Hold Me - New England School of Ballet - Anna Savas - E-Book

Hold Me - New England School of Ballet E-Book

Anna Savas

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Beschreibung

Verrat mir deine Wahrheiten, dann erfährst du meine

Als Zoe die Zusage für die renommierte New England School of Ballet erhält, erfüllt sich ihr größter Traum - auch wenn das bedeutet, dass sie dort Jase wiedersieht. Den Jungen, dem all ihre Wahrheiten gehören. Alle außer einer: warum sie vor einem Jahr den Kontakt zu ihm abbrach. Deswegen ist Jase auch überhaupt nicht begeistert, ihr plötzlich jeden Tag an der Schule zu begegnen. Denn neben seinen Eltern, die seinen Traum vom Tanzen nicht akzeptieren, braucht er nicht auch noch Zoe, die ihn an alles erinnert, was er verloren hat. Doch als Zoe Jase als Tanzpartnerin zugeteilt wird, kommen sie sich unweigerlich näher - genauso wie ihrer gemeinsamen Vergangenheit, die sie beide bis heute nicht vergessen konnten ...

"Eine Geschichte voller Twists und Wahrheiten, mit der sich Anna Savas ab der ersten Seite in mein Herz geschrieben hat. Ich wünschte, ich hätte die New England School of Ballet nie verlassen müssen!" SARAH SPRINZ, SPIEGEL-Bestseller-Autorin

Band 1 der New-Adult-Reihe an der NEW ENGLAND SCHOOL OF BALLET von Anna Savas

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Seitenzahl: 596

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INHALT

Titel

Zu diesem Buch

Leser:innenhinweis

Widmung

Playlist

Prolog

1. Teil: Entrée

1. Kapitel

Davor

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

Davor

9. Kapitel

10. Kapitel

2. Teil: Adagio

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

Davor

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

Davor

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

Davor

3. Teil: Variationen der Tänzerin

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

Davor

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

Danach

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

4. Teil: Variationen des Tänzers

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

43. Kapitel

44. Kapitel

45. Kapitel

46. Kapitel

47. Kapitel

48. Kapitel

5. Teil: Coda

49. Kapitel

50. Kapitel

51. Kapitel

52. Kapitel

53. Kapitel

54. Kapitel

55. Kapitel

56. Kapitel

57. Kapitel

Epilog

Nachwort

Danksagung

Die Autorin

Die Romane von Anna Savas bei LYX

Impressum

ANNA SAVAS

Hold Me

NEW ENGLAND SCHOOL OF BALLET

Roman

ZU DIESEM BUCH

Als Zoe die Zusage für die renommierte New England School of Ballet erhält, erfüllt sich ihr größter Traum – auch wenn das bedeutet, dass sie dort Jase wiedersieht. Den Jungen, dem all ihre Wahrheiten gehören. Alle außer einer: warum sie vor einem Jahr den Kontakt zu ihm abbrach. Jase ist ebenfalls alles andere als begeistert, dass Zoe an derselben Akademie studiert wie er. Denn neben seinen Eltern, die seinen Traum vom Tanzen nicht akzeptieren, braucht er nicht auch noch jeden Tag Zoe um sich, die ihn an alles erinnert, was er verloren hat. Doch so sehr er versucht, ihr auf dem Campus aus dem Weg zu gehen – als sie sich das erste Mal im Unterricht gegenüberstehen, ist plötzlich alles wieder da: die Zettel, die Wahrheiten und das Kribbeln, das ein einziger kurzer Blick und jede noch so zarte Berührung in ihnen auslöst. Und als Zoe ausgerechnet Jase als Tanzpartnerin zugeteilt wird, kommen sie sich unweigerlich näher als jemals zuvor – aber mit den Erinnerungen an ihre gemeinsame Zeit kommen auch die an diese eine tragische Nacht zurück, die alles zwischen ihnen verändert hat …

Liebe Leser:innen,

dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte.

Deshalb findet ihr hier eine Triggerwarnung.

Achtung: Diese enthält Spoiler für das gesamte Buch!

Wir wünschen uns für euch alle das bestmögliche Leseerlebnis.

Eure Anna und euer LYX-Verlag

Für Katharina

Danke für alles

PLAYLIST

i didn’t ask for this – beth crowley

ghost of you – 5 seconds of summer

in threes – as it is, set it off, jordypurp

without you – promoting sounds, 7ru7h

i need you to hate me (piano version) – jc stewart

safe & sound – hayd

trauma – nf

wrecked – imagine dragons

chaos – stateside

pieces of you – nothing, nowhere.

@ my worst – blackbear

i guess i’m in love – clinton kane

don’t fall – 44phantom

half hearted – we three

like that – bea miller

let it go – chandler leighton

when you say my name – chandler leighton

you and i – pvris

dying on the inside (stripped) – nessa barrett

twin flame – machine gun kelly

take my hand – 5 seconds of summer

brother (acoustic) – kodaline

the last time – taylor swift, gary lightbody

PROLOG

Zoe

Es beginnt mit einem Spiel. Ich bin mit meinen Freundinnen auf dem Frühlingsball unserer Highschool, und bis zu einem gewissen Punkt ist es der perfekte Abend.

Bis meine beste Freundin Charlotte zwei Stunden zu spät in den Ballsaal schwebt, ein strahlendes Lächeln auf dem hübschen Gesicht. Sie ist wunderschön, aber das ist sie immer. Absolut perfekt.

»Mädels, ich muss euch was erzählen!«, quietscht sie, greift erst nach meiner, dann nach Ambers Hand und zieht uns von der Tanzfläche. Ich bin zu überrumpelt, um mich ihr zu entziehen, und lasse es einfach geschehen, obwohl sich mein Magen jetzt schon nervös zusammenzieht.

Scarlett folgt uns mit einem genervten Augenrollen. Sie ist die Ruhigste von uns. Nicht unbedingt, weil sie schüchtern ist, sie hält von den meisten Leuten nur nicht besonders viel. Manchmal glaube ich, dass sie nur wegen Amber mit uns rumhängt. Die beiden sind seit dem Kindergarten beste Freundinnen. Sie kennen sich genauso lange wie Charlotte und ich. Ein ganzes Leben lang.

»Was ist passiert?«, frage ich und gebe mir alle Mühe, das mulmige Gefühl zu ignorieren, das in mir aufsteigt. Aber es nützt nichts. Die Nervosität ist da, und sie lässt sich auch nicht vertreiben. Charlotte kommt nie zu spät. Nicht ohne Grund. Und sie erzählt uns immer alles. Sofort. Dass sie erst jetzt aufkreuzt und keine Nachricht geschrieben hat, kann eigentlich nichts Gutes bedeuten.

Ihr Lächeln wird noch breiter, als sie schwungvoll die blauschwarzen Haare, die ihr an diesem Abend wie ein seidig glatter Vorhang über die Schultern fallen, zurückwirft. »Meine Mom war heute mit Monsieur Duval zum Abendessen verabredet und ratet mal: Ich darf die Aurora in Dornröschen tanzen.« Wieder quietscht sie, das Geräusch ist so schrill, dass sie mühelos die Musik im Saal übertönt.

Ich will mir die Ohren zuhalten, aber ich kann mich nicht bewegen. Und deswegen kann ich auch ihre Worte nicht aussperren, obwohl ich nichts lieber will als das.

Ich darf die Aurora tanzen.

Mir dreht sich der Magen um. Das kann nicht wahr sein.

Darf es nicht.

Ist es aber.

»Oh mein Gott, Charlotte! Das ist mega!« Amber reißt die Augen auf und fällt Charlotte stürmisch um den Hals.

Ich dagegen stehe da wie erstarrt und beobachte fassungslos, wie auch Scarlett Charlotte lächelnd umarmt. Ich kann sehen, wie sich ihre Lippen bewegen, verstehe aber nicht, was sie sagen. Krampfhaft versuche ich die Tränen zurückzudrängen, die mir in den Augen brennen wie Säure.

Wie konnte das passieren?

Das ist meine Rolle. Die Rolle, auf die ich die letzten Wochen und Monate – nein, ganze Jahre hingearbeitet habe. Seit ich Ballett tanze, träume ich von dieser Rolle.

