihn deutlich angenehmer, die Spuren der Gäste zu beseitigen. Über den Wassereimer bückend presste er den nassen Lappen aus. Das nach Citrus duftende Putzmittel kroch unter seine Fingernägel. Noch schnell feucht über die Küchenzeile wischen, verschüttetes Kaffeepulver aufkehren und schließlich das Bett neu beziehen, die frische Wäsche liegt auf der Kommode im Flur bereit.

Nachdem er alles getätigt hatte, folgte ein Kontrollblick. Reine Bettwäsche, nach Frühlingsblumen duftend, ähnlich roch es auch im Bad, das er zuerst geschrubbt hatte. Hier hatte das Ehepaar nur ein Ohrenstäbchen unter dem Klo liegengelassen. Sonst schien alles rein, die klammen Handtücher fasste Lars zusammen mit der schmutzigen Bettwäsche in die Waschmaschine.

Momente wie diese mochte er nicht, aber sie gehörten auch zum Alltag einer Ferienanlage. Die frische Alpenluft, die verschiedenen Gäste, die meistens gut gelaunt waren, weil sie ja im Urlaub waren, glichen die lästigen Putzarbeiten aus.Schon früher, während der großen Ferien, machte es ihm Spaß, bei seiner Tante auszuhelfen. Alles war besser als Schule. Vor zehn Jahren ging es seiner Tante auch noch besser, da klagte sie noch nicht über Kniegelenkschmerzen und wetterbedingtes Kopfweh, da hatte sie abends noch Schwung, lud ihren Neffen auf die Kirmes ein, saß bis nach Mitternacht mit ihm auf der Veranda, plauderte und trank ihren trockenen Rotwein aus dem Burgenland. Diese Abende mochte Lars besonders gern, er genoss die Luft, die lau wurde, nachdem die Sonne hinter den Bergen verschwand. In Salzburg, wo er mitten im Zentrum mit seinen Eltern und seinem jüngeren Bruder zusammenwohnte, waren die Nächte so stickig, dass selbst um zwei Uhr nachts ein offenes Fenster keine Brise ins Zimmer brachte, die ihn aufatmen ließ.

In den Bergen konnte Lars atmen, mit seiner Tante über alles reden. Hier machte ihm das frühe Aufstehen auch nichts aus. Oft stand er sogar in den Ferien um fünf Uhr morgens auf, setzte sich auf die Terrasse und sah auf das kleine Reihenhaus mit den fünf Ferienwohnungen. Vogelgezwitscher umgab ihn, in der Ferne krähte ein Hahn und ab sechs Uhr roch er den Duft frisch gemahlenen Kaffees, der aus dem Küchenfenster in die frische Morgenluft drang. Zu gerne wäre er bei seiner Tante eingezogen, Zimmer hatte sie ja genug.

„Frühstück, Larsi!“, rief Tante Heide mit ihrem österreichischen Akzent.

Den Spitznamen Larsi hatte er zwar nie gemocht, ihr verzieh er es aber, sogar jetzt mit fast 22 Jahren durfte sie ihn so nennen. Jeden Morgen frühstückten sie zusammen, mal schneller, mal in Ruhe, je nachdem wie viele Gäste sich für den heutigen Tag angekündigt hatten. Tante Heide verteilte dann die Aufgaben, sie reinigte die Ferienwohnungen und empfing die Gäste mit einem Kaffee oder bot ihnen einen Tee aus ihrem unerschöpflichen Vorrat an.

An den heißen Tagen redete sie weniger, ihre sonst so schroff-liebevolle Art verflog, wenn sie sich keuchend auf die Eckbank niederließ und ihren Unterarm an der Tischkante abstützte. „I werd‘ alt.“ Lars mochte diesen Satz nicht hören, auch heute nicht mit ihren zweiundsiebzig Jahren und ihrer faltig-ledrigen Haut.

Gedankenverloren starrte Lars vor der Ferienwohnung auf einen Zitronenfalter, der sich für einen Moment auf den Staubsauger setzte, um dann um seinen Kopf zu schwirren, bis er sich auf den von Hummeln umgebenen violetten Lavendel setzte. Den Sauger in der einen, den geleerten Putzeimer und Stiel in der anderen Hand, ging Lars über den Kiesweg zum Haus seiner Tante. Seine Devise lautete, ihr an derartig heißen Tagen so viel Arbeit wie möglich abzunehmen.

„Schon fertig?“, rief sie fragend, als sie vom offenen Küchenfenster aus ihre Geranien goss. Er wusste, dass er mittlerweile viermal schneller war als sie, sei es weil er fitter und trainierter als in seiner Schulzeit war oder weil sie sich mit zunehmendem Alter in allen Tätigkeiten verlangsamt hatte.

