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DANACH bin ich nach Hause gekommen.
DANACH setzen wir die Scherben unserer Herzen wieder zusammen.
DANACH finden wir, was ich verloren glaubte.
DANACH ist sie meine Madelyn.
Band 2 der LONDON IS LONELY-Reihe von SPIEGEL-Bestseller-Autorin Anna Savas
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Seitenzahl: 676
Veröffentlichungsjahr: 2025
Titel
Zu diesem Buch
Leser:innenhinweis
Widmung
Motto
Playlist
Glossar
Prolog
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
Nachricht #35
12. Kapitel
13. Kapitel
Nachricht #36
14. Kapitel
15. Kapitel
Nachricht #37
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
Nachricht #1
Nachricht #2
25. Kapitel
26. Kapitel
Nachricht #38
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
31. Kapitel
32. Kapitel
33. Kapitel
Nachricht #3
34. Kapitel
35. Kapitel
36. Kapitel
37. Kapitel
38. Kapitel
39. Kapitel
40. Kapitel
41. Kapitel
Nachricht #4
42. Kapitel
43. Kapitel
44. Kapitel
45. Kapitel
46. Kapitel
Nachricht #39
47. Kapitel
48. Kapitel
49. Kapitel
50. Kapitel
Nachricht # 5
51. Kapitel
52. Kapitel
53. Kapitel
54. Kapitel
55. Kapitel
56. Kapitel
57. Kapitel
58. Kapitel
59. Kapitel
60. Kapitel
61. Kapitel
62. Kapitel
63. Kapitel
64. Kapitel
65. Kapitel
66. Kapitel
67. Kapitel
68. Kapitel
Epilog
Nachwort
Danksagung
Die Autorin
Impressum
ANNA SAVAS
Beyond Shattered Moons
Roman
Madelyn Prince hatte immer davon geträumt, eines Tages den Verlag ihres Großvaters zu übernehmen und in seine Fußstapfen zu treten. Doch dann wurde Prince Publishing völlig überraschend an Knight Books verkauft – und Wes Knight war von einem Tag auf den anderen wieder in ihrem Leben. Ausgerechnet Wes, den sie so viele Jahre aus ihren Gedanken verbannt hatte, der sich aber völlig mühelos zurück in ihr Herz geschlichen hat. Ganz kurz war alles gut, für einen Moment war das Glück für Madelyn zum Greifen nah. Doch jetzt ist alles zerbrochen, bevor es überhaupt richtig begonnen hat. Zwischen ihr und Wes ist nichts mehr, wie es war. Die Zeit, die sie zusammen hatten, nur noch ein verblassender Traum, als hätte es nie etwas bedeutet. Madelyn verliert sich mehr denn je in ihrer Arbeit – das Einzige, was ihr noch ein Gefühl von Sicherheit geben kann. Doch dann ist da auch noch Wes‘ Bruder Adam, der plötzlich zurück in London ist und mit dem irgendwie alles begann. Adam, der Madelyn immer noch lesen kann wie ein offenes Buch, egal wie verzweifelt sie versucht, die Mauern um ihr Herz erneut zu errichten. Und allmählich muss Madelyn sich fragen, ob sie weiter in der Vergangenheit leben will oder ob es nicht Zeit wird, dem Jetzt eine Chance zu geben …
Liebe Leser:innen,
dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte.
Deshalb findet ihr hier eine Triggerwarnung.
Achtung: Diese enthält Spoiler für das gesamte Buch!
Wir wünschen uns für euch alle
das bestmögliche Leseerlebnis.
Eure Anna und euer LYX-Verlag
Für alle, die so viel fühlen, dass sie manchmal wünschten, sie könnten einfach damit aufhören, damit es nicht mehr so wehtut.
Ihr seid nicht allein.
Ihr fühlt nicht zu viel.
Ihr fühlt.
I declare after all there is no enjoyment like reading! How much sooner one tires of anything than of a book! -- When I have a house of my own, I shall be miserable if I have not an excellent library.
– Jane Austen
say don’t go (taylor’s version)(from the vault) – taylor swift
i miss you, i’m sorry – gracie abrams
i love you, i’m sorry – gracie abrams
us. (feat taylor swift) – gracie abrams, taylor swift
right where you left me (bonus track) – taylor swift
you are in love (taylor’s version) – taylor swift
everywhere, everything – noah kahan, gracie abrams
this is me trying – taylor swift
labyrinth – taylor swift
you’re losing me (from the vault) – taylor swift
guilty as sin – taylor swift
the tortured poets department – taylor swift
my boy only breaks his favorite toys – taylor swift
invisible string – taylor swift
free now – gracie abrams
stay – gracie abrams
i know it won’t work – gracie abrams
risk – gracie abrams
right now – gracie abrams
loml – taylor swift
imgonnagetyouback – taylor swift
how did it end? – taylor swift
so high school – taylor swift
mean it – gracie abrams
IMPRINT
ist im Verlagswesen eine Marke eines Verlags, die im Buchhandel wie ein eigenständiger Verlag behandelt wird, inkl. eigenem Logo, obwohl er nicht eigenständig ist. Ein Imprint ist also quasi ein Verlag innerhalb eines Verlags. Mit einem Imprint kann ein Verlag zielgruppenspezifischer auftreten, da das Verlagsprogramm so in thematische Segmente aufgeteilt werden kann. Ein Imprint kann sich also z. B. vor allem auf ein weiblich orientiertes Zielpublikum fokussieren, eine bestimmte Altersgruppe oder ein Genre, wie z. B. Liebesromane.
HERSTELLUNG
ist die Abteilung in einem Verlagshaus, die dafür sorgt, dass aus dem Manuskript tatsächlich ein Buch wird. Sie ist verantwortlich für die Planung, Koordination und Kontrolle des Herstellungsprozesses und arbeitet dafür eng mit verlagsinternen Abteilungen, wie dem Lektorat, und externen Dienstleistern, wie Satzbetrieben und Druckereien, zusammen.
SATZSPIEGEL
ist die bedruckte Fläche auf der Seite eines Buches. Der Satzspiegel kann je nach Format (Hardcover, Paperback, Taschenbuch) und auch je nach Verlag anders ausfallen. Manche Satzspiegel sind größer als andere, weil auf einer Seite mehr Zeilen untergebracht sind. Das bedingt sich unter anderem durch die grundsätzlichen Maße der Seite, aber auch durch die Schriftart, die Schriftgröße und den Zeilenabstand.
SCHMUTZTITEL
ist die erste Innenseite eines Buches und enthält in der Regel den Autor:innennamen und den Titel des Buches. Der Schmutztitel gehört zur Titelei, wird aber auf einem gesonderten Blatt dem eigentlichen Titelblatt vorangestellt.
VEREDELUNGEN
heben bei der Buchproduktion bestimmte Bereiche des Covers besonders hervor. So kann z. B. der Titel geprägt werden, also dass die Buchstaben fühlbar hervorstehen, oder bestimmte Gestaltungselemente können z. B. mit Goldfolie überzogen oder lackiert werden. Unter dem Begriff Veredelung lassen sich viele verschiedene Formen zusammenfassen. So gibt es z. B. Hoch- und Tiefprägungen, Folien- und Lackveredelung oder Stanzungen.
FARBSCHNITT
ist die Verzierung des Buchschnitts – also der drei Seiten des Buches, an denen dieses geöffnet werden kann. Früher diente ein Farbschnitt vor allem zum Schutz der Seiten vor Verschmutzungen, heute wird ein Buch vor allem mit einem Farbschnitt verziert, weil es sehr hübsch aussieht.
BUCHBLOCK
sind die miteinander verbundenen Blätter oder Bogen eines Buches ohne die Buchdecke. Stell dir vor, du entfernst bei einem Buch den äußeren Umschlag: übrig bleibt nur noch etwas, das aussieht wie ein Block – der Buchblock.
BUCHDECKE
bezeichnet den Teil des Buches, der den Buchblock umfasst. Bei Hardcovern ist das die dicke Pappe, die meist noch durch einen Schutzumschlag geschützt wird, bei Paperbacks ist das etwas dünnere Pappe. Die Buchdecke besteht aus drei Teilen: die Rückseite, auf der meistens der Klappentext steht, die Vorderseite mit dem Cover – bei Hardcovern, die einen Schutzumschlag haben, gibt es manchmal noch eine andere Gestaltung – und der Buchrücken.
BUCHRÜCKEN
ist der Teil des Bucheinbandes, der die beiden Buchdeckel verbindet. Auf dem steht immer auch der Autor:innenname und der Titel. Es ist der Teil des Buches, den man im Regal als Erstes sieht (außer ihr stellt das Buch mit dem Cover oder dem Farbschnitt nach vorn ins Regal).
KAPITALBÄNDCHEN
ist das kleine, farbige Bändchen, das bei Hardcovern an der Ober- und Unterkante des Buchrückens angeklebt ist.
VOR- UND NACHSATZ
sind die (meist) bunten oder mit Illustrationen verschönerten Seiten, wenn man ein Hardcover aufklappt. Diese Seiten werden benötigt, um den Buchblock mit der Buchdecke zu verbinden.