Und ich hatte sie. Aurora hat mir gehört. Noch vor ein paar Stunden war ich die Aurora. Monsieur Duval hat sie mir gegeben. Letzte Woche schon. Er hat mir gesagt, dass ich die Hauptrolle in Dornröschen tanzen würde. Vor sechs Tagen.

Wie zum Teufel konnte das also passiert sein?

Die Antwort ist leider denkbar einfach: Charlottes Mutter hatte ihre Finger im Spiel. Sie würde sonst nie mit unserem Ballettmeister zu Abend essen. Nicht, wenn dabei nicht irgendwas für Charlotte rausspringen würde, und seit ihr Dad Bürgermeister von Boston ist, bekommen Charlotte und ihre ältere Schwester Adaline immer, was sie wollen.

Bittere Enttäuschung steigt in mir auf. Ich hätte nie gedacht, dass Monsieur Duval derartig manipulierbar ist. Nicht, nachdem er uns tausendmal eingebläut hat, wie wichtig Talent, Disziplin und Aufopferungsbereitschaft für unsere Karrieren sind.

»Zoe?« Charlotte greift nach meiner Hand, und erst als ihre Finger meine umschließen, warm und eine Spur zu fest, merke ich, dass mir eiskalt ist.

Ich hebe den Kopf und begegne ihrem Lächeln. In ihren blauen Augen liegt Mitgefühl.

Nicht echt.

Nichts an Charlotte ist echt. Nicht das Mitgefühl, nicht das Lächeln, nicht ihre Freundschaft. Es ist das erste Mal, dass mir das richtig bewusst wird, obwohl die Zeichen früher schon da waren. Viele, viele Zeichen. Ich habe sie nur ignoriert, hartnäckig verdrängt. Ich wollte sie nicht erkennen. Aber jetzt geht es nicht mehr anders. Ich sehe alles, und ich will die Augen schließen und so tun, als wäre nichts davon wahr.

»Du bist mir nicht böse, oder? Ich weiß, dass du die Rolle auch haben wolltest, aber wir wissen beide, dass du noch nicht so weit bist, oder?« Unschuldig blinzelt sie mich an, und ich will ihr diesen Ausdruck aus dem Gesicht schlagen, ihr das blassblaue Kleid zerreißen, das abartig perfekt zu ihren Augen passt.

Ich will die Rolle nicht nur haben. Ich hatte sie. Ich wurde gewählt.

Ich.

Nicht sie.

Und sie hat sie mir gestohlen.

Weil sie es nicht erträgt, nicht im Mittelpunkt zu stehen. Weil sie es nicht erträgt, wenn jemand besser ist als sie.

Ihr Verrat tut weh. So weh, dass mir das Atmen schwerfällt. Dass ich für einen Moment keine Luft bekomme und das Gefühl habe, jeden Augenblick die Fassung zu verlieren und einfach loszuschreien. Vielleicht sollte ich das tun. Alles rauslassen.

»Zoe, komm schon, sag mir, dass du nicht böse auf mich bist«, bettelt Charlotte und schiebt schmollend die Unterlippe vor.

Ich weiß, was ich tun und sagen sollte. Dass sie sich die Rolle sonst wohin stecken kann. Und unsere Freundschaft genauso. Ich weiß, dass ich endlich mal Rückgrat zeigen und ihr sagen sollte, was ich von ihr halte.

Ich weiß es, und ich tue es trotzdem nicht. Weil ich Charlotte schon mein ganzes Leben lang kenne und weil ich außer ihr, Amber und Scarlett keine Freundinnen habe. Und mir ist vollkommen klar, was passieren wird, wenn ich jetzt nicht das sage, was sie von mir hören will.

Ich werde zur Aussätzigen, würde ohne Freundinnen das Schuljahr beenden und mein letztes beginnen. Neue Freundinnen zu finden, würde ein Ding der Unmöglichkeit werden, und Charlotte würde mir das Leben zur Hölle machen. Anders als jetzt, wo sie zumindest noch so tut, als wären wir Freundinnen. In ihren Augen sind wir das vielleicht sogar. Solange sie bekommt, was sie will, und ich schön da bleibe, wo ich hingehöre. In ihrem Schatten.

»Ich bin nicht böse«, würge ich hervor und ersticke fast an der Lüge. In mir zerbricht etwas. Vielleicht mein Herz. Oder mein Traum, es jemals auf die große Bühne zu schaffen. Ich kann es nicht klar benennen. Aber ich spüre es, höre das Geräusch so deutlich, dass ich mich unwillkürlich frage, wie es sein kann, dass es niemand sonst tut.

»Du hast es verdient.«

Wenn du dir nicht anders zu helfen weißt, als deine Mutter die Rolle für dich kaufen zu lassen, hast du sie tatsächlich verdient.

»Habe ich wirklich, oder?« Charlotte strahlt mich an, und jetzt schießen mir doch Tränen in die Augen. Sie spricht weiter, erzählt etwas, das ich nicht verstehe, weil es in meinen Ohren unangenehm zu fiepen beginnt. Mein Herz rast, und mein Atem geht auf einmal zu schnell, zu flach.

Ich muss hier raus. Ich murmle eine Entschuldigung, irgendwas davon, dass ich zur Toilette muss, aber meine Freundinnen reagieren überhaupt nicht. Amber und Scarlett sind voll und ganz auf Charlotte konzentriert. Der Mittelpunkt unser aller Welt. Es ist zum Kotzen.

Mit wackeligen Beinen entferne ich mich von ihnen, stolpere auf meinen High Heels durch den Ballsaal und sehe mich hektisch nach meinem Bruder um. Ich muss meinen Bruder finden. Und dann muss ich hier raus. Nach Hause. Wo niemand meinen Nervenzusammenbruch mitbekommt.

Aber Caleb ist nirgendwo zu entdecken, obwohl ich weiß, dass er noch hier ist. Er würde nie gehen, ohne mir Bescheid zu sagen und dafür zu sorgen, dass ich auch ohne ihn sicher nach Hause komme.

Irgendwann ist es mir egal, ob ich ihn finde oder nicht. Tränen laufen mir übers Gesicht, als ich aus dem Ballsaal stürze und nach draußen renne. Der Regen trifft mich wie ein Schlag, aber das Letzte, was ich jetzt tun will, ist umzudrehen und meinen Mantel zu holen. Bei meinem Glück würde ich Charlotte direkt wieder in die Arme laufen.

Danke, nein, darauf kann ich wirklich verzichten.

Zornig wische ich mir die Tränen von den Wangen, die sich auf meiner kalten Haut viel zu heiß anfühlen und sich mit den dicken Regentropfen vermischen, die vom nachtschwarzen Himmel fallen, während ich nach Hause haste.

Es ist nicht weit, ich brauche nur fünfzehn Minuten, trotzdem bin ich nass bis auf die Haut, als ich endlich das schmiedeeiserne Tor zu unserem Garten öffne, das mit einem leisen Quietschen aufschwingt. Egal, wie groß die Häuser in Beacon Hill sind, die Gärten sind winzig. Praktisch nicht existent.

Unserer ist gerade groß genug für Moms geliebte Terrasse und eine kleine Rasenfläche, auf der die beiden Rotbuchen stehen, die das Baumhaus stützen, das Dad vor Jahren für Caleb und mich gebaut hat. Ich liebe dieses Baumhaus, habe es schon immer geliebt und tue es noch mehr, seit Caleb eines Tages beschlossen hat, dass er zu cool dafür ist.

Seitdem gehört das Baumhaus nur mir, es ist mein ganz persönlicher Rückzugsort. Mein Versteck.

Im Wohnzimmer brennt noch Licht, als ich aus den hohen Schuhen schlüpfe und auf nackten Füßen so leise wie möglich durch den Garten husche. Es ist unwahrscheinlich, dass meine Eltern mich hören, aber nicht unmöglich, und ich kann darauf verzichten, dass sie mich dabei erwischen, wie ich die Leiter zum Baumhaus hochklettere, anstatt reinzugehen und mich in meinem Bett zu verkriechen. Dann würden sie wissen wollen, was passiert ist, und ich will nicht darüber reden.

Ich zittere am ganzen Körper, als ich endlich oben ankomme. In meinem klatschnassen Kleid friere ich erbärmlich, was – angesichts der Tatsache, dass ich im März ohne Mantel durch den Regen gerannt bin wie ein wandelndes Klischee – kein Wunder ist.