„Komm eini und trink mal was!“

Mit einem großen Schluck trank Lars einen halben Liter Wasser aus der Flasche. Dabei trank er so gierig, dass es über sein Kinn bis auf seine verschwitzt glänzende Brust tropfte. Immer noch die Gießkanne in ihrer Hand haltend, schaute Tante Heide zu ihrem großen Neffen auf.

„Ist was?“, fragte Lars, während er sich das Kinn mit dem Ellenbogen abwischte.

„Wenn du mal ordentlich Wasser aus einer Plastikflasche trinken kannst und dir angewöhnst, Pommes im Restaurant mit der Gabel zu essen …“

„Ich …“, unterbrach er sie, um sich zu rechtfertigen, dass er nur einmal in einem gediegeneren Restaurant die Pommes mit den Fingern angerührt hatte.

„I red!“, sagte sie schroff und zog ihre dicken Augenbrauen zusammen. Lars schwieg, sie lächelte wieder. „Also wenn du das mal kannst, dann kannst du in meine Fußstapfen treten.“

Er stellte die Flasche ab und sah sie fragend an.

„Setz dich!“, befahl sie. Mit seinem irritierten Blick ließ er sie nicht aus den Augen, als er sich auf den Holzstuhl ohne Kissen setzte.

„Machen wir es ganz förmlich.“ Sie faltete die Hände vor ihrer Kittelschürze und versuchte sich so aufrecht zu stellen wie möglich. Die kleine Person war nun beinahe auf Augenhöhe mit ihrem Neffen, obwohl sie stand und den Rücken gerade machte.

„Willst du meinen Betrieb übernehmen?“

Sven

Vier Uhr dreißig zeigte die digitale Uhr am Küchenherd an. Auf dem runden Tisch in der Mitte stand nur eine Schale mit Bananen und Äpfeln, daneben sein geleertes Rotweinglas. Wie immer war sonst alles aufgeräumt, die Herdfläche frisch poliert, der blaue Spüllappen ordentlich gefaltet neben dem Wasserhahn. Im Esszimmer tickte die Wanduhr, auf dem Tisch lag eine fleckenfreie Decke, auf der eine Vase mit gelben Rosen stand. Im Wohnzimmer, das nicht durch eine Wand vom Esszimmer getrennt war, hingen Bilder von Regine, Pascal und ihm, von Sven. Es war das fünfte Mal, dass er in dieser Nacht aufstand und durch die Wohnung schlich. Die Gegenstände schienen ihm nachts so unvertraut, so unheimlich.

Sven schaltete das Licht ein und setzte sich, zu müde, um weitere Kreise durch die Räume zu ziehen, zu gedankenverloren, um ruhig im Bett liegen zu können. Das Wälzen im Bett, die Faustschläge ins Kissen hätten Regine geweckt. Sie brauchte ihren Schlaf, da sie in den letzten Wochen angespannt war. Schuld daran war nicht ihre Arbeit als Schulsekretärin, sondern die Streitigkeiten mit Pascal. Es waren keine Wortgefechte, wie sie zwischen Mutter und Sohn vorkommen, nein, zwischen beiden herrschte zunehmend eine bittere Feindseligkeit. Sven hatte es anfangs ertragen, versuchte Regine und auch Pascal zu trösten, aber es gelang ihm nicht. Vor zwei Wochen stritten sich die beiden so arg, dass Sven Magenschmerzen bekam und aus dem Wohnzimmer floh. Lächerlich fand er den Auslöser des Streites: einen Kaffeefleck auf der Tageszeitung.

„Ich hab keine Ahnung, was ihn so aggressiv macht“, sagte Regine in der Nacht darauf zu Sven und putzte sich ihre Tränen mit einem Taschentuch ab. Sie saß auf der Bettkante, Sven ihren Rücken zugewandt. „Das ist nicht Pascal.“

Sven presste seine Lippen aufeinander, bevor er etwas sagte. „Na ja, er hat mehr als achtzehn Jahre mit dir alleine zusammengelebt. Nun bin ich seit zwei Jahren hier. Sozusagen der Eindringling in euer Mutter-Sohn-Verhältnisses.“

„Nein, nein, du bist nicht schuld. Am Anfang hat er dich abgewiesen, aber ihr habt euch schnell gut verstanden. Ich befürchte, er mag dich mittlerweile mehr als mich.“

Sven, der zugedeckt im Bett lag, richtete sich auf und nahm Regine in den Arm. „Er holt vielleicht seine Pubertät nach.“

„Kurz vorm Abitur? Ungünstiger Zeitpunkt!“

„Möglich. Du sagst doch immer, dass er nie rebellisch war, dass ihr euch nie richtig gefetzt hattet.“

„Wir waren ja voneinander abhängig. Zumindest emotional. Deshalb kann ich ihn leider auch nicht rausschmeißen, auch nicht, wenn er Geld verdienen würde.“ Sie drehte ihr verweintes Gesicht zu ihm. Ihre dunkelbraunen Augen waren rot unterlaufen, ihre Schminke verschwommen. Sie sah ihn flehend an, als ob sie Sven sagen wollte, dass er doch bitte mit Pascal reden müsste. Dabei hatte er schon mehr als einmal mit ihm gesprochen, auf eine ruhige Art und Weise, nie schreiend, denn geschrien wurde genug.