FADENHEFTUNG
ist ein Bindeverfahren, bei dem die Bogen (vereinfacht gesagt: die Seiten) eines Buches vernäht werden. Die Fadenheftung wird bei Hardcovern genutzt und sorgt für ein besseres Aufschlagverhalten.
KLEBEBINDUNG
ist ein Bindeverfahren, bei dem die Seiten eines Buches mit dem Buchrücken verbunden werden.
Vergangenheit
17 Jahre alt
Ich glaube, das erste Gefühl, an das ich mich ganz bewusst erinnere, war Wut. Das zweite Einsamkeit. Ich weiß nicht, warum. Es ergibt keinen Sinn. Es gab nie einen Grund, wegen irgendwas auf irgendjemanden wütend zu sein. Allein war ich auch nie, außer wenn ich mich selbst dafür entschieden habe. Meine Eltern waren immer da, mein Bruder auch.
Aber nicht allein zu sein bedeutet eben nicht, nicht einsam zu sein. Und manchmal braucht man nur einen Menschen, der einem dabei hilft, ein bisschen oder sehr viel weniger einsam zu sein, um den Unterschied zu verstehen.
Für mich war dieser Mensch vom ersten Augenblick an Madelyn Prince. Ist sie immer noch.
Madelyn.
Meine beste Freundin.
Sie ist der erste Mensch, von dem ich mich wirklich verstanden gefühlt habe. Gesehen.
Und ich hätte nie gedacht, dass ich ihretwegen mal so wütend sein würde, dass es mich innerlich auffrisst. Oder dass sie irgendwann mal wütend auf mich sein würde.
So sind wir nicht. Waren wir nie.
Und doch stehen wir jetzt hier, am ersten Tag der Sommerferien, in meinem Zimmer im Internat, beide bebend vor Zorn.
Du weißt, dass sie Gefühle für dich hat.
Ein Satz, leider waren da noch mehr. Sätze, die aus mir herausgeplatzt sind, aus meinem Mund, meinem Herzen. Sätze, die nicht für Madelyns Ohren bestimmt waren. Nur für Wes’. Nur für meinen Bruder. Damit er aufhört, mit ihr zu spielen. Damit er aufhört, ihr wehzutun. Jeden einzelnen verdammten Tag, an dem er sich für Hailey entscheidet und Madelyn trotzdem zu nah an sich heranlässt.
Damit er aufhört, mir wehzutun.
Weil es beschissen unerträglich ist zu sehen, was sie für ihn empfindet.
Und was sie nicht für mich empfindet.
Leider hat Madelyn gehört, was sie nie hätte hören sollen.
Ich wusste es schon, als ich ihr die Tür geöffnet habe. Ich wusste es, obwohl sie gelächelt hat. Lächeln, Maske, den Schein wahren. Ich kenne sie. Und ich habe das zornige Glitzern in ihren grünen Augen sofort bemerkt.
Wes nicht. Er glaubt, sie hat nichts mitgekriegt. Jedenfalls lässt sein Verhalten, so wie er mit einem unbeschwerten Lachen mein Zimmer verlassen hat, darauf schließen. Gerade eben erst. Oder ist es doch schon länger her?
Wie viel Zeit ist vergangen, seit Wes abgehauen ist und Madelyn und mich allein gelassen hat? Dreißig Sekunden, fünf Minuten, eine Stunde?
Keine Ahnung.
Ich weiß nur, dass mein Herz zu schnell schlägt, so viel zu schnell, dass ich das Blut in meinen Ohren pulsieren höre. Dass der Knoten in meinem Bauch sich mit jeder Sekunde fester zuzieht, dass sich die Wut, die durch meinen Körper jagt, nicht gegen sie richtet. Nein, sie trägt keine Schuld.
Und trotzdem fühlt es sich nur ihretwegen so an, als würde sie mich auffressen. Diese verfickte Wut, gegen die ich nicht ankomme. Niemals.
Sie ist immer da, laut und brüllend, ein Sturm in meinem Inneren, den ich nicht kontrollieren kann. Ein Sturm, der normalerweise nur leiser wird, wenn Madelyn da ist. Aber nicht heute.
Heute habe ich es versaut. Ich habe es dermaßen versaut, dass ich keine Ahnung habe, wie ich das jemals wieder in Ordnung bringen soll.
Es tut mir leid.
Verzeih mir.
Ich will mich entschuldigen, sie anflehen, mir nicht böse zu sein, aber ich bringe keinen Ton heraus. Der bittere Geschmack von Eifersucht macht meine Zunge schwer. Denn wenn sie die Wahl hätte, würde sie ihn wählen. Immer ihn.
Madelyn findet als Erste ihre Sprache wieder.
»Wie konntest du nur?« Vier Wörter, sie fallen bleischwer zwischen uns auf den Boden. Ja, wie konnte ich nur? »Warum hast du das getan?«
Ich öffne den Mund. Weil ich in dich verliebt bin. Sechs Wörter, ich schlucke sie wieder herunter, bringe es einfach nicht fertig, sie auszusprechen und damit alles noch viel schlimmer zu machen.
»Ich habe dir vertraut! Scheiße, Adam, du bist der Einzige, dem ich vertraue, und du verrätst mich an deinen Bruder?« Ich zucke zusammen. Verrat. Das war es wohl wirklich. Fuck. »Warum hast du ihm das alles gesagt? Ehrlich, warum?«
Ich gebe keinen Ton von mir, ich kann nicht, weiß nicht, was ich erwidern soll. Das Rauschen in meinen Ohren wird lauter, mein Puls schneller. Ein schmerzhaftes Hämmern meines Herzens gegen meine Rippen. Mir schnürt sich die Kehle zu, ich kriege keine Luft, atme Hitze ein und Asche wieder aus. Ich verbrenne an meiner eigenen Wut.
Wut, die ich nicht verstehe, die keinen Sinn ergibt und die ich trotzdem nie loswerde.
Madelyn hat was Besseres verdient.
Noch etwas, das ich zu Wes gesagt habe. Und das hat sie. Sie hat wirklich was Besseres verdient. Etwas Besseres als ihn. Und etwas sehr viel Besseres als mich.
»Verdammt, Adam, antworte wenigstens!« Madelyn macht einen Schritt auf mich zu, geballte Fäuste, glänzende Augen. Sie zittert am ganzen Körper, ihre Unterlippe bebt, ihre Stimme wackelt, sie fängt gleich an zu weinen.
Meinetwegen.
Weil ich es immer versaue.
Ich habe ihr wehgetan, und die einzige Ausrede, die ich habe, ist, dass ich sie beschützen wollte. Aber das wäre nicht die ganze Wahrheit. In Wahrheit bin ich einfach nur egoistisch. Eifersüchtig. Ein beschissener Mistkerl.
Sie hat was Besseres verdient.
Also schweige ich.
»Du redest nicht mehr mit mir? Toll, ganz toll! Du bist so ein Arschloch!« Ihre Stimme bricht, mein Herz auch.
Ich muss etwas sagen, ich muss reagieren, aber ich kann nicht denken. Ich kann einfach nicht mehr denken. Mein Kopf ist leer, ich bin leer, da ist nur noch diese unerträgliche Wut in mir. Wut, gegen die ich schon mein ganzes Leben lang ankämpfe, weil sie mich immer, immer, immer wieder dazu drängt, zu zerstören, was und wen ich liebe.
Bei Madelyn war ich stärker. Bis jetzt.
Mein Körper reagiert, bevor mein Verstand sich fangen, bevor ich kämpfen kann.
Ich dränge mich an ihr vorbei und laufe weg. Ich laufe davon, vor ihr und dieser Wut und all den anderen verfickten Gefühlen, die ich nicht fühlen will und gegen die ich doch seit Wochen, Monaten, Jahren nicht ankomme.
Ich laufe weg, weil es das Einzige ist, was ich tun kann.
Vielleicht ist es besser so. Vielleicht sollte ich sie gehen lassen. Weil sie wirklich was Besseres verdient hat.
Gegenwart
Madelyn, 23 – Adam, 23
Wes wirkt unfassbar jung, wie er da in seinem Krankenhausbett liegt. Eingefallene Wangen, dunkle Schatten unter den Augen. Seine Haare sind auf einer Seite nicht besonders gleichmäßig rasiert worden. Wo früher dunkle Locken waren, sitzt jetzt ein dicker weißer Verband, unter dem sich eine dunkle Naht über seinen Schädel zieht. Ich sehe sie zwar nicht, aber ich weiß, dass sie da ist.
Das wird eine richtig hässliche Narbe.
Der Gedanke zuckt durch meinen Kopf, ohne dass ich etwas dagegen unternehmen kann. Es ist der dümmste Gedanke der Welt. Ist doch scheißegal, ob eine Narbe zurückbleiben wird, ein Andenken, das er nie vergessen kann. Er muss wieder gesund werden. Das ist das einzig Wichtige. Alles andere spielt jetzt keine Rolle.
Ich hebe eine Hand an meine Stirn, meine Fingerspitzen fahren kurz über die Narbe, die meine Braue durchzieht. Selbst schuld. Ich habe Scheiße gebaut, und davon ist nicht viel mehr übrig geblieben als dieses winzige Ding über meinem Auge und eine leicht schiefe Nase.