Leise fluchend suche ich nach dem Schalter für die batteriebetriebene Lichterkette, und einen Augenblick später durchflutet das warme Licht unzähliger kleiner Lampen das Baumhaus. Ich zerre mir den klebrigen Stoff von der kalten Haut und taste nach dem Harvard-Hoodie, den ich hier oben aufbewahre. Er gehört meinem Dad, ich habe ihn vor Monaten aus der Kiste für die Altkleidersammlung gerettet. Mom neigt dazu, alles auszusortieren, was wir nicht rechtzeitig in Sicherheit bringen.

Mir entfährt ein erleichtertes Seufzen, als ich mich in den Hoodie kuschle. Er ist so groß, dass er mir bis zur Mitte der Oberschenkel reicht. Der Stoff ist weich, die Nähte sind teilweise aufgegangen, aber das stört mich nicht. Ich lasse mich auf die unzähligen Kissen fallen, die den Boden fast vollständig bedecken, ziehe mir gleich beide Wolldecken über die Beine und taste nach meinem Notizbuch.

Mein rasender Puls kommt zur Ruhe, sobald ich es aufschlage und die noch leeren Seiten mir entgegenblicken. Leere Seiten, die nur darauf warten, dass ich sie mit meinen Gedanken und meinem Schmerz fülle. Ich setze gerade den Stift auf das Papier, als ich eine vertraute Stimme höre und erschrocken zusammenzucke.

»Was machst du hier, Pixie? Solltest du nicht auf einem Ball sein?« Jase steht lässig in der Tür des Baumhauses und scheint sich kein bisschen dafür zu interessieren, dass er genauso nass ist wie ich. Regentropfen fallen aus seinen zerzausten blonden Haaren auf seine Schultern, und zum tausendsten Mal fällt mir auf, wie schön er ist.

Zu schön für einen Achtzehnjährigen. Das Adjektiv ist sowieso völlig falsch. Er dürfte maximal süß sein. Vielleicht heiß. Nicht schön. Das ändert aber trotzdem nichts an der Tatsache, dass er es ist.

»Wie oft muss ich dir eigentlich noch sagen, dass du mich nicht so nennen sollst?«, gebe ich spitz zurück, ohne seine Frage zu beantworten, und hoffe, dass er nicht merkt, wie mir das Blut in die Wangen schießt. Und dass ich ziemlich sicher immer noch völlig verheult aussehe.

Ein Grinsen huscht über sein Gesicht. »Bis ich von deinen ständigen Beschwerden irgendwann tot umfalle.« Er schlägt die Beine übereinander und lehnt sich mit der Schulter an den Türrahmen. Die Tür ist nicht richtig hinter ihm zugefallen, ich kann den Regen hören, aber ich bitte ihn nicht, die Tür zu schließen. Das Geräusch ist beruhigend. Anders beruhigend als die Tropfen, die einer nach dem anderen auf das Dach des Baumhauses prasseln.

»Dann sollte ich mir wohl ein bisschen mehr Mühe geben«, erwidere ich spöttisch, verkneife mir aber nur mit Mühe ein Lächeln. Er glaubt, dass ich den Spitznamen hasse, und am Anfang habe ich das vielleicht auch. Aber während der letzten vier Jahre, in denen Jase und Caleb beste Freunde geworden sind und so viel Zeit miteinander verbracht haben, dass es sich manchmal so anfühlt, als wäre er bei uns eingezogen, habe ich angefangen, den Namen zu mögen. Nicht, dass ich das jemals zugeben würde.

Er lacht leise, und mein Herz macht einen Satz. Jase lacht nicht oft, und dass er es jetzt tut, ist irgendwie … schön. Und ziemlich beängstigend.

»Vielleicht«, schmunzelt er und macht einen ersten Schritt in das Baumhaus hinein. Die Tür fällt mit einem kaum hörbaren Klicken hinter ihm ins Schloss, und der Raum fühlt sich plötzlich viel zu klein an. Noch ein Schritt, dann kniet er sich vor mich auf den Holzboden und mustert mich aus viel zu grünen Augen. »Also, was machst du hier?«

»Ist doch völlig egal.« Ich seufze und streiche mir eine nasse Haarsträhne aus der Stirn, als meine Gedanken zurück zu Charlotte wandern. Für ein paar Sekunden habe ich beinahe vergessen, dass ich nur ihretwegen weggelaufen bin.

Jase legt den Kopf schief, sieht mich einfach nur an. So intensiv, dass meine Haut zu kribbeln beginnt. Dann nimmt er mir erst das Notizbuch und den Stift aus der Hand, reißt eine Seite heraus und setzt sich auf den Boden, ein Bein lang ausgestreckt, das andere angewinkelt. »Was soll das werden?«, frage ich misstrauisch, als der Stift über das Papier kratzt.

Ohne ein Wort reicht er mir den Zettel.

Was ist passiert?

Meine Augenbrauen wandern nach oben. »Was soll das werden?«, wiederhole ich, obwohl ich genau weiß, dass Jase mich auch beim ersten Mal verstanden hat.

Seine Mundwinkel heben sich, er zuckt mit den Schultern und hält mir den Stift hin. »Beantworte einfach die Frage.«

Ein Teil von mir will ihn aus dem Baumhaus werfen, den Zettel zerknüllen und hinterherschmeißen. Doch da ist noch ein anderer Teil, der viel zu neugierig ist, wohin das alles führen wird.

Also nehme ich ihm den Stift aus der Hand und tue, was er verlangt. Ich beantworte die Frage.

Charlotte hat mir die Hauptrolle in Dornröschen geklaut, und ich hasse sie dafür. Ich hasse sie wirklich. Und trotzdem weiß ich, dass ich morgen so tun werde, als wäre es mir egal, dass sie mir die Rolle weggenommen hat. Unddafür hasse ich mich noch ein bisschen mehr.

Ich weiß bis heute nicht, warum ich ihm in jener Nacht die Wahrheit anvertraut habe. Vielleicht wollte ich testen, ob er mich auslacht. Was er nicht tut. Vielleicht wollte ich mich selbst testen. Keine Ahnung. Vielleicht ist es auch egal.

Er liest die wenigen Sätze, faltet den Zettel dann zusammen und steckt ihn in die Innentasche seiner Anzugjacke. Doch bevor ich ihn fragen kann, was das jetzt wieder zu bedeuten hat, zeigt er auf das Notizbuch. »Du bist dran.«

Ich zögere kurz und schiebe dann alle Zweifel, die in mir aufsteigen wollen, beiseite. Das Papier raschelt leise, als ich ebenfalls eine Seite aus dem Notizbuch reiße, meine Frage aufschreibe und ihm den Zettel reiche. Seine Augen huschen über die Frage, dann kritzelt er eine knappe Antwort auf das Papier und gibt mir den Zettel zurück.

Warum bist du hier?

Langeweile.

Ungläubig starre ich auf das eine Wort. Er ist hier, weil ihm langweilig ist? Die Frage liegt mir auf der Zunge, aber ich schlucke sie hinunter und mache es wie er. Ich falte den Zettel, schiebe ihn unter das Kissen, auf dem ich sitze, und reiche ihm dann eine meiner Decken.

»Hier. Damit du dir nicht den Tod holst.«

»Du weißt aber schon, dass du mir dadurch die Chance gibst, dich noch jahrelang Pixie zu nennen, oder?«

Ich verdrehe die Augen, muss aber grinsen. »Wenn du sie nicht willst …« Ich mache Anstalten, die Decke wieder wegzuziehen, aber Jase ist schneller.

Er schließt seine Finger um den dicken Wollstoff, schlüpft aus seinem nassen Jackett und schlingt sich die Decke um die Schultern. Dann streckt er mir auffordernd eine Hand entgegen. Ich zögere keine Sekunde und reiche ihm das Notizbuch.

Frage folgt auf Frage und Antwort auf Antwort. Wir sprechen kein Wort mehr in jener Nacht, schließen stumm einen Pakt, dass eine Antwort keine tiefergehende Frage nach sich ziehen darf.

Zwei Tage später finde ich einen zerknüllten Zettel im Baumhaus. Die Schrift ist unordentlich und jetzt schon viel zu vertraut.

