Stay Here - New England School of Ballet - Anna Savas - E-Book

Stay Here - New England School of Ballet E-Book

Anna Savas

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Beschreibung

Es beginnt mit einem Song

Seit dem Tod ihrer Eltern hat Rayne Bellamy jeden Halt verloren. In der Hoffnung, sich so ihrer Mutter näher zu fühlen, zieht sie nach Boston und beginnt ein Studium an der New England School of Ballet. Dort trifft sie Easton, der sie versteht wie niemand sonst auf der Welt. Doch sie kann die Gefühle, die er in ihr weckt, nicht zulassen, auch wenn sie sich tiefer und echter anfühlen als alles, was sie zuvor empfunden hat. Denn eigentlich ist sie doch nur nach Boston gekommen, um zu tanzen und den Traum ihrer Mutter zu verwirklichen ̶ und nicht, um sich in den Sänger zu verlieben, der mit seiner Band kurz vor dem Durchbruch steht. Aber je tiefer sie sich in Eastons Musik verliert, desto stärker gerät ihre eigene Welt ins Wanken ...

»Rayne und Easton sind der Inbegriff von Vertrauen und ergänzen sich auf die beste Weise. Annas emotionaler Schreibstil macht STAY HERE zu einem der gefühlvollsten New-Adult-Romanen über eigene Wünsche und schmerzhafte Selbstfindung.« BECCASBIBLIOTECA

Band 2 der New-Adult-Reihe an der NEW ENGLAND SCHOOL OF BALLET von Anna Savas

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Seitenzahl: 537

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INHALT

Titel

Zu diesem Buch

Leser:innenhinweis

Widmung

Playlist

1. Teil: Intro

Mockingbird

Prolog

Danach

2. Teil: Erste Strophe

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

Davor

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

3. Teil: Pre-Chorus

Davor

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

Davor

4. Teil: Chorus

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

Davor

17. Kapitel

18. Kapitel

Davor

19. Kapitel

20. Kapitel

Dance With You ’til Midnight

5. Teil: Zweite Strophe

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

Davor

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

6. Teil: Pre-Chorus

Davor

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

7. Teil: Chorus

32. Kapitel

Davor

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

8. Teil: Bridge

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

9. Teil: Breakdown

Jetzt

42. Kapitel

43. Kapitel

44. Kapitel

45. Kapitel

46. Kapitel

47. Kapitel

48. Kapitel

49. Kapitel

50. Kapitel

10. Teil: Outro

Epilog

Nachwort

Danksagung

Die Autorin

Die Romane von Anna Savas bei LYX

Impressum

ANNA SAVAS

Stay Here

NEW ENGLAND SCHOOL OF BALLET

Roman

ZU DIESEM BUCH

Seit dem plötzlichen Tod ihrer Eltern hat Rayne Bellamy jeden Halt verloren. In der Hoffnung, sich ihrer Mutter näher zu fühlen, die ebenfalls an der renommierten Ballett-Akademie studiert hat, zieht sie nach Boston und beginnt dort ein Studium an der New England School of Ballet. Der ersehnte Neuanfang ist leider härter als gedacht. Aber zum Glück ist dort auch Easton, der vor Kurzem einen Song ihres Vaters gecovert und mit dem sie seitdem regelmäßig Nachrichten ausgetauscht hat. Easton versteht sie wie niemand sonst auf der Welt. Bei ihm fühlt sie sich geborgen, das Haus, in dem er mit seiner Band lebt, ist voller Musik und gibt ihr das erste Mal seit langer Zeit so etwas wie ein Zuhause. Die Gefühle, die Easton in ihr weckt, sind tiefer und echter als alles, was sie jemals empfunden hat. Dabei ist sie doch nur nach Boston gekommen, um zu tanzen und den Traum ihrer Mutter zu verwirklichen – und nicht, um sich in den Sänger zu verlieben, der mit seiner Band kurz vor dem Durchbruch steht. Denn je mehr Rayne sich in seiner Musik verliert, desto stärker gerät ihre eigene Welt ins Wanken …

Liebe Leser:innen,

dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte.

Deshalb findet ihr hier eine Triggerwarnung.

Achtung: Diese enthält Spoiler für das gesamte Buch!

Wir wünschen uns für euch alle das bestmögliche Leseerlebnis.

Eure Anna und euer LYX-Verlag

Für Dich

PLAYLIST

lovely – billie eilish, khalid

matilda – harry styles

echo (acoustic) – alexander stewart

good die young – elley duhé

love and hate – camylio

sign of the times – harry styles

me myself & i – 5 seconds of summer

traffic lights – sara kays

house of cards – alexander stewart

pray – jxdn

where’s my love (alternate version) – syml

you don’t go to parties – 5 seconds of summer

feel something – bea miller

two ghosts – harry styles

willow – taylor swift

ocean eyes – billie eilish

bigger than the whole sky – taylor swift

moonlight – chase atlantic

slip away – unsecret, ruelle

long sleeves – gracie abrams

homesick – lexi jayde

just fucking let me love you – lowen

always you – louis tomlinson

1. TEIL

Intro

MOCKINGBIRD

Written and performed by: Liam Bellamy

You were always chasing heights

Beautiful and brave

Dancing fearless through the nights

Knowing you are safe

Suddenly a voice appears

Rushing through your head

Gives you worries and dark fears

Keeping you awake

Sometimes it’s okay to get help

Fighting back the dust

Spread your wings, untie your chains

Make your voice get heard

We’ll be dancing in the rain

My lovely mockingbird

Hearts can break from time to time

Fragile little souls

Getting smaller, seem to hide

The things you used to know

When your world just seems too empty

When you lose your way

When you feel like you can’t find the

Strength to make you stay

Know that I’ll be here to catch you

When you think you fall

Know that I’ll be here to guide you

When you lose it all

Promise you’ll find back to yourself

When you dare to trust

Sometimes it’s okay to get help

Fighting back the dust

Spread your wings, untie your chains

Make your voice get heard

We’ll be dancing in the rain

My lovely mockingbird

PROLOG

Rayne

Es beginnt mit einem Song.

Meinem Song. Okay, genau genommen ist es nicht mein Song. Mein Dad hat ihn geschrieben, aber es geht darin um mich. Mockingbird. Das bin ich.

Die Töne sind vertraut. Der Songtext. Der Klang der Gitarre. Ein bisschen rau, weil das Instrument wahrscheinlich ziemlich alt ist. Aber das ist nicht schlimm.

Alles an dem Song ist vertraut.

Nur die Stimme nicht. Auch sie ist ein wenig rau und gleichzeitig unglaublich weich. Wie Seide über Schmirgelpapier. Ich weiß nicht, ob ich jemals zuvor so eine Stimme gehört habe. Nicht mal Dad hat so eine Stimme, dabei hat seine ihn berühmt gemacht. Sie ist genauso rau, aber viel tiefer, sie vibriert in der Brust, und ich bekomme jedes Mal eine Gänsehaut, wenn Dad singt.

Aber diese Stimme hier geht mir unter die Haut, nistet sich in jeder Faser meines Körpers ein. Sie dringt bis in mein Herz, das aufgeregt in meiner Brust tanzt.

Sometimes it’s okay to get help

Fighting back the dust

Spread your wings, untie your chains

Make your voice get heard

We’ll be dancing in the rain

My lovely mockingbird

Die letzten Töne verklingen, der Song ist zu Ende. Ich starte das Video wieder von vorne. Zum dreizehnten Mal. Der Song läuft seit einer Stunde in Dauerschleife. Ich muss ihn meinem Dad vorspielen, wenn er nach Hause kommt. Diese Version wird ihm gefallen, das weiß ich. Sie ist anders als alle anderen, die ich bisher gefunden habe. Eher eine Mischung aus Pop und Rock. Schneller und poppiger, weniger melancholisch als Dads Akustikversion. Dads Song wird von seiner Stimme und seiner Gitarre beherrscht, mehr nicht. Die meisten versuchen, an das Original der Ballade ranzukommen, was allerdings den wenigsten gelingt, und selbst wenn, klingt es eher nach einer Kopie. Diese Jungs hier haben den Song zu ihrem eigenen gemacht.

Ich habe unzählige Versionen von Mockingbird gefunden, weil ich täglich danach suche. Vielleicht bin ich ein bisschen besessen davon, den Menschen dabei zuzuhören, wie sie über mich singen. Aber keine war wie diese.

Drei Coverversionen habe ich Dad bisher gezeigt. Eine mochte er. Das ist zwei Jahre her. Casey, die junge Frau, die den Song gesungen hat, hat daraufhin einen Plattenvertrag von Dads Label bekommen. Inzwischen singt sie ihre eigenen Songs, tourt um die Welt und lebt das Leben, von dem sie immer geträumt hat.

Und ich hocke immer noch im Wohnzimmer des Anwesens meiner Eltern in Los Angeles und suche nach dem perfekten Cover. Damals dachte ich, ich hätte es gefunden.

Heute weiß ich, dass es nicht so war. Heute weiß ich, dass das hier besser ist. Dass er besser ist. Dieser Typ, der mit seiner Gitarre in der Hand in einem Plattenladen steht und meinen Song singt. Und er singt ihn nicht einfach nur, er fühlt ihn. Jede Zeile, jedes Wort. Mich.