Wes hat nichts falsch gemacht in diesem Moment auf der Straße, und trotzdem liegt er jetzt in diesem Bett und niemand weiß, wie es weitergeht.
Es ist absurd, wie sehr sich die Geschichte wiederholt und wie anders sie trotzdem ist.
Ich habe damals eine Entscheidung getroffen, Wes hat nur für den Bruchteil einer Sekunde nicht aufgepasst.
Das war’s.
Und trotzdem hatte ich mehr Glück als er.
Das ist alles so verdammt falsch. Nichts von dem, was gestern passiert ist, hätte passieren dürfen. Wirklich absolut gar nichts.
Es war nicht schwierig, einen Arzt aufzutreiben, der mich über alles informiert hat, nachdem ich erst mit Widerwillen, dann mit Nachdruck darauf bestanden habe, irgendjemanden zu sprechen.
Ich habe in den letzten Jahren fast vergessen, wie viel Macht der Name Knight besitzt. In Edinburgh ist es egal, wer ich bin. Hier nicht.
Fünf Minuten später kam eine Ärztin mit kurzen grauen Haaren zu mir. Sie hat sich als Dr. White vorgestellt und mir kurz und knapp und sichtlich in Eile erklärt, was passiert ist und wie es Wes geht. Nicht gut. Das ist die Quintessenz des Ganzen. Sie hat mehr gesagt, da war viel Mitgefühl trotz ihrer Eile, daneben harte Fakten und viele komplizierte Wörter, von denen ich die Hälfte nicht verstanden habe. Vielleicht habe ich auch nicht richtig zugehört. Das Einzige, was wirklich hängen blieb, ist, dass wir warten müssen. Darauf, dass sie ihn wieder aus dem künstlichen Koma holen können und er aufwacht. Es kann Tage dauern oder länger. Länger wäre schlecht, das wäre mir auch ohne ihren vielsagenden Blick bewusst gewesen.
Jetzt bin ich allein in diesem lächerlich großen Zimmer, das keine Krankenversicherung der Welt bezahlen würde. Jedenfalls nicht für Normalsterbliche.
Aber Wes ist auch nicht normal, dafür gerade erschreckend sterblich.
Mein Herz setzt einen dumpfen Schlag aus.
Ich fühle mich wie betäubt, seit Lydia mich angerufen hat. Wie viele Stunden sind seitdem vergangen? Neun? Keine Ahnung, ist auch echt egal. Ich musste ihre Nachricht dreimal abhören, bis ich tatsächlich verstanden habe, zu welchem Krankenhaus ich fahren muss.
Jetzt bin ich hier und sie ist … weg. Lydia und Steven waren nirgendwo zu sehen, als ich zu Wes’ Zimmer gebracht wurde.
Sie dürfen für ein paar Minuten rein, aber wirklich nicht lange. Ihr Bruder braucht viel Ruhe.
Wes sieht eher aus, als bräuchte er ein kleines, sehr großes Wunder.
Es fällt mir schwer, den Mann, der da nur ein paar wenige Meter von mir entfernt in diesem Bett liegt, mit dem Wes in Einklang zu bringen, der gestern erst in der Buchhandlung stand, in der ich arbeite. Gestern war er wütend, heute ist er … kaum noch am Leben.
Ich balle die Hände zu Fäusten, meine Fingernägel graben sich schmerzhaft fest in meine Haut, als mein Herz noch einen Schlag aussetzt, nicht mehr dumpf, sondern ziemlich hart, nur um dann viel zu schnell weiterzuschlagen. Rasender Puls, rasende Wut.
In meinen Ohren rauscht es, in meinem Bauch verknotet sich die Wut zu einem kaum lösbaren Chaos. Sie ist so vertraut wie kaum etwas anderes. Diese Wut, die mich schon mein ganzes Leben lang begleitet und die ich nicht immer verstehe. Jetzt schon.
Weil Wes da liegt und niemand sagen kann, wie es weitergeht. Ich bin wütend, weil ich mich so hilflos fühle wie noch nie.
Wage es ja nicht, zu sterben. So leicht kommst du aus der Nummer nicht raus, verstanden? Du wirst nicht sterben, bevor wir unseren Scheiß in Ordnung gebracht haben. Wage es ja nicht, sonst bringe ich dich eigenhändig um.
Die Stimme in meinem Kopf ist sehr laut, ich bin sehr leise, während ich Wes anstarre. Kein Blinzeln, nur ein stummes Starren mit dem Geschmack von Blut auf der Zunge, weil ich mir so fest auf die Unterlippe beiße. Um stumm zu bleiben.
Wehe, du stirbst.
Meine Augen brennen, ich rede mir ein, es läge daran, dass ich seit vierundzwanzig Stunden nicht geschlafen habe, daran, dass ich tatsächlich nicht blinzle. Aber das ist es nicht. Nicht wirklich.
Das Rauschen in meinen Ohren wird lauter, die Wut drängt weiter nach oben, brennt wie Säure in meiner Kehle, will ausbrechen.
Wage es ja nicht, zu sterben.
Wehe, du …
»Adam?«
Der Gedanke verblasst, als jemand hinter mir meinen Namen sagt. Die Stimme ist immer noch vertraut, auch wenn ich sie seit sechs Jahren nicht gehört habe.
Nein, das stimmt nicht. Das letzte Mal ist neun Stunden her. Zehn vielleicht.
Fuck.
Nicht jetzt. Überhaupt nicht. Niemals wäre eine gute Option.
Leider ist Niemals keine Option. Jetzt dafür umso mehr.
Meine Schultern sind verkrampft, als ich mich umdrehe und zum ersten Mal seit sechs langen, viel zu kurzen Jahren, Lydia Knight gegenüberstehe. Sie sieht anders aus als früher, älter, aber das könnte auch an den dunklen Schatten unter ihren Augen liegen. Ihre Haare sind noch so blond wie damals, heute nicht ordentlich gestylt, sondern einfach nur zu einem hohen Zopf zusammengebunden. Der Anblick ist ungewohnt. Genauso ungewohnt wie ihr Outfit. Stoffhose und ein Pullover, der ziemlich sicher Steven gehört. Er ist ihr viel zu groß, schlackert um ihre schlanke Gestalt. Sie ist am Boden zerstört, dafür muss ich gar nicht erst in ihre hellblauen Augen schauen. Sie schwimmen in Tränen.
»Du bist hier«, bringt sie erstickt hervor. Ihre Mundwinkel heben sich zu einem zittrigen Lächeln, sie kommt auf mich zu und breitet die Arme aus, um mich zu umarmen.
Ich weiche aus. Weiche drei Schritte zurück, mehr Abstand als nötig, aber sie muss es verstehen.
Ihr Lächeln zerfällt, eine Träne löst sich aus ihrem Augenwinkel, rollt über ihre Wange. Sie wischt sie nicht weg, sie will, dass ich sie sehe. Dass ich ein schlechtes Gewissen bekomme.
Keine Chance.
»Ich bin seinetwegen hier«, sage ich kühl, betone das vorletzte Wort und sehe dabei zu, wie die Kugel trifft.
Lydia zuckt zusammen, was hat sie bitte erwartet?
Dass der Unfall alles auslöscht, was vorgefallen ist? Dass ich einfach so in den Schoß meiner verlogenen Familie zurückkehre und ihnen ihre Lügen verzeihe? Nein, nicht einfach so. Nichts an der Situation ist einfach. Absolut gar nichts.
Trotzdem kann sie nicht ernsthaft davon ausgegangen sein, dass ich so tue, als wäre nichts gewesen. Dass ich mich von ihr in die Arme ziehen lasse, als wäre ich immer noch der kleine Junge mit den Albträumen, die er nicht zuordnen kann und die sich zu sehr nach Realität angefühlt haben. Sie hat sie mir ausgeredet, die Wahrheit in den Bildern, bis ich ihr irgendwann geglaubt habe.
Und dann sind Wahrheit und Realität mit jahrelangen Lügen kollidiert und das Kartenhaus meiner Identität ist krachend in sich zusammengefallen.
»Natürlich bist du das.« Lydia gestikuliert mit flattrigen Händen und zittriger Stimme in Wes’ Richtung, ihr Blick zuckt hin und her, landet ganz kurz wieder auf mir. »Ich bin nur so froh, dass du da bist …«
Ich lasse sie nicht ausreden, sondern schiebe mich wortlos an ihr vorbei in den Flur. Ich verlasse Wes’ Zimmer, ohne einen Blick zurückzuwerfen. Ich kann ihn nicht ansehen.
Wehe, du stirbst.
»Adam, warte.« Lydia folgt mir mit hastigen Schritten. Die Absätze ihrer Schuhe klappern auf dem abgrundtief hässlichen Linoleumboden.
Ich unterdrücke ein Seufzen und bleibe stehen, weil sie mir bis zum Parkplatz hinterherlaufen würde, wenn ich sie ignoriere.
»Was?«, zische ich gepresst. Ich habe keine Nerven, mit ihr zu reden. Ich will nichts von dem hören, was sie mir zu sagen hat. Ich möchte sie auch nicht fragen, wo sie war, als ich angekommen bin. Wo Steven ist. Warum sie nicht beide an Wes’ Seite ausharren, bis er aus dem künstlichen Koma geholt wird.