Nein, das musste ein Ende haben, er wollte nicht, dass sich Regine abends in den Schlaf weint und ertrug es auch kaum mehr, Pascals Wutausbrüche zu beobachten. Ihn erschrak es, dass Regine gestern Abend vor dem Ausschalten der Nachttischlampe gesagt hatte, dass sie mittlerweile lieber im Sekretariat als zu Hause war. Kurz vor Feierabend überkomme sie stets Übelkeit. „Pascal ist ein Vampir“, sagte sie, als Sven gestern Abend gerade eingeschlafen war. „Er saugt meine Gutmütigkeit aus. Und meine Lebensfreude.“

Sven dachte über die Worte nach.

„Aber ich liebe ihn“, setzte sie hinzu. „Ich glaube, er braucht einfach einen Freund. Zeit wär’s!“

Kommende Woche standen die Sommerferien an. Kein Urlaub war geplant oder gar gebucht, die Familie sprach nicht über die bevorstehende Zeit. Gemeinsame Ausflüge waren undenkbar. Regine aber hatte die Hoffnung, dass Pascal mit Freunden zelten ging oder ans Meer fuhr. Sie hatte ihm bereits angeboten, seine Ferien bis auf den letzten Cent zu finanzieren. Sven befürchtete, dass der Tag kommen würde, an dem Mutter oder Sohn ein Messer aus der Schublade ziehen würden. Die Frage war, wer von beiden schneller war.

Dies alles ging Sven durch den Kopf, als er in der Küche saß. Vier Uhr einundvierzig. Noch drei Stunden musste er sich mit den Gedanken quälen, die ihn nicht einschlafen ließen. Aber er hatte Angst vor seinem Gespräch mit Regine, vor den Folgen, vor dem heutigen Tag. Seine halbwachen Augen schweiften durch die Küche, er kontrollierte, ob hier ein Messer in Reichweite lag. Na soweit wird es ja nicht kommen, Regine ist ja kein Monster, sie ist meine Partnerin. Und Pascal? Schön wäre es, wenn er von all dem nichts mitbekommen würde, wenn er einfach lange schlafen würde. Er schläft samstags doch mindestens bis zehn Uhr. Oder soll ich ihn vorsichtshalber wegschicken?

Während er seinen Kopf quälte, ließ er seine Arme schlapp hängen. In allen Knochen fühlte er Müdigkeit. Mit langsamen Schritten ging er zur Couch, auf die er sich ausstreckte. Er vernahm das Ticken der Wanduhr und fiel in einen Schlaf mit wirren Traumbildern, bestehend aus einer heißen Pfanne, die auf dem Dach seines roten BMWs stand. Plötzlich spürte er etwas Feuchtes auf seiner Wange. Es waren Regines Lippen.

„Guten Morgen, du Schlafmütze!“, grüßte sie ihn. Sie sah ausgeschlafen aus, steckte aber noch in ihrem türkisfarbenen Nachthemd. Ihre langen dunkelblonden Haare trug sie offen. Sven hatte Mühe, seine verklebten Augen zu öffnen. Es war hell, Tageslicht fiel durch die Gardinen direkt auf die Wanduhr, die er anstarrte. Kurz vor zehn Uhr. Kurz vor zehn Uhr?!

„Scheiße, ich bin nochmal eingeschlafen.“ Sven stand abrupt auf und rieb sich die Augen.

„Na und? Ist doch nicht schlimm, das Frühstück steht bereit und er ist gerade aus dem Haus. Wahrscheinlich frühstückt er mit Lukas und seinen Eltern. Ist mir auch recht.“ Den Namen Pascal nahm Regine nicht mehr in den Mund, für sie war ihr Sohn seit wenigen Wochen nur noch er. Für Sven war die Situation nicht mehr zu ertragen.

„Ich hab frische Brötchen geholt und ein Ei gekocht.“ Sie verließ das Wohnzimmer. Sven wusste, dass er anders handeln musste als geplant. Jetzt gemütlich frühstücken? So gerne er morgens lange am Tisch saß, wenn er sich als Inhaber einer Gärtnerei frei nahm, heute war dazu nicht der richtige Zeitpunkt. Er wusste, dass er kaum etwas essen konnte, allerhöchstens die Watte aus dem Brötchen. Sie wird mich fragen, warum ich keinen Appetit habe. Ich werde antworten, dass es mir heute nicht gut geht, dass ich keinen Hunger habe, weil ich dich seit einem Jahr betrüge. Mit wem, wird sie fragen. Wahrheitsgemäß werde ich antworten: mit deinem Sohn.