Verrat mir deine Wahrheiten, dann erfährst du meine. – J

Und so beginnt unser Spiel.

Wir spielen nach Regeln, die keiner von uns je festgelegt hat, und wir spielen beide auf unterschiedliche Weise.

Ich hinterlasse Zettel im Baumhaus, wann immer mich etwas beschäftigt. Es spielt keine Rolle, worum es geht. Wenn ich etwas loswerden muss, schreibe ich es auf. Jase dagegen braucht Fragen. Ich weiß nicht, warum, und ich bohre nie nach. Aber er braucht die Fragen, die ich ihm stelle. Andernfalls ist da nichts. Kein Zettel, keine Wahrheit. Gar nichts.

Es ist, als wollte er mir seine Wahrheiten zwar anvertrauen, doch gleichzeitig hält ihn etwas davon ab. Als könnte er diese Wahrheiten nur preisgeben, wenn ich ihn gezielt nach etwas frage. Als würde er sie sonst in sich einsperren.

Wir vertrauen uns Wahrheiten an, die wir nie im Leben laut ausgesprochen hätten. Es ist wie ein Rausch, ein Warten darauf, wer den anderen zuerst verrät.

Aber Jase bewahrt meine Wahrheiten und ich seine.

Bis ich drei Monate später die Regeln ändere.

Küss mich. Heute Nacht.– P

1. TEIL

Entrée

Erste Phase des Pas de deux

1. KAPITEL

Zoe

Warum verstehst du dich so gut mit deinen Eltern?

Weil sie mich sein lassen, wer ich bin. Es ist nicht so, dass sie mir alles durchgehen lassen, aber sie erlauben mir, meine eigenen Fehler zu machen. Und ich weiß, dass sie immer für mich da sind, egal, welche Fehler ich mache. – P

»Zoe! Wo zum Teufel bleibst du?«, brüllt Caleb durchs Haus. Ich kann beinahe vor mir sehen, wie er mit genervter Miene unten am Treppenabsatz steht und alle zwei Sekunden einen Blick auf sein Handy wirft, um die Uhrzeit zu checken.

»Ich komme!«

»Dir ist schon klar, dass das dein erster Tag am College ist, oder?«

»Richtig«, murmle ich augenrollend. Es ist mein erster Tag – nicht am College, sondern an der New England School of Ballet, aber das sind Details, die Caleb gerade offensichtlich nicht interessieren. So oder so ist es kein Grund, so einen Stress zu machen.

»Du kommst zu spät!«

»Caleb, hör auf, so rumzuschreien!«, brülle ich zurück und streiche mir eine rostrote Haarsträhne aus der Stirn. Mich zu hetzen hat noch nie dazu geführt, dass wir früher loskommen. Meistens brauche ich dann noch länger. »Ich komme sofort.«

Sein tiefes Aufstöhnen lässt mich grinsen. Ich lasse meinen Blick ein letztes Mal durch mein Zimmer schweifen, über die weißen Möbel, die cremefarbene Bettwäsche und den weichen Teppich. Der Schreibtisch ist in den Ferien verschwunden, genauso wie meine Schulbücher. Alles andere – meine Klamotten, die Ballettsachen und den Kleinkram, den ich für mein neues Zimmer mitnehmen will – ist vor ein paar Tagen in vier riesige Koffer gewandert.

Ich habe schon vor einer Woche mit dem Packen begonnen, ständig mit dem Gedanken im Hinterkopf, dass ich bestimmt irgendwas vergesse, wenn ich nicht früh genug damit anfange. Heute weiß ich, dass ich mir darüber nicht den Kopf hätte zerbrechen müssen. Ich habe fast alles eingepackt, das ich besitze.

Ein ganzes Leben in vier Koffern.

Ich greife nach meinem Rucksack, wende mich ab und verlasse mein Zimmer. Am Türrahmen bleibe ich jedoch schon wieder stehen und streiche mit der Hand über die Zahlen, die Mom Jahr für Jahr in das Holz geritzt hat, wenn ich wieder ein Stück gewachsen war. Wehmut steigt in mir auf. Es fühlt sich wie ein Abschied an, obwohl es keiner ist. Ich kann immer nach Hause kommen, schließlich verlasse ich nicht einmal die Stadt. Ich bleibe in Boston. Ich ziehe nur ein Viertel weiter. Das ist eine Autofahrt von gerade mal zwanzig Minuten. Mehr nicht. Trotzdem habe ich auf einmal einen Kloß im Hals, und meine Augen beginnen zu brennen.

Doch bevor ich richtig sentimental werden kann, ruft Caleb erneut meinen Namen.

»Ich komme«, erwidere ich zum dritten Mal, löse die Hand vom Türrahmen und laufe den Flur entlang und die Treppe hinunter.

Meine Eltern und mein Bruder warten unten vor der Haustür auf mich. Caleb hockt auf einem meiner Koffer, wie erwartet das Handy in der Hand. Die dunklen Haare, die er von Dad geerbt hat, fallen ihm in zerzausten Locken in die Stirn. Er hebt den Kopf, als er meine Schritte hört und stößt ein theatralisches Seufzen aus.

»Na endlich!«

»Caleb, lass sie in Ruhe«, mahnt Mom, aber ihr Lächeln verrät, dass sie es nicht wirklich ernst meint.

»Genau, Caleb, lass mich in Ruhe«, stichle ich grinsend. »Du musst ja nicht mitkommen, wenn dir das alles zu lange dauert.«

Caleb steht auf, und der Koffer, auf dem er gerade noch gesessen hat, kippt zur Seite und landet mit einem dumpfen Geräusch auf dem Boden. Ich zucke zusammen und beiße mir auf die Lippe, um mir einen gequälten Laut zu verkneifen. In einem der Koffer liegen nämlich obenauf die Lichterketten. Hoffentlich war es nicht dieser.

»Aber dann würde ich die Chance verpassen, dich zu blamieren, und die kann ich mir nicht entgehen lassen.« Er tritt auf mich zu und zerzaust mir die Haare. Ich versuche ihm auszuweichen, bin allerdings zu langsam, und meine Frisur löst sich in Wohlgefallen auf.

»Gott, Caleb, wie alt bist du?« Ich löse das Haargummi aus meinen Locken und fasse sie erneut zu einem Zopf zusammen.

»Jedenfalls älter als du«, gibt er lachend zurück. »Und jetzt los.« Er greift nach dem ersten Koffer, Dad, der die ganze Szene schmunzelnd beobachtet hat, nimmt Koffer Nummer zwei und drei und folgt meinem Bruder zur Tür.

Mom legt mir eine Hand auf den Rücken und schiebt mich ebenfalls zur Tür, während sie gleichzeitig den Griff vom letzten Koffer umfasst.

Ein paar Minuten später ist alles im Kofferraum von Dads überdimensionalem SUV verstaut, und Caleb und ich schieben uns auf die Rückbank, während Mom und Dad vorne einsteigen.

»Ihr müsst wirklich nicht alle mitkommen«, versichere ich in dem ziemlich vergeblichen Versuch, sie genau davon abzuhalten. Wahrscheinlich bin ich die einzige Studentin, die von ihrer gesamten Familie hergebracht wird.

»Doch, müssen wir«, widersprechen Mom und Dad im Chor.

Mom dreht sich auf dem Beifahrersitz zu mir um, ihre grünen Augen glitzern verdächtig. »Wir sind einfach so stolz auf dich.«

Ich spüre, wie mir Hitze in die Wangen steigt, öffne den Mund, um etwas zu erwidern, aber Caleb greift nach meiner Hand und drückt sie fest. »Lass sie«, flüstert er leise. »Ihr Baby zieht heute aus.«

Ich will widersprechen, weil das Quatsch ist, aber ich weiß, was er damit meint, und dann sehe ich das stolze Funkeln in Moms Blick und klappe den Mund geräuschvoll wieder zu.

»Wer hätte gedacht, dass du es so weit schaffen würdest.« Ihre vollen Lippen verziehen sich zu einem breiten Lächeln, das die Sommersprossen auf ihren Wangen tanzen lässt.

»Ich«, mischt Dad sich ein, ohne den Blick von der Straße zu nehmen.

»Danke, Dad.«

Er zwinkert mir im Rückspiegel verschwörerisch zu. Seine Augen sind genauso warm und braun wie Calebs.