Ich will nichts davon wissen, nur von hier verschwinden. Schlafen. Aufhören zu denken, und vor allem aufhören zu fühlen.
In mir brodelt es, da ist noch mehr als diese vertraute Wut, und es ist nur eine Frage der Zeit, bis alles aus mir rausbricht, bis ich die Kontrolle verliere, weil der Punkt immer irgendwann erreicht ist, wenn ich nicht aufpasse. Und wenn alles zu viel ist.
Aber Lydia ist egal, was ich will. Es war ihr damals schon egal, und das hat sich in den letzten Jahren offensichtlich nicht geändert.
»Was hast du jetzt vor? Willst du direkt wieder verschwinden? Gehst du sofort wieder?« Die Verzweiflung in ihrer Stimme ist unüberhörbar.
In einem anderen Leben hätte ich ihr sofort widersprochen. Ich hätte sie umarmt und festgehalten, beteuert, dass ich bleibe und dass alles gut wird. Aber wir stecken nun mal nicht in einem anderen Leben fest, sondern in diesem.
Trotzdem ertappe ich mich dabei, wie ich den Kopf schüttle. »Ich bleibe, bis sie Wes aus dem Koma holen und er aufwacht«, antworte ich, ohne nachzudenken.
Und was, wenn er nicht aufwacht? Nicht heute, morgen oder nächste Woche? Was ist, wenn er auch nächsten Monat nicht aufwacht? Bleibst du dann auch noch?
Mir wird schlecht. Keine Ahnung, damit werde ich mich wohl befassen, falls es jemals so weit kommen sollte. Was nicht der Fall sein wird, also sind die Fragen überflüssig. Er wird aufwachen. Schon bald.
Lydias Schultern sinken erleichtert nach unten. »Gut. Das ist gut. Ich gebe dir einen Schlüssel, damit du nach Hause kannst, duschen, dich umziehen. Dein Vater ist gerade dort, er kann dich dann wieder mit hernehmen und –«
»Ich werde nicht bei euch wohnen, Lydia«, falle ich ihr ins Wort. Auf keinen Fall werde ich bei Lydia und Steven wohnen. Das kann sie sofort wieder vergessen.
»Aber wo willst du denn dann hin?« Sie ringt die Hände, ich zucke mit den Schultern.
»Ich komme schon klar. Hab ich die letzten Jahre auch geschafft.«
»Adam, das ist nicht …«
Ich wende mich ab, bevor sie ihren Satz zu Ende bringen kann. Sie verstummt, und dieses Mal folgt sie mir nicht, als ich weitergehe. Als ich weglaufe. Weil ich das am besten kann.
Wir wollten immer nur das Beste für dich. Wir haben das für dich getan, verstehst du das nicht? Wir wollten dich immer nur beschützen.
Mein Puls beschleunigt sich, ich dränge sie zurück, die Erinnerungen und Bilder, die sich mit Lydias Stimme vor mein inneres Auge schieben wollen. Wir haben das für dich getan. Für dich. Alles nur für dich.
Keine ihrer Lügen war für mich. Nur für sie. Sie haben ihnen das Leben leichter gemacht. Mehr nicht.
Ich nehme die Treppe nach unten, durchquere die Lobby und bin schon fast draußen, als ich abrupt stehen bleibe.
Du kannst nicht gehen. Nicht jetzt. Nicht so.
Scheiße, und wie ich das kann.
Doch mein Körper gehorcht mir nicht mehr, nur zwei Schritte trennen mich von der Tür, von kaltem Londoner Nieselregen, von abgasgeschwängerter Luft und dem Rauschen der Stadt.
Ich muss einfach nur zwei verdammte Schritte machen, aber ich kann nicht.
Weil Wes bei dem Unfall nicht allein war.
Madelyn war bei ihm.
Und ich habe ihr etwas ganz Ähnliches angetan wie Lydia und Steven mir.
Ich habe nicht gelogen, nur geschwiegen, aber am Ende war das fast genauso beschissen.
Und jetzt ist sie hier im Krankenhaus, und ich kann nur daran denken, dass alles anders hätte kommen müssen. Wenn ich damals andere Entscheidungen getroffen hätte, wenn ich weniger gefühlt und mehr nachgedacht hätte, dann …
»Fuck!« Der Fluch kommt mir leise, aber heftig über die Lippen.
Madelyn war bei Wes, und ich kann nicht gehen, ohne zu wissen, wie es ihr geht. Ich wünschte, ich könnte. Ich wünschte, ich könnte mir einreden, dass sie in Ordnung ist. Dass es ihr gut geht. Besser als ihm.
Aber ich kann mich nicht selbst belügen, und ich kann nicht weglaufen.
Nicht bei ihr. Nicht schon wieder. Nicht jetzt.
Ich wirble herum und gehe zurück zur Rezeption. Die Mitarbeiterin hinter dem Tresen weiß genau, wer ich bin. Sie weiß auch, dass ich nicht zu Madelyns Familie gehöre. Sie sagt mir trotzdem, was ich wissen muss.
Ein paar Minuten später stehe ich vor einer geschlossenen Tür. Dahinter liegt das Mädchen, das mal meine beste Freundin war. Das einzige Mädchen, das ich je geliebt habe.
Und sie ist mit Wes zusammen. Vergiss das nicht, spottet eine Stimme in meinem Kopf.
Mein Kiefer mahlt, die Wut meldet sich mit einem beißenden Fauchen zurück, klettert mit scharfen Krallen an die Oberfläche. Wut, die eigentlich Eifersucht ist, schon immer war, ich weigere mich nur in der Regel, den Unterschied auch anzuerkennen.
Ich weiche einen Schritt zurück, ich kann da nicht reingehen, ich habe kein Recht dazu. Weglaufen funktioniert aber auch nicht.
Jeder Muskel in meinem Körper steht unter Strom, ich muss gehen, ich will bleiben. Nur ganz kurz, nur einen Moment, ein Blick, ein Vergewissern, dass sie in Ordnung ist. Mehr nicht, dann kann ich verschwinden, habe meine Pflicht getan. Nur ist es keine Pflicht, es war mal ein Privileg, das ich verspielt habe.
Mir wird jede Entscheidung abgenommen, als die Tür von innen geöffnet wird. Den Bruchteil einer Sekunde später begegne ich einem überraschten Blick aus hellblauen Augen. Ich blinzle, brauche einen Moment, um ihn zu erkennen. Der Mann vor mir sieht älter aus als in meiner Erinnerung, natürlich, es ist sechs Jahre her, seit ich Frederic Prince das letzte Mal gesehen habe.
»Adam?« Wieder mein Name als Frage, bei ihm klingt es jedoch anders als bei Lydia vorhin. Genauso überrascht, weniger hoffnungsvoll, aber nicht unfreundlich.
»Hi«, bringe ich hervor, zwei Buchstaben, mehr fällt mir nicht ein. Und plötzlich frage ich mich, was Madelyn ihm erzählt hat. Über mich und uns. Unsere Freundschaft und das Ende von allem.
Doch egal was Frederic vielleicht weiß, egal was er von mir hält, nichts davon spiegelt sich in seiner Miene wider. Da ist nur abgrundtiefe Erschöpfung und … Mitgefühl.
»Du willst zu Maddie«, stellt er fest. Er fragt mich nicht, wie es mir geht, sagt nichts zu Wes, und ich glaube, ich war lange niemandem für etwas so dankbar wie ihm in diesem Augenblick.
Ich nicke nur, er weiß es ja ohnehin.
»Sie schläft, aber du kannst ruhig reingehen. Weck sie nur bitte nicht.«
Mir sacken vor Erleichterung beinahe die Knie ein. »Wie …« Ich muss mich räuspern, meine Stimme gehorcht mir nicht mehr.
Aber Frederic ist auch so klar, was ich wissen muss.
»Es geht ihr so weit gut. Sie hat eine leichte Gehirnerschütterung und zwei angeknackste Rippen. Sie hatte Glück.«
Mehr Glück als Wes.
Wir denken beide dasselbe, ich bin mir sicher.
Noch ein Nicken, mir sind wirklich alle Worte abhandengekommen.
»Ich gehe Kaffee holen. Bis gleich.« Frederic legt mir eine Hand auf die Schulter, drückt zu. Zu meiner eigenen Überraschung weiche ich ihm nicht aus. Ich lasse die Berührung zu, ganz kurz nur, dann entfernt er sich mit schweren Schritten, und ich bin allein.
Die Tür steht noch einen Spaltbreit offen, ich schlüpfe in ihr Zimmer, bevor ich es mir doch noch anders überlegen kann.
Ich will sie nur kurz sehen, dann gehe ich wieder.
Nur einen Moment lang.
Madelyn in diesem Bett zu sehen, klein und erschreckend blass, treibt mir die Luft aus den Lungen. Die Mauer in meinem Inneren, der Käfig für meine Gefühle, zerfällt in kleine Stücke. Sie überrollen mich, begraben mich, und ich habe keine Chance, sie wieder wegzusperren.
Ich blinzle, und einen winzig kleinen Augenblick sehe ich nicht sie, sondern ihr früheres Ich.
