Shine Bright - New England School of Ballet - Anna Savas - E-Book

Shine Bright - New England School of Ballet E-Book

Anna Savas

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Beschreibung

Nur ein einziges Mal. Eine Nacht. Alles ist egal. Nur er nicht

Das Leben von Lia Winslow scheint perfekt zu sein: Sie kommt aus einer angesehenen Bostoner Familie und ist die talentierteste Tänzerin der New England School of Ballet. Doch niemand ahnt, dass sie ihre wahren Träume hinter einer Fassade aus Perfektionismus verborgen hält und das Tanzen nahezu das Einzige ist, was sie noch kontrollieren kann. Das dachte sie zumindest, bis ihr am ersten Tag ihres Abschlussjahres plötzlich Phoenix gegenübersteht. Ihn als Lehrer an ihrer Ballettschule wiederzusehen, nachdem sie vor einigen Wochen eine unvergessliche Nacht miteinander verbracht haben, ist das Letzte, was sie erwartet hat! Das zwischen ihnen darf niemals ans Licht kommen und sich auf keinen Fall wiederholen, egal wie sehr Phoenix ihr unter die Haut geht - denn auch für ihn steht weit mehr auf dem Spiel als nur sein Job ...

»SHINE BRIGHT lebt von so tiefen und echten Emotionen wie nur Anna sie schreiben kann. Lia und Phoenix haben mich berührt wie niemand zuvor, und sie erzählen eine Geschichte über das Gefühl verloren zu sein bis zu der Erkenntnis, dass man niemals allein ist.« BOOKS.OF.LUI

Band 3 der New-Adult-Reihe an der NEW ENGLAND SCHOOL OF BALLET von Anna Savas

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Seitenzahl: 588

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INHALT

Titel

Zu diesem Buch

Leser:innenhinweis

Widmung

Playlist

Prolog

1. Teil

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

Zwischenspiel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

Zwischenspiel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

2. Teil

14. Kapitel

Zwischenspiel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

Zwischenspiel

26. Kapitel

Zwischenspiel

27. Kapitel

3. Teil

28. Kapitel

29. Kapitel

Zwischenspiel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

4. Teil

42. Kapitel

43. Kapitel

44. Kapitel

45. Kapitel

46. Kapitel

47. Kapitel

48. Kapitel

49. Kapitel

50. Kapitel

5. Teil

51. Kapitel

52. Kapitel

53. Kapitel

54. Kapitel

55. Kapitel

56. Kapitel

57. Kapitel

58. Kapitel

59. Kapitel

60. Kapitel

61. Kapitel

Epilog

Nachwort

Danksagung

Die Autorin

Die Romane von Anna Savas bei LYX

Impressum

ANNA SAVAS

Shine Bright

NEW ENGLAND SCHOOL OF BALLET

Roman

ZU DIESEM BUCH

Das Leben von Lia Winslow scheint perfekt zu sein: Sie kommt aus einer angesehenen Bostoner Arztfamilie, ist wunderschön und die talentierteste Tänzerin der New England School of Ballet. Doch niemand ahnt, dass sie ihre wahren Träume hinter einer Fassade aus Disziplin und Perfektionismus verborgen hält und irgendwie nichts von dem, was andere in ihr sehen, echt ist. Längst ist das Tanzen nahezu das Einzige, was sie noch unter Kontrolle hat. Das dachte sie zumindest, bis sie am ersten Tag ihres Abschlussjahres plötzlich dem neuen jungen Tanzlehrer vorgestellt wird! Phoenix Sutherland an ihrer Ballettschule wiederzusehen, nachdem sie vor einigen Wochen eine (leider) unvergessliche Nacht miteinander verbracht haben, ist das Letzte, was Lia jetzt gebrauchen kann! Sie muss sich darauf konzentrieren, die Hauptrolle in der dies-jährigen Weihnachtsaufführung zu ergattern, die meist das Sprungbrett zu einem Platz bei einer renommierten Ballettkompanie bedeutet, und kann sich deshalb absolut keine Ablenkung erlauben. Das zwischen ihnen darf also niemals ans Licht kommen und sich auf keinen Fall wiederholen, egal wie sehr Phoenix ihr unter die Haut geht – denn auch für ihn steht weit mehr auf dem Spiel als nur sein Job …

Liebe Leser:innen,

dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte.

Deshalb findet ihr hier eine Triggerwarnung.

Achtung: Diese enthält Spoiler für das gesamte Buch!

Wir wünschen uns für euch alle

das bestmögliche Leseerlebnis.

Eure Anna und euer LYX-Verlag

Für alle, die fühlen,

was Lia fühlt.

Es ist menschlich.

Es ist echt.

Und es ist okay.

PLAYLIST

illicit affairs – taylor swift

she looks so perfect – 5 seconds of summer

talk to myself – nessa barrett

girl crush – harry styles

mess it up – gracie abrams

enchanted (taylor’s version) – taylor swift

question …? – taylor swift

something to someone – dermot kennedy

call it what you want – taylor swift

new religion – all time low, teddy swims

mastermind – taylor swift

creep – kina grannis

cardigan – taylor swift

over again – voilà

ophelia – the lumineers

the archer – taylor swift

daylight – david kushner

lonely heart – 5 seconds of summer

don’t blame me – taylor swift

kiss me – dermot kennedy

fine line – harry styles

mistake – nf

complete mess – 5 seconds of summer

this is me trying – taylor swift

PROLOG

Ophelia

Es beginnt mit einem Kuss.

Weiche Lippen, die auf meine treffen, heiß, hungrig, fordernd. Mein Mund öffnet sich ganz von selbst, ich kann nichts dagegen tun, obwohl das alles vollkommen verrückt ist.

Ich bin auf einer Party und küsse einen Kerl, den ich noch nie zuvor gesehen, mit dem ich kaum drei Worte gewechselt habe und der mich mit diesem Kuss vor der absoluten Blamage rettet. Er ist der Ritter in glänzender Rüstung, den ich mir mein ganzes Leben lang gewünscht habe.

Doch er ist ein dunkler Ritter. Denn die guten, die mit der weiß und silbern schimmernden Rüstung, die kommen, um die Prinzessin vor dem Monster zu retten, können nicht so küssen.

Vielleicht ist es so auch genau richtig.

Ich vergesse, wo und wer ich bin und warum ich ihn küsse, als seine Zunge meine berührt und Hitze durch meinen Körper jagt, tausend winzige Stromstöße auf meiner Haut. Er vergräbt eine Hand in meinen Haaren, ein bisschen zu ungestüm, es tut weh, aber auf die beste Art und Weise. In meinen Ohren rauscht es, ich höre nichts anderes als meinen Pulsschlag, spüre nur noch seine Lippen auf meinen, seine Hand in meinen Haaren, die andere an meinem Gesicht. Sein Griff ist fest und sanft zugleich.

Mir entschlüpft ein Seufzen, und ich kann spüren, wie er an meinen Lippen lächelt, ganz kurz nur, dann biegt er meinen Kopf leicht nach hinten, vertieft den Kuss, und ich gehe in Flammen auf.

Was passiert hier?

Meine Hände krallen sich in sein Shirt, und es ist lächerlich, wie sehr ich in diesem Moment nicht den dünnen Stoff, sondern seine Haut unter meinen Fingerspitzen fühlen will. Ich bin noch nie so geküsst worden, ich habe noch nie jemanden so geküsst.

Und dann ist es vorbei.

Sein Mund löst sich von meinem. Nur ein Stück. Gerade so weit, dass ich ihn ansehen kann. Die Baseballcap, die er trägt, malt Schatten auf sein Gesicht. Ein viel zu schönes Gesicht. Klare Linien, scharf geschnittene Züge, die fast zu perfekt sind. Markante Augenbrauen und Lippen, die von unserem Kuss feucht und leicht geschwollen sind und die sich jetzt zu einem winzig kleinen schiefen Grinsen verziehen, als er merkt, dass ich ihm auf den Mund starre.

Mein Blick zuckt nach oben, zu seinen dunklen Augen. So, so dunkel, beinahe schwarz. Doch ich kann das amüsierte Funkeln sehen. Er sieht mich an, nur für einen Moment, dann schaut er an mir vorbei, und ich erinnere mich wieder an den Grund für diesen Kuss.

Mein Magen sackt schlagartig nach unten. Ich will mich umdrehen, aber seine Hand liegt immer noch an meinem Gesicht und hält mich auf.

»Nicht hinsehen«, sagt er nur, und seine Stimme sorgt dafür, dass ich mich keinen Millimeter bewegen kann. Ich kann nichts dagegen tun, ich gehorche einfach.

Vermutlich, weil er recht hat. Ich sollte wirklich nicht hinsehen, das würde die Show, die wir gerade abgezogen haben, vollkommen ruinieren.

»Er wirkt nicht besonders begeistert«, fährt er fort und streicht mir wie beiläufig eine Haarsträhne hinters Ohr. Ich glaube, außer mir kann niemand sehen, dass er Archie und Florence anschaut und nicht mich.

Archie und Florence, die Frau, um die ich mir keine Sorgen machen sollte.

Und die jetzt ganz offensichtlich mehr ist als nur eine Kommilitonin.

Nach nicht mal drei Wochen.