»So habe ich das nicht gemeint«, protestiert Mom. »Ich habe auch immer an dich geglaubt, Schätzchen, das weißt du. Aber ich muss immer daran zurückdenken, wie wir dich damals zu deiner ersten Ballettstunde gebracht haben. Du warst so klein und unbeholfen, und heute bist du … Du bist so schön und talentiert, und jetzt gehst du auf eine der besten Ballettschulen des Landes. Das ist einfach so …« Mom bricht ab und wischt sich eine Träne von der Wange. So gerührt habe ich sie das letzte Mal gesehen, als Caleb und ich unsere Schulabschlüsse gemacht haben.

»Ach, Mom. Nicht weinen.« Ich lehne mich nach vorne und lege ihr eine Hand auf die Schulter.

»Genau, Mom, du hast heute keine wasserfeste Wimperntusche benutzt«, wirft Caleb von der Seite ein, und ich funkle ihn böse an.

»Nicht hilfreich«, zische ich in seine Richtung, doch Mom stößt ein ersticktes Lachen aus, und Caleb grinst triumphierend.

»Ich bin immer hilfreich.«

»Du bist vor allem immer nervig«, schieße ich zurück, allerdings wissen wir beide, dass ich es nicht ernst meine. Caleb ist mein großer Bruder, und manchmal ist er tatsächlich nervig, aber vor allem ist er mein bester Freund.

»Hab dich auch lieb, Schwesterherz.« Caleb zieht sanft an meinem Zopf, und ich ergebe mich meinem Schicksal, weil ein Pferdeschwanz heute offensichtlich keine Option ist.

Seufzend löse ich das Haargummi aus meinen Locken, verzichte auf einen dritten Versuch und greife nach meinem Rucksack, um mich zu vergewissern, dass ich wirklich alles eingepackt habe. Sicher ist sicher.

Doch noch bevor ich einen Blick reinwerfen kann, nimmt Caleb mir den Rucksack ab, stopft ihn vor sich in den Fußraum und ignoriert meinen Protest. »Du hast alles eingepackt«, sagt er bestimmt. »Du brauchst nicht zum tausendsten Mal nachzugucken. Das hast du heute Morgen nach dem Frühstück schon gemacht.«

»Lass es mich trotzdem noch mal kontrollieren«, bitte ich, weil ich mich wirklich dringend selbst vergewissern muss, dass alles da ist. Ich strecke eine Hand nach dem Rucksack aus, aber Caleb schiebt ihn mit dem Fuß aus meiner Reichweite. »Komm schon, Caleb. Bitte. Was ist, wenn ich was vergessen habe?«

»Du bist der perfektionistischste Mensch, den ich kenne. Du hast nichts vergessen.«

Wahrscheinlich hat er recht, aber was, wenn doch?

»Ganz abgesehen davon – selbst wenn du was vergessen hättest, könnte einer von uns dir das noch schnell vorbeibringen oder du holst es dir selbst zu Hause ab«, fährt er ungerührt fort, als hätte er meine Gedanken gelesen.

»Schau wenigstens nach, ob ich den Ordner eingepackt habe. Da sind alle Unterlagen abgeheftet, die ich brauche.«

Seufzend gibt Caleb nach, öffnet den Rucksack und klappt ihn eine Sekunde später wieder zu. Aber das hat gereicht, um den grauen Ordner zu entdecken, den ich zusammen mit meiner Zusage vor ein paar Wochen bekommen habe. Erleichtert atme ich auf und lasse mich in die weichen Polster zurücksinken.

Es fühlt sich noch immer seltsam an, dass ich tatsächlich genommen wurde. Unwirklich. Wie ein Traum.

Wie mein Traum.

Und er ist wahr geworden.

Ich habe davon geträumt, die New England School of Ballet zu besuchen, seit mir zum ersten Mal der Gedanke gekommen ist, dass das Ballett mehr ist als nur ein Hobby.

Ballett ist alles für mich. Ich will ganz nach oben. Auf die große Bühne. Und mit der Zusage bin ich meinem Ziel einen großen Schritt näher gekommen.

* * *

Caleb stößt einen beeindruckten Pfiff aus, nachdem Dad den Wagen auf dem Parkplatz direkt vor dem Campus geparkt hat.

»Sicher, dass wir hier richtig sind? Das sieht nicht unbedingt aus wie eine Ballettschule.«

»Abgefahren, oder?« Mein Herz macht einen aufgeregten Satz. Ich brauche Calebs Antwort nicht zu hören. Es ist abgefahren.

Caleb und Dad heben meine Koffer aus dem Kofferraum, dann überqueren wir den Parkplatz und nähern uns dem schmiedeeisernen Tor, das in die hohe Sandsteinmauer eingelassen ist, die den Campus umgibt.

Ein strahlendes Lächeln breitet sich auf meinem Gesicht aus, als wir unter dem hohen Tor hindurchtreten, auf dessen Torbogen in schnörkellosen Buchstaben der Name der Schule prangt.

Es ist wirklich wunderschön hier. Direkt vor uns, in der Mitte des Campus, befindet sich ihr Herzstück – das Theater mit der breiten, einladenden Treppe, die an die Treppe des Metropolitan Museums of Art in New York erinnert, weniger groß, aber nicht weniger eindrucksvoll. Die anderen Gebäude sind um das Theater herumgebaut worden. Das kleine Verwaltungsgebäude befindet sich hinter dem Theater, zwischen dem Unterrichtsgebäude, in dem die Theoriekurse stattfinden, und dem Trainingsgebäude, wo es nicht nur mehr als ein Dutzend Ballettsäle gibt, sondern auch ein Gym, ein Schwimmbad und eine Sauna. Die beiden Wohnheime – eins für die jüngeren Schüler, die hier auch ihren Highschool-Abschluss machen können, und eins für die Älteren, die Tanz studieren – umschließen das Theater rechts und links. Sämtliche Bauten sind aus Sandstein und greifen den viktorianischen Stil auf, für den Back Bay – das Viertel der Reichen und Mächtigen in Boston – berühmt ist. Hinter den Gebäuden erstrecken sich bis zur Mauer grüne Rasenflächen.

Überall auf dem Campus begrüßen Scharen an Studierenden einander fröhlich, nachdem sich die meisten von ihnen während des Sommers wahrscheinlich nicht gesehen haben. Einige werden von ihren Eltern begleitet, vor allem die Jüngeren, die meisten sind aber allein unterwegs.

»Wo müssen wir hin?« Dad wirft mir über die Schulter hinweg einen fragenden Blick zu, und ich deute auf das Verwaltungsgebäude.

»Ich muss noch den Schlüssel für mein Zimmer abholen«, erkläre ich und rufe mir kurz in Erinnerung, ab wann ich mein Zimmer beziehen kann, und wo ich den Schlüssel herbekomme.

Mit der Zusage der New England School of Ballet kam auch ein Paket, in dem sich, neben einem grauen Hoodie mit Schulwappen, auch der hellgraue Ordner befand, der sämtliche Informationen enthält, die ich für die erste Zeit brauche. Meinen Stundenplan, die Agenda für die erste Woche, inklusive den Terminen beim Physiotherapeuten und der Ernährungsberaterin, ein Lageplan und das Regelwerk mit allen Vorschriften zu Drogen und Alkohol. Es gibt einen kurzen Absatz zur Kleiderordnung im Unterricht und einen deutlich längeren zum Umgang mit Essstörungen.

Alles ist durchgeplant, nicht nur die erste Woche, sondern auch der erste Tag. Zwischen zehn und fünfzehn Uhr können die neuen Schülerinnen und Schüler sich anmelden, ihre Schlüssel abholen und ihre Zimmer beziehen. Um sechzehn Uhr hält der Direktor die Willkommensrede im Theater, und danach steht ein gemeinsames Kennenlernabendessen auf dem Programm.

»Zoe? Wir warten draußen auf dich, in Ordnung?« Dads sanfte Stimme reißt mich aus meinen Gedanken und lässt mich innehalten. Mom, Caleb und er sind vor dem Verwaltungsgebäude stehen geblieben, während ich schon einen Fuß auf die unterste Steinstufe gesetzt habe.

»Klar. Bis gleich.« Ich warte seine Antwort nicht ab, steige die Treppe hinauf und schlüpfe durch die Eingangstür.