Das zehnjährige Mädchen, das am ersten Schultag der fünften Klasse neben dem Pult stehen geblieben ist und sich unschlüssig umgeschaut hat, unsicher, wo sie sich hinsetzen soll. Ich sehe wieder das Buch, das sie in der Hand hält, das gleiche, das vor mir auf dem Tisch liegt. Sie ist klein und zierlich und wirkt so verloren, wie ich mich viel zu oft fühle.
Ich blinzle und bin wieder ich, dreizehn Jahre jünger, mit vor Nervosität rasendem Herzen, weil es der erste richtige Schultag am Internat ist und ich an dieser Schule niemanden außer Wes kenne. Aber Wes ist nicht hier. Ich bin allein.
Aber vielleicht bleibe ich nicht allein.
Ihr Blick findet meinen, ich glaube, ich habe noch nie so grüne Augen gesehen. Sie dreht den Kopf, sieht das Buch vor mir, und ein zaghaftes Lächeln breitet sich auf ihrem Gesicht aus. Irgendwie hoffnungsvoll, irgendwie … gefunden.
Ich ziehe den Stuhl neben meinem ein Stück zurück, eine wortlose Aufforderung.
Mein Herz macht einen aufgeregten Satz, als sie erst einen zögerlichen, dann einen entschiedenen Schritt in meine Richtung macht und sich neben mich setzt. Wir sagen kein Wort, beide nicht, aber als sie ihr Buch auf den Tisch legt, streift ihre Hand meine. Nur ganz kurz, ein Wimpernschlag, mehr ist es nicht. Aber es fühlt sich nach mehr an. Es fühlt sich an wie ein Anfang.
Ich blinzle, und unsere zehnjährigen Ichs verschwinden.
Ich bin wieder mein heutiges Ich, und Madelyn liegt wieder in diesem Bett, blass und schmal, und immer noch irgendwie verloren.
Mir schnürt sich die Kehle zu.
Fuck.
Das ist alles so, so falsch. Meine Finger zucken, alles in mir drängt danach, sie zu berühren und mich zu vergewissern, dass es ihr wirklich so gut geht, wie Frederic behauptet hat.
Aber sie schläft, und ich darf sie nicht wecken. Sollte ich auch nicht. Sie sollte auch nicht wissen, dass ich hier bin.
Dann schlägt Madelyn plötzlich die Augen auf, und ihr Blick trifft meinen.
Grandpa denkt, dass ich schlafe.
Und ich habe es wirklich versucht. Einzuschlafen und der Realität für ein paar Stunden zu entfliehen. Aber jedes Mal, wenn der Schlaf mit weichen Fingern nach mir greifen und mich in die tröstende Dunkelheit ziehen wollte, waren die Bilder wieder da.
Aufblitzendes Licht, ein Auto auf der falschen Straßenseite, die Panik in Wes’ Augen. Und dann der Moment in der Notaufnahme, als er in sich zusammengesackt ist.
Die Bilder verfolgen mich, und ich kann nicht schlafen, obwohl mein Körper mich anfleht, nachzugeben. Ich bin so erledigt, dass es beinahe ein Ding der Unmöglichkeit ist, die Augen zu öffnen.
Also lasse ich es bleiben und tue so, als würde ich schlafen, damit Grandpa sich keine Sorgen macht. Ich rede mir ein, dass er schlafen kann, wenn er denkt, dass ich es tue.
Irgendwann höre ich, wie Grandpa sich mit einem leisen Ächzen von dem Sessel hochstemmt, den jemand für ihn aufgetrieben haben muss, damit er bei mir bleiben konnte. Er bemüht sich, leise zu sein, ganz sicher möchte er mich nicht wecken. Ich spüre förmlich, wie sein Blick zu mir wandert, zwinge mich, die Augen geschlossen zu halten, ich kann ihn jetzt nicht ansehen, ich will nicht, dass er mich fragt, wie es mir geht oder ob ich etwas brauche. Ich weiß nicht, was ich antworten soll.
Mir geht es nicht gut.
Das Atmen fällt mir schwer, mein Kopf dröhnt, mein ganzer Körper tut weh, und doch ist das nichts im Vergleich zu dem Ziehen und Stechen in meiner Brust. Diesem Schmerz, der nicht von den angebrochenen Rippen herrührt.
Nur von meinem Herzen.
Ich habe schon als Kind begriffen, dass Herzen auf verschiedene Weise brechen können. Und dass es gar nicht schwer ist. Sie zu brechen. Es ist ganz leicht, vor allem, wenn man nicht aufpasst. Wenn man unvorbereitet ist.
Ich war auf diesen Herzschmerz nicht vorbereitet. Kein bisschen. Auf alle anderen Arten schon. Aber nicht auf diese.
Sag mir, dass ich das wieder in Ordnung bringen kann.
Sag mir, dass das zwischen uns noch zu retten ist.
Es tut mir leid.
Die Erinnerung an die Verzweiflung in Wes’ Stimme treibt mir Tränen in die Augen. Sie brennen, kitzeln in meiner Nase. Ich will nach Luft schnappen, es fühlt sich an wie ertrinken. In meinen Ohren rauscht es, ich höre die ganze Zeit, wie er sich entschuldigt. Für einen Streit, der so dumm und unnötig war und den ich immer noch nicht richtig verstehe. Es war falsch, und es spielt keine Rolle mehr.
Du musst wieder aufwachen.
Du musst zu mir zurückkommen.
Komm zu mir zurück.
Grandpa schleicht beinahe lautlos durch mein Zimmer Richtung Tür. Er versucht wirklich, mich nicht zu wecken. Damit ich endlich zur Ruhe komme.
Ich kneife die Augen zusammen, versuche, die Tränen zurückzudrängen, und scheitere kläglich. Warum bemühe ich mich überhaupt? Ist doch egal. Ist doch alles egal, egal, egal.
Und dann ist gar nichts mehr egal, als ich auf dem Flur Grandpas leise Stimme vernehme. Als ich höre, wie er »Adam?«, fragt.
Mein Herz fällt aus meiner Brust heraus, einfach so.
Adam.
Er ist hier?
Meine Augen fliegen auf, plötzlich bin ich hellwach.
Ich höre sein »Hi«, ein bisschen heiser, ein bisschen rau, als wäre er sehr müde oder als hätte er in den letzten Stunden sehr wenig geredet. Er ist hergekommen.
Warum?
Das Wort stolpert durch meinen Kopf, und natürlich gibt es eine ganz rationale Antwort auf diese kleine Einwort-Frage.
Sein Bruder hatte einen schlimmen Unfall, er ist schwer verletzt. Deshalb ist Adam hier.
Es ist die logisch schlüssige Antwort, die einzige Antwort, die Sinn ergibt. Aber Adam ist nicht logisch. Nichts an ihm, nicht mehr.
Und die eigentliche Frage ist doch auch nicht, warum er in London und in diesem Krankenhaus ist, sondern warum er hier ist, vor meinem Zimmer.
Meinem.
Nicht vor seinem.
Er ist hier, nicht bei Wes.
Mit heftig pochendem Herzen höre ich, wie Grandpa und Adam miteinander reden, wie Grandpa ihm sagt, dass er reingehen kann, mich aber nicht wecken soll. Er lässt ihn zu mir, obwohl ich ihm erzählt habe, wie heftig Wes und ich uns wegen Adam gestritten haben. Vor dem Unfall, vor dem Anruf, vor allem.
Es kommt mir vor, als wäre seitdem ein ganzes Leben vergangen, dabei sind es noch keine vierundzwanzig Stunden.
Meine Beine beginnen zu kribbeln, es fängt in meinen Zehen an, wandert nach oben, bis mein ganzer Körper vor Anspannung vibriert. Ich will wegrennen, so schnell es geht.
Alles in mir drängt danach, zu verschwinden, mich einfach in Luft aufzulösen.
Aber ich kann nicht weg. Ich bin nicht in der Lage, mein Bett zu verlassen, geschweige denn dieses Zimmer. Vor allem nicht ungesehen.
Also entscheide ich mich für die einzige Möglichkeit, die mir bleibt. Das, was ich schon die ganze Nacht getan habe. Ich schließe die Augen und tue wieder so, als würde ich schlafen.
Ich spüre mehr, als dass ich höre, wie die Tür aufschwingt, gerade weit genug, dass er hineinschlüpfen kann. Ich spüre mehr, als dass ich höre, wie er schwer ausatmet.
Ich spüre ihn.
Und ich wünschte, es wäre anders.
Ich wünschte, ich wüsste nicht, wie es sich anfühlt, wenn er einen Raum betritt, wie seine Präsenz in jede noch so kleine Ecke kriecht. Ich wünschte, die feinen Härchen auf meinen Armen würden sich nicht aufstellen, weil ich ihn fühlen kann.
Ein paar Schritte entfernt. Direkt an der Tür.
Er sieht mich an, auch das spüre ich. Sein Blick auf meinem Gesicht, prüfend, sich vergewissernd, dass ich zumindest äußerlich unverletzt bin.
Ich höre meinen Herzschlag, spüre ihn in jeder Faser meines Körpers. Nur ein paar Sekunden, es sind nur ein paar kurze Sekunden, die gleichzeitig viel zu lang sind.