Er ist nicht allein. Sie sind zu viert, die Jungs von We Are No Saints, und sie sind alle gut, verdammt gut sogar. Ein Typ mit dunklem Buzz-Cut sitzt hinter dem Schlagzeug, ein breites Grinsen auf den Lippen. Er spielt, als würde sein Leben davon abhängen und als würde er es bereitwillig opfern, einfach nur, um spielen zu können. Den anderen scheint es genauso zu gehen. Der Kerl, der die Bassgitarre in den Händen hält, hat ein Piercing in der Augenbraue und einen konzentrierten Ausdruck auf dem Gesicht. Seine Hände bewegen sich schnell und sicher, als hätte er das schon tausendmal gemacht. Und dann sind da noch die beiden Sänger. Beide mit ihren Gitarren vor dem Körper. Einer blond, einer dunkelhaarig. Rhythmusgitarre und Leadgitarre. Der Blonde singt die Harmonien. Er hat eine schöne Stimme, weich und klar, die perfekt zu der Stimme des anderen passt. Dem Leadsänger. Dem Typen, wegen dem ich das Video wieder und wieder gestartet habe. Wegen dieser Stimme, die mein Herz zum Flattern bringt.

Er ist wahrscheinlich ein paar Jahre älter als ich, irgendwas Anfang zwanzig. Dunkle, zerzauste Haare, die an den Seiten etwas kürzer sind als oben, und ein Gesicht, für das man hier in Hollywood töten würde. Klare, scharf geschnittene Züge, volle Lippen, dichte Brauen und Wimpern. Seine Augen sind halb geschlossen, sodass ich nicht erkennen kann, welche Farbe sie haben. Nur dass sie dunkel sind.

Er ist umwerfend. Aber sein Gesicht ist nicht der Grund dafür, warum ich wieder und wieder dieses YouTube-Video starte, sondern seine Stimme. Und seine Hände. Ich habe eine Schwäche für schöne Hände, und seine sind verdammt schön, mit langen, schlanken, sehr geschickten Fingern.

Ein Kribbeln durchläuft mich, als ich das Video ein weiteres Mal starte. Es ist viel zu gut. Ich könnte ihm ewig zuhören.

Eine Hand legt sich auf meine Schulter, und ich fahre erschrocken herum. Dad steht hinter mir. Seine Lippen bewegen sich, aber ich kann ihn nicht verstehen, weil ich immer noch höre, wie dieser Typ Mockingbird in mein Ohr singt.

Ich nehme die Kopfhörer ab und reiche sie Dad. »Du musst dir das anhören«, fordere ich ihn auf, ohne ihn zu begrüßen, ohne ihn zu fragen, was er gerade gesagt hat.

Seine dunklen Augenbrauen wandern nach oben, ein Lächeln umspielt seinen Mund. »So gut?«

»Besser.« Ich kann den aufgeregten Unterton in meiner Stimme nicht verbergen, und mein Blick zuckt ganz von selbst zu Dads Grammy, der auf dem Kamin steht und im sanften Licht der Stehlampe golden aufleuchtet, als wollte die Skulptur des Grammophons mir etwas sagen. Dad hat den Preis damals für Mockingbird gewonnen. Für mein Lied. Fünf Jahre ist das her. Seitdem suche ich immer wieder das Internet nach Coverversionen ab.

»Dann lass mal hören.« Dad kommt um das Sofa herum und lässt sich neben mich fallen. Er trägt immer noch seinen Anzug, weil er mit Mom bei irgendeiner Gala war, lockert aber zumindest die Krawatte, bevor er sich die Kopfhörer aufsetzt und ich erst ein weiteres Mal auf Play drücke und ihm dann mein Handy reiche.

Mein Herz klopft viel zu schnell, ich beobachte jede Regung in Dads Gesicht, jedes Zucken seiner Mundwinkel und Augenbrauen, das Flackern in seinen dunklen Augen, während er zuhört.

»Liam? Hast du …« Moms Stimme verstummt gleichzeitig mit dem Klappern ihrer hohen Absätze, das auf dem Holzboden kaum zu überhören ist.

Ich drehe den Kopf in ihre Richtung und sehe sie in der Tür zum Wohnzimmer stehen, die Arme vor der Brust verschränkt, ein amüsiertes Lächeln auf den Lippen. Die hellblonden Haare fallen in einer Kaskade weicher Wellen über ihre Schultern. Sie trägt ein dunkelblaues, atemberaubendes Abendkleid, und die Anmut, die sie ausstrahlt, obwohl sie sich überhaupt nicht bewegt, versetzt mir einen albernen Stich. Sie ist wunderschön. Durch und durch eine Tänzerin, obwohl ihre Karriere noch vor meiner Geburt vorbei war.

Ich kann mich so sehr bemühen, wie ich will, ich werde nie so sein wie sie.

Der Gedanke zuckt ganz von selbst durch meinen Kopf, ich kann nichts dagegen tun, ihn nicht einfach ausblenden. Konnte ich noch nie. Entschieden dränge ich ihn beiseite. Es geht jetzt nicht ums Ballett. Nicht um Mom. Und auch nicht um mich. Nur um diesen Song.

»Ich hätte wissen müssen, dass ich euch hier finde.« Mom stößt sich vom Türrahmen ab und kommt mit geschmeidigen Schritten zu uns rüber. Sie deutet auf mein Handy, als sie sich neben mich setzt und ihre absolut mörderischen High Heels abstreift. »Was hört ihr euch an?«

»Mockingbird«, erwidere ich und werfe Dad einen kurzen Blick zu. Er hat die Augen geschlossen, eine tiefe Falte hat sich zwischen seine Augenbrauen gegraben. Er ist hochkonzentriert, und ich rutsche aufgeregt auf den weichen Polstern hin und her, weil es ewig her ist, dass ich ihn so gesehen habe, wenn er ein Cover gehört hat. Genau genommen zwei Jahre.

Mom lacht leise, die hellgrauen Augen, die ich von ihr geerbt habe, leuchten. »Warum frage ich überhaupt?«

»Keine Ahnung.« Ich grinse sie an, und sie streckt eine Hand nach mir aus, um mir eine dunkle Haarsträhne hinters Ohr zu streichen.

»Wolltest du nicht Hailey fragen, ob sie heute Abend rüberkommt? Ich dachte, ihr wolltet einen Mädelsabend machen, wenn du sturmfrei hast.«

Ich zucke mit den Schultern. Ja, wir wollten die Gelegenheit nutzen, dass meine Eltern nicht da sind. Aber manchmal gibt es wichtigere Dinge. Zumindest für meine beste Freundin. »Sie hat abgesagt. Der Typ, auf den sie steht, hat sie endlich um ein Date gebeten, und da konnte ich ihr doch nicht im Weg stehen.«

»Das ist lieb von dir.«

Ich ziehe eine Grimasse. »So bin ich.«

Aber das ist nicht die Wahrheit. Nicht wirklich jedenfalls. Hailey war diejenige, die beschlossen hat, dass ich ihr heute Abend nicht im Weg stehen kann, nicht ich. Doch das muss Mom nicht wissen.

Mom greift nach meiner Hand und drückt sie. »Hast du dann den ganzen Abend nur Musik gehört?«

»Mehr oder weniger.« Ich zucke mit den Schultern. »Ich habe auch eine neue Serie angefangen.«

Mom streckt sich. »Klingt nach einem entspannten Abend.«

»Ja. Ich …« Ich breche ab, als Dad die Kopfhörer abnimmt. »Und?«, platzt es aus mir heraus. »Was sagst du?«

»Du hast recht. Das ist gut. Richtig gut!« Sein Mund verzieht sich zu einem breiten Lächeln, und mir entfährt ein aufgeregtes Quietschen.

»Das heißt, du zeigst es Alan?«

»Das heißt, ich werde mir ansehen, was die Jungs sonst so draufhaben, und dann spreche ich mit Alan.« Er gibt mir mein Handy zurück und steht auf. »Aber zuerst muss ich aus diesem Anzug raus.«

»Das ist okay.« Grinsend presse ich das Handy an meine Brust, mein Herz schlägt wie verrückt. »Danke, Dad!«

Ich werfe ihm eine Kusshand zu und kuschle mich tiefer in die Polster der Couch, nachdem er das Wohnzimmer verlassen hat. Es hat ihm gefallen. Es hat ihm wirklich gefallen. Und er sieht sich die Jungs an.

Es ist albern, wie glücklich mich das macht.

»Süße, wir müssen noch mal über das Vortanzen sprechen«, sagt Mom, und ihre Worte versetzen dem kribbelnden Glücksgefühl in meinem Bauch einen jähen Dämpfer. »Bist du sicher, dass du nicht hingehen willst?«

Ich drehe mich zu ihr um. »Warum sollte ich? Ich werde sowieso nicht genommen. Ich bin nicht gut genug, Mom, und das weißt du genauso gut wie ich.«

»Das ist nicht wahr. Du hast Talent, Rayne.« In ihrer Stimme schwingt ein hoffnungsvoller Unterton mit, und ich hasse es, sie zu enttäuschen.