Tobi

Den vollen Brötchenkorb schob er beiseite, als er am Küchentisch auf einem weißen Blatt anfing zu schreiben. Mit dem Füller schrieb Tobi als Titel in geschwungener Schrift Gästeliste. Leo schenkte sich schwarzen Tee nach und verdrehte seine Augen.

„Du denkst auch jeden Tag an die Hochzeit.“

„Du nicht?“, fragte Tobi. Er wusste ja selbst, dass er sich täglich damit beschäftigte, immer davon sprach, weil er alles bis ins kleinste Detail plante. Eigentlich war bereits alles gut vorbereitet. Das Restaurant war serviert, eine Drei-Mann-Band würde einige Songs covern und auch der Fotograf war bestellt.

„Gästeliste“, zischte Leo plötzlich. „Deine Eltern, dein Opa, meine Mutter, meine Schwester mit ihrem Mann. Das war’s. Da können wir keinen vergessen.“

„Irgendwie schade“, seufzte Tobi. „Ich hab mir unter meiner Hochzeit immer ein riesiges Fest vorgestellt in einem großen Saal mit ein paar hundert Gästen.“

„Dann müssen wir noch zehn Jahre sparen, auf Urlaub verzichten und zusätzlich einen Kredit aufnehmen.“

Tobi wusste, dass er auf hohem Niveau jammerte. Erst im letzten Jahr hatte er sich mit Leo ein kleines Haus in einem Berliner Vorort geleistet, natürlich mit Unterstützung der Bank und Hilfe der Eltern. Als Bibliothekar in der Universitätsbibliothek hatte Tobi einen gut bezahlten Job, während Leo als Theaterschauspieler nur sporadisch Einnahmen hatte. Seit Monaten hatte er keinen neuen Auftrag mehr, die letzte Tournee endete im Frühjahr. Er rechnete erst wieder mit neuen Engagements, wenn die Saison im Herbst wieder losgeht. Auf seine bisherige Rollenliste war er stolz. Mit Namen Mephisto oder Woyzeck konnte er sich bereits auf der Bühne austoben. In den Sommermonaten suchte er nach Synchronisationsjobs, doch in diesem Jahr fand er nichts. Vielleicht gab es diesmal bessere Bewerber.

„Du willst doch jetzt nicht noch ne Sitzordnung aufstellen?“, fragte Leo. Tobi hatte das insgeheim sogar vorgehabt, sagte aber nichts. Mit der Liste war er zufrieden.

„Es kommt doch nur darauf an, dass wir beide uns das Ja-Wort geben“, meinte Leo. „Planst du zu viel, kann auch mehr schiefgehen. Obwohl die Pannen im Nachhinein eigentlich das Schönste sind.“

„In deiner Welt vielleicht.“ Tobi wurde von jedem für einen Perfektionisten gehalten. In seinem Beruf kam es natürlich auf Gewissenhaftigkeit und Genauigkeit an. Hinter den Kulissen der Bibliothek saß er in der Katalogisierung. ISBN-Nummern konnte er zum Teil auswendig.

„Ich freue mich auf jeden Fall auf die Feier. Wozu hundert Leute einladen? Wir könnten doch ohnehin nicht mit jedem sprechen.“

„Das stimmt auch wieder.“ Tobi gab sich zufrieden. „Aber dafür muss gerade deshalb dieser Tag perfekt werden. Ich hab genaue Vorstellungen.“ Es klingelte, als er sich den Tag gerade ausmalen wollte.

„Samstagmorgen … Entweder die Zeugen Jehovas oder, was noch schlimmer wäre, deine Mutter“, bemerkte er, als Leo seinen Tee austrank und zur Wohnungstür schlürfte. Seine Mutter wohnte in der Nähe und kam meistens zum unpassendsten Zeitpunkt.

„Guten Morgen!“ Tobi hörte in der Küche ihre schrille Stimme und roch bereits ihr Parfüm, obwohl sie noch gar nicht die Schwelle überschritten hatte. „Ich hoffe, ihr habt noch nicht gefrühstückt!“ Mit großen Schritten lief sie auf ihren hochhakigen Schuhen in die Küche. „Och, ihr habt schon gefrühstückt, ihr zwei frühen Hähne!“ Sie umarmte Tobi und gab ihm einen Kuss.

Er hatte dabei ihr langes rotes Haar im Mund und räusperte sich, nachdem er ihr scharfes Parfüm eingeatmet hatte.