Ich gebe vor, zu schlafen, aber ich bin hellwach.
Und ich kann ihn nicht ausblenden, ich kann nicht ignorieren, dass er da ist.
Ich kann einfach nicht so tun als ob. Nicht bei ihm.
Adam.
Sein Name ist ein sachtes Klopfen gegen meine Schläfen, der Geschmack von Vermissen auf meiner Zunge. Sein Name ist das Ziehen von Verrat in meinem Bauch und das Pochen von Wut in meiner Brust.
Sein Name ist der bittere Gedanke, dass alles anders gewesen wäre, wäre er nicht gewesen.
Ich schlage die Augen auf, und Adams Blick trifft meinen.
Stille hängt zwischen uns, tausend ungesagte Worte, tausend zu viel gefühlte Emotionen.
Ich sehe ihn an, und er ist fremd. Fremder noch als gestern.
Tut mir leid, habe ich deine Gefühle verletzt?
Er hat das zu mir gesagt, mit diesem Spott in der Stimme, die früher immer weich war, und jetzt sehr kratzig ist. Als hätten die letzten Jahre jede Weichheit abgetragen, bis nur noch scharfkantige Scherben übrig geblieben sind.
Er sieht müde aus, viel müder als gestern, aber ich schätze, das tun wir wohl alle. Wir haben alle die gleichen dunklen Schatten unter den Augen. Sorge, Erschöpfung, blanke Angst im Blick. Zumindest bei allen anderen. Adams Blick ist … nicht leer, aber auch nicht so, wie er sein sollte. Wie er früher war.
Ich sehe ihn an, und er ist fremd.
»Hey, Madness.«
Ich zucke zusammen und verziehe das Gesicht. Drei Namen. Adam hatte immer drei Namen für mich, alle anderen nur einen.
Madelyn. Mad. Madness.
Er hat mir nie erklärt, warum er mich Madness nennt, er hat es einfach getan, und ich habe es hingenommen, weil seine Stimme jedes Mal ein kleines bisschen rauer geworden ist, und weil mein Herz dann jedes Mal ein kleines Stückchen tiefer gerutscht und ein kleines bisschen weicher geworden ist.
Aber das war damals.
Damals ist vorbei.
Wir leben im Jetzt.
Und im Jetzt wird mein Herz nicht weich, sondern ganz hart.
»Geh weg.«
Adam zuckt nicht mal. Als hätte er mit der Reaktion gerechnet. Stattdessen schiebt er die Hände in die Hosentaschen und lehnt sich mit dem Rücken gegen die Tür. »Sag mir erst, wie es dir geht. Dann gehe ich.«
»Ist das dein Ernst? Du willst wissen, wie es mir geht?«, fahre ich ihn an und wünschte in der nächsten Sekunde, ich hätte es nicht getan, als ein stechender Schmerz durch meinen Brustkorb zuckt. Zischend atme ich aus, ich will mich zusammenkrümmen, dem Schmerz entkommen, aber das macht es nur schlimmer.
Adam ist schneller bei mir, als ich mich fangen kann, seine Finger schließen sich vorsichtig um meine Schulter, ich will ihn abschütteln, es tut alles so weh.
»Fass mich nicht an!«
Er weicht sofort zurück, meine Sicht verschwimmt, als ich ihn ansehe, sein Blick ist undurchdringlich. Mein Atem geht flach, das Zimmer dreht sich, das Pochen in meinem Kopf wird stärker. Tränen brennen in meinen Augen, Adam sagt nichts und ich … ich verliere die Fassung. So wie gestern. Weil er auf einmal wieder da ist, und das alles zu viel für mich ist.
»Wir haben uns gestritten. Wir haben uns deinetwegen gestritten. Ich war so … wütend. Auf ihn und auf dich. Wir haben uns gestritten, und ich konnte ihm nicht verzeihen, hörst du? Ich konnte ihm nicht verzeihen, bevor …« Meine Stimme versagt, ich will ihn anschreien, aber alles, was ich herausbekomme, ist ein ersticktes Schluchzen, das erneut einen beißenden Schmerz durch meinen Körper schickt.
Ich kann nicht weinen, ohne dass alles wehtut. Vielleicht habe ich das verdient.
Ich konnte Wes nicht verzeihen. Was er verschwiegen hat. Was er gesagt hat. Und jetzt ist es vielleicht zu spät.
»Du hast mich allein gelassen … Wir haben uns deinetwegen gestritten, Adam. Und jetzt ist er … Ich kann nicht … Ich kann nicht mit dir reden oder dich … ansehen. Du solltest nicht hier sein. Das alles hätte nicht passieren dürfen. Wir haben uns deinetwegen gestritten.«
»Madelyn …«, setzt Adam an, während er sich mit einer Hand durch die dunklen Haare fährt. Ich lasse ihn nicht ausreden. Was auch immer er sagen möchte, ich will es nicht hören.
»Nein. Geh einfach weg.« Ich presse mir die Handballen auf die Augen, um ihn nicht ansehen zu müssen, um nicht zu sehen, wie er mich ansieht.
Ich spüre sein Zögern, seinen Widerwillen, zu gehen. Doch dann höre ich ihn ausatmen, so wie vorhin. Ganz schwer. Ich bekomme mit, wie er das Zimmer verlässt.
Die Tür fällt mit einem leisen Klicken hinter ihm ins Schloss, und ich bin allein.
Mit schnellen Schritten verlasse ich das Krankenhaus. Wenn wir ehrlich sind, laufe ich mal wieder weg, aber das klingt zu sehr nach Aufgeben, und ich gebe nicht auf. Ich tue nur, was sie von mir verlangt.
Geh weg.
Fass mich nicht an.
Du hast mich alleingelassen.
Wir haben uns deinetwegen gestritten, Adam.
Ich presse die Zähne so fest aufeinander, dass es wehtut. Ich will es nicht zulassen, aber ich kann trotzdem nichts dagegen tun, wie ihre Worte mir unter die Haut gehen. Sie sinken tiefer, graben sich in mein Inneres, wütend und vorwurfsvoll.
Sie gibt mir die Schuld an dem, was passiert ist. Sie musste es nicht mal aussprechen. Die Wahrheit stand ihr ins Gesicht geschrieben, in tiefgrüne Augen, die mich immer noch in meine Träume verfolgen.
Inzwischen sind es Albträume, weil sich Aufwachen jedes Mal wie pure Folter anfühlt, denn in meinen Träumen gehört sie zu mir.
Ich erreiche meinen Wagen, und als ich mich auf den Fahrersitz fallen lasse, trifft mich die Erschöpfung wie ein Schlag. Hinter meiner Stirn beginnt es nachdrücklich zu pochen, ich habe einen pelzigen Geschmack im Mund, wahrscheinlich sollte ich auch mal was trinken. Essen.
Schlafen.
Schlafen wäre wirklich eine wahnsinnig gute Idee.
Fragt sich nur, wo. Es ist zu kalt, um im Auto zu schlafen, und ich werde auf gar keinen Fall zu dem Haus fahren, in dem ich aufgewachsen bin. Erst recht nicht, wenn auch nur die geringste Chance besteht, Steven dort über den Weg zu laufen.
Ich könnte in ein Hotel gehen, aber nein. Viel zu teuer. Ich habe keine Freunde in der Stadt, oder überhaupt irgendwo, wenn wir schon mal dabei sind, also kann ich auch bei niemandem auf der Couch pennen.
Es sei denn …
Ich ziehe mein Handy aus der Hosentasche, mein Akku ist fast leer, aber für einen Anruf wird es wohl noch reichen.
Es klingelt sechzehnmal, bevor ein verschlafenes »Hallo« erklingt.
»Hey. Ich bin’s.«
»Wer ist ich?«
Ich rolle mit den Augen, aber meine Mundwinkel zucken verräterisch. »Adam.«
»Welcher Adam? Ich kenne viele Adams.«
»Luce, komm schon. Du weißt, wer ich bin.«
»Aaah, der Ich-kann-mich-nicht-mit-meinen-Gefühlen-auseinandersetzen-Adam.«
»Wenn du das sagst.« Ich seufze schwer und nehme es einfach hin. Die Diskussion brauche ich nicht noch mal. Erst recht nicht jetzt.
»Sag ich. Was willst du? Um …« Sie stockt, wirft wahrscheinlich gerade einen Blick auf die Uhr und klingt auf einmal sehr viel wacher als gerade eben noch. Und stinksauer. »Scheiße, Adam, es ist noch nicht mal halb acht an einem Sonntagmorgen. Warum zur Hölle rufst du um die Zeit an? Wenn es nicht wirklich wichtig ist, schwöre ich dir, komme ich nach Edinburgh und drehe dir eigenhändig –«
»Nicht nötig, ich bin in London«, unterbreche ich sie.
Einen Moment lang herrscht Schweigen. »Du bist in London? Du? In London?« Lucy klingt dermaßen fassungslos, es wäre beinahe lustig, wäre nicht alles so verdammt beschissen.
»Ja«, erwidere ich gedehnt.