»Habe ich nicht. Ich bin keine vollkommene Katastrophe, aber ich bin nicht gut genug für die New England School of Ballet.«

Mom seufzt. »Was kann ich tun, um dich vom Gegenteil zu überzeugen? Du bist gut genug. Gut genug für alles, was du willst.«

»Mom, bitte«, bringe ich gequält hervor. Wir haben schon so oft darüber gesprochen, und das Ergebnis ist immer dasselbe.

»Na gut. Tut mir leid, ich höre schon auf.« Mom greift nach meiner Hand und drückt sie. »Du sollst das machen, was dich glücklich macht.«

Ich will etwas erwidern, irgendwas, aber die Worte sind mir abhandengekommen. Ich weiß nicht, was mich glücklich macht, habe keine Ahnung, was ich mit meinem Leben anfangen will. Dabei ist mir vollkommen klar, dass ich bald eine Entscheidung treffen muss. Irgendeine. Mein Schulabschluss ist in ein paar Monaten. Ich habe mich bisher noch an keinem College beworben. Ich habe gar nichts gemacht, und im Grunde ist es jetzt auch längst zu spät, wenn ich nicht wäre, wer ich bin. Wenn Mom und Dad nicht wären, wer sie sind. Meine Noten sind gut, ich würde dank ihrer Beziehungen vermutlich überall noch einen Platz bekommen. Wenn ich nur wollte.

Aber ich weiß einfach nicht, was ich will. Mein Leben liegt vor mir, eine Straße mit zu vielen Abzweigungen, zu vielen Möglichkeiten. Ich entscheide mich nicht, weil ich Angst habe, die falsche Entscheidung zu treffen. Stattdessen warte ich. Auf ein Zeichen, das nicht kommen wird. Ich weiß nur, dass es nicht das Vortanzen ist. Nicht die Schule, die Mom einst selbst besucht hat, als sie so alt war wie ich.

Mom seufzt noch mal, dann rafft sie den langen Saum ihres Kleides zusammen und steht auf. »Ich gehe mich auch umziehen. Wollen wir gleich zusammen einen Film anschauen?«

»Klar. Soll ich schon mal was aussuchen?«

Sie nickt, und dann lässt sie mich allein. Ihre Schritte auf der Treppe sind beinahe lautlos.

Ich tippe auf mein Handy, anstatt nach der Fernbedienung zu greifen, und starte Mockingbird ein weiteres Mal.

Seine Stimme jagt mir einen wohligen Schauer über den Rücken, und in mir zieht sich etwas zusammen. Flatternd schließen sich meine Lider, und ich lasse mich von dieser Stimme forttragen.

Die vertrauten Worte klingen auf einmal anders, haben einen anderen Unterton, eine andere Wirkung. Er nimmt Dads Song und macht ihn zu seinem eigenen. Er singt von einem kleinen Vogel, er singt von mir. Und tut es doch nicht. Weil er nicht Dad ist, sondern irgendein Typ, den ich nicht kenne, der von einem Mädchen singt, das frei und verloren zugleich ist.

Irgendwas in mir bekommt einen Riss. Es ist verrückt, weil es doch eigentlich nur ein Song ist, nur ein Typ, nur eine Stimme. Aber es ist mehr als das. Er ist mehr als irgendein Typ. Und es ist nicht irgendein Song, sondern meiner, und deshalb muss ich wissen, wie er heißt.

Ich schließe YouTube und öffne Instagram. Mit fliegenden Fingern gebe ich den Namen der Band ein. Ich finde sie sofort. Sie haben nicht viele Follower, ein paar Tausend, mehr nicht, aber es gibt nichts, was mich weniger interessieren könnte. Ich scrolle durch die Bilder, bis ich eins finde, auf dem alle vier markiert sind.

Zwei Minuten. Länger dauert es nicht, bis ich seinen Namen kenne.

Easton Coleman.

Ich muss lächeln, und bevor ich darüber nachdenken kann, ob das eine gute Idee ist oder kompletter Wahnsinn, tippe ich auf das kleine Nachrichtensymbol und beginne zu schreiben.

17. April um 10:06 PM

mockingbird:

Ich habe euer Video von Mockingbird gesehen. Ihr seid genial. Du bist genial. Ich glaube, ich habe noch nie eine bessere Version gehört.

Ich schicke die Nachricht ab und wünsche mir in der nächsten Sekunde, ich hätte es nicht getan. Mehr fangirlen geht wohl nicht. Meine Wangen brennen vor Verlegenheit. Easton muss mich für komplett bescheuert halten, wenn er die Nachricht liest. Falls er sie liest. Vielleicht landet sie auch auf Nimmerwiedersehen in seinen Nachrichtenanfragen.

Ich hebe den Kopf, als jemand mir die Kopfhörer von den Ohren zieht, aus denen schon seit Minuten kein Ton mehr dringt. Dad steht vor mir. Ich war so auf mein Handy konzentriert, dass ich ihn und Mom überhaupt nicht bemerkt habe. Beide haben Anzug und Kleid gegen deutlich bequemere Klamotten getauscht.

»Und für welchen Film hast du dich entschieden?« Er setzt sich neben mich und zieht Mom auf seinen Schoß. Die beiden sind so verliebt, als wären sie nicht schon seit zwanzig Jahren ein Paar. Wenn sie zusammen sind, benehmen sie sich manchmal mehr wie Teenager als ich.

Ich schlage den ersten Film vor, der mir in den Sinn kommt, weil ich keinen Gedanken daran verschwendet habe. Stolz und Vorurteil ist einer von Moms Lieblingsfilmen, wir haben ihn schon so oft zusammen angeschaut, dass wir ihn beinahe mitsprechen können. Doch jetzt bin ich nicht richtig bei der Sache. Nicht, als Mom den Film bei Netflix auswählt, nicht, als der Vorspann über den Bildschirm flimmert, und genauso wenig während der ersten fünfzig Minuten.

Und als nach zweiundfünfzig Minuten das Display meines Handys aufleuchtet und mir eine Benachrichtigung von Instagram anzeigt, verabschiedet sich auch der letzte Rest meiner Aufmerksamkeit.

Easton hat mir geschrieben.

17. April um 10:58 PM

eastcoleman:

Dann scheinst du das Original nicht besonders gut zu kennen, oder?

Ich muss lächeln, und mein Herz stellt in meiner Brust auf einmal ziemlich seltsame Dinge an.

Meine Finger fliegen über das Display, tippen eine Antwort.

Das ist der Moment, in dem alles anfängt. Der Moment, in dem noch alles gut ist.

Ich weiß nicht, dass ich ihn genießen sollte. Diesen Moment, diesen Abend. Mit meinen Eltern auf dem Sofa neben mir, ihr leises Lachen im Ohr, mit meinem Handy in der Hand und Eastons Nachrichten vor Augen.

Ich weiß nicht, dass ich ihn genießen sollte. Weil solche Momente zu selbstverständlich sind.

Bis sie es nicht mehr sind.

Easton

Drei Monate später

Rockstar Liam Bellamy stirbt bei tragischem Autounfall

Los Angeles – Es ist eine traurige Nachricht: Rockstar Liam Bellamy († 38) ist in der Nacht zum Montag, dem 11. Juli, bei einem tragischen Autounfall ums Leben gekommen. Auch seine Frau Laura Bellamy († 37) erlag wenige Stunden nach dem Unfall ihren Verletzungen.

Die genauen Ursachen für den Unfall müssen noch geklärt werden.

Lowlight Recording reagierte bestürzt über den tragischen Tod des Stars: »Unsere Herzen sind gebrochen. Liam gehörte seit siebzehn Jahren zu unserer Familie. Wir sind untröstlich über diesen Verlust.«

Liam und Laura Bellamy hinterlassen eine achtzehnjährige Tochter, Rayne Bellamy.

Nein. Nein. Nein.

Das kann nicht sein. Es darf nicht sein.

Wie betäubt starre ich auf mein Handy. Aber da steht es. Schwarz auf weiß. Bei jeder verfickten Nachrichtenseite, die ich in den letzten Minuten aufgerufen habe.

Liam Bellamy ist tot.

Er ist tot. Genau wie seine Frau. Autounfall. Das Internet ist voll davon.

Adrenalin jagt durch meine Adern, das Blut rauscht so heftig in meinen Ohren, dass ich die weibliche Stimme, die aus dem Fernseher schallt und uns genau das erzählt, was wir auf unseren Handys längst gelesen haben, kaum verstehe. Immer wieder werden kurze Videos eingeblendet. Ein Mädchen, das ein Krankenhaus in L. A. verlässt, die Kapuze ihres übergroßen Hoodies tief ins Gesicht gezogen, aber ihre auffälligen violetten Haarsträhnen lugen darunter hervor. Liams und Lauras Tochter. Ihr Gesicht ist nicht zu erkennen, sie hält den Kopf gesenkt. Zwei völlig demolierte Autos auf der Straße, Scherben überall. Pressesprecher von Lowlight Recording, völlig geschockt.

Ich kann mich nicht bewegen. Nichts sagen. Nichts machen. Ich sitze nur da und versuche zu verstehen, was da verdammt noch mal passiert ist. Wie das passieren konnte. Wie es sein kann, dass Liam, der vor einer Woche noch nach Boston gekommen ist, um uns persönlich zu sagen, dass er uns gerne als Vorband für seine neue Tour haben will, tot ist.