Sie füllte den Brötchenkorb auf. „Man kann ja auch zwei Mal frühstücken. Noch Kaffee da? Nein? Bemüht euch nicht, ich kenne mich ja aus.“ Sie begann sich selbst einen Kaffee zu kochen, öffnete Schränke, holte sich eine Tasse, startete die Maschine. Tobi kam es so vor, als würde sie sich besser auskennen als er. Kaum hatte sie sich hingesetzt, griff sie nach einem Brötchen und musterte die Gästeliste.

„Ich dachte, es soll ne kleine Feier werden. Oder wollt ihr doch groß feiern? In diesem Fall beteilige ich mich gerne an …“

„Stopp!“, rief Leo. „Wir werden im kleinsten Kreis feiern. Daran hat sich nichts geändert.“

„Ach Kinder!“ Immer wenn Sarah sie „Kinder“ nannte, verdrehte Tobi genervt seine Augen. Mit Mitte dreißig waren sie eigentlich längst aus dem Alter heraus, in dem man sie bevormundete.

„Ihr seid jetzt mehr als drei Jahre zusammen. Da erwartet man doch eine Hochzeit im großen Stil.“

„Wer erwartet das?“, fragte Tobi und zerriss die Gästeliste.

„Freunde, Nachbarn, Bekannte, Verwandte. Alle!“

„Das ist ja nicht unser Problem.“

„Ich werde euch noch eine Kirche ausfindig machen. Ich kenne einen evangelischen Pfarrer …“

„Ich bin nicht in der Kirche“, unterbrach Tobi seine künftige Schwiegermutter. „Außerdem wollen wir nur standesamtlich heiraten.“

„Keine Widerrede! Ihr werdet den Pfarrer lieben. Der hat nicht nur immer einen trockenen Spruch auf den Lippen, sondern sieht auch noch sehr gut aus. Ein Muster von einem Mann.“ Sarah schaute verträumt an die Decke.

„Als ob es darauf ankommt“, wandte Leo ein, der Tobis und sein Frühstücksgedeck abdeckte. „Der Pfarrer soll uns trauen und nicht nackt aus der Torte springen.“

„Ich hab mir auch mal einen Kostenvoranschlag für eine Feier bei diesem einen Italiener geben lassen. Falls ihr groß feiern wollt …“

„Brauchst du schon ein Hörgerät?“, fragte Leo. „Es ist alles organisiert. Von der Trauung bis zur Feier.“

Sarah legte ihre aufgeschnittenen Brötchenhälften wieder zurück in den Korb. „Wenn meine Ratschläge nicht angenommen werden … Warum bin ich eigentlich noch hier? Ich habe so viel zu tun.“ Sie griff nach ihrer Handtasche und stand auf.

„Wenn du nochmal heiratest, kannst du es ja gerne krachen lassen“, sagte Leo. „Aber bitte lass uns so feiern wie wir es für richtig halten.“

„Wie ihr mögt. Dann unterscheidet sich eure Hochzeit auch nicht von den gewöhnlichen Geburtstagsfeiern in unserer Familie. Ich dachte, eine Eheschließung sei etwas Besonderes.“ Sie sah auf ihre Armbanduhr. „Kinder, ich muss gehen! Ich muss mein Kleid aus der Reinigung holen und dann suche ich mir noch ein hübsches Kostüm für die Hochzeit aus. Es gibt da eine neue Boutique.“

„Worauf wartest du dann?“, fragte Leo.

„Apropos Kostüm. Was zieht ihr an?“

„Mein Abi-Anzug“, antwortete Tobi. „Der passt mir noch.“

Leo zuckte mit den Schultern. „Hab noch ein paar Anzüge.“

„Ihr wollt doch nicht irgendeinen beliebigen Anzug tragen, Kinder!“ Sarah klang empört. „Tobi, du kommst jetzt mit mir in die Stadt und wir suchen einen hübschen weißen Anzug für dich aus. Kommt ja gar nicht in Frage, dass ihr beide in schwarz geht. Ist doch keine Beerdigung. Na, los!“ Sie zerrte ihn am Arm vom Tisch. Tobi wehrte sich nicht, schaute nur ratlos zu Leo, der sich allerdings vor der Entschlossenheit seiner Mutter ergab. „Gut, dass ich meine Kreditkarte eingesteckt habe. Normalerweise laufe ich nicht mit meinen Karten durch Berlin, wenn ich nicht groß shoppen gehe. Aber mir sieht man auch nicht an, dass ich Geld habe.“ Sie lachte.