Wie konnte er das tun? Uns und alles, was uns verbunden hat, so schnell hinter sich lassen?

Und was zum Teufel mache ich eigentlich hier?

Ich hätte nicht herkommen sollen, schon gar nicht, um mit Archie zu reden, in der Hoffnung, dass die Funkstille, die in den letzten Wochen zwischen uns geherrscht hat, irgendwas geändert hat. Was offenbar geschehen ist. Nur nicht so, wie ein Teil von mir erwartet hat.

Aber jetzt bin ich hier, und er ist hier, und ich habe ihn zusammen mit ihr gesehen. Ihre Hand auf seiner Brust, seine Hand auf ihrem Rücken, ein Stück zu tief, fast auf ihrem Hintern. Es war die Selbstverständlichkeit, mit der sie einander berührt haben, die mein Herz hat zerspringen lassen, sobald ich sie entdeckt habe. So selbstverständlich. Als hätten sie das schon tausend Mal gemacht. Als würden sie das schon seit Ewigkeiten tun.

»Wirklich gar nicht begeistert«, sagt er und reißt mich aus meinen Gedanken. Ein belustigtes Lächeln umspielt seine Mundwinkel. Mein Herz macht einen Satz, dabei ist es egal. Es spielt keine Rolle, wie wenig begeistert Archie davon ist, dass ich auf dieser Party einen Fremden küsse. Er ist mit Florence hier. Er ist jetzt ihr Freund.

Meine Brust drückt gegen seine, als ich tief durchatme. »Sein Problem«, sage ich leise, aber das ist gelogen. Es ist mein Problem. Denn jetzt ist da keine Hoffnung mehr, keine Chance, rückgängig zu machen, wie Archie vor drei Wochen mit mir Schluss gemacht hat.

Es ist besser so. Mir ist in den letzten Wochen klar geworden, dass wir nicht zusammenpassen, Lia.

Zwei Sätze, die gereicht haben, um mir den Boden unter den Füßen wegzuziehen. Alle Pläne und Träume, die ich hatte, alles, was ich mir für unser Leben vorgestellt habe – weg. Einfach so. Und ich konnte nichts dagegen tun. Er hat eine Entscheidung getroffen, ohne mir überhaupt eine Möglichkeit zu geben, unsere Beziehung noch irgendwie zu retten.

Wir passen nicht zusammen. Wir haben uns auseinanderentwickelt.

Dabei waren wir perfekt zusammen, und er wusste das. Immerhin waren wir vier Jahre ein Paar. Fast fünf. Wir hatten die gleichen Freunde. Die gleichen Vorstellungen und Träume. Wir wollten das Gleiche. Von Anfang an. Dachte ich zumindest.

»So sehe ich das auch.« Seine Lippen berühren meine, es ist nicht mal ein richtiger Kuss, nur eine flüchtige Berührung, aber die reicht, um meine Haut zum Kribbeln zu bringen. Mein Verstand setzt aus, und ich vergesse Archie, der nur ein paar Meter von uns entfernt steht. Vergesse, dass ich diesen Typen eigentlich nur geküsst habe, damit Archie glaubt, mir würde es absolut gar nichts ausmachen, dass er mit seiner neuen Freundin hier ist.

Vielleicht wollte ich mir auch nur selbst was beweisen.

Aber gerade, mit seinem warmen Atem auf meiner Haut, fühlt es sich tatsächlich so an, als wäre es mir völlig egal.

Ich hebe den Kopf und verschränke die Hände in seinem Nacken, dabei streifen meine Finger die empfindliche Haut, und ich spüre, wie er eine Gänsehaut bekommt. Ich muss lächeln.

»Danke für deine Hilfe.«

»Gern geschehen.« Wieder streifen seine Lippen meine. »Willst du von hier verschwinden?«, raunt er heiser, seine Stimme jagt ein elektrisierendes Kribbeln durch mich hindurch.

Ich zögere. Ich sollte Nein sagen. Weil ich so etwas nicht mache. Ich gehe nicht zu Partys, ich küsse dort keine fremden Männer, und erst recht verlasse ich Partys nicht mit fremden Männern.

Ich bin so nicht.

Dachte ich.

Denn da ist ein Teil von mir, der genau das will. Der seine Hände auf meinem Körper spüren will, seine Lippen auf meiner Haut. Alles in mir pocht vor Sehnsucht, drängt danach, loszulassen.

Nur ein einziges Mal.

Eine Nacht.

Ein Fehler.

»Ja«, sage ich.

Seine Finger schieben sich zwischen meine, und dann gehen wir. Ich ignoriere Archies fassungslosen Blick, der sich in meinen Rücken bohrt. Er ist mir egal.

Alles ist egal.

Nur er nicht.

1. TEIL

Erster Akt

1. KAPITEL

Lia

Unruhig kaue ich auf meiner Unterlippe herum und tippe zum wiederholten Mal auf mein Handy, um Mom anzurufen, während um mich herum Eltern ihre Kinder in die Arme schließen und Paare einander küssen. Wiedersehensfreude und Sehnsucht pulsieren durch die Halle, oder durch mich, ich bin mir nicht sicher, vielleicht beides, obwohl in mir nur Sehnsucht ist, denn es ist niemand da, den ich wiedersehen könnte.

Mom ist nicht hier.

Am anderen Ende der Leitung geht sofort die Mailbox dran, und Moms Stimme erklärt mir höflich, aber distanziert, dass sie zurzeit nicht erreichbar ist und ich es später noch mal versuchen soll.

Seufzend lege ich auf, schiebe das Handy in die Tasche meines weit schwingenden Kleides und versuche, das Ziehen und Stechen in meiner Brust zu ignorieren, doch es klappt nicht.

Ich war fast drei Monate weg, auf einem anderen Kontinent.

Drei Monate.

Und Mom ist nicht hier am Flughafen, um mich abzuholen. Dabei hat sie es versprochen. Mein Magen krampft sich zusammen, hinter meinen Lidern baut sich dieser Druck auf, der zu vertraut und absolut ätzend ist. Ich dachte wirklich, dass es dieses Mal anders sein würde.

Nur ein einziges verdammtes Mal.

Aber gar nichts ist anders, weil Mom nun mal so ist, wie sie ist.

Zittrig atme ich ein und kämpfe um meine Selbstbeherrschung, schlucke gegen die Enge in meiner Kehle an.

Reiß dich zusammen. Reiß dich verflucht noch mal zusammen.

Dann hat sie mich eben nicht abgeholt, ja und? Ist doch egal. Ich bin erwachsen, ich komme allein klar. Ich komme immer allein klar, oder?

Ja!

Entschieden drücke ich den Rücken durch, greife nach meinem Koffer und verlasse gerade das Flughafengebäude, um mir ein Taxi in die Stadt zu nehmen, als mein Handy klingelt. Sie ist es, das weiß ich, ich muss dafür nicht mal nachschauen. Ich bleibe stehen, will mein Handy aus der Tasche ziehen und drangehen, und bringe es doch nicht fertig.

Es klingelt, zwei, drei, vier, sechs Mal. Sie ist nicht hier, und ich hasse es, dass irgendwas und irgendjemand wieder wichtiger ist als ich, sonst wäre sie gekommen. Aber wenn ich jetzt nicht drangehe, wird sie nicht noch mal anrufen. Wird sie einfach nicht, und deswegen ziehe ich mein Handy beim neunten Klingeln schließlich doch aus der Tasche, zwinge ein Lächeln auf mein Gesicht, auch wenn Mom es nicht sehen kann, und nehme den Anruf entgegen.

»Lia, du hast angerufen«, sagt sie, noch bevor ich einen Ton herausbringen kann. Und das ist der Moment, in dem ich begreife, dass sie mich schlichtweg vergessen hat. Es gibt keinen guten Grund dafür, dass sie nicht hier ist. Keine Patientin, die ungeplant operiert werden muss oder deren Kind ein paar Tage zu früh geboren werden wollte. Keine Entschuldigung, sonst hätte sie Bescheid gesagt.

Sie hat mich bloß vergessen.

Meine Finger schließen sich so fest um das Handy, dass die Kanten der Hülle sich schmerzhaft in meine Haut bohren. Im Hintergrund höre ich Gelächter und Stimmen. Eine davon, tief und durchdringend, gehört Dad, die anderen kann ich nicht zuordnen, aber das spielt auch keine Rolle. Es ist total egal. Mom ist bei Dad, und da ist Musik, laute Musik, und das bedeutet, sie sind weder in der Klinik noch in der Praxis.

»Ja, hab ich«, erwidere ich knapp und presse die Lippen zusammen. Ich lasse meinen Koffer los und reibe mir über die brennenden Augen. An jedem anderen Tag würde ich nichts sagen. An jedem anderen Tag würde ich einfach so tun, als wäre nichts. Aber ich bin müde. Der Flug von Heathrow zum Logan International Airport war eine Katastrophe. Wir hatten stundenlang Turbulenzen. Ich habe zu lange im Flugzeug gesessen und in der Zeit keine Sekunde geschlafen.