Liam, der uns ermutigt hat, weiterzumachen, immer besser zu werden, der mir mit den Songtexten geholfen hat. Der uns einfach zwischendurch geschrieben hat, um zu fragen, wie es läuft und ob es uns gut geht.

Liam, der in den vergangenen Monaten nicht nur der Sänger einer unserer Lieblingsbands war, sondern irgendwie auch unser Mentor geworden ist.

Und jetzt ist er tot.

Es kann nicht sein. Das ist unmöglich.

Aber es ist möglich. Es ist kein verfluchter Traum, aus dem man aufwachen kann. Es ist die verdammte Realität.

Ein unachtsamer Moment, ein anderer Fahrer, der nicht aufgepasst hat, und es war vorbei.

Hinter meinen Augen breitet sich ein unbekannter Druck aus, und ich kann nicht mehr richtig atmen. Meine Kehle fühlt sich an wie zugeschnürt. Ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal geweint habe. Es ist zu lange her, ich habe vergessen, wie sich das anfühlt.

Im Gegensatz zu Beck, den ich neben mir leise schniefen höre. Seine Augen glänzen, Tränen haben Spuren auf seinen Wangen hinterlassen. Er hatte noch nie ein Problem damit, seine Gefühle einfach rauszulassen. Colin sitzt auf dem Boden vor dem Fernseher, still und kreidebleich.

Jax ist vorhin ins Bad verschwunden, der Wasserhahn läuft, sonst ist aus dem kleinen Raum nichts zu hören. Aber ich schätze, er will es auch genau so.

Mir wird schlecht, als ich an seine Tochter denke. Ich kenne Rayne nicht, weiß nur, dass sie jünger ist als ich, Liam hat erzählt, dass sie dieses Jahr erst mit der Highschool fertig geworden ist. Sie hat unsere Videos bei YouTube gefunden und ihrem Vater gezeigt, wir haben sie allerdings nie getroffen. Liam hat uns ein paar Mal in Boston besucht, aber wir waren nie in Los Angeles, und Rayne konnte Liam wegen ihrer Abschlussprüfungen nicht begleiten.

Sie ist zu jung, um ihre Eltern zu verlieren. Scheiße, man ist immer zu jung dafür.

Und dann muss ich an ein anderes Mädchen denken. Das Mädchen, dessen Lieblingssong Mockingbird ist.

Das Mädchen, das mir nie seinen Namen verraten hat, obwohl wir seit Monaten schreiben. Das Mädchen, das sich so nennt wie der Song, der es zu uns geführt hat. Zu mir.

Sie liebt diesen Song abgöttisch. Sie liebt alle Songs von Liam Bellamy, und ich weiß, dass sie die Tage gezählt hat, bis sein neues Album erscheint. Ich weiß es, weil wir das zusammen gemacht haben.

Meine Hände zittern, als ich Instagram öffne. Ich muss wissen, ob es ihr gut geht, obwohl mir eigentlich vollkommen klar ist, dass das Wunschdenken ist.

Es gibt diese Menschen, die hören von dem Tod ihres Lieblingsmusikers, und dann sind sie traurig und betroffen, aber für sie ist es zu weit weg, und nach ein paar Wochen denken sie nicht mehr daran.

Aber Birdy ist nicht so. Für sie ist Liams Tod nicht weit weg. Sondern viel zu nah, weil seine Musik ihr die Welt bedeutet.

Ich gehe auf ihr Instagramprofil und starre auf ihre Fotos, weil ich es nicht über mich bringe, ihr die Frage zu stellen, die ich ihr stellen muss. Mein Herz zieht sich zusammen. Ich habe Angst vor der Antwort. Ich habe Angst davor, was das mit ihr macht.

Ihre Bilder verschwimmen vor meinen Augen. Ich kenne jedes einzelne.

Das, auf dem sie ein verwaschenes Tour-T-Shirt von Liam trägt, dunkle Haare fallen bis zu ihrer Taille. Es zeigt nur einen Teil ihres Halses und ihren Oberkörper. Nicht ihr Gesicht. Nie ihr Gesicht. Wir schreiben seit drei Monaten, und ich habe nie ihr Gesicht gesehen.

Aber ich weiß, dass ihren Rippenbogen das Tattoo einer kleinen Spottdrossel ziert. Ich kenne die Armbänder, die um ihr schmales Handgelenk geschlungen sind. Goldene Sterne und eine feine Mondsichel. Ein silbernes, etwas breiteres Armband, in das etwas eingraviert ist, das auf den Fotos nicht zu erkennen ist. Ich kenne die Ringe, die sie trägt. Sechs an der rechten Hand, vier an der linken. Ich weiß, dass sie die grausten Augen der Welt hat, mit unendlich langen Wimpern, weil sie ein Foto gepostet hat, auf dem nur ihre Augen zu sehen sind. Der Blick geht direkt in die Kamera, tief und eindringlich. Ich kenne das kleine Muttermal auf ihrem rechten Wangenknochen von einem anderen Foto, auf dem ihr Profil zu sehen ist, zur Hälfte abgeschnitten, man erkennt nur die Wangenknochen und ihr Kinn. Ihre Haare sind zu einem lockeren Knoten hochgebunden, sie trägt große Kopfhörer, und man sieht dieses Muttermal. Ich kenne unendlich viele winzige Fragmente dieses Mädchens, aber ich habe nie ihr ganzes Gesicht gesehen.

Aber das ist auch nicht nötig.

Ich kenne sie. Und sie kennt mich. Jeden Gedanken, jede Unsicherheit. Jeden Lieblingssong. Und deswegen muss ich ihr diese Nachricht schreiben. Ihr diese Frage stellen. Auch wenn ich die Antwort doch eigentlich längst kenne.

Ich tippe auf das Nachrichtensymbol, und meine Finger finden die Buchstaben ganz von selbst, ich muss nicht mal richtig hinsehen.

11. Juli um 6:36 PM

eastcoleman:

Du hast es gehört, oder? Wie geht’s dir?

Sie antwortet nicht. Es geht ihr nicht gut.

DANACH

20. Juli um 6:05 PM

eastcoleman:

Birdy? Kann ich was tun? Irgendwas? Völlig egal, was.

gesehen

20. Juli um 11:58 PM

eastcoleman:

Was brauchst du?

gesehen

21. Juli um 12:07 AM

eastcoleman:

Rede mit mir. Oder lass es. Wonach auch immer du dich fühlst. Aber ich bin da, okay?

gesehen

25. Juli um 3:36 AM

eastcoleman:

Sag mir, wenn ich aufhören soll, dir zu schreiben. Wenn es dir zu viel ist, höre ich auf.

gesehen

26. Juli um 2:42 AM

mockingbird:

Nicht aufhören. Bitte hör nicht auf.

eastcoleman:

Hey, Birdy. Da bist du ja. Ich hab dich vermisst.

mockingbird:

Ich kann dir nicht schreiben. Es fühlt sich an, als wäre mein Leben auseinandergebrochen, und irgendwie ist es das auch. Ich kann nicht darüber reden, aber bitte hör nicht auf.

eastcoleman:

Scheiße, Birdy, ich will dich gerade einfach nur in den Arm nehmen. Du musst nicht darüber reden, wenn du nicht willst. Aber wenn du doch reden willst, bin ich da, okay?

mockingbird:

Lass mich nicht allein.

eastcoleman:

Niemals.

gesehen

28. Juli um 1:13 PM

eastcoleman:

Jax, Colin und Beck ziehen bei mir und Willow ein. Ich kann nicht glauben, dass sie echt Ja gesagt hat. Ich meine, würdest du mit deinem Bruder und seinen drei besten Freunden zusammenwohnen wollen?

Ich denke nicht.

Aber gut. Ihre Entscheidung. Sie hätte auch Nein sagen können.

gesehen

01. August um 2:23 PM

eastcoleman:

Wir bauen gerade um. Irgendwie müssen wir Platz schaffen, sonst passen nie im Leben noch drei Kerle mehr in dieses Haus.

Jax hat den Keller für sich beansprucht.

Ich glaube, ich will den Dachboden. Wollte ich als Kind schon, aber Dad hatte da oben immer seine Modelleisenbahn stehen, und da ging das nicht.

gesehen

12. August um 3:56 PM

eastcoleman:

Foto

Ist noch nicht ganz fertig, aber ich glaube, mir gefällt es auf demDachboden ganz gut.

gesehen

17. August um 1:19 AM

eastcoleman:

Du fehlst mir.

gesehen

25. August um 5:07 PM

eastcoleman:

Wir arbeiten gerade an neuen Songs, aber die Jungs sind bei denTexten im Moment echt keine Hilfe.

gesehen

26. August um 6:12 AM

eastcoleman:

Ich sollte schlafen, aber ich hänge an einer Stelle im Song. Mir fehlt eigentlich nur ein Wort, aber ich komm nicht drauf, welches das richtige ist. Ich bin mir ziemlich sicher, dass du es wüsstest.