„Das stimmt“, erwiderte Leo. „Siehst eher einer gescheiterten Edelhure ähnlich“, setzte er leise nach. Tobi schmunzelte und war froh, dass Sarah den Kommentar ihres Sohnes nicht mitbekommen hatte, da sie gerade dabei war, vor dem Spiegel Taft in ihre Haare zu sprühen. Zum ersten Mal fielen Tobi die blassen Altersflecken auf ihren Händen auf. Sie passten nicht zum Gesicht, das um Jahre jünger wirkte, aber zentimeterweiße mit Puder und Rouge bedeckt war. „Auf geht’s!“, rief sie. Tobi zog sich gerade noch Schuhe an, bevor sie ihn erneut am Arm fasste und aus dem Haus zog. „Kann dauern! Warte nicht mit dem Essen auf deinen Tobi!“

 

Als sie in Sarahs rotem Golf saßen, spielte sie mit ihrem Schlüsselbund, an dem ein Schlumpf angebracht war. „So, bereit fürs große Hochzeitsshoppen?“

Wenn Tobi das Wort schon hörte. Warum konnte er nicht alleine in die Stadt? Warum ausgerechnet mit seiner Schwiegermutter in spe mit ihrem Drang, alles zu übertreiben und überbieten?

„Du guckst nicht auf die Preisschilder.“ Ihre Stimme klang bedrohlich. „Ich zahle auch Preise, die einem wie euch astronomisch erscheinen mögen. Denn ich hoffe, dass ihr nur einmal im Leben heiratet ... im Gegensatz zu mir.“

Tobi war es peinlich, dass Sarah so viel Geld in ihre Hochzeitsfeier investierte, vor allem gegenüber seinen Eltern. Sie konnten es sich nicht leisten, eine Finanzspritze im vierstelligen Bereich zu geben, auch wenn sie es gerne machen würden.

„Du suchst dir aus, was dir gefällt“, sagte sie. „Koste es, was es wolle!“

Lars

Meint sie das ernst? Oder ist es ein üblicher Scherz? Nein, sie sieht so entschlossen aus, ein Gesicht ohne Schmunzeln.

„Ich …“ Lars stockte und erinnerte sich an all die Ferienwochen, die er hier verbracht hatte. Würde er zusagen, müsste er sein Studium abbrechen oder ein Fernstudium beginnen. Andererseits hätte Selbstständigkeit auch etwas Verlockendes.

„Ich akzeptiere auch ein Nein“, sagte Tante Heide. „Dein Medizinstudium hat … wie sagt dein Vater immer?“

„Priorität.“

„Das meinte ich, genau.“

Sie schwiegen eine Weile, sie schaute aus dem Fenster, er folgte ihrem Blick. Auf dem Tisch der Terrasse hüpfte ein Spatz auf seinen kleinen Beinen und flog davon. Ich liebte solche Momente, mochte das Kleine wie die Vögel und die Insekten beobachten, aber auch das Große, die Bergkulisse, die Alpen, die klare Luft. Hier zu arbeiten wäre traumhaft, aber es war eben doch etwas anderes als ein medizinischer Beruf.

„Ich will dich zu nichts drängen, du musst meinen Vorschlag nicht annehmen. Lass dir Zeit, aber …“

Aber?Ich wusste, dass dieses Aber kommt! Sie setzt ihren Satz nicht fort, ich soll mir selbst das Ende schreiben.

„Hab gerade heißen Tee gekocht. Magst du a Tasserl?“, fragte sie Lars. Er spürte, dass sie jetzt keine eindeutige Antwort von ihm wollte, jetzt lenkte sie bewusst vom Thema ab.

„Tee? Bei der Hitze?“ Lars stand auf und nahm sich eine Colaflasche aus dem Kühlschrank.

Tante Heide schmunzelte. „I mach die Waschmaschine an. Geh du erstmal duschen, bevor die jungen Wiener kommen.“

Die jungen Wiener. Lars kannte sie schon, ein junges Beamtenehepaar, die ihren Urlaub schon zum dritten Mal hier machten. Er mochte sie nicht, sie kamen ihm zu spießig vor. Die alten Wiener, den Herrn Professor mit seiner Frau, fand er wesentlich sympathischer. Er war kleiner als sie, erzählte gerne Witze und trug jeden Tag Hosenträger. Die Frau fiel ihm oft dabei ins Wort und schenkte Lars, wenn er da war und seiner Tante geholfen hatte, eine Tafel weiße Schokolade. Nachdem er in den Stimmbruch gekommen war, wurde aus der Schokolade ein Zwanzig-Euro-Schein. „Bist ja jetzt a richtiges Mannsbild!“, sagte sie in einem langsamen Wienerisch. „Den i auch net mehr auf die Backen tätscheln darf.“

„Och, das dürfen Sie!“, meinte Lars.

„Weißt du, wie man mich genannt hatte, als ich so alt wie du?“, fragte der Herr Professor, seine Daumen hinter seine Hosenträger geklemmt. „Einen ganzen Kerl!“ Er lachte, aber niemand schloss sich seinem Lachen an. Lars schmunzelte aus Höflichkeit.