»Was ist passiert?«
»Zu viel.« Ich reibe mir über die Stirn. »Kann ich … vorbeikommen? Duschen und ein paar Stunden schlafen?«
»Klar.« Lucy zögert keine Sekunde, und ich atme erleichtert auf. »Ich schicke dir die Adresse. Kommst du klar oder muss ich dich irgendwo abholen?«
»Ich komm klar, danke. Bis gleich, Luce.«
»Bis gleich.«
Wir legen gleichzeitig auf.
Über die Schulter hinweg werfe ich einen Blick zurück zum Krankenhaus, dorthin, wo die Menschen sind, bei denen ich sein sollte, zu denen ich jedoch schon lange nicht mehr gehöre.
Wir haben uns deinetwegen gestritten.
Ich starte den Motor und fahre vom Parkplatz.
* * *
»Du siehst scheiße aus.« Lucy schenkt mir ein liebenswürdiges Lächeln und macht einen Schritt zur Seite, um mich in ihre Wohnung zu lassen.
»Danke. Du … nicht«, antworte ich widerwillig und schiebe mich an ihr vorbei.
»Ich weiß.« Ihr Lächeln wird breiter und eine Spur selbstzufriedener, als sie sich mit einer Hand durch das kurze platinblonde Haar fährt. »Ich bin umwerfend.«
Ist sie wirklich, aber ich habe die Erfahrung gemacht, dass sie es nicht ernst nimmt, wenn man ihr sagt, wie hübsch sie ist, also lasse ich es. Was das angeht, ist Lucy etwas paradox. Sie selbst findet sich schön, kann aber nicht daran glauben, dass andere es auch tun. Dabei bin ich nicht der Einzige, der diese Meinung vertritt. Lucy ist sehr klein, sehr zierlich und sehr blond mit hellblauen Augen, markanten, dunklen Augenbrauen und unzähligen Tattoos auf ihrer hellen Haut. Sie ist nicht klassisch hübsch, nicht von der Sorte, die einem die Werbung als schön verkaufen will. Sie ist auf ihre eigene Weise schön, und sie weiß das. Man darf es ihr nur nicht sagen.
»Und immer noch genauso selbstverliebt wie früher.«
»Du hast wohl immer noch nicht überwunden, dass ich nie in dich verliebt war.«
»Gott, Luce.« Ich stöhne auf und verdrehe die Augen. Das tue ich oft, wenn sie den Mund aufmacht, es ist allerdings selten ernst gemeint.
Nur fürs Protokoll: Ich war nie scharf darauf, dass sie sich in mich verliebt. Das wäre echt das Letzte gewesen, was ich je gewollt hätte. Ich wollte nicht mal, dass wir Freunde werden.
Lucy und ich wurden im dritten Semester unseres Literaturstudiums für eine Partnerarbeit zu Dantes Inferno eingeteilt, und weil wir beide Sturköpfe sind, konnten wir uns nicht einigen, wer welche Aufgaben übernimmt. Ich war zu abgefuckt, um nachzugeben, und Lucy streitet einfach gern.
Eins führte zum anderen, und irgendwie sind wir in der Kiste gelandet. Mehrmals.
Bis Lucy entschieden hat, nach ihrem Abschluss nach London zu gehen, um in einer Literaturagentur zu arbeiten, anstatt wie ich in Edinburgh zu bleiben.
Unser Abschied war schnell und schmerzlos, es war nie mehr als Sex, weder bei ihr noch bei mir.
Wir hatten seitdem nicht besonders oft Kontakt, wir sind beide entschieden zu schlecht darin, andere Menschen in unser Leben zu lassen, und noch schlechter darin, sie da auch zu behalten. Trotzdem ist sie das, was einer Freundin am nächsten kommt.
»Ja, ja, ja, schon gut.« Sie wirft die Tür schwungvoll ins Schloss und schiebt mich dann durch einen schmalen Flur in ein kleines Wohnzimmer mit angrenzender Kochnische.
Ihre Wohnung ist winzig, ihr Sofa, stelle ich mit einem müden Seufzen fest, auch.
Lucy folgt meinem Blick. »Sorry, ich habe meine Couch nicht danach ausgesucht, dass jemand wie du darauf schlafen kann.«
»Ich komme schon klar.«
»Du siehst auch so müde aus, als würdest du gleich im Stehen einschlafen, also ist es dir wahrscheinlich total egal, wie viel Platz du hast.«
Sie hat recht, auch wenn ich es ungern zugebe. Die Fahrt vom Krankenhaus hierher war vermutlich das Dümmste, was ich in letzter Zeit angestellt habe, weil ich permanent das Gefühl hatte, dass mir gleich die Augen zufallen. Ich hätte nicht fahren dürfen, schon klar, vor allem nicht, wenn ich daran denke, was … Nope, nicht darüber nachdenken. Einfach Nein.
Ich will nur noch schlafen. Und duschen.
»Kann ich duschen?«
»Klar. Warte, ich hole dir ein Handtuch.«
»Danke«, murmle ich, während Lucy in ihrem Schlafzimmer verschwindet und einen Moment später mit einem dicken, flauschigen Handtuch zurückkommt.
»Sind deine Sachen noch im Auto?«
»Hab keine mit.« Ich habe mir nicht die Zeit genommen, eine Tasche zu packen, bevor ich mich auf den Weg gemacht habe.
Lucys dunkle Augenbrauen wandern nach oben. »Du hast keine Sachen mit? Was zur Hölle machst du überhaupt in London, Adam?«
»Ist doch egal.« Ich reibe mir über die Augen und nehme ihr das Handtuch ab.
»Ist offensichtlich gar nicht egal. Aber schön, wenn du nicht darüber reden willst, dann halt nicht.« Sie wirft die Hände in die Luft und stapft mit festen Schritten zu ihrem winzigen Badezimmer. »Ich hab noch eine Ersatzzahnbürste in der Schublade da und du kannst mein Shampoo benutzen, aber Finger weg von meinem Rasierer, klar?«, ruft sie mir zu, und ich muss ein Schnauben unterdrücken.
»Klar«, gebe ich ironisch zurück. »Als ob ich den benutzen würde.«
»Ich bin mir fast sicher, dass du das damals ständig gemacht hast, die Klingen waren immer so schnell stumpf.« Sie kommt zurück ins Wohnzimmer und schiebt mich dann mit Nachdruck Richtung Bad. »Wie auch immer, fühl dich wie zu Hause, nur nicht ganz so … zu Hause, du weißt schon. Hab ich was vergessen? Ach ja, wirf mir mal deine Unterwäsche und dein T-Shirt raus, ich wollte heute eh waschen, dann kann ich die Sachen sofort mit in die Maschine schmeißen.«
Lucy schubst mich in ihr Badezimmer und will schon die Tür schließen, als ich sie aufhalte.
»Luce?« Sie hält inne, eine Hand an der Türklinke. Ich bin mit zwei schnellen Schritten bei ihr und ziehe sie in eine feste Umarmung. »Danke.«
Sie klopft mir mit einem Ächzen auf den Rücken. »Schon gut«, sagt sie mit einem Lachen, das ich ihr nicht eine Sekunde lang abkaufe, denn als sie sich von mir löst, ist die Sorge in ihren hellen Augen unübersehbar. »Geh duschen, Adam, ich mache in der Zwischenzeit Frühstück.«
Sie lässt mich allein, bevor ich noch etwas erwidern kann. Ehrlich gesagt habe ich auch nichts weiter zu sagen. Ich stelle die Dusche an, lege meine Brille am Waschbeckenrand ab und ziehe mich aus. Meine Klamotten landen einen Moment später auf dem Boden des Flurs. Ich höre Lucy »Danke« flöten, bevor ich unter das heiße Wasser trete und einen heftigen Fluch ausstoße, als ich mich daran erinnere, dass sie immer so heiß duscht, als würde sie am liebsten gekocht werden.
Mit einem Zischen stelle ich die Temperatur ein bisschen niedriger und lasse das warme Wasser auf meine Schultern prasseln. Ich schließe die Augen, fordere meinen Körper dazu auf, sich zu entspannen, doch es funktioniert nicht.
Weil ich sie sofort wieder sehe.
Wes und Madelyn.
Zusammen in Edinburgh.
Getrennt im Krankenhaus.
Ich kneife die Augen zusammen. Ich will nicht daran denken. Nicht an sie, nicht an ihn. Nicht an beide zusammen. Und vor allem nicht daran, was passiert, wenn … Nein. Ich schiebe den Gedanken entschieden beiseite.
Ich will einfach nur noch schlafen.
Doch als ich ein paar Minuten später frisch geduscht und mit geputzten Zähnen ins Wohnzimmer zurückkehre, sitzt Lucy auf dem Sofa, eine dampfende Tasse in der Hand, eine zweite steht neben einem Teller mit Sandwiches auf dem Couchtisch, und ich weiß, dass mein Schlaf noch eine Weile auf sich warten lassen muss.
»Was machst du hier, Adam?«
Ich verziehe das Gesicht, als ich unwillkürlich daran denke, wie Madelyn mir gestern genau dieselbe Frage gestellt hat. Nur war ihr Tonfall ein anderer. Verletzt und wütend, nicht besorgt.
»Müssen wir darüber reden?«, frage ich und lasse mich schwer in die weichen Polster sinken.