Und jetzt ist sie nicht hier. Die Enttäuschung schnürt mir den Hals zu. Zu viel, zu müde, ich habe mich nicht richtig unter Kontrolle, und nur deshalb rede ich weiter. »Du wolltest mich vom Flughafen abholen, Mom. Heute ist der erste Tag, und ich bin ohnehin schon spät dran.«

Viel zu spät, denn eigentlich hätte ich schon vor zwei Tagen zurückkehren sollen, aber wegen eines Streiks wurden alle Flüge verschoben, und um ein Haar hätte ich den ersten Tag meines Abschlussjahres an der New England School of Ballet verpasst.

Schweigen schlägt mir entgegen. Nur einen Augenblick lang, dann hat sie sich wieder gefangen.

»Oh, Lia, ich hatte im Kopf, dass du erst nächste Woche zurückkommst. Wir sind zum Brunch bei den Pettersons«, sagt sie, als würde das alles erklären.

Und irgendwie tut es das ja auch. Es ist nur nicht das, was ich hören möchte. Dabei haben wir erst vor zwei Tagen telefoniert, als ich sie darüber informiert habe, dass ich einen anderen Flug nehmen muss und erst Montag zurückkomme, nicht wie geplant am Samstag. Wir haben darüber gesprochen, dass sie sich freinehmen muss, wenigstens den Vormittag. So wie es aussieht, hat sie mir überhaupt nicht richtig zugehört, sich aber trotzdem freigenommen. Nur eben nicht für mich. Und jetzt … jetzt entschuldigt sie sich nicht mal.

Ich beiße mir auf die Lippe, bis ich Blut schmecke, während sich die Enttäuschung in einen heißen Knoten in meinem Bauch verwandelt.

»Du schaffst es allein zur Schule, oder?«, fährt Mom fort, und die Art, wie sie die Frage stellt, macht ziemlich deutlich, welche Antwort sie von mir erwartet.

»Bin schon unterwegs«, lüge ich, den Blick fest auf die gelben Wagen vor mir geheftet, die in einer langen Schlange auf ihre nächsten Fahrgäste warten. Die Sonne brennt unbarmherzig vom strahlend blauen Himmel, absolut unpassend für diesen Tag und das, was ich fühle. Ich wünsche mir die regennassen Stunden aus London zurück. Dann könnte ich weinen, und niemand würde es merken, weil meine Tränen sich mit dem Regen vermischen würden. Wie absolut melodramatisch. Und doch so wahr.

»Wunderbar. Ruf mich morgen gerne an, dann können wir über London sprechen.«

»Mach ich«, erwidere ich, meine Stimme bricht, und ich hasse es, dass ich es tun werde. Sie anrufen, damit ich ihr von der Zeit an der Royal Academy of Dance erzählen kann.

»Dann bis morgen«, sagt Mom fröhlich.

»Bis morgen, Mom«, bringe ich hervor, will ihr sagen, dass ich sie vermisst habe, aber sie hat schon aufgelegt. Erst jetzt fällt mir auf, dass sie mich auch nicht gefragt hat, ob es mir gut geht oder wie der Flug war.

Ich schaffe es, in ein Taxi zu steigen, bevor ich mich doch nicht mehr gegen die Tränen wehren kann. Sie nehmen mir die Sicht, fließen heiß und salzig über meine Wangen, und in diesem Moment ist mir scheißegal, ob der Taxifahrer mitbekommt, dass ich heule. Ein Schluchzen bricht aus mir heraus, leise und erstickt, ich kann es nicht aufhalten, obwohl ich genau das tun müsste. Aber ich kann wirklich nicht, ich habe gerade keine Kraft mehr, so zu tun, als wäre alles in Ordnung.

Denn absolut gar nichts ist in Ordnung.

Ich ringe nach Atem, meine Brust ist eng, alles ist eng, und es tut weh. Es tut verdammt noch mal viel zu weh. Aber ich muss atmen. Mich beruhigen. Zusammenreißen.

Meine Brust hebt sich.

Ein und aus.

Ein und aus.

Ein und aus.

»Miss? Geht es Ihnen gut?« Der Taxifahrer wirft mir aus dem Rückspiegel einen besorgten Blick zu und verhindert mit seiner Frage, dass ich völlig zusammenbreche.

Schniefend wische ich mir die Tränen vom Gesicht und zwinge mich zu einem Lächeln. »Mir geht’s gut, danke. Der Flug war anstrengend.«

Er wirkt nicht überzeugt, zwischen seinen Augenbrauen bildet sich eine Falte, und einen Moment lang glaube ich fast, er hakt noch einmal nach, doch dann nickt er nur, schaut nach vorne auf die Straße und schaltet das Radio an.

Ich atme tief durch, fahre mit den Zeigefingern unter den Augen entlang, um die Spuren, die meine Wimperntusche dort hinterlassen hat, verschwinden zu lassen, und greife nach meiner Tasche. Mit zitternden Händen ziehe ich den kleinen Spiegel heraus, den ich immer dabeihabe. Ich zucke zusammen, als ich in mein verheultes Gesicht schaue. Meine Augen sind geschwollen und gerötet, ich sehe fix und fertig aus. Ungefähr so, wie ich mich fühle. Aber nicht nach mir. Ich muss mich wieder in Ordnung bringen, bevor mich jemand so sieht, den ich kenne.

Ich lege den Spiegel zur Seite, löse die Zöpfe und fahre mir mit beiden Händen durch die Haare. Erst die Frisur, dann das Make-up. Flechten ist einfacher als Schminken, wenn der Wagen wegen des Bostoner Samstagabendverkehrs alle paar Meter abbremsen muss. Und wenn die Finger immer noch beben. Ich hebe die Arme, greife nach den ersten feinen Strähnen und lege eine über die andere, nehme neue Strähnen dazu, ziehe sie fest und mache weiter. Erst den einen Zopf, dann den zweiten, holländisch geflochten, nicht französisch.

Es dauert lange, schließlich muss es ordentlich werden, aber es hatte schon immer etwas Meditatives an sich, meine Haare zu flechten. Mein Puls beruhigt sich, je länger ich eine Strähne über die andere lege. Schließlich hole ich mein Make-up aus der Tasche, und kurz darauf verschwinden die dunklen Schatten unter meinen Augen unter der cremigen Textur des Concealers, die roten Flecken auf meinen Wangen sind zum Glück bereits verblasst. Ich trage Blush und Lippenstift auf, beides in einem zarten Rosaton, und das Mädchen, das mir dann aus dem Spiegel entgegenblickt, ist beinahe vertraut. Ihr ist nicht mehr anzusehen, dass sie vor ein paar Minuten geweint hat.

Nur ihr Blick ist immer noch leer.

Mit einem leisen Seufzen klappe ich den Spiegel zu und sinke tiefer in den Sitz des Taxis, bevor ich den Kopf gegen das Fenster lehne. Boston fliegt an mir vorbei, hell und einladend, wie eine alte Bekannte. Doch obwohl ich in den letzten Wochen immer wieder Heimweh hatte, habe ich jetzt, wo ich wieder hier bin, keinen Blick für die Stadt.

Ich bin so müde.

Wir haben den Campus fast erreicht, als mein Handy vibriert. Für den Bruchteil einer Sekunde habe ich die absurde Hoffnung, dass es Mom ist, die sich doch noch danach erkundigt, ob es mir gut geht. Aber sie ist es nicht. Nein, als ich über das Display wische, sehe ich Nachrichten von Katie und Susannah in unserem Gruppenchat.

Susannah:Bist du schon gelandet? Du bist echt spät dran!

Katie:Deine Mom holt dich ab, oder? Wenn nicht, sag Bescheid, dann kommen wir dich holen!

Ich lese ihre Nachrichten und habe sofort wieder einen Kloß im Hals. Ich wünschte, sie hätten mir früher geschrieben. Oder ich hätte ihnen geschrieben. Dann hätten sie mich abgeholt, und ich würde mich weniger beschissen fühlen.

Meine Hände beben, als ich eine knappe Antwort tippe.

Lia: Das ist lieb, aber ich bin gleich da.

Susannah: Okay, dann bis gleich!

Katie: Wir freuen uns auf dich!

Meine Mundwinkel heben sich zu einem winzig kleinen Lächeln, während meine Freundinnen ein paar Herz-Emojis hinterherschicken, trotzdem versetzt es mir einen Stich.

Sie konnten sich daran erinnern, dass ich heute nach Hause komme.

Mom nicht.

Warum nicht?

2. KAPITEL

Lia

Katie begrüßt mich mit einem strahlenden Lächeln und einer festen Umarmung. »Wir sind so froh, dass du wieder da bist.«

»Ich auch«, sage ich und lasse mich von ihr festhalten. Der Duft ihres Parfums steigt mir in die Nase, blumig und süß und sehr vertraut.

»Ohne dich war der Sommer wirklich seltsam.« Susannah zieht mich ebenfalls an sich, sobald Katie mich losgelassen hat. Ihre Umarmung fühlt sich anders an als vor den Ferien, nicht so weich, ihre Schultern sind härter unter meinen Händen. Prüfend mustere ich sie, nachdem ich mich von ihr gelöst habe, aber sie sieht aus wie immer. Oder? Irre ich mich? Nein, sie ist genauso zierlich wie sonst auch. Sie hat sich kein bisschen verändert, ich bin einfach nur unendlich müde.