Glaubst du, dass du mir je wieder antwortest?

gesehen

03. September um 5:34 PM

eastcoleman:

Sprachnachricht 0:59

Das ist ein Teil des neuen Songs. Ich dachte, vielleicht gefällt er dir.

gesehen

14. September um 3:54 PM

eastcoleman:

House of Memories – Panic! At the Disco

gesehen

21. September um 4:24 AM

eastcoleman:

Scheiße, Birdy, du fehlst mir. Wie kann man jemanden so sehrvermissen, den man noch nie im echten Leben getroffen hat?

gesehen

04. Oktober um 11:37 PM

eastcoleman:

Du könntest mich mal in Boston besuchen kommen. Die Stadt ist gar nicht so übel. Also, falls du mal wegmusst, wo auch immer du gerade bist. Keine Ahnung, ob du noch in Kalifornien bist. Ich weiß, du meintest, du kannst nicht schreiben, aber ich mache mir echt Sorgen um dich. Und ich vermisse dich und deine Nachrichten. Die bescheuerten GIFs. Die Songs, die du mir immer geschickt hast.

Ich vermisse dich.

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06. Oktober um 10:09 PM

eastcoleman:

Hilft dir das hier wirklich? Dass ich dir ständig schreibe und dir irgendwelche irrelevanten Dinge über mein Leben erzähle? Ich hab es schon mal gesagt, aber ich sag’s auch noch mal: Wenn ich aufhören soll, musst du es nur sagen.

gesehen

07. Oktober um 12:03 AM

eastcoleman:

Du hast nichts gesagt, dann mache ich weiter.

Du bist nicht allein, Birdy. Vergiss das nicht.

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23. Oktober um 5:17 PM

eastcoleman:

A Sky Full of Stars – Coldplay

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31. Oktober um 8:45 PM

eastcoleman:

Jax hat uns gezwungen, uns für die verdammteHalloweenparty, die er unbedingt schmeißen wollte, zu verkleiden. Ich hasse Verkleidungen.

Foto

gesehen

28. November um 7:13 PM

eastcoleman:

Tut mir leid, dass ich mich nicht gemeldet habe. Die letzten Wochen war die Hölle los, ich musste ein paar Extraschichten schieben, das Weihnachtsgeschäft geht bald los.

Ich denke an dich.

Jeden verdammten Tag.

gesehen

25. Dezember um 1:57 PM

eastcoleman:

Frohe Weihnachten, Birdy.

gesehen

01. Januar um 12:01 AM

eastcoleman:

Happy New Year, Birdy.

Dieses Jahr wird besser.

mockingbird:

Versprochen?

eastcoleman:

Versprochen!

gesehen

2. TEIL

Erste Strophe

1. KAPITEL

Easton

Miss Missing You – Fall Out Boy

Mein Handy vibriert in meiner Hosentasche, und ich weiß, dass sie es nicht ist. Ich weiß es, aber ich muss trotzdem sofort nachschauen, ich kann nicht anders. Die Nachricht, die auf meinem Display aufleuchtet, ist von Colin. Natürlich. Es hätte jeder sein können, abgesehen von ihr.

Enttäuschung durchflutet mich, ich kann nichts dagegen tun. Es tut immer noch scheiße weh, dass sie nicht mehr schreibt, nicht auf meine Nachrichten antwortet.

»Immer noch nichts?« Becks mitfühlende Stimme lässt mich aufblicken. Er steht auf der anderen Seite der Theke, die Unterarme auf der Holzplatte abgestützt, und pustet sich eine blonde Haarsträhne aus der Stirn.

Ich schüttle den Kopf. Nein, immer noch nichts.

»Wie lange schreibt sie dir jetzt schon nicht mehr?«

»Sechs Monate«, gebe ich widerwillig zu, obwohl das nicht stimmt. Aber die vier Nachrichten, die ich in diesen sechs Monaten von ihr bekommen habe, zählen kaum. Auch wenn die letzte vor fünf Tagen kam.

»Vielleicht solltest du damit aufhören.« Der Blick aus seinen dunklen Augen ist besorgt, und ich verstehe diese Sorge, wirklich. An seiner Stelle würde ich vermutlich das Gleiche denken.

Trotzdem schüttle ich den Kopf. Ich kann nicht. Ich habe ihr versprochen, dass ich sie nicht alleine lasse. Also werde ich das auch nicht tun. Auch wenn ich schon seit Monaten das Gefühl habe, dass mehr hinter ihrem Schweigen steckt als der Tod eines ihrer Lieblingssänger.

Man verkriecht sich nicht so, wie sie es tut, wenn jemand stirbt, den man im Grunde gar nicht kennt, oder?

Fuck, ich habe keine Ahnung. Jeder trauert anders, und vielleicht kenne ich sie auch nicht so gut, wie ich dachte, egal, wie beschissen allein der Gedanke auch sein mag.

»Hast du sie mal gefragt, was los ist? Hinter der Funkstille steckt doch mehr, oder?«, fragt Beck, als könnte er meine Gedanken lesen.

Manchmal glaube ich, dass er das tatsächlich kann. Wir sind mehr Brüder als Freunde, kennen uns praktisch schon unser ganzes Leben. Wir sind zusammen aufgewachsen, in demselben Viertel, in derselben Straße. Es gab Wochen, da hat er mehr Zeit bei meiner Familie verbracht als bei seiner eigenen. Er kennt mich besser als jeder andere Mensch auf der Welt.

Fast jeder.

»Nein«, antworte ich schließlich.

»Warum nicht?«

»Weil sie mir geschrieben hat, dass sie nicht reden kann. Dass sie das Gefühl hat …« Ich verstumme, weil ich ihm nicht sagen kann, was sie für ein Gefühl hatte. Das geht ihn nichts an. Beck weiß von ihr, weil er alles weiß. Aber er hat keine Ahnung, worüber wir geredet haben. Was sie von mir weiß. Was ich von ihr weiß. »Ich kann sie nicht fragen, weil ich sie nicht drängen will. Ich will ihr keinen Druck machen.«

Beck seufzt schwer und verdreht die Augen. »Manchmal habe ich das Gefühl, du bist zu gut für diese Welt.«

»Einer von uns muss es ja sein«, gebe ich zurück, obwohl wir beide wissen, dass das Bullshit ist. So gut bin ich nicht.

»Und ich bin das definitiv nicht.« Grinsend stößt er sich von der Theke ab und schaut sich im Laden um. »Heute ist echt gar nichts los.«

»Dich hat niemand gezwungen, herzukommen, um mir Gesellschaft zu leisten«, erinnere ich ihn.

Ich arbeite seit sieben Jahren bei Repeat Records, einem Plattenladen im West End von Boston, und die Tage nach Silvester ist jedes Jahr wenig los, wenn die meisten Leute wieder arbeiten müssen und der kurze Frieden zwischen den Feiertagen verpufft, als hätte es ihn nie gegeben. Bei den allermeisten Leuten ist das Stresslevel jetzt, Anfang Januar, schon wieder genauso hoch wie vor den Feiertagen. Die meisten haben gerade schlicht und ergreifend keine Zeit, nach neuen Platten zu suchen oder sich in das kleine Café hinten im Laden zu setzen und Musik zu hören.

In ein paar Tagen wird wieder mehr los sein. Wenn die Leute sich daran erinnern, dass das Jahr gerade erst angefangen hat und sie noch einundfünfzig weitere Wochen haben, um zu arbeiten und ihr Leben wieder in den Griff zu bekommen, oder was auch immer sie sonst so stresst.

»Ich weiß.« Beck zuckt mit den Schultern. »Aber mir war langweilig.«

»Ich glaube, du bist der einzige Mensch, dem an seinem freien Tag langweilig ist.«

»Schon möglich.« Er greift nach einem der Stifte, die auf der Kassentheke rumliegen, und dreht ihn zwischen den Händen. »Ich brauche irgendwas zu tun – etwas, das mich … keine Ahnung, fordert. Der Job bei Dad im Büro ödet mich an. Wie kann man sich freiwillig jeden Tag in ein viel zu kleines Büro mit abgestandener Luft setzen und verdammte Excel-Tabellen ausfüllen?«

»Es soll Leute geben, denen so was Spaß macht«, erwidere ich.

Wir gehören definitiv nicht dazu. Beck hat den Job in der Firma seines Dads auch nur genommen, weil es leicht verdientes Geld ist. Vergleichsweise viel Kohle für wenig Stunden. Ich habe drei Jobs und verdiene in etwa genauso viel. Nur dass ich deutlich mehr Stunden arbeite. Na ja, was soll’s.

Ich mag den Job im Plattenladen, hier fühle ich mich zu Hause. Zwischen all den Bands und Musikern, die mich schon mein ganzes Leben lang begleiten, die mich inspirieren und von denen ich lernen konnte. Auf den ersten Blick wirkt der Laden etwas runtergekommen, aber genau das macht seinen Charme aus. Durchgesessene Ledersessel, Tische mit Plattenspielern und großen Over-Ear-Kopfhörern, damit man in die LPs reinhören kann. Im Moment haben wir fast hunderttausend Platten im Laden. Ich weiß das, ich musste im Dezember einen Großteil davon katalogisieren. CDs gibt es hier weniger, aber auch davon immer noch genug, dass ich jeden Tag Überstunden machen konnte. Inventuren machen wirklich Spaß. Nicht. Beck, Jax und Colin waren zwar fast jeden Tag hier, um mir zu helfen, weil ich in der Weihnachtszeit sonst gnadenlos untergegangen wäre, aber es war trotzdem die Hölle.