Drinnen ist es überraschend kühl und still. Die einzigen Geräusche, die den großen Raum mit den hohen Decken füllen, sind das gedämpfte Murmeln vereinzelter Stimmen. Man läuft geradewegs auf eine Art Rezeption zu, und vor den großen Fenstern, die einen perfekten Blick auf die Rückseite des Theaters freigeben, befindet sich eine gemütliche Sitzecke mit zwei Sofas, runden Tischen und ein paar Sesseln. Warmes Sonnenlicht malt Schatten auf den dunklen Parkettboden und auf die meterhohen Wände, an denen überall Bilder verschiedener Tänzerinnen und Tänzer in den unterschiedlichsten Figuren hängen.

Vereinzelt stehen Jungen und Mädchen in Grüppchen zusammen mit ihren Eltern. Die meisten von ihnen scheinen in meinem Alter zu sein, ein paar von ihnen hängen an ihren Handys, andere unterhalten sich.

Ich reihe mich hinter zwei Mädchen in die kurze Schlange vor der Rezeption ein, und zehn Minuten später verlasse ich das Gebäude mit meinem Zimmerschlüssel.

»Hat alles geklappt?«, erkundigt Mom sich, als ich zu ihnen trete, und schirmt ihre Augen mit einer Hand vor dem Sonnenlicht ab.

»Völlig problemlos. Wir müssen da rüber.« Ich deute auf das Wohnheim, bevor ich mich neben Caleb schiebe, der wie immer mit seinem Smartphone beschäftigt ist.

Ich warte, bis Mom und Dad ein paar Schritte vorausgegangen sind, bevor ich mit einem vielsagenden Grinsen auf sein Handy tippe. »Weißt du, irgendwie glaube ich dir nicht, dass du mitgekommen bist, um mich vor irgendwem zu blamieren. Du versuchst dich abzulenken. Auf wessen Nachricht wartest du so sehnsüchtig, hm?«

Calebs Gesicht läuft knallrot an, es ist beinahe niedlich, wie er sich vor Verlegenheit windet. »Parkers.«

Mir entfährt ein begeistertes Quietschen. »Nicht dein Ernst! Seit wann schreibt ihr?«

»Seit ein paar Wochen.« Die Röte auf seinen Wangen vertieft sich.

»Und das sagst du mir jetzt erst?« In gespielter Empörung funkle ich ihn an.

»Es gibt nichts zu erzählen. Wir schreiben uns, das war’s.«

»Aber du stehst seit Monaten auf ihn! Dass ihr jetzt schreibt, ist eine wirklich große Sache.«

»Ich weiß, aber …« Er bricht ab, ein unsicherer Ausdruck erscheint auf seinem Gesicht. Eine Unsicherheit, die nicht zu ihm passt.

Mein Bruder ist der selbstbewussteste Mensch, den ich kenne. Er ist zwei Köpfe größer als ich und hat die Statur des Quarterbacks, der er nun mal ist. Er spielt im Footballteam von Harvard, ist jetzt im zweiten Jahr und hat große Pläne. Die Highschool hat er mit eins Komma null abgeschlossen, nach seinem Collegeabschluss will er an die Harvard Business School gehen, seinen Master machen und dann ins Kosmetikunternehmen unserer Mom einsteigen. Er ist ein beeindruckender Kerl, und er weiß es. Nur wenn es um Parker geht, verliert er seine Selbstsicherheit. Und jedes Mal, wenn ich dieses verunsicherte Flackern in seinen Augen sehe, blutet mir das Herz.

»Wovor hast du Angst?«, will ich wissen und stupse ihn sanft an.

»Dass er mich nicht mag?«

»Das klingt wie eine Frage.«

»Zoe –«

»Er wird dich mögen«, unterbreche ich ihn. »Auf jeden Fall. Man kann dich gar nicht nicht mögen.«

»Kann man schon«, murmelt Caleb und fährt sich mit beiden Händen durch die dunklen Locken.

»Wird er aber nicht!« Ich mustere ihn streng. Caleb zieht eine Grimasse, wirkt aber nicht wirklich überzeugt. Daran muss ich wohl noch arbeiten.

»Mhm«, macht er nur.

»Vertrau mir einfach!«

»Dir vertraue ich. Nur mir selbst nicht.«

»Dann wird es Zeit!«

»Schon klar. Aber heute geht es um dich, also konzentrieren wir uns darauf, okay?«

Ich will protestieren, aber wir sind inzwischen beim Wohnheim angekommen. Dad hält uns die Tür auf, und Caleb schiebt mich bestimmt hinein.

Ein aufgeregtes Kribbeln breitet sich in mir aus, als ich das Gebäude betrete, in dem ich die nächsten vier Jahre wohnen werde, und in diesem Moment begreife ich so wirklich wirklich, dass es tatsächlich passiert. Dass ich tatsächlich hier bin. In diesem langgezogenen Sandsteinbau mit den hellen Wänden und dunklen, abgenutzten Dielen. Es gibt vier Stockwerke, aber keinen Aufzug. Im Erdgeschoss befindet sich der Speisesaal, in allen anderen Stockwerken sind die Schlafzimmer und Aufenthaltsräume – einer auf jeder Etage – untergebracht.

Mein Zimmer ist im vierten Stock, direkt unterm Dach, das vorletzte am Ende des Flurs. Als ich vor der Tür ankomme und den Schlüssel aus der Tasche ziehe, erhasche ich einen Blick auf den angrenzenden Aufenthaltsraum.

Ich muss lächeln. Im nächsten Moment wird mein Lächeln noch breiter, als ich in mein Zimmer eintrete. Der dunkle Holzboden steht im starken Kontrast zu den weißen, mit Stuckleisten verzierten Wänden. Ein kleiner Eingangsbereich, der gerade für eine Garderobe reicht, führt in ein geräumiges Zimmer mit hohen Fenstern und einer breiten Fensterbank. Das Bett ist kleiner als meins zu Hause, genauso wie der Kleiderschrank, trotzdem habe ich mehr Platz als erwartet. Es gibt einen Schreibtisch samt Stuhl und direkt neben der Zimmertür führt eine weitere ins Badezimmer. Es ist winzig, aber ich habe hier eine Dusche, ein Waschbecken und eine Toilette nur für mich. Dank der weißen Wände und den hohen Fenstern wirkt das Zimmer, trotz des dunklen Parketts, sehr hell und freundlich, und, obwohl es, abgesehen von den wenigen, ebenfalls weißen Möbeln, praktisch leer ist, versprüht es mit seinen Stuckleisten unheimlich viel Charme.

»Also eure Zimmer sind definitiv besser als die Zimmer in Harvard.« Geräuschvoll lässt Caleb den Koffer auf den Boden fallen, und ich muss lachen.

»Du wohnst nicht mal auf dem Campus.«

Caleb geht seit einem Jahr nach Harvard, aber das Wohnheim hat er nur ein einziges Mal betreten und danach nie wieder. Die Alternative ist auch deutlich schöner. Er wohnt zusammen mit seinen besten Freunden in einer Penthousewohnung im Westend. Dagegen kommt kein Wohnheimzimmer der Welt an.

»Ich hab die Wohnheime aber gesehen. Und das hier ist viel besser.«

»Stimmt, ist es«, gebe ich ihm vergnügt recht.

»Brauchst du Hilfe beim Auspacken?«, will Mom wissen, doch ich schüttle schnell den Kopf.

»Danke, aber das schaffe ich allein.«

»Du willst nur nicht, dass jemand deine heilige Ordnung durcheinanderbringt«, neckt Caleb mich.

»Na und?« Pikiert rümpfe ich die Nase.

Ich mag meine Ordnung. Sie ist das Einzige, was ich von Dad geerbt habe. Mom und Caleb leben im Chaos, und ich habe nicht den blassesten Schimmer, wie sie jemals irgendwas finden, wenn sie was suchen. Bei mir hat jedes noch so kleine Teil seinen angestammten Platz. Und deswegen muss ich meine Taschen auch selbst auspacken.