»Ich weiß. Ich fand es auch seltsam, ohne euch in London zu sein«, erwidere ich mit einiger Verspätung und schiebe entschieden jeden Gedanken an zu schmale Schultern beiseite.

»Das sagst du nur, damit wir uns besser fühlen.« Katie lacht fröhlich und greift völlig selbstverständlich nach einem meiner Koffer, damit wir uns auf den Weg zum Wohnheim machen können. »Du hattest garantiert einen großartigen Sommer mit heißen britischen Jungs?«

»Oh ja, bitte sag, dass du jemanden kennengelernt hast!« Susannah klingt etwas zu begeistert.

»Ich habe den Sommer mit Tanzen verbracht. Ich hatte keine Zeit, jemanden kennenzulernen«, widerspreche ich. Dabei hätte ich Zeit gehabt. Ich wollte nur nicht.

»Gab es niemanden an der RAD? Solltest du da nicht einen festen Tanzpartner bekommen?«, fragt Katie.

»Oh mein Gott, ja! Das wäre so perfekt gewesen! Eine heiße Sommeraffäre mit deinem Tanzpartner«, quietscht Susannah.

»Ihr habt zu viele Filme gesehen«, erwidere ich trocken, muss aber lächeln.

»Ja, weil wir die Ferien nicht in London mit hotten Briten verbracht haben.« Irgendwie schafft Katie es, mir den Ellbogen in die Seite zu stoßen, trotz meines Koffers, den sie neben sich herschiebt.

»Ich doch auch nicht.«

»Aber warum nicht?«, fragt Susannah. »Nach der Scheiße mit Archie wäre das genau das Richtige gewesen. Glaub mir, ein gebrochenes Herz heilt man am besten mit gutem Sex.«

Ich zucke mit den Schultern und spüre, wie mir Hitze in die Wangen steigt. Da hat sie wohl nicht ganz unrecht, aber das kann ich ihr nicht sagen.

Ich habe meinen Freundinnen nie von dem Mann erzählt, mit dem ich die Party verlassen habe, bei der ich herausgefunden habe, dass Archie mich viel zu schnell ersetzt hat. Aber ich erzähle ihnen generell nicht viel. Nicht über meine Gedanken oder Gefühle, nicht über Archie und über ihn. Etwas in mir sperrt sich dagegen, ich kann nicht genau sagen, warum, und ich kann es auch nicht ändern.

»Aber unsere liebe Lia ist nun mal eine echte Romantikerin.« Katie seufzt. »Hat sich London denn sonst wenigstens gelohnt? Wie war die Stadt? Wie war der Unterricht? Was hast du gelernt? Du musst uns alles erzählen.«

»Mach ich nachher. Darf ich mich vorher kurz umziehen?«, frage ich, während wir uns dem Wohnheim nähern. Es ist viel los, so wie immer am ersten Tag. Studierende aus dem ersten Semester laufen allein oder mit ihren Eltern über den Campus, entweder auf dem Weg zum Verwaltungsgebäude, um ihre Schlüssel zu holen, oder auf dem Weg zum Wohnheim, um ihre Zimmer zu beziehen. Dazwischen entdecke ich kleine Gruppen von Schülerinnen und Schülern aus dem zweiten und dritten Jahr, die die Neuankömmlinge neugierig mustern. Normalerweise würden wir das auch machen, aber heute ist alles anders als sonst am ersten Tag, und um die Neuen zu beobachten, fehlt vor allem mir gerade die Zeit.

»Na gut.« Noch ein Seufzen, theatralischer dieses Mal. »Du solltest dich eh ein bisschen beeilen, damit wir nicht zu spät zu Pearsons Rede kommen.« Katie zieht ihr Handy aus der Tasche ihrer knappen Shorts und wirft einen Blick auf die Uhrzeit. »Wir haben keine zwei Stunden mehr.«

»Sag mal, wollte deine Mom dich nicht eigentlich vom Flughafen abholen?«, fragt Susannah unvermittelt und wirft mir einen prüfenden Blick zu.

»Ja, aber ihr ist was dazwischengekommen. Eine Patientin, ihr wisst schon«, lüge ich mit einem gezwungenen Lächeln. Ich kann ihnen nicht die Wahrheit sagen, es geht nicht. Ich habe mich in den letzten Jahren so daran gewöhnt, die Probleme meiner Familie zu verschweigen, dass ich manchmal vergesse, dass Susannah und Katie sehr wohl wissen, dass sie existieren. Sie wissen es und haben doch keine Ahnung. Und sie fragen nie nach. Nicht wirklich jedenfalls und genau deswegen habe ich zu oft das Gefühl, sie würden die Wahrheit auch gar nicht hören wollen. »Wie war denn euer Sommer?«, wechsle ich hastig das Thema. Glücklicherweise lassen die beiden sich, ohne zu zögern, darauf ein.

»Ziemlich unspektakulär. Ohne dich war hier nicht viel los.« Katie zwinkert mir verschwörerisch zu.

Ich muss lachen, und es fühlt sich beinahe echt an. »Als ob mit mir irgendwas los gewesen wäre.«

»Mehr als ohne dich.« Susannah hält uns die Tür zum Wohnheim auf, und zum vierten Mal in vier Jahren verfluche ich die Treppe, die nach oben in den vierten Stock zu meinem Zimmer führt, weil es im Wohnheim keinen Aufzug gibt. Eigentlich ist das nicht weiter schlimm, aber meine Koffer sind schwer, und es fühlt sich jedes Mal so an, als würden sich die Treppenstufen verdoppeln, wenn man Gepäck hochtragen muss.

Als wir den vierten Stock schließlich erreichen, sind Katie und ich außer Atem, Susannah dagegen ist die Ruhe selbst.

»Okay, du ziehst dich eben um, und dann gehen wir zusammen rüber zum Theater, oder?« Fragend sieht Susannah von Katie zu mir.

Ich nicke und krame in meiner Tasche nach dem Schlüssel zu meinem Zimmer. »Machen wir.«

»Aber du darfst dich wirklich nur umziehen.« Katie kneift warnend die Augen zusammen. »Du darfst dich auf gar keinen Fall hinlegen, verstanden? Sonst siegt der Jetlag, und das wäre fatal.«

»Fatal?«, frage ich schmunzelnd.

Sie nickt bekräftigend. »Sehr.«

»Keine Sorge, ich lege mich nicht hin«, verspreche ich, schließe die Tür auf und schiebe die Koffer in mein Zimmer. »Dafür ist die Zeit doch ein bisschen zu knapp.«

»Das wollte ich hören«, sagt Katie zufrieden. Wir verabschieden uns voneinander, dann drehen die beiden sich um und gehen Richtung Aufenthaltsraum, während ich nach drei Monaten wieder mein Zimmer betrete.

Es ist seltsam still in dem kleinen Raum, die Luft ist stickig, es wurde seit Wochen nicht mehr durchgelüftet. Meine Schultern sacken nach unten, als die Tür hinter mir ins Schloss fällt. Weiße Wände, hübsche Stuckleisten, dunkler Boden. Über meinem Bett hängt eine Lichterkette, an der ich mit kleinen Wäscheklammern Fotos befestigt habe. Ich war drei Monate weg, und es ist alles wie immer. Vertraut.

Ich atme tief ein, und etwas in meiner Brust löst sich.

Zu Hause.

Ich bin wieder zu Hause.

Mit einem dumpfen Laut landet meine Tasche auf dem Boden. Bilder stürmen auf mich ein, Erinnerungen, die ich in den letzten Wochen so weit in den hintersten Winkel meines Kopfes gedrängt habe, wie ich konnte.

Dunkle Augen, dunkle Haare, zerzauste Strähnen, die ihm in die Stirn fallen, und ein hinreißend schiefes Lächeln. Hände auf meinem Körper, Hitze auf meiner Haut, sein Stöhnen und meins.

Wir waren bei ihm, nicht bei mir, natürlich nicht. Aber ich war hier. Danach. Am nächsten Morgen, so früh, dass es noch nicht mal richtig hell war. Um meine Sachen zu holen. Keine Zeit, noch mal zu duschen, weil ich meinen Flieger erwischen musste. Ich hatte noch seinen Geruch in der Nase, als ich meinen Koffer geholt und mir dann ein Uber gerufen habe, das mich zum Flughafen gebracht hat.

Mein Kopf war voll von ihm, mein dummes Herz auch, es war albern. Ist es immer noch, schließlich war es nur eine Nacht.

Trotzdem fühlt es sich merkwürdig an, zurückzukommen, mit denselben Koffern, derselben Tasche. Nur bin ich heute nicht dieselbe, die ich vor drei Monaten war.

Heute bin ich die, die ich immer bin. In dieser einen Nacht jedoch war ich jemand anders.

Ergibt das Sinn? Wahrscheinlich nicht.

Gott, ich bin so müde.

Mein Blick heftet sich auf mein Bett. Ich möchte mich unbedingt hinlegen, nur ein paar Minuten die Augen schließen, dann geht es mir bestimmt besser. Dann denke ich nicht mehr an ihn. Nicht mehr an seine Lippen auf meinen, und wie falsch es sich angefühlt hat, einfach zu verschwinden.