»Ich geh mir einen Kaffee holen, willst du auch?« Er wirft mir den Stift zu, mit dem er in den letzten Minuten rumgespielt hat. Ich fange ihn auf und stelle ihn zurück in die Tasse, in die er eigentlich reingehört.

»Ja, bitte.«

»Kommt sofort. Dann hat Evie wenigstens auch mal was zu tun«, sagt Beck und schlendert zwischen den halbhohen Regalen, in denen unsere Platten stehen, hindurch nach hinten, wo sich der Laden in einen weiten Raum öffnet, in dem seit zwei Jahren ein kleines Café untergebracht ist.

Evie, unsere Barista, sitzt mit übereinandergeschlagenen Beinen an einem der Tische, Stöpsel in den Ohren und das Handy in der Hand. Sie hebt den Kopf, als Beck vor ihr stehen bleibt. Er bedeutet ihr, die In-Ear-Kopfhörer rauszunehmen, und sie reagiert mit einem genervten Augenrollen – vermutlich, weil sie jetzt tatsächlich etwas tun muss.

Grinsend wende ich mich ab und will gerade nach meinem eigenen Handy greifen, als die Tür aufgeht und die Glocke, die am Rahmen hängt, leise bimmelt und neue Kundschaft ankündigt.

Ich hebe den Blick, aber das Mädchen, das gerade hereinkommt, schaut nicht einmal in meine Richtung. Eine schwarze Beaniemütze verdeckt ihr Haar, sie trägt einen Oversize-Mantel und hat einen dicken Schal um den Hals geschlungen, der ihr halbes Gesicht versteckt – kein Wunder, es ist arschkalt draußen.

Ich beobachte sie ein paar Sekunden lang, warte, ob sie Hilfe braucht oder sich nur umschauen will. Sie würdigt mich noch immer keines Blickes, während sie durch den Laden geht. Ihre Finger streichen über die Platten, aber sie hält kein einziges Mal inne, so als würde sie etwas ganz Bestimmtes suchen, und als wüsste sie auch genau, wo sie das finden kann. Dabei habe ich sie hier noch nie gesehen, und ich kann mich an die meisten Leute, die regelmäßig hierherkommen, erinnern. Allerdings bin ich nicht jeden Tag da, und erst recht nicht den ganzen Tag. Vormittags ist Rudy, der Besitzer, immer hier und kümmert sich selbst um seinen Laden.

Das Mädchen wendet mir den Rücken zu, als sie schließlich vor einem der halbhohen Regale stehen bleibt. Ich weiß, welches es ist, und mein Herz zieht sich schmerzhaft zusammen. Es ist das Regal, in dem die Platten von Liam Bellamy stehen. Jede einzelne. Und ich muss sofort wieder an Birdy denken. Daran, dass sie nicht auf meine Nachrichten reagiert.

Seit Neujahr habe ich ihr jeden Tag geschrieben. Songs geschickt. Sprachnachrichten, in denen ich ihr einige Teile aus meinen neuen Songs vorgesungen habe. Ich habe ihr sogar verdammte Bilder von Pinterest geschickt. Alles, was ich gesehen habe und wobei ich an sie denken musste. Um ihr zu beweisen, dass dieses Jahr wirklich besser wird. Auch wenn ich das unmöglich beweisen kann und vielleicht auch nicht hätte versprechen sollen. Ich weiß schließlich nicht, ob ich das Versprechen halten kann.

Keine Antwort.

Die letzten Nachrichten hat sie nicht mal mehr gelesen.

Mir ist klar, dass es bescheuert ist. Albern. Alles nicht gerechtfertigt. Ich habe dieses Mädchen noch kein einziges Mal getroffen. Ich habe noch nie ihre Stimme gehört, denn im Gegensatz zu mir hat sie nie Sprachnachrichten geschickt. Ich kenne nicht mal ihren Namen. Wir haben drei Monate geschrieben, ehe alles kaputtgegangen ist. Das war’s.

Nur dass sich diese drei Monate angefühlt haben wie eine kleine Ewigkeit. So ist das wohl, wenn man jede freie Minute damit verbringt, sich gegenseitig zuzutexten. Man gewöhnt sich aneinander, lernt einander kennen, und wenn es dann vorbei ist, spielt es keine Rolle mehr, ob es nur Nachrichten waren. Es tut trotzdem auf eine sehr reale Art verdammt weh.

»Hey.« Eine leise, seltsam verunsicherte Stimme lässt mich aufblicken. Das Mädchen steht vor mir, ein paar Schritte von mir entfernt.

»Hast du was gefunden?«, frage ich, aber sie hat weder eine Platte noch eine CD in den Händen. Sie kommt ein Stück näher, beißt sich auf die volle Unterlippe, ein unsicheres, nervöses Glitzern in den Augen.

Graue Augen. Die grausten Augen der Welt. Lange, dunkle Wimpern. Ein Muttermal direkt auf dem rechten Wangenknochen. Ein schmaler silberner Ring in ihrer Nase. Mein Blick zuckt instinktiv zu den Ringen an ihren Fingern, vertraute Ringe. Aus dem Ärmel ihres Mantels blitzen Armbänder hervor, eine Mondsichel, Sterne. So vertraut.

Adrenalin schießt durch meinen Körper, als er vor meinem Verstand begreift, wer sie ist. Mein Herz schlägt plötzlich so heftig, dass es wehtut, während ich sie anstarre und verzweifelt versuche, zu begreifen, was hier vorgeht.

Ich kenne unendlich viele winzige Fragmente dieses Mädchens, und jetzt kenne ich auch ihr Gesicht.

»Birdy«, sage ich, und meine Stimme klingt nicht nach mir. Ungläubig und rau, irgendwie hart, irgendwie verdammt noch mal überfordert, weil sie tatsächlich hier ist. In Boston. In diesem Plattenladen. Direkt vor mir.

»Rayne«, sagt sie, und ich brauche ein paar Sekunden, bis ich begreife, dass sie mir nach neun Monaten endlich ihren Namen verraten hat.

Rayne.

Der Name passt zu ihr und ihren gewittergrauen Augen.

Mein Herz stolpert in meiner Brust herum, kann sich nicht entscheiden, was es fühlen soll. In meinem Nacken beginnt es zu kribbeln. Ich starre sie an. Und starre sie an. Bin wirklich komplett überfordert, ich weiß nicht mal, ob ich mich gerade freue, sie zu sehen.

Obwohl das nicht stimmt.

Ich freue mich.

Freude pulsiert durch meinen Körper, gemischt mit Erleichterung. Lässt mein Herz rasen und meinen Magen einen aufgeregten Satz machen.

Ich freue mich.

Ich habe nur nicht damit gerechnet, sie zu sehen. Hier. Heute. Überhaupt irgendwann.

Wie auch? Wie hätte ich damit rechnen sollen? Richtig. Gar nicht.

»Du bist hier«, sage ich, weil es gerade alles ist, was ich sagen kann. Was ich denken kann.

Weil es irgendwie alles ist, was zählt.

2. KAPITEL

Rayne

11 Minutes – YUNGBLUD, Halsey, Travis Barker

Einige Minuten zuvor

Oh Gott.

Oh. Mein. Gott.

Was zum Teufel tue ich hier?

Das ist eine ganz, ganz miese Idee.

Ich drehe mich um und gehe den gleichen Weg zurück, den ich gekommen bin. Das Uber hat mich vorhin zwei Straßen weiter rausgelassen, weil ich mir selbst eingeredet habe, dass ich wegen dieses einen Secondhandshops ins West End gefahren bin, nicht wegen Repeat Records.

Es regnet. Schon den ganzen Tag. Nicht doll. Es sind eher diese ganz feinen Regentropfen, die wie Nadeln in die Haut stechen und einen komplett durchnässen, wenn man zu lange draußen ist. Mein Gesicht ist kalt, und ich bin froh, dass ich mich nicht geschminkt habe, sonst wäre meine Wimperntusche furchtbar verlaufen. Doch trotz des Regens und obwohl die Tropfen sich auf meiner Haut anfühlen wie Eis, friere ich nicht. Mir ist warm. Das ist die Aufregung, das Adrenalin.

Mein Herz schlägt schnell, viel zu schnell, hämmert gegen meine Rippen, gegen diesen knöchernen Käfig, so heftig, als könnte es ihm entkommen, wenn es sich nur genug anstrengt.

Wovor hast du Angst, Mockingbird?

Dads Stimme in meinem Ohr, wie er mir wieder und wieder diese Frage gestellt hat, weil er wissen wollte, warum ich nicht bei den Treffen dabei sein wollte. Mit Easton und den anderen.

Du solltest dabei sein. Schließlich hast du sie gefunden. Warum willst du nicht?

Ich hatte keine Antwort für ihn. Keine, die Sinn ergibt. Vielleicht habe ich mich auch einfach selbst nicht verstanden. Weil ich Easton treffen wollte. Die ganze Zeit.

Aber nachdem wir angefangen hatten zu schreiben, ist es nicht bei ein paar kurzen Nachrichten geblieben, bei Smalltalk, der nichts bedeutet. Bei Nachrichten, die man schreibt und ein paar Tage später vergessen hat.