„Des ist net lustig!“, sagte seine Frau. „Darüber lacht koa Mensch!“

„Doch, des ist ulkig. Meine Frau hat koa Sinn für Humor.“

„Schon! Doch bloß für den deinigen nicht!“, sagte sie nun in einem Versuch, hochdeutsch zu sprechen, damit sie strenger klang.

Dieses Pärchen mochte Lars. Sie wirkten ihm so vertraut, wie Großeltern, die einen im Sommer besuchen und sich gegenseitig aufzogen. Als Lars unter die Dusche ging, dachte er immer noch über Tante Heides Frage nach. Entweder ein Leben in den Alpen mit viel Natur, meist gut gelaunten Urlaubern. Betten abziehen, Frühstück machen, kleine Reparaturen vornehmen, Blumen gießen, Rasen schneiden, Ferienwohnungen instand halten. Oder ein Leben in einer Klinik, bekleidet mit einem weißen Kittel, ausgerüstet mit Stethoskop, oftmals tragischen Patientengeschichten. Nachtschichten, Untersuchungen, Blut, Operationen am offenen Herzen, die Angst, dass der Blutdruck sinkt, der Narkotisierte unter den Händen wegstirbt. Er war sich sicher, Arzt zu werden und er wusste, worauf er sich einlässt. Er hatte natürlich noch keine solchen Erfahrungen gemacht, auch nicht im Praktikum, aber er wird Patienten sterben sehen.

Lars fühlte sich plötzlich allein gelassen mit seinen Gedanken. Er wusste, dass seine Eltern in jedem Fall für die Fortsetzung seines Medizinstudiums plädieren würden. Sie hielten nicht viel von Tante Heide, sie sei zu einfach und hatte es in ihrem Leben zu nichts gebracht. Das stimmte nicht, beharrte Lars oft, denn immerhin lebte sie von ihrer Pension und das gar nicht mal so schlecht. Nein, Lars‘ Eltern waren Akademiker, sein Vater Chirurg, seine Mutter Rechtsanwältin. Ein Hochschulabschluss war Bedingung für ein erfolgreiches Leben. Trotzdem würde er mit seinen Eltern darüber sprechen, denn insgeheim hatte er seine Entscheidung bereits getroffen. Bevor er aber mit ihnen sprach, kam ihm eine Idee …

Er ging zu Tante Heides Laptop, an dem sie ihre Buchungen verwaltete. Vor vielen Jahren hatte er ihr ein Programm eingerichtet, mit dem mit nur einem Klick ersichtlich war, welche Ferienwohnung zu welchem Zeitpunkt frei oder besetzt war. Rot war besetzt, grün war frei. Die Monate Juli bis September waren rot, erst im Dezember gab es grüne Wochen. Aus Neugier klickte er sich durch die Namen der Gäste, die in den kommenden Tagen anreisen werden, aber da war niemand dabei, den er kannte. Er schloss das Buchungssystem und ging ins Internet. Er öffnete die Liste mit den Bookmarks und meldete sich im Gay-Forum an. Seit Tagen hatte er sich nicht mehr eingeloggt. Eine ungelesene Nachricht wartete auf ihn.

„Ach, der Shaker-Boy!“, freute sich Lars, mit dem er seit Wochen abends schrieb. Er wusste wie er aussah, ein weiches Gesicht mit sanften grünen Augen und dunkelblonden Haaren, aber seinen genauen Namen kannte er immer noch nicht, er hatte auch nie danach gefragt. Shaker-Boy klang gut, es gefiel Lars. Sein Nickname lautete Sral, Lars rückwärts geschrieben. Er las die Nachricht:

 

Shaker-Boy: Hey, CSD in Köln war total cool! War ne tolle Stimmung, aber heiß … Damit meine ich nicht nur die Männer, sondern auch die Temperaturen Also wenn du mal hierherkommst, dann melde dich. Hier sind auch ein paar Bilder, in Worten kann ich das sowieso nicht beschreiben.

Lars schmunzelte. Schon immer wollte er mal nach Köln fahren, einfach mal die Stadt besichtigen, von der viele so schwärmen, der CSD war ihm dabei gar nicht so wichtig. Vielleicht im nächsten Jahr und dann treffe ich mich mit dem Shaker-Boy und erwarte einen leckeren Cocktail!

Er öffnete die Pics. Shaker-Boy mit einem unbeschwerten Lächeln, sein Kopf auf die Schulter eines Mannes gelegt, der sonnengebräunt und mit verspiegelter Brille in die Kamera lachte. Irritiert betrachtete Lars den grauen Haaransatz. Ist das sein Freund? Der ist doch viel zu alt für ihn. Bestimmt Mitte vierzig. Aber hat trotzdem eine jugendliche Ausstrahlung.