Ich greife nach der Kette an meinem Hals. Meine Finger schließen sich um den kleinen Anhänger, fahren seine Umrisse nach, die inzwischen viel zu vertraut sind, obwohl sie das wirklich nicht sein sollten.

Ich habe in dieser Nacht viele Fehler gemacht.

Seufzend schüttle ich den Kopf und jeden Gedanken an ihn ab. Es führt sowieso zu nichts, über ihn nachzudenken, wirklich nicht.

Ich habe andere Probleme, als mir über einen Mann den Kopf zu zerbrechen den ich ohnehin nie wiedersehen werde.

Mom zum Beispiel. Und Dad, der sich genauso wenig gemeldet hat wie Mom, während der ganzen Zeit, die ich weg war. Ihn habe ich nicht angerufen, ich weiß nicht, warum. Es ist etwas anderes bei ihr. Bei Mom komme ich nicht dagegen an, ich muss mich bei ihr melden, und sei es nur, um mich zu vergewissern, dass es ihr gut geht.

Hinter meiner Stirn pocht es, ich muss etwas trinken und schlafen, aber die Zeit ist knapp. Pearson hält gleich seine Rede, und die kann ich nicht verpassen. Deshalb klettere ich nicht in mein Bett, obwohl mein Körper vehement protestiert, als ich stattdessen erst das Fenster aufreiße, um frische Luft reinzulassen, und dann mein Bett frisch beziehe.

Ich beschäftige meine Hände, ziehe die alte Bettwäsche ab und die neue umständlich auf, packe meinen Koffer aus. Doch mein Kopf gibt keine Ruhe, zu viel Mom, zu wenig Dad, zu viel er, ein wirres Durcheinander in mir, bis ich schließlich aufgebe und tue, was ich immer tue, wenn meine Gedanken zu laut werden.

Ich hole das Notizbuch und einen Stift aus der Schublade meines Nachttischs und fange zu schreiben an.

Nicht über ihn, nie über ihn. Er ist das einzige Geheimnis, das ich nicht mal aufschreiben kann. Dann wird er zu echt und die Sache zu ernst, und das geht nicht.

Nein, ich schreibe über sie. So wie fast immer. Doch solange sich nichts ändert, werde ich damit wohl auch nicht aufhören können.

Warum interessiert Mom sich nicht für mich und mein Leben? Warum kann sie nicht einmal nachfragen, wie es mir geht? Warum kann sie nicht wenigstens so tun, als würde es sie kümmern?

Und warum kann es mir nicht egal sein?

Ich wünschte so sehr, es wäre mir egal.

Dann würde es nicht so wehtun.

Meine Augen brennen, da sind Scherben in meiner Kehle, die mir das Atmen unmöglich machen. Das Papier raschelt, als ich die Seite aus dem Notizbuch reiße. Ich stehe auf, greife nach dem Feuerzeug, das auf meinem Schreibtisch liegt, und gehe ins Bad.

Die Flamme ist klein, aber hell.

Und glühend heiß.

Meine Hände sind vollkommen ruhig, als ich das Feuerzeug ans Papier halte. Es beginnt sofort zu brennen, die Flamme wird größer. Ich halte den Zettel fest, bis die Hitze meine Finger beinahe erreicht, erst dann lasse ich ihn ins Waschbecken fallen, beobachte, wie das Feuer meine Gedanken auffrisst.

Es fühlt sich ein bisschen nach Erlösung an.

3. KAPITEL

Lia

Eineinhalb Stunden später ist mein Kopf leer, mein Herz auch. Ich bin nicht mehr müde, den Tiefpunkt habe ich irgendwie überwunden, nachdem ich mich unter die kalte Dusche gestellt habe. Möglich, dass ich auch einfach so müde bin, dass ich die Erschöpfung schon gar nicht mehr richtig spüre.

Ich schlüpfe gerade in meine Sandalen, als es an der Tür klopft.

»Moment«, rufe ich, weil ich weiß, dass es Katie und Susannah sind, die mich wie angekündigt für Pearsons Rede abholen wollen. Seine letzte Rede. Zumindest für uns.

Das letzte Mal.

Das letzte Schuljahr.

In meinem Bauch flattert es. Ob vor Nervosität oder Angst, kann ich nicht sagen, aber es wird ernst. Richtig ernst.

Das hier ist das wichtigste Jahr meines Lebens, das Jahr, in dem sich meine Zukunft entscheidet. Ich darf es nicht vermasseln. Aber das werde ich auch nicht. Ich bin vorbereitet. Schließlich habe ich nicht umsonst den Sommer in London verbracht.

»Lia, los jetzt, beeil dich!«, ruft Katie ungeduldig.

»Sekunde!« Ich greife nach der mintfarbenen Strickjacke, die auf meinem Bett liegt, und ziehe sie über das cremefarbene Kleid, das ich vorhin angezogen habe, bevor ich die Tür öffne. »Habt ihr es eilig?«

»Ja. Angeblich stellt Pearson gleich den neuen Lehrer vor, und wir wollen ganz vorne sitzen.« Katies dunkle Augen glitzern aufgeregt.

»Welchen neuen Lehrer?« Irritiert runzle ich die Stirn, trete auf den Flur und habe kaum die Tür hinter mir zugezogen, als Katie eine Hand auf meinen Arm legt und mich fassungslos anstarrt.

»Oh mein Gott, haben wir das nicht erzählt?«

»Anscheinend nicht«, meint Susannah. »Wie konnten wir das nur vergessen? Wir reden seit Tagen über nichts anderes.«

»Ja, wie konnten wir das vergessen?« Katie wirkt so aufrichtig schockiert, dass ich lachen muss.

»Ich hab keine Ahnung. Aber ihr könnt mich jetzt aufklären.«

»Eigentlich gibt es gar nicht so viel zu erzählen. Wir wissen auch nur, dass dieses Semester ein neuer Lehrer an die Schule kommen soll. Pearson hat allerdings kein Wort darüber verloren, wer er ist. Er macht aus der ganzen Sache ein riesiges Geheimnis.«

»Und worüber redet ihr dann die ganze Zeit?«, will ich wissen. Katie hakt sich bei mir und Susannah unter und zieht uns den Flur entlang.

»Na, worüber wohl. Wir beten, dass er jung und heiß ist.«

»Jung und heiß? Ernsthaft?« Meine Augenbrauen wandern nach oben. »Das ist das Einzige, worüber ihr die letzten Tage geredet habt?«

»Na ja, wir wissen, dass er gut ist, sonst hätte Pearson ihn nicht eingestellt«, gibt Susannah schulterzuckend zurück.

»Und was ist, wenn er alt und unattraktiv ist?« Ich muss mir ein Grinsen verkneifen, denn die Wahrscheinlichkeit, dass das der Fall ist, ist doch ziemlich hoch. Junge, heiße Tänzer haben etwas Besseres zu tun, als an einer Ballettschule zu unterrichten. Die allermeisten stehen selbst noch auf der Bühne.

»Dann gehen wir auf unsere Zimmer und heulen sehr laut in unsere Kissen.« Katie klingt ein bisschen zu ernst.

»Natürlich, tut ihr das.«

Susannah schnalzt mit der Zunge und wirft mir einen gespielt vorwurfsvollen Blick zu. »Du könntest ruhig ein bisschen mehr mit uns mitleiden.«

»Ich glaube, ich bin zu müde, um mitzuleiden. Vielleicht später«, sage ich und schenke meinen Freundinnen ein entschuldigendes Lächeln.

»Als ob.« Katie seufzt theatralisch, und ich fürchte, sie hat recht. Tendenziell eher nicht.

Mein Blick wandert zu den Neuen, die auf dem Weg zum Theater leicht zu erkennen sind, nicht nur weil sie unverkennbar jünger als wir, sondern auch weil viele von ihnen allein unterwegs sind. Wie jedes Jahr gibt es diejenigen, die vom kleinen ins große Wohnheim umziehen und ihre Clique hier bereits gefunden haben. Aber die meisten sind tatsächlich neu an der New England School of Ballet.

Meine Mundwinkel heben sich zu einem leichten Lächeln, als ein paar von ihnen langsamer werden und stehen bleiben, sobald sie das Theater betreten haben. Mit großen Augen schauen sie sich fasziniert um. Ich kann es ihnen nicht verdenken, mir ging es an meinem ersten Tag nicht anders.

Das Theater ist atemberaubend, von außen wie von innen, mit den weißen Wänden und den Stuckleisten, die im Licht der Sonne, das durch die deckenhohen Fenster fällt, golden schimmern. Um runde goldene Tische stehen samtbezogene Stühle, deren Polster farblich auf den dicken dunkelroten Teppich abgestimmt sind.

»Kommt schon, wir müssen uns ein bisschen beeilen.« Katie macht sich von uns los, allerdings nur, um nach unseren Händen zu greifen und uns durch die Menge zu der breiten Flügeltür zu lotsen, die in den Theatersaal führt. Rechts und links neben der Tür befinden sich zwei breite Wendeltreppen, die zu den oberen Rängen führen. Wenn ein Stück aufgeführt wird, ist meist jeder Platz besetzt, heute jedoch werden die Ränge frei bleiben.

Mein Herz macht einen aufgeregten Satz, als mein Blick auf die Bühne fällt. Drei Monate, dann stehe ich da oben. Nur noch drei Monate.