»Wie es aussieht, ist es dann wohl Zeit, Abschied zu nehmen«, sagt Dad und breitet beide Arme aus, um mich in eine feste Umarmung zu ziehen. »Viel Spaß, Kleines.«

»Danke, Dad«, wispere ich und habe plötzlich einen dicken Kloß im Hals. Oh Gott, nicht heulen, nicht jetzt. Wenn ich jetzt anfange zu heulen, geht Mom nie.

»Ruf mich an, wenn etwas ist. Oder wenn nichts ist. Du kannst mich immer anrufen.« Mom drückt mir einen Kuss auf die Stirn, nachdem ich mich von Dad gelöst habe. In ihren Augen glitzern schon wieder Tränen. Sie räuspert sich und streicht mir übers Haar. »Ich bin stolz auf dich.«

»Mach sie fertig.« Caleb schlingt von hinten beide Arme um mich und hebt mich hoch, bis meine Füße den Boden nicht mehr berühren.

»Es geht hier um Ballett, nicht um Football«, erinnere ich ihn und strample mit den Beinen, damit er mich wieder runterlässt. Caleb hat mich früher immer wie eine Puppe rumgetragen, bis ich alt genug war, um mich zu wehren.

»Ist doch egal. Mach sie trotzdem fertig. Und vergiss nie, wie gut du bist. Und wie stark.« Er setzt mich wieder auf dem Boden ab, dreht mich zu sich herum und hält mir seinen kleinen Finger hin. Sein Blick ist ernst, und ich weiß genau, woran er denkt.

In mir wird alles ruhig, für einen Moment höre ich nur noch das Rauschen des Bluts in meinen Ohren.

Ich hake meinen Finger ein und nicke. »Versprochen.«

DAVOR

Zoe

Ein Jahr zuvor

25. Juni 6:32 AM

So leise wie möglich schleiche ich die Treppe nach unten und an der Küche vorbei ins Wohnzimmer zur Hintertür. Aus der Küche höre ich Dad ziemlich schief irgendein Lied aus den Achtzigern mitsingen und bete, dass er mich nicht bemerkt. Wie so oft in den letzten Monaten.

Seit Jase und ich angefangen haben, uns Zettel in meinem Baumhaus zu hinterlassen, schleiche ich mich Morgen für Morgen aus dem Haus, um nachzuschauen, ob wieder eine Wahrheit für mich da ist.

Meine Familie weiß nichts davon, nicht einmal – oder vor allem nicht – Caleb. Mehr als einmal habe ich überlegt, ihm alles zu erzählen, immerhin ist Jase sein bester Freund. Aber ich habe die Worte nie über die Lippen gebracht. Wahrscheinlich aus genau diesem Grund.

Jase ist sein bester Freund.

Und ich habe mich in ihn verliebt. Nicht Hals über Kopf, sondern langsam und schleichend. In ihn und seine Wahrheiten. Seine Verletzlichkeit. Seine Offenheit.

Er hat mir eine Seite von sich gezeigt, die er sonst vor allen versteckt. Ich weiß das, schließlich kenne ich ihn seit Jahren. Und der Jase, der er vor allen anderen vorgibt zu sein, ist nicht derselbe, der mir seine Wahrheiten anvertraut.

Im Gegenzug hat er mir mein Herz gestohlen.

Die Hintertür quietscht kaum hörbar, als ich sie aufziehe und auf die Terrasse trete. Die Sonne hat es noch nicht über die Hausdächer geschafft, es ist noch zu früh, aber der Himmel ist strahlend blau und verspricht einen heißen Sommertag.

Der perfekte letzte Schultag. Ab morgen zählt für ein paar Wochen nur noch das Ballett. Vor mir liegt ein ganzer Sommer voller Extra-Stunden, damit ich mich auf die Bewerbung für das Tanzstudium vorbereiten kann.

Heute dagegen ist Calebs Tag. Für ihn ist es wirklich der allerletzte Schultag. Seine Zeit an der Highschool ist heute Mittag offiziell vorbei.

Wehmut steigt in mir auf. Es wird seltsam sein, im Herbst ohne meinen Bruder an die Schule zurückzukehren. Ohne seine Freunde. Ohne Jase.

Ich schüttle den Gedanken ab, denn heute sind sie alle noch da. Sie bekommen vormittags ihre Zeugnisse, und später feiern wir ihren Abschluss. Alle zusammen.

Und danach … Wer weiß schon, was der Sommer bringt. Was passieren kann.

Alles ist möglich.

Barfuß laufe ich über den trockenen Rasen in unserem kleinen Garten. Das Gras kitzelt unter meinen Füßen, und die Sprossen der Leiter fühlen sich rau an, als ich nach oben klettere und schließlich die Tür des Baumhauses aufstoße, in dem ich in den letzten Monaten noch mehr Zeit verbracht habe als sowieso schon.

Aber ich kann meine Wahrheiten nicht einfach nur hier oben für Jase verstecken. Ich muss sie auch hier aufschreiben. Alles andere fühlt sich falsch an. Unvollständig. Einfach nicht richtig.

Ich entdecke den Zettel sofort. Er liegt auf der Holzkiste, die ich vor einigen Wochen hier oben hingestellt habe, um die Wolldecken zu verstauen, für die es im Sommer viel zu heiß ist. Stattdessen liegen jetzt leichte Leinendecken ordentlich zusammengefaltet auf den unzähligen Kissen, die ich überall verteilt habe.

Der Zettel ist das Einzige, was in meinem kleinen Reich nicht ordentlich aussieht, obwohl ich ihn fein säuberlich gefaltet habe, bevor ich ihn vor zwei Tagen hier für ihn hinterlassen habe. Er hat das Papier zu einer kleinen Kugel zerknüllt, und ich muss unwillkürlich lächeln, weil ich genau weiß, dass er das extra macht. Nur weil ich die Zettel, die ich von ihm bekomme, jedes Mal ganz penibel glattstreiche und Kante auf Kante aufeinanderlege, bevor er sie zurückbekommt.

Er bringt meine Ordnung durcheinander, und ich ordne sein Chaos. Darin liegt irgendwie eine verdrehte Poesie.

Mein Herz gerät ins Stolpern, als ich nach dem Papierball greife. Mit zitternden Händen halte ich mitten in der Bewegung inne, bin einen Moment lang fast versucht, den Zettel einfach zu ignorieren. Seine Antwort nicht zu lesen, die Nachricht wegzuwerfen und nie wieder einen Gedanken an ihn und seine Wahrheiten zu verschwenden.

Wie konnte ich ihm nur diese Frage stellen? Was zum Teufel ist in mich gefahren?

Dabei kenne ich die Antwort. Zumindest auf diese Frage. Ich habe nicht nachgedacht und gleichzeitig viel zu viel. Er hat mir mein Herz gestohlen, und ich will wissen, ob mir wenigstens ein kleines Stück von seinem gehört. Nur ein winzig kleines.

Jetzt reiß dich zusammen und lies den Zettel!

Die Stimme in meinem Kopf ist hartnäckig und laut, und sie hat recht. Ich muss den Zettel lesen. Ich kann ihn nicht ignorieren. Und eigentlich will ich das auch gar nicht.

Mein Puls rast, als ich das Papier glattstreiche und mein Blick sich direkt auf Jase’ unordentliche Handschrift heftet. Sie ist viel zu vertraut.

Mir stockt der Atem, als ich die wenigen Worte lese.

Was siehst du, wenn du mich anschaust?

Sommersprossen. Sieben auf der Nase. Elf auf der rechten Wange, fünfzehn auf der linken.- J

2. KAPITEL

Zoe

Manchmal wünsche ich mir, ich wäre mehr wie Caleb. Dann würde ich mir keine Gedanken darüber machen, was andere über mich denken. Ich würde Entscheidungen für mich treffen und nicht ständig darüber nachdenken, ob ich es anderen recht mache. Warum kann ich nicht mehr wie er und weniger wie ich sein?– P

Drei Stunden nach meiner Ankunft sind meine Koffer leer, und ich mache mir eine gedankliche Notiz, Dad zu bitten, sie so schnell wie möglich abzuholen, weil mein Zimmer für vier große Koffer definitiv zu klein ist. Meine Klamotten sind im Kleiderschrank verschwunden, meine Trikots, Strumpfhosen, Ballettröcke in der oberen Schublade der Kommode, die Schläppchen, Kappen für die Spitzenschuhe und die Spitzenschuhe selbst in der untersten Schublade. Die Thera-Bänder zum Dehnen, meine Matten und Blackrolls liegen jetzt in einer großen Holzkiste neben meinem Schreibtisch, und meine Haarutensilien stehen in kleinen Boxen auf der Kommode unter dem Spiegel.