Er war verwundert, denn Shaker-Boy hatte nie erzählt, dass sein Partner um gut zwanzig Jahre älter war. Freilich fand Lars das nicht schlimm, trotzdem war er irritiert. Gerne würde er beim nächsten Chat nachhaken, aber er traute sich nicht, hielt das für indiskret. Oder er sollte selbst eine intime Story aus seinem Leben berichten, dann wären beide auf einer Augenhöhe. Im Büro wurde es immer stickiger, Zeit, endlich rauszugehen. Lars schaltete den Computer aus und setzte sich mit dem Smartphone nach draußen, steckte Kopfhörer in sein Ohr und hörte sich aktuelle Charts an. Doch kaum hatte er seine Beine ausgestreckt, fuhren die neuen Gäste auf den Besucherparkplatz. Tante Heide, jetzt mit einem Dirndl bekleidet, mit dem sie neue Gäste am liebsten empfängt, eilte durch die Haustür, stieg drei Stufen bis zur Terrasse hinunter und blickte neugierig auf die aussteigende Familie. Er war überrascht, als der Sohn ausstieg, denn er schien in seinem Alter zu sein. Er war größer als seine Eltern. In einem lässigen Look bestehend aus einem grauen Shirt, blauer kurzer Sporthose und schwarzen Vans schlürfte er mit einem verschlafenen Blick zum Kofferraum. Er griff nach seinem Rucksack und einer Reisetasche und wartete. Auf Lars machte er einen schlecht gelaunten Eindruck. So sah er morgens auch aus, wenn er nicht ausgeschlafen war.

Die Eltern wirkten ebenso lässig, aber schienen auch müde.

„Grüß Gott!“, rief Tante Heide, kaum dass der Vater das Auto abgeschlossen hatte.

„Lass sie doch erstmal ankommen“, zischte Lars und stellte sich neben seine Tante. Das Empfangskomitee war vollständig. Außerdem wollte er den jungen Mann aus der Nähe sehen, ihn begrüßen, seine Hand schütteln. Zum Glück hatte er schon geduscht, er roch selbst noch den angenehmen Pfirsichgeruch, der von seinem Duschgel ausging.

„Guten Tag! Ursula Brenner.“

„Michael Brenner!“

„David.“

Frau und Herr Brenner schüttelten Tante Heide und Lars die Hand, David aber beließ es nur bei einem kurzen Nicken, Lars hatte er nicht einmal angeschaut, der neue Gast sah nur auf den Boden, wo schwarze Ameisen herumliefen. Dabei fand Lars ihn so hübsch, glaubte, dass beide gemeinsame Interessen hätten, in den nächsten beiden Wochen vielleicht sogar etwas gemeinsam unternehmen könnten. Freunde hatte er hier nämlich keine, hier gab es für ihn nur Tante Heide, die Arbeit und die Natur. Flüchtige Bekanntschaften in Bars oder der Discothek im Ort hatte er zwar gemacht, aber ihm genügte das nicht.

Lars kannte nun den Fragekatalog seiner Tante und fokussierte sich nur auf David. Er wollte nur einen Blick, einen ganz kurzen Augenkontakt mit ihm, während Tante Heide nach der langen Fahrt und dem Wetter in Düsseldorf fragte. Und ob sie gleich auf einen Willkommenskaffee herüber kommen wollten, sie hätte eine Sachertorte gebacken. Lars musste beinahe laut auflachen, denn sie hatte gestern Abend eine Torte im Café gekauft.

Träge und immerzu auf den Boden schauend, lief David seinen Eltern Richtung Ferienwohnung hinterher, die Tante Heide ihnen bereits zuvor aufgeschlossen hatte. So ein hübscher Kerl! Und was bin ich für ihn? Nur Luft! Na ja, er wird eh nicht schwul sein. Insofern … Doch da blitzte auf Davids Rucksack ein Regenbogensticker auf. Lars nahm sich vor, bei nächster Gelegenheit in die Ferienwohnung der Familie Brenner zu gehen, um etwas mehr über David zu erfahren, ja, vielleicht ausnahmsweise sogar mal die Schränke öffnen oder das Gepäck unauffällig mustern. In Gedanken starrte Lars auf die brodelnde Kaffeemaschine, während Tante Heide mit einem Kaffeebrett fünf Gedecke auf die Veranda trug. Hoffentlich kommt David mit.

„Ich leg noch einen Apfelstrudel in die Mikrowelle. Weiß net, ob Sachertorte alleine reicht. Mir soll nicht nachgesagt werden, dass ich zu geizig bin.“ Schnell holte sie eine Packung Strudel aus dem Gefrierfach, öffnete sie und stellte das frostige Gebäck in die Mikrowelle.

„Die kommen ja schon“, rief Tante Heide mit einem Blick aus Fenster. Auch David war dabei. Die Mikrowelle klingelte.

Sven