»Lia, hör auf zu trödeln.« Katie zieht an meiner Hand, ihr Griff ist fest, ihre Haut weich. Ich habe gar nicht gemerkt, dass ich stehen geblieben bin.

»Sorry«, murmle ich und folge den beiden nach vorne. Links sind noch Plätze in der ersten Reihe frei.

Allmählich füllt sich der Saal, trotzdem herrscht vollkommene Stille. Abgesehen von nervösem Geflüster ist nichts zu hören. Das Theater hat diese Wirkung – es fühlt sich nicht richtig an, sich hier zu unterhalten. Als würde lautes Gequatsche die Magie zerstören, die den Saal erfüllt.

»Ich glaube, er ist noch nicht da.« Susannah lehnt sich nach vorne und späht an uns vorbei Richtung Saalmitte, wo in der ersten Reihe das Lehrpersonal sitzt.

Ich kann nicht anders, ich folge ihrem Blick, bin auf einmal doch neugierig und entdecke Mr Conrad, Ms Chelsea, Francesca und Mrs Prince, daneben die Lehrerinnen und Lehrer der Jüngeren, aber kein neues Gesicht.

»Vielleicht ist er spät dran«, murmelt Katie, lehnt sich jetzt auch nach vorne und schiebt sich so in mein Blickfeld.

»Vielleicht hat er sich ja auch umentschieden und will doch nicht hier unterrichten.« Susannah lässt sich tiefer in die Polster ihres Sitzes sinken und streicht sich eine lange Haarsträhne hinters Ohr.

»Hoffentlich nicht.« Katie schlägt die Beine übereinander. »Ein bisschen Abwechslung wäre doch mal ganz nett.«

»Nur weil ein neuer Lehrer an die Schule kommt, heißt das noch lange nicht, dass wir irgendwas mit ihm zu tun haben werden«, sage ich leise. »Ich glaube nicht, dass Pearson einen Neuen auf den Abschlussjahrgang loslässt.«

»Wahrscheinlich nicht«, gibt Susannah zu. »Aber wer weiß. So oder so ist es aufregend und …« Sie verstummt, als Direktor Pearson die Bühne betritt, ein warmes Lächeln auf dem attraktiven Gesicht. Ihm sind die Jahre als Tänzer anzusehen, auch wenn er seit zehn Jahren nicht mehr selbst auf der Bühne steht, sondern diese Schule leitet. Trotzdem bewegt er sich immer noch mit der gleichen Geschmeidigkeit, wie alle, die ihr Leben dem Ballett gewidmet haben. Seine dunklen, von silbergrauen Strähnen durchzogenen Haare sind nach hinten gestylt, zu einer grauen Stoffhose trägt er ein weißes Hemd, die Ärmel lässig bis zu den Ellbogen hochgekrempelt.

»Kaum zu glauben, dass die Ferien schon wieder vorbei sind, ich hoffe, ihr konntet sie genießen.« Sein Blick schweift durch den Saal, es fühlt sich jedes Mal so an, als würde er mit jedem Einzelnen von uns allein sprechen. »Im Namen des gesamten Kollegiums heiße ich euch alle herzlich willkommen zu einem neuen Schuljahr an der New England School of Ballet. Die meisten von euch haben den Anfang der Rede, die ich gleich halten werde, schon das ein oder andere Mal gehört, ich würde mich trotzdem freuen, wenn ihr zuhört, schließlich ist es inzwischen doch schon Tradition, dass wir das Schuljahr so beginnen.« Sein Lächeln wird breiter, hinter uns kichern ein paar Mädchen. Ich muss lächeln, ein stolzes Kribbeln breitet sich in meinem Bauch aus, weil ich weiß, was gleich kommt. Dieser Teil, zu Beginn seiner Rede, der immer ähnlich, aber nie gleich ist. Wenn es darum geht, dass wir hergekommen sind, weil wir die beste Ausbildung absolvieren. Weil wir auf die Bühne wollen. Weil Ballett unser Leben ist. Ich bin nicht die Einzige, die an seinen Lippen hängt, während er spricht. Alle hören zu, alle fühlen, was Pearson sagt. Was er meint. Was er uns mitgeben möchte.

»Ich wünsche mir, dass alle von euch ihren Platz in der Welt des Balletts finden, und ich freue mich sehr, dass wir euch auf eurem Weg dorthin begleiten können. Habt Freude an dem, was ihr tut. Genießt die Zeit an unserer schönen Schule«, kommt Pearson schließlich zum Ende seiner Rede. »Bevor ich euch jetzt allerdings zu unserem Kennenlernessen entlasse, möchte ich euch noch jemanden vorstellen. Einige von euch haben schon mitbekommen, dass wir unser Lehrpersonal in diesem Jahr etwas erweitern. Es ist noch gar nicht lange her, da war er selbst Schüler hier. Jetzt ist er zurück, um uns dabei zu helfen, das Beste aus euch herauszuholen. Bitte heißt Phoenix Sutherland herzlich willkommen.«

Ich horche auf, mein Herz gerät aus dem Takt.

Nein … Nein, das kann nicht sein.

Wirklich nicht, das ist ein dummer Zufall, mehr nicht. Nur ein Vorname. Mehr nicht, mehr nicht, mehr nicht.

Pearson macht einen Schritt zur Seite, streckt einen Arm aus, den Blick auf den Bühnenaufgang gerichtet. Eine schlanke, hochgewachsene Gestalt betritt die Bühne.

Zuerst fällt mein Blick auf die dunkle Jeans und den schwarzen Hoodie, beides absolut unpassend, nicht nur wegen der sommerlichen Temperaturen heute, sondern vor allem für diesen Anlass. Erst dann sehe ich in sein Gesicht.

Und. Die. Welt. Bleibt. Stehen.

Nur einen Moment lang.

Einen Moment, den ich brauche, um zu verarbeiten, was hier vor sich geht.

Weil ich nicht nur diesen Namen kenne, sondern auch dieses Gesicht. Die scharf geschnittenen Wangenknochen, die vollen Lippen, die gerade Nase. Ich kenne diese dunklen Augen, die direkt in mich hineingeschaut haben.

Meine Hand schließt sich ganz von selbst um den Anhänger, der an der Kette um meinen Hals hängt. Der Kette, die mir nicht gehört.

»Danke, dass ich hier sein darf, Direktor Pearson«, sagt er mit einem knappen Nicken. Seine Stimme lässt mich erschauern.

Mir wird kalt und heiß zugleich, meine Sicht verschwimmt. Ich kann nicht denken, kann nicht atmen, kann nicht begreifen, dass er tatsächlich hier ist. Mir wird schwindelig.

Er sollte überall sein, nur nicht hier. Nicht auf dieser Bühne. Nicht in dem Theater meiner Schule. Nicht als verdammter Lehrer. In meinen Ohren rauscht es, mein Puls rast, das kann echt nicht sein.

Er sieht immer noch genauso gut aus wie vor drei Monaten, beinahe noch besser. Seine dunklen Haare sind ein bisschen kürzer als damals.

Ich will aufspringen und weglaufen, als würde das etwas nützen. Er ist hier, und er bleibt.

Phoenix.

Meine Lippen formen seinen Namen, aber ich bringe keinen Ton heraus. Meine Kehle ist wie zugeschnürt.

Eine Nacht.

Ein Fehler.

Ein hysterisches Lachen steigt in mir auf.

Ich habe mit ihm geschlafen.

Und ich habe ihn bestohlen.

Jetzt ist er hier, und absolut nichts daran kann gut sein.

ZWISCHENSPIEL

Ophelia

2. Juli, 11:33 PM

Ich glaube, ich sterbe. Hier und jetzt. Und es würde mir nicht mal etwas ausmachen. Nicht solange sein Mund meinen Hals hinabwandert, während seine Finger über meine Beine streichen. Mir kommt ein sehnsüchtiges Seufzen über die Lippen, ich drücke den Rücken durch.

»Bist du ungeduldig, Ophelia?«, raunt er, seine Stimme jagt mir einen heißen Schauer über den Rücken. Ich liebe die Art und Weise, wie er meinen Namen sagt.

Niemand nennt mich Ophelia, ich hasse meinen Namen, aber heute … Heute hat er sich irgendwie richtig angefühlt. Ich habe ihn ausgesprochen, ohne auch nur eine Sekunde darüber nachzudenken, als er mich gefragt hat, wie ich heiße.

Eine Nacht.

Ein Fehler.

Ein Fehler, der sich nicht nach mir angefühlt hat. Nicht nach Lia. Aber ein bisschen nach Ophelia. Vielleicht habe ich ihm auch meinen richtigen Namen gesagt, weil ich wollte, dass ein Teil von mir bei ihm bleibt, wenn ich nach dieser Nacht verschwinde.

»Ja«, bringe ich bebend hervor, winde mich unter seinen Händen. Ich brenne vor Ungeduld.

Nur noch ein Stück, nur noch ein kleines Stück, und seine Finger sind da, wo ich sie haben will, wo ich sie brauche.

»Phoenix.« Sein Name ist Flehen und Verlangen in einem. »Bitte.«

Ich bettle ihn an, und ich schäme mich nicht dafür. Nein, nicht vor ihm.