Es war mehr. Von Anfang an.

Deswegen konnte ich nicht mit zu Dads Treffen mit der Band gehen. Es ging einfach nicht.

Dad hatte recht. Ich hatte Angst. Habe Angst. Immer noch.

Letztes Jahr hatte ich Angst davor, dass es in der Realität nicht funktioniert. Dass wir online Freunde sein können, es in der echten Welt aber nicht schaffen, so miteinander zu reden. Solche Dinge passieren. Man kann sich gut verstehen, wenn man sich kennt, dabei aber eben nicht wirklich kennt. Nicht alles.

Wenn ich Easton und die Band getroffen hätte, hätte ich ihm die Wahrheit sagen müssen. Dass das Mädchen, mit dem er schreibt, Liam Bellamys Tochter ist. Ich hätte ihn unmöglich anlügen können, aber ich hatte Angst davor, ihm zu sagen, wer ich bin. Davor, dass er mich anders behandelt, wenn er es weiß. Wäre schließlich nicht das erste Mal. Und ich war nicht bereit dafür. Bin ich vielleicht immer noch nicht.

Jetzt habe ich Angst davor, dass er mich hasst, weil ich mich die letzten sechs Monate verkrochen und nicht auf seine Nachrichten geantwortet habe.

Er hasst dich nicht. Ganz sicher nicht, sonst hätte er längst aufgehört, dir zu schreiben. Er ist dein Freund. Hab Vertrauen.

Das ist es, was Mom gesagt hätte. Wenn sie noch am Leben wäre. In meiner Brust breitet sich ein dumpfer Schmerz aus, ein schwarzes Loch, das mich zu verschlingen droht. Mich in den vergangenen Monaten schon verschlungen hat, wieder und wieder und wieder.

Mir schnürt sich die Kehle zu, Tränen brennen in meinen Augen, und ich bleibe mitten auf dem Bürgersteig stehen. Es kümmert mich nicht, dass die Leute hinter mir zur Seite ausweichen müssen und mich mit bösen Blicken durchbohren, während sie an mir vorbeihasten.

Atmen, Rayne. Atmen.

Aber ich kann nicht atmen. Ich kann nicht atmen, da sind Scherben in meiner Lunge, die entsetzlich schmerzen. Mich zerfetzen. Nicht das erste Mal. Nie das letzte Mal. Aber immer, immer, immer wieder.

Atmen. Einfach atmen, Rayne.

Ein.

Und aus.

Ein.

Und aus.

Ich ringe nach Luft, und irgendwie geht es. Es ist unfair. Dass es immer noch so wehtut. Auch noch nach sechs Monaten. Wer auch immer gesagt hat, Zeit würde alle Wunden heilen, hat gnadenlos gelogen. Das tut sie nicht. Es tut immer noch genauso weh. Es ist nicht besser geworden. Eher schlimmer. Weil der Schock irgendwann abgeebbt ist. Geblieben ist nur der Schmerz, ein Ziehen und Stechen in meinem Inneren, was mir viel zu oft die Luft abschnürt.

»Mädchen, du stehst im Weg. Verzieh dich«, blafft mich eine kühle Stimme hinter mir an, und ich zucke erschrocken zusammen. Ich stolpere zwei Schritte zur Seite, verharre an Ort und Stelle. Und weiß nicht, was ich tun soll.

Geh zu ihm. Er hasst dich nicht.

Wieder ist da Moms Stimme, warm und sanft, und ich möchte weinen, weil ich jetzt schon nicht mehr weiß, ob sie wirklich so geklungen hat, ob ihre Stimmfarbe die gleiche war wie die, die ich jetzt im Ohr habe, oder ob ich bereits begonnen habe, sie zu vergessen.

Nicht darüber nachdenken. Einfach nicht darüber nachdenken. Du vergisst sie nicht. Kannst du gar nicht.

Aber doch, kann ich. Es ist anders als mit Dad. Seine Stimme wird immer da sein. Solange ich seine Platten habe, solange es Streamingdienste und das Internet gibt, ist seine Stimme da.

Moms nicht.

Natürlich gibt es Videos. Von Mom und Dad. Von Mom und mir. Sprachnachrichten, Voicemails. Aber das ist was anderes. Ich kann nicht benennen, warum, doch es ist anders als mit Dads Songs. Sie sind da, seine Gedanken, und deswegen wird ein Teil von ihm immer bei mir sein.

Mom kann ich so nicht festhalten. Sie existiert nur noch auf meinem Handy, nur noch für mich. Die ganze Welt wird irgendwann vergessen, wie sie klingt, wenn sie lacht, wie hell und weich ihre Stimme war, wenn sie mir früher vorgelesen hat, als ich noch klein war.

Ich wirble erneut herum, denke nicht mehr nach. Laufe einfach los. Ich kann keine Angst mehr haben. Ich brauche Easton. Und ich brauche mehr als seine Nachrichten. Ich brauche ihn in der realen Welt. Meinen besten Freund.

Atemlos bleibe ich schließlich vor Repeat Records stehen. Der Laden ist größer als erwartet. Easton hat mir letztes Jahr Fotos geschickt, auf denen hat er immer kleiner gewirkt. Aber nein, es sind zwei Stockwerke. Im oberen Schaufenster werden Instrumente ausgestellt. Ich erinnere mich daran, wie Easton mir geschrieben hat, dass er eigentlich nur deshalb angefangen hat, hier zu arbeiten, weil ihm das Geld für eine neue Gitarre gefehlt hat. Er hat sich das Instrument über Monate hinweg erarbeitet.

Ich stoße die Tür auf, ein leises Klingeln ertönt, als ich eintrete, den Blick auf den Boden geheftet. Ich kann mich nicht nach ihm umsehen. Keine Ahnung, warum. Es geht einfach nicht. Möglicherweise habe ich Angst davor, dass er gar nicht hier ist. Ich weiß nicht, ob ich es schaffe, noch mal herzukommen, wenn ich mich heute ganz umsonst dazu überwunden habe.

Aber dann höre ich die vertrauten Klänge von My heart is lost von Blackbear, und ich weiß sofort, er ist hier. Er hat mir den Song geschickt, drei Tage nachdem wir angefangen haben zu schreiben.

Nervös streife ich zwischen halbhohen Regalen voller Platten hindurch, mein Blick bleibt an einigen Covern hängen, ABBA, Queen, Taylor Swift und Lana Del Rey, und jetzt will ich mich doch umschauen, mich vergewissern, dass Easton da ist. Doch irgendwas hält mich nach wie vor davon ab. Es ist komplett albern.

Aber wenn ich ihn ansehe und er mich vielleicht gleichzeitig auch ansieht, dann … keine Ahnung. Womöglich verliere ich dann den Verstand.

Beruhige dich, Himmelherrgott noch mal.

Das ist allerdings gar nicht so leicht, nicht mit diesem unruhigen Pochen in meinem Bauch, meinem rasenden Puls, den ich in jeder Faser meines Körpers spüre. Meine Handflächen werden feucht. Was, wenn er mich doch hasst? Soll ich mich vorstellen? Oder erkennt er mich? Aber nein, wie sollte er? Ich habe nie Fotos von meinem ganzen Gesicht gepostet. Er hat keine Ahnung, wer ich bin, und ich nicht mehr, was ich ihm sagen soll.

Hi, ich weiß, ich habe dich die letzten sechs Monate ignoriert, aber jetzt bin ich hier, und es wäre schön, wenn wir wieder Freunde sein könnten, weil ich in dieser verfluchten Stadt sonst niemanden kenne und mich verdammt verloren fühle?

Eher nicht.

Ich hatte einen Plan, bevor ich hergekommen bin. Ich habe mir die Worte zurechtgelegt, habe gründlich darüber nachgedacht, was ich ihm sagen will, in meinem neuen Zuhause, das sich nicht wie eins anfühlt, in meinem neuen Zimmer, das fremd und falsch ist. Ich hatte einen Plan, aber jetzt ist mein Kopf vollkommen leer.

Ich halte inne, direkt vor dem Regal, in dem Dads Platten stehen, wie ferngesteuert, als wüsste mein Körper ganz genau, wie er ihn immer und überall finden kann.

Die Platte ganz vorne ist eine Single, kein Album. Mockingbird. Natürlich. Schicksal? Möglich.

Zitternd atme ich ein, als meine Finger über das Cover streichen. Es ist mir so vertraut, dass ich es selbst mit verbundenen Augen nachzeichnen könnte. Schließlich hat es jahrelang in meinem Zimmer gehangen.

Da ist es wieder. Das Ziehen und Stechen in meiner Brust.

Ich kann damit jetzt nicht umgehen. Nicht in diesem Augenblick. Hastig wende ich mich ab, und dann passiert es einfach. Dass ich doch hinsehe.

Hinter der Theke steht Easton. Kein Zweifel. Ich kenne sein Gesicht in- und auswendig. Die dunklen Haare, die am Oberkopf etwas zu lang sind und ihm jetzt in die Stirn fallen. Ich kenne seine hochgewachsene Statur, die breiten Schultern. Ich kenne seine Hände. Vermutlich habe ich ein bisschen zu viel Zeit damit verbracht, mir die YouTube-Videos der Band anzusehen.