»Nein. Müssen wir nicht, wenn du wirklich gar nicht willst.« Sie schüttelt den Kopf, ihr Blick ist ernst. »Aber ich würde mir weniger Sorgen machen, wenn wir es täten. Du hast mich noch nie in London besucht, und das zählt jetzt auch irgendwie nicht so richtig als Besuch. Vor allem, wenn man bedenkt, dass du nicht mal frische Klamotten dabeihast – schicke Jogginghose übrigens. Also gibt es einen Grund, warum du hier bist. Einen ziemlich überstürzten Grund, schätze ich.«
»Ich bin … Wes und … Madelyn …« Ihre Namen kratzen in meiner Kehle, mein Herz zieht sich schmerzhaft zusammen. »Sie waren … gestern in Edinburgh. Sie hatten auf dem Heimweg einen Unfall.« So kurz und knapp wie möglich erkläre ich Lucy, was passiert ist. Sie hört mir zu, die Sorgenfalten um ihren Mund werden mit jeder Sekunde tiefer.
Sie weiß, was damals passiert ist. Sie ist der einzige Mensch, der alles weiß. Ich war betrunken, als ich ihr von meiner Familie erzählt habe, von Madelyn. Sie war betrunken, als sie zugehört und mir im Gegenzug von ihrer Familie und ihrem beschissenen Ex erzählt hat. Und von diesem Mädchen, das sie nie vergessen konnte. Ich schätze, wir haben uns deswegen irgendwie verbunden gefühlt. Eine Nacht, danach haben wir nie wieder darüber gesprochen. Es gab keinen Grund dafür. Es war nicht wichtig.
Meine Vergangenheit war in London, ihre in Liverpool. Jetzt hat meine mich eingeholt.
»Was hast du jetzt vor?«, fragt sie, nachdem ich schließlich verstummt bin. »Bleibst du hier?«
»Hier?« Ich ziehe eine Augenbraue hoch und sehe mich vielsagend in ihrem winzigen Wohnzimmer um, obwohl mir vollkommen klar ist, dass sie etwas anderes meint.
»Ja klar, hier, in meiner winzigen Bude. Nein, Adam, bleibst du in London?«
Mein Magen verkrampft sich, ich zucke mit den Schultern. »Nein. Keine Ahnung. Ich meine … Scheiße, ich kann nicht hierbleiben.«
»Aber du kannst auch nicht einfach wieder abhauen.« Eine Feststellung, keine Frage.
Ich lasse den Kopf in den Nacken fallen und stöhne auf. »Nein. Kann ich nicht.«
Ich wünschte, ich könnte. Ich wünschte so sehr, ich könnte einfach nach Edinburgh verschwinden und vergessen, was geschehen ist.
»Okay, darüber reden wir später. Du musst erst mal was essen und schlafen. Und dann überlegen wir uns was.« Lucy steht auf. »Du isst jetzt dieses fantastische Sandwich, das ich für dich gemacht habe, und ich beziehe eben mein Bett.«
»Du musst das nicht machen. Ich kann hier schlafen«, widerspreche ich und deute auf das Sofa, obwohl mein Körper mich anfleht, ihr Angebot einfach anzunehmen.
»Ja, weiß ich. Aber ich bin jetzt eh wach und du brauchst wirklich dringend ein paar Stunden Schlaf. Außerdem muss ich meine Serie weitergucken, und im Schlafzimmer habe ich keinen Fernseher. Also tu uns beiden einen Gefallen und leg dich in mein Bett. Aber nur heute, verstanden?«
»Verstanden.« Ich schenke ihr ein schwaches Lächeln. »Danke, Luce, ehrlich. Ohne dich wäre ich aufgeschmissen.«
Sie grinst mich an. »Und das fällt dir jetzt erst auf?«
* * *
Ich schlafe schlecht bis gar nicht, wälze mich stundenlang unruhig von einer Seite auf die andere und komme nicht richtig zur Ruhe. Ich würde es gern darauf schieben, dass ich in einem fremden Bett liege, dass mir der Duft von Lucys Waschmittel in die Nase steigt und sich das nicht richtig anfühlt.
Ich schätze, der letzte Teil davon ist sogar wahr. Aber im Grunde weiß ich ganz genau, warum ich nicht schlafen kann, und weder Lucy noch ihre Wohnung, ihr Bett oder ihr Waschmittel haben damit irgendwas zu tun.
Es ist die Stadt. Und dann eben doch Lucys Wohnung in Fitzrovia. Es gibt in diesem Viertel zu viele Bars, zu viele Restaurants, zu viele Geschäfte und vor allem zu viele Menschen. Es ist laut, obwohl das Fenster in ihrem Schlafzimmer geschlossen ist und ich den Lärm der Stadt kaum höre. Aber es fühlt sich laut an. Anders als Edinburgh, anders als mein Einzimmerapartment unter dem Dach des alten Hauses, in dem sonst nur Kenneths Buchhandlung untergebracht ist, in der ich seit Jahren arbeite.
Ich muss ihm noch Bescheid sagen, dass ich es Dienstag nicht zu meiner Schicht schaffe, morgen habe ich frei. Also kann ich ihm morgen Bescheid sagen.
Morgen.
Oder ist morgen schon heute?
Wie spät ist es überhaupt?
Mit einem Gähnen drehe ich mich auf die Seite und angle nach meinem Handy. Lucy hat mir ihr Ladegerät ausgeliehen, deswegen ist mein Akku wieder aufgeladen. Ich wische über das Display, und plötzlich spielt die Uhrzeit keine Rolle mehr, als ich den entgangenen Anruf entdecke. Lydias Name, eine hinterlassene Nachricht, vor zwei Stunden.
Mein Mund ist staubtrocken. Und genau wie gestern ist da ein Teil von mir, der die Nachricht ungehört löschen möchte. Die Realität ignorieren und in meiner eigenen Welt leben. Doch genau wie gestern bin ich nicht in der Lage, die Nachricht zu ignorieren.
Ich muss sie abhören. Vielleicht ist Wes wieder bei Bewusstsein. Oder … Nein, es gibt kein Oder. Keine andere Option. Alles andere kann ich nicht akzeptieren.
Energisch schiebe ich den Gedanken beiseite und rufe die Mailboxnachricht ab.
»Adam, ich bin’s.« Lydias Stimme klingt beherrscht. Keine Erleichterung, aber auch keine Verzweiflung. Sie bemüht sich, ihre Emotionen für sich zu behalten. Ich bin mir nicht sicher, ob ich ihr dafür nach unserem Gespräch heute Morgen dankbar sein soll oder nicht. »Ich wollte dir nur sagen, dass es wahrscheinlich noch ein paar Tage dauern wird, bis Wes wieder selbstständig atmen kann. Die Ärzte möchten ihn noch eine Weile im künstlichen Koma lassen, damit er sich von der OP erholen kann.« Sie schluckt schwer. »Darüber wollte ich dich nur informieren. Ich hoffe, du …« Sie bricht ab, und was auch immer sie sagen wollte, was auch immer sie hofft, sie schluckt es herunter. »Mehr kann ich dir noch nicht sagen. Melde dich. Bis dann … Adam.« Sie legt auf, die Stille danach ist sehr laut. Ich höre ihre Nachricht noch einmal ab und noch einmal. Beim vierten Mal lege ich mitten im Satz auf und werfe mein Handy aufs Bett.
Mit einem Stöhnen lasse ich mich auf die Matratze fallen und presse mir die Handballen auf die Augen.
Wes soll verdammt noch mal aufwachen, damit ich ihn zum Teufel jagen kann, weil er es gewagt hat, fast zu sterben. Und für alles andere.
Tag 3 in London
Wes ist noch nicht aufgewacht.
Ich weiß nicht, ob ich gehen soll.
Ich weiß nicht, ob ich bleiben soll.
Ich weiß nicht, was ich tun soll.
Tag 4 in London
Wes ist noch nicht aufgewacht.
Lydia hat mir eine Nachricht hinterlassen, um mir mitzuteilen, dass Madelyn aus dem Krankenhaus entlassen wurde.
Ich weiß nicht, ob ich gehen soll.
Ich weiß nicht, ob ich bleiben soll.
Ich weiß nicht, was ich tun soll.
Tag 7 in London
Wes ist noch nicht aufgewacht.
Ich weiß nicht, ob ich gehen soll.
Ich weiß nicht, ob ich bleiben soll.
Ich weiß nicht, was ich tun soll.
Tag 11 in London
Wes ist noch nicht aufgewacht.
Ich weiß nicht, ob ich gehen soll.
Ich weiß nicht, ob ich bleiben soll.
Ich weiß verdammt noch mal nicht, was ich tun soll.
BLAIR:
Wir bekommen übrigens mit, wenn du von zu Hause aus arbeitest, obwohl du dich schonen solltest
Ich werfe nur einen kurzen Blick auf mein Handy, bevor ich Blairs Nachricht ignoriere und mich wieder auf meinen Laptop konzentriere. Es dauert keine dreißig Sekunden, da leuchtet das Display erneut auf.
BLAIR:
Ehrlich, Maddie, du solltest dich ausruhen
BLAIR:
Wir kommen schon klar, versprochen!