Ich mache so was nicht – habe so etwas nicht gemacht, denn jetzt ist alles anders. Seinetwegen. Ich habe mich noch nie so gefühlt wie mit ihm. So schön. So begehrt. So absolut … hemmungslos.

Wieder lächelt er, ich kann es spüren, sein Mund wandert weiter nach unten, seine Zunge spielt mit meinen Nippeln. Das Ziehen in meinem Unterleib wird stärker, unerträglich, er muss etwas tun, er muss mich erlösen.

Oh Himmel, was passiert mit mir?

Mein Verstand funktioniert nicht mehr, ich kann nicht mehr denken, nur noch fühlen, und es ist besser als alles.

Ich vergesse, wo ich bin, wer ich bin, wer mich überhaupt erst zu ihm getrieben hat. Warum er mich retten musste.

Mein dunkler Ritter.

Gerade bin ich fast dankbar dafür.

Nein, nicht nur fast.

Vollkommen.

Seine Fingerspitzen wandern an den Innenseiten meiner Oberschenkel nach oben, lassen ein elektrisierendes Kribbeln durch meinen Körper jagen, verharren … verharren … Ich sterbe. Wirklich.

»Phoenix, bitte«, flehe ich ein zweites Mal, hebe das Becken, und er bewegt sich in einer fließenden Bewegung nach unten, sein Kopf verschwindet zwischen meinen Beinen, und dann ist seine Zunge da … Seine Zunge, seine Finger, und ich habe mich geirrt.

Jetzt sterbe ich.

Ich stöhne auf, als seine Zunge endlich, endlich, endlich diesen Knoten berührt, der vor Verlangen beinahe schmerzt.

Er leckt mich, lässt einen Finger in mich gleiten, dann noch einen, meine Muskeln ziehen sich zusammen.

Ich vergrabe die Finger in seinen Haaren, ziehe an den weichen Strähnen, und es ist mir egal, ob ich ihm wehtue. Er stößt mit beiden Fingern in mich, hart und unerbittlich. Mein Körper steht in Flammen, ich stehe in Flammen.

Er legt eine Hand auf meinen Bauch, drückt mein Becken nach unten, als ich mich wimmernd vor Verlangen aufbäume, weil ich einfach nicht mehr kann.

Es ist der Druck, der mich über die Kante stößt, das und seine Zunge und er.

Ich presse die Lippen aufeinander, um den Schrei zu unterdrücken, der in mir aufsteigt. Aber ich kann nicht, nicht wenn seine Zunge über meine Mitte schnellt, sanft und fest zugleich, weil er mich schreien hören will. Ich falle, und er fängt mich auf, während sich die Muskeln in meinem Inneren wieder und wieder um seine Finger zusammenziehen.

Es dauert, bis mein Körper zur Ruhe kommt, unendlich lange und doch nicht lang genug.

Phoenix hebt den Kopf. Seine Haare sind zerzaust. Meinetwegen. Seine Lippen glänzen. Meinetwegen.

Er lächelt, ein Lächeln, das mir alle Sünden dieser Welt verspricht, und ich will jede einzelne davon auskosten. Sein Blick, dunkel und verhangen, bohrt sich in meinen.

Etwas in mir zerbricht, und es ist nicht mein Herz, vielleicht meine Seele. Ich fühle mich nackt und verletzlich. Nicht, weil ich nackt vor ihm liege. Sondern weil er mich anschaut, als würde er mich sehen.

Lia.

Ophelia.

Und ich habe mich noch nie so schön gefühlt. Noch nie so sehr wie ich selbst.

4. KAPITEL

Lia

Meine Finger haben sich so fest um den Kettenanhänger an meinem Hals geschlossen, dass es eigentlich wehtun müsste, doch ich spüre es kaum, obwohl sich das Metall in meine Haut gräbt.

Er ist hier. Er ist hier. Er ist hier.

In meinem Kopf ist nur Platz für diesen einen Gedanken, dabei sollte ich mich darauf konzentrieren, was die beiden Mädchen erzählen, mit denen ich an einem der Stehtische stehe, die wie jedes Jahr für das »gemeinsame Miteinander« im Foyer aufgestellt wurden, während Pearson seine Rede gehalten hat. Ich scheitere kläglich, ihre Stimmen vermischen sich zu einem undeutlichen Rauschen. Ich habe sogar ihre Namen schon wieder vergessen, und das passiert mir sonst nie.

Normalerweise bin ich gut darin, am ersten Tag von einem Tisch zum nächsten zu gehen, um mit den Neuen zu plaudern und ihnen ein bisschen von ihrer Unsicherheit und Nervosität zu nehmen. Ich erzähle vom Unterricht, davon, wie schön es ist, Teil der Schule zu sein und mit allen anderen im Wohnheim zu wohnen. Ich bin entspannt, die Ruhe selbst, immer mit einem beruhigenden Lächeln auf dem Gesicht. Ich spiele genau die Rolle, die ich mir selbst gegeben habe.

Heute nicht. Heute sind meine Schultern verkrampft, ich bin mindestens genauso nervös wie sie, wenn nicht noch mehr. Ich will von hier verschwinden, mich verstecken, aber das geht nicht. Es würde Fragen aufwerfen. Fragen, die ich auf gar keinen Fall beantworten will. Katie und Susannah würden es merken, wenn ich einfach gehe, alle würden es merken. Ich kann mich nicht einfach wegschleichen.

Also bleibe ich, zwinge mich, zu lächeln, und nicke, wenn ich glaube, dass es angebracht ist, während ich mich an der Kette festhalte, als könnte sie mich irgendwie vor dem bewahren, was unweigerlich auf mich zukommen wird.

Ich spüre seine Anwesenheit mit jeder Faser meines verräterischen Körpers. Er steht irgendwo hinter mir, unterhält sich mit jemandem, ich weiß nicht, mit wem, ich traue mich nicht, mich zu ihm umzudrehen.

Ihn anzusehen.

Einen Moment lang glaube ich, wieder seine Hände auf mir zu spüren, seine Lippen. Seine Zunge.

Hitze durchströmt mich, meine Handflächen werden feucht. Ich schlucke schwer, mein Mund ist auf einmal ganz trocken. Diese Bilder müssen aus meinem Kopf verschwinden, es ist nicht fair. Ich habe mich den ganzen Sommer bemüht, sie aus meiner Erinnerung zu verbannen, habe mich gezwungen, nicht an ihn zu denken … Nur manchmal, da habe ich es doch getan. Wenn ich nachts alleine in meinem Bett lag und nicht schlafen konnte.

Dann habe ich an ihn gedacht und seine Finger auf meiner Haut, daran, wie ich mich zusammen mit ihm gefühlt habe. Frei und sehr lebendig. Deswegen habe ich auch die Kette mitgenommen. Eine dumme Kurzschlussreaktion, ich habe nicht nachgedacht, sondern sie einfach eingesteckt, diese Kette, an der ein winzig kleiner Kompass hängt. Eine flache silberne Scheibe mit einem goldenen Stern in der Mitte, der die Himmelsrichtungen markiert. Mir ist klar, dass es falsch war, sie mitzunehmen, aber zurückgeben konnte ich sie nicht, und in den letzten Monaten ist die Kette zu einem Teil von mir geworden. Eine Erinnerung daran, wer ich mit ihm zusammen war. Dass ich eine Nacht lang vollkommen ich selbst sein konnte.

Einfach nur ich, weil er es mir so leicht gemacht hat, alles andere zu vergessen. Wer ich vorgebe, zu sein, wie ich mich verhalten sollte, die ständigen Enttäuschungen.

Mit ihm war ich nur ich selbst.

Und das war genug.

»Lia?« Die fragende Stimme eines der Mädchen, die mir gegenüberstehen, reißt mich abrupt aus meinen Gedanken.

Ertappt hebe ich den Blick. »Entschuldige, was hast du gesagt?«

»Ich wollte nur wissen, wie lange die ganze Sache hier noch dauert. Weißt du das?«

»Ja, Sekunde.« Ich schaue auf die schmale Armbanduhr an meinem Handgelenk. Es ist später als gedacht, fast halb acht. »Nicht mehr so ewig. Länger als acht geht das hier nie.«

»Okay, danke.« Sie wird rot. »Ich hab meinem Freund versprochen, gleich noch mal anzurufen«, sagt sie, als müsste sie ihre Frage irgendwie rechtfertigen.

Die Mädchen reden weiter, aber ich verstehe kein Wort, sondern greife wieder nach der Kette. Ich will mich so sehr zu ihm umdrehen, dass es beinahe wehtut, mich davon abzuhalten. Ich will herausfinden, ob er mich schon gesehen hat oder ob er noch gar nicht weiß, dass ich hier bin, aber das wäre ein Fehler.

So, wie alles ein Fehler war.

Einfach absolut alles.

Denn jetzt ist er hier, und das ist eine Katastrophe epischen Ausmaßes. Etwas, das sich so völlig meiner Kontrolle entzieht, dass mein Herz in meiner Brust herumspringt und ich kurz davor bin, den Verstand zu verlieren.

Wir haben geredet in jener Nacht, viel geredet. Ich habe ihm Dinge anvertraut, die ich niemandem sonst jemals erzählt habe. Meine Schultern spannen sich an, ich will weglaufen. Ganz weit weg. Warum nur habe ich ihm so viel erzählt? Warum konnte ich nicht einfach den Mund halten? Warum mussten wir überhaupt anfangen zu reden?