Geh schon. Jetzt trau dich. Du bist hier. Er ist hier. Geh. Rede mit ihm. Das ist doch das, was du die ganze Zeit tun wolltest.

Ja. Wollte ich. Mehr als alles andere. Ich konnte nur nicht, und ich bin mir auch nicht sicher, ob ich es jetzt kann. Aber ich will auch nicht gehen. Nein, ich will seine Stimme hören. So richtig. Nicht aus Lautsprechern, nicht aus meinen Kopfhörern. Ich will seine Stimme hören, und ich will, dass er mit mir redet.

»Hey«, sage ich, als ich ein Stück von der Theke entfernt stehen bleibe. Atemlos. Unsicher. Hoffnungsvoll.

Er hebt den Kopf, und ich hatte keine Ahnung, dass seine Augen so blau sind.

»Hast du was gefunden?«, fragt er, seine Stimme ist freundlich und warm. Ein wenig distanziert. Er erkennt mich nicht. Natürlich nicht, wie sollte er auch?

Doch dann findet sein Blick meinen. Seine Augen weiten sich. Jetzt erkennt er mich anscheinend doch, blinzelt. Verwirrt. Ungläubig. Hoffnungsvoll. Und mein Herz setzt für ein, zwei, drei Schläge einfach aus.

»Birdy.« Der Name, den er mir gegeben hat, weil ich ihm meinen nie verraten habe. Ein Kribbeln jagt mir die Wirbelsäule hinunter, mir wird noch wärmer. Viel zu warm.

»Rayne«, sage ich, ohne Sinn und Verstand, aber auf einmal will ich, dass er weiß, wie ich heiße. Wie ich wirklich heiße. Ich will hören, wie seine Stimme klingt, wenn er meinen Namen ausspricht.

»Du bist hier«, sagt er stattdessen.

»Ich wohne jetzt hier.« Die Worte schmecken bitter auf meiner Zunge, und ich habe nicht den blassesten Schimmer, warum das das Erste ist, was ich ihm erzähle. Warum kann ich mich nicht für die Funkstille entschuldigen? Ihm erklären, was passiert ist. Warum ich nicht mit ihm reden konnte. Warum kriege ich das nicht hin?

Seine Augenbrauen wandern nach oben, sein Blick flackert. »Hier? In Boston?«

Ich nicke. »Ja.«

Himmel, ich bin nicht mehr in der Lage, irgendwas Sinnvolles von mir zu geben, aber auf einmal ist alles unangenehm und peinlich. Es ist genau so, wie es nicht sein sollte. Das ist es, wovor ich Angst hatte. Dass es befangen und seltsam wird. Aber das ist schließlich auch nicht weiter überraschend, oder? Ich bin selbst schuld. Ich hätte ihm schreiben sollen, dass ich hier bin, anstatt ihn einfach so zu überfallen. Was habe ich mir nur dabei gedacht?

Offenbar nicht besonders viel.

»Warum?« Er klingt so überfordert, wie ich mich fühle.

Die Frage ist berechtigt, und die Antwort ist eigentlich so einfach. Dass ich wegen eines Tanzstudiums hier bin. Wegen des Balletts. Genau das, was ich eigentlich nicht wollte. Ich habe ihm davon geschrieben, damals, als es noch um das Vortanzen ging, als alles noch in Ordnung war und ich alle Möglichkeiten dieser Welt für meine Zukunft hatte.

Die Worte liegen mir auf der Zunge, aber ich bringe keinen Ton heraus. Denn so einfach die Antwort im Grunde ist – sie ist es eben nicht. Kein bisschen.

Ich sehe ihn an, und er sieht mich an, und wieso ist das alles so kompliziert und schwierig?

In meinen Ohren rauscht es. Das war ein Fehler. Ich hätte nicht herkommen sollen. Nicht so, nicht ohne ihm vorher Bescheid zu sagen.

Jetzt habe ich alles kaputtgemacht, und er wird mir nicht mehr schreiben, und jetzt hasst er mich bestimmt.

»Tut mir leid, ich hätte nicht herkommen sollen«, bringe ich erstickt hervor, weiche zurück.

Ich muss gehen. Sofort.

»Nein, Rayne. Ich …« Er bricht ab, er hat meinen Namen gesagt, und es klingt anders, als ich es mir vorgestellt habe.

Ich laufe weg, und wieder sagt er meinen Namen, ruft nach mir. Irgendein Teil von mir will stehen bleiben, in der Hoffnung, dass wie durch ein Wunder alles einfach wird.

Der andere Teil wünscht sich, ich wäre nie hergekommen.

3. KAPITEL

Easton

Losing You – UNSECRET, Sam Tinnesz

»Rayne, warte!« Meine Stimme hallt laut durch den leeren Laden, aber sie bleibt nicht stehen.

Ich folge ihr, bevor ich darüber nachdenken kann. Leider bin ich zu langsam, zu spät losgelaufen. Als ich auf die Straße stolpere, ist sie längst verschwunden.

»Fuck! Fuck, fuck, fuck!« Fluchend raufe ich mir die Haare, zerre an den Strähnen. Das Herz schlägt mir bis zum Hals, ich kann ihn überall spüren, meinen Puls. Viel zu schnell, viel zu heftig. Irgendwie panisch und sehr verwirrt. Komplett überfordert.

Sie war hier.

Sie war wirklich hier, und jetzt ist sie wieder weg.

Scheiße, sie kann nicht wieder weg sein.

Aber sie ist es, und das fühlt sich viel schlimmer an als ihre Nicht-Antworten auf meine Nachrichten. Da konnte ich mir wenigstens noch einigermaßen erfolgreich einreden, dass es wieder besser wird. Wir irgendwann in den Normalzustand zurückkehren mit Fragen und Antworten, Songs und GIFs, mit kleinen und großen Geheimnissen. Jetzt geht das nicht mehr. Weil ich das dumme Gefühl habe, dass sie jetzt auch keine Nachrichten mehr will.

Sie ist weggelaufen.

Vor mir.

Ich weiß nicht, was das bedeutet. Ich weiß nicht mal, ob ich es wissen will.

»East?« Becks Stimme, fragend, besorgt. Ich drehe mich um, mein bester Freund steht in der Eingangstür des Ladens. Er verzieht das Gesicht, weil es regnet, stärker als heute Mittag, und eiskalt ist. »Alles okay?«

Ich nicke, schüttle den Kopf. Nein, echt nicht. Es ist nicht alles okay.

»Wer zur Hölle war das?« Fröstelnd verschränkt er die Arme vor der Brust, hält mit einem Fuß die Tür auf und wartet ganz offensichtlich nur darauf, dass ich wieder rein ins Warme komme.

Aber ich kann mich nicht bewegen. Ich bleibe einfach stehen, obwohl es kalt ist, obwohl es regnet. Birdy ist weg. Rayne.

Ihr Name bringt irgendeine Saite in mir zum Klingen. Als müsste ich ihn kennen. Tue ich aber nicht. Oder?

Stirnrunzelnd starre ich auf die Straße. Doch, irgendwo habe ich diesen Namen schon mal gehört, aber wo, wo, wo?

»East? Hey! Komm endlich rein, es ist wirklich arschkalt!«, beschwert Beck sich, inzwischen klingt er genervt.

Ich reagiere nicht. Ihr Name. Fuck, wo habe ich den schon mal gehört? Oder gelesen? Ja, vielleicht eher gelesen. Aber wo, verdammt noch mal.

»East! Jetzt mach.« Beck kommt zu mir, greift nach meinem Arm und zerrt mich unsanft zurück in den Laden. »Colin dreht dir den Hals um, wenn du schon wieder krank wirst! Und vielleicht machen Jax und ich dieses Mal mit. Wir haben vor Weihnachten zwei Wochen wegen deiner Mandelentzündung schon nicht geprobt! Noch eine Zwangspause können wir uns gerade echt nicht leisten!«

Die Tür fällt hinter uns ins Schloss, das Glöckchen klingelt leise, Beck zieht mich durch den Verkaufsraum nach hinten ins Café.

Evie sitzt wieder an einem der runden Tische und konzentriert sich auf ihr Handy. Sie wirft uns nur einen kurzen, irritierten Blick zu, als Beck hinter der Theke verschwindet und eins der Trockentücher aus dem Schrank holt, mit denen Evie normalerweise die Theke trockenwischt.

Er wirft es mir zu und deutet auf meine feuchten Haare.

»Danke«, murmle ich und rubble mir über den Kopf. Das Adrenalin verschwindet langsam, ich beginne am ganzen Körper zu zittern.

»Das war wirklich superdämlich«, stellt er fest, und ja, da hat er wohl recht.

»Geht schon.« Ich winke ab, aber Beck lässt mich nicht so leicht vom Haken. Hätte ich mir eigentlich denken können.

»Hast du noch einen anderen Pulli hier? Deiner ist komplett nass.«

Trotz allem komme ich nicht gegen das Grinsen an, das sich auf meinem Gesicht ausbreitet. »Ja, Mom, ich ziehe mich gleich um.«

»Mach dich ruhig lustig, aber irgendjemand muss ja auf dich aufpassen.« Er schnaubt und greift nach der Tasse, die neben der Siebträgermaschine steht.

»Es ist nur ein bisschen Regen.«