Warum, warum, warum?

Weil es sich erschreckend richtig angefühlt hat. Weil er so war, wie er nun mal war, und weil ich fest davon überzeugt war, ihn nie wiederzusehen.

Es hatte seine Gründe, dass wir uns nur unsere Vornamen verraten haben. Wir wollten uns nicht wiederfinden, es ging nur um diese eine Nacht. Mehr nicht.

Wir haben nicht darüber gesprochen, wo wir arbeiten oder studieren, nicht über die Namen unserer Familien. Wir haben keine Handynummern getauscht, nichts. Ich hätte ihn nur dann wiedergesehen, wenn ich zu seiner Wohnung gegangen wäre. Er hingegen hätte mich nie gefunden. Ich habe ihm gesagt, dass ich am nächsten Tag nach London fliege. Was die Wahrheit war. Ich habe nur mit keinem Wort erwähnt, dass ich nach dem Sommer zurückkehren würde. Hätte es etwas geändert, wenn ich das getan hätte? Nein, sicher nicht. Oder doch? Vielleicht wären wir dann doch auf das Ballett zu sprechen gekommen und hätten gewusst, dass wir uns hier wiedersehen.

Und dann?

Und dann und dann und dann?

Nichts und dann.

Seine Anwesenheit würde trotzdem alles durcheinanderbringen. Oder auch nur mich, ich bin mir nicht sicher. Ich bin mir wegen gar nichts mehr sicher. Wie soll ich ihm unter die Augen treten? Er weiß, dass ich ihn bestohlen habe. Er muss es wissen, oder? Er muss mitbekommen haben, dass die Kette weg ist.

»Sorry, Mädels, ich muss euch Lia kurz entführen. Lia, du musst mitkommen!« Eine schmale Hand schließt sich um mein Handgelenk und zieht mich vom Tisch fort. Ich bin zu überrumpelt, um mich gegen Katies Griff zu wehren.

»Katie, du kannst doch nicht …« Über die Schulter hinweg werfe ich den beiden Mädchen einen entschuldigenden Blick zu, bevor ich mich wieder an meine Freundin wende. »Was soll das?«

Katie lacht unbeschwert. »Wir haben etwas Wichtiges zu erledigen.«

»Ach echt? Was denn?«

»Wir werden jetzt rübergehen und uns Mr Sutherland vorstellen.«

Mein Herz setzt einen Schlag aus, bevor es viel zu schnell weiterschlägt. Nein, nein, nein. Ich kann nicht zu ihm gehen. Auf keinen Fall.

»Kannst du das nicht allein machen?« Ich stemme mich gegen Katies Griff, und sie wird tatsächlich ein bisschen langsamer, bleibt aber nicht stehen. Mein Blick huscht durch den Raum, ich finde Phoenix zusammen mit Pearson auf der anderen Seite des Saals, in ein Gespräch vertieft, das ich echt nicht unterbrechen möchte.

»Nein, komm schon. Du kannst mich doch nicht alleine rübergehen lassen.«

»Dann nimm Susannah mit. Sie will ihn bestimmt genauso dringend kennenlernen wie du«, erwidere ich, aber auch das hält sie leider nicht auf.

»Ja, schon, aber sie ist gerade weg. Keine Ahnung, wo sie sich rumtreibt. Warum stellst du dich so an?« Katie wirft mir einen fragenden Blick zu.

Weil ich mit ihm geschlafen habe. Ich habe mit unserem Lehrer geschlafen und ihn bestohlen, und jetzt drehe ich durch, weil er hier ist und ich keine Ahnung habe, wie ich damit umgehen soll, will ich sagen, aber ich bringe die Worte nicht über die Lippen. Alles in mir sträubt sich dagegen, ihr die Wahrheit zu sagen.

»Tu ich nicht«, lüge ich stattdessen hastig.

»Doch, irgendwie schon.« Ihre Augen verengen sich zu schmalen Schlitzen, und mir wird schlagartig kalt. In meinem Bauch breitet sich ein Gefühl von Angst aus.

»Nein, echt nicht.«

»Sicher?«

»Ja, ganz sicher«, sage ich so überzeugend wie möglich und hoffe, dass sie mir endlich glaubt.

»Okay, dann komm.« Sie zieht mich weiter. »Du kannst mir nicht erzählen, dass du nicht neugierig auf Mr Sutherland bist. Er ist echt heiß, oder? Und superjung. Der absolute Jackpot. Auch wenn er kein Brite ist.« Sie kichert, und ich muss den Drang unterdrücken, mich auf der Stelle zu übergeben. »Was meinst du, wie alt er ist?«

»Keine Ahnung«, sage ich tonlos, und dann, bevor Katie kann, bevor ich mich doch noch umentscheiden und weglaufen kann, haben wir Pearson und Phoenix schon erreicht.

Sie stehen mit dem Rücken zu uns, so unterschiedlich, wie zwei Männer nur sein können, nicht nur weil Phoenix sehr viel jünger ist. Ihre Körpersprache, ihre Haltung und nicht zuletzt ihre Klamotten sind völlig verschieden.

Pearson ist vollkommen entspannt, in seiner Stoffhose und dem Hemd, die Schultern sind locker, der Rücken gerade. Phoenix macht eher den Eindruck, als wäre er überall lieber als hier, die Hände in die Taschen seiner Jeans vergraben, mit verkrampften Schultern. Sie unterhalten sich, ich kann jedoch nicht verstehen, worüber.

»Direktor Pearson?« Katies Stimme ist glockenhell.

Die beiden Männer drehen sich gleichzeitig zu uns um. Phoenix’ Blick trifft zielsicher meinen, er scheint Katie gar nicht zu bemerken. Mir stockt der Atem, meine Hand zuckt nach oben, schließt sich erneut um den Anhänger. Es ist reiner Instinkt, aber er darf ihn nicht sehen, sonst bin ich verloren.

Bist du das nicht sowieso schon?

Im ersten Moment wirkt er verwirrt, er kann mein Gesicht anscheinend nicht zuordnen, und irgendwas daran versetzt mir einen schmerzhaften Stich mitten ins Herz. Dann huscht Erkennen über seine Züge, und seine Augen – so dunkelbraun, dass sie beinahe schwarz erscheinen – weiten sich.

Neben mir sagt Katie irgendwas zu Pearson, ich höre schon wieder nicht zu, das kommt im Moment entschieden zu oft vor, aber ich kann nur ihn anschauen, meine Brust wird eng, ich bekomme keine Luft.

Reiß dich zusammen. Du kannst das. Tu einfach so, als wäre nichts, als würdet ihr euch nicht kennen.

Aber nein, ich kann es nicht. Ich kann nicht so tun, als wäre nichts, und ich kann mich nicht zusammenreißen. Ich verliere die Kontrolle über mich und die ganze verfluchte Situation. In meinen Ohren rauscht es. Zwei, drei, vier Sekunden lang starren wir uns einfach nur an, dann fängt er sich, einen Moment eher als ich.

Auf seinem Gesicht breitet sich ein höflich-distanziertes Lächeln aus, und das Einzige, was mir dazu einfällt, ist, dass das so nicht richtig ist, dass sein Lächeln anders war, sein wahres Lächeln.

Aber das war in jener Nacht, und jetzt sind wir hier, und alles ist anders. Wir sind anders. Er und ich.

Er. Und. Ich.

5. KAPITEL

Phoenix

Es ist seltsam, wieder hier zu sein. In dieser Stadt, an dieser Schule. Knapp vier Jahre sind vergangen, seit ich nach New York geflohen bin.

Vier Jahre, und es ist trotzdem noch alles da. Der Schmerz. Die Schuld. Die Verantwortung.

Ich dachte, ich wäre darüber weg. Dass die Zeit gereicht hätte, um diese verfickten Gefühle loszuwerden. Ich habe mich geirrt.

Seit ich hier bin, ist alles wieder da, und es fühlt sich an, als würde eine Schlinge um meinen Hals und Stacheldraht um mein Herz liegen. Beides zieht sich mit jeder Minute, die ich hier stehe, weiter zu.

Millimeter für Millimeter.

»Ich freue mich wirklich sehr, dass du zurückgekommen bist, um hier zu unterrichten, Phoenix.« Pearson schenkt mir ein warmes Lächeln.

»Danke. Ich freue mich auch«, antworte ich zum tausendsten Mal, schlucke das »Direktor Pearson«, das mir auf der Zunge liegt, herunter, weil er mir schon etliche Male gesagt hat, ich soll ihn Travis nennen. Er ist nicht mehr mein Direktor, sondern mein Boss, obwohl das im Grunde das Gleiche ist. Nur dass ich kein Schüler mehr an der New England School of Ballet bin, sondern angehender Lehrer.

Ein verfluchter Heuchler bist du, mehr nicht.

Meine Hände ballen sich zu Fäusten, ich beiße die Zähne aufeinander, versuche, diese Stimme in meinem Kopf auszublenden, doch sie ist hartnäckig und viel zu laut.

»Du wirst dich bestimmt schnell wieder einleben«, fährt Pearson fort.