Die Bücher, die ich für die Theoriestunden brauche, reihen sich der Größe nach sortiert auf der Kommode. Auf meinem Schreibtisch liegen mein Notizbuch und das iPad. Der Laptop hat mit Maus und Tastatur ebenfalls seinen Platz gefunden, und der graue Ordner liegt aufgeschlagen in der Mitte der Tischplatte und zeigt mir die Termine, die ich für heute markiert habe.

Jedes Teil ist genau da, wo ich es haben will. Abgesehen von der Lichterkette, die ich gerade in der Hand halte und die ich über dem Bett aufhängen will, weil ich nicht nur ein Faible für Ordnung, sondern auch für gedämpftes Licht habe.

Dummerweise habe ich doch etwas zu Hause vergessen. Ich habe nichts dabei, um die Lichterkette an der Wand zu befestigen.

Seufzend lasse ich sie in der Schublade meines Nachttischs verschwinden und will gerade nach meinem Handy greifen, um Dad eine Nachricht zu schicken, als ich draußen auf dem Flur ein lautes Poltern höre. Jemand flucht. Das klingt nicht gut.

Ich lasse die Schublade offen stehen, reiße die Tür mit Schwung auf und stoße einen überraschten Laut aus, als ich sehe, was passiert ist.

Ein Mädchen hockt vor meinem Zimmer auf dem Boden, einer ihrer Koffer ist aufgeplatzt und ihre Klamotten liegen überall verstreut.

»Hab ich Mom gesagt, dass der Koffer die Reise nicht überleben wird? Ja. Hat sie auf mich gehört? Offensichtlich nicht«, schimpft sie, lässt ihren Rucksack achtlos auf die Holzdielen plumpsen und fängt an, ihren Kram aufzusammeln.

Ich mache mich mit einem Räuspern bemerkbar. »Brauchst du Hilfe?«

Sie wirbelt zu mir herum, eine Hand auf die Brust gelegt. Ihre dunkelgrünen Augen sind vor Schreck geweitet. »Himmel, erschreck mich doch nicht so«, platzt es aus ihr heraus.

»Tut mir leid, ich wollte nicht …«

Sie winkt ab und lächelt mich an. »Schon gut. Du kannst nichts dafür. Mein Tag hat scheiße angefangen, und es war so klar, dass es genau so weitergeht.« Sie pustet sich eine Strähne ihrer roten Haare aus der Stirn. Sie sind dunkler als meine, kein Kupfer, sondern Beere, mit einem violetten Unterton, der perfekt zu dem olivfarbenen Ton ihrer Haut passt.

»So schlimm?« Mit verschränkten Armen lehne ich mich an meine Zimmertür und kann nicht verhindern, dass sich ein amüsiertes Grinsen auf meinem Gesicht ausbreitet.

»Meine Schwester hat eine Lebensmittelvergiftung und heute Morgen die halbe Wohnung vollgekotzt. Deswegen konnte Mom mich nicht zum Flughafen bringen, ich hätte fast den Flieger verpasst und jetzt – auf den letzten Metern – geht dieser dämliche Koffer kaputt, anstatt zu warten, bis ich in meinem Zimmer bin«, zählt sie an den Fingern ab und klaubt anschließend zwei BHs vom Boden auf.

»Also wirklich schlimm«, bestätige ich und bücke mich, um ihr dabei zu helfen, ihre Sachen einzusammeln.

Sie schenkt mir ein dankbares Lächeln. »Danke, das ist lieb von dir. Ich bin übrigens Mae.«

»Zoe«, stelle ich mich vor. »Wo ist dein Zimmer?«

Sie deutet auf das Zimmer links neben meinem. »So wie’s aussieht, sind wir Nachbarinnen.«

* * *

»Glaubst du an Schicksal?« Mae dreht ihre beerenroten Haare zu einem unordentlichen Knoten und sieht mich mit blitzenden Augen an. Sie sitzt im Schneidersitz auf dem Boden, greift jetzt nach den letzten Trikots und Ballettröcken und stopft sie achtlos in die untere Schublade der Kommode, die neben ihrem Bett steht. Nur mit Mühe kann ich mir ein gequältes Seufzen verkneifen. Es juckt mir in den Fingern, ihre Sachen zu ordnen.

»Nicht unbedingt«, erwidere ich gedehnt. Worauf will sie hinaus?

Mae lacht fröhlich auf. »Ich schon. Es muss Schicksal sein, dass ich ausgerechnet das Zimmer neben dir erwischt habe. Immerhin kenne ich mich null aus in Boston, und du bist hier geboren und aufgewachsen und kannst mir alles zeigen.«

»Das könnte auch Zufall gewesen sein«, gebe ich zu bedenken, muss aber trotzdem lächeln.

Wir hocken seit zwei Stunden in ihrem Zimmer und haben in der Zeit über alles und nichts geredet. Ich mag Mae. Es ist leicht, sich mit ihr zu unterhalten. Sie ist offen und freundlich, und sie lächelt die ganze Zeit. Sie ist so anders als meine früheren Freundinnen, dass ein Teil von mir fast verunsichert ist, weil das alles erschreckend neu für mich ist. Der andere ist einfach nur erleichtert.

»Nein.« Mae schüttelt entschieden den Kopf. »Der Zufall hätte nur dafür gesorgt, dass ich eine Zimmernachbarin bekomme, die sich in Boston auskennt. Aber es ist Schicksal, dass du dich nicht nur in Boston auskennst, sondern auch noch nett bist. Der Zufall hätte mir nur jemanden geschickt, den ich nicht mag. Das Schicksal hat dafür gesorgt, dass wir uns finden.«

»Du kennst mich seit zwei Stunden. Du kannst noch gar nicht wissen, ob du mich magst.«

Mae winkt ab. »Doch, kann ich. Die ersten Minuten sind bei mir immer entscheidend. Und ich wusste nach ziemlich genau sieben Minuten, dass ich dich mag.«

Meine Mundwinkel zucken. »Hast du die Zeit gestoppt?«

»Klar, ich hab eine eingebaute Stoppuhr in meinem Hirn.«

»Apropos Uhr, ich glaube, wir sollten langsam mal los.« Vielsagend deute ich auf den Wecker, der auf Maes Nachttisch steht. Es ist Viertel vor vier.

»Sollten wir. Wir wollen bei Pearsons Rede ja nicht ganz hinten sitzen.« Mae springt auf und streckt ihre Hand aus, um mich vom Bett zu ziehen.

Dutzende Schülerinnen und Schüler strömen aus dem Wohnheim und gehen lachend und quatschend über das weitläufige Gelände. Die Sonne steht bereits tiefer, und die Gebäude um uns herum werfen lange Schatten auf die breiten Wege, aber es ist immer noch angenehm warm.

Neugierig schaue ich mich um. Im Vergleich zu Harvard, dem Boston College oder dem MIT ist die Ballettschule winzig. Es gibt vier Jahrgänge für diejenigen, die ihren Highschool-Abschluss machen, und vier Jahrgänge für diejenigen, die Tanz studieren und ihren Bachelor of Fine Arts absolvieren wollen. Kein Jahrgang hat mehr als zwanzig Schülerinnen und Schüler. Trotzdem kommt es mir jetzt gerade, wo wir alle gleichzeitig zum Theater gehen, vor, als wären wir viel mehr.

Eine Gruppe kichernder Mädchen überholt uns mit schnellen Schritten, sie können nicht älter als fünfzehn sein. Vielleicht ist es auch ihr erster Tag.

»Bist du aufgeregt?«, fragt Mae leise, während wir die breiten Stufen nach oben hochsteigen. Eindrucksvoll erhebt sich das Theater vor uns, der helle Sandstein scheint im Licht der Sonne zu leuchten. Zwei Säulen flankieren die breite Tür und tragen das Vordach, an dem ein Schild mit dem Namen des Theaters hängt.

New England Theatre.

Hier haben Karrieren der besten Tänzerinnen und Tänzer des Landes angefangen. Hier sind Träume wahr geworden.

Ein Kribbeln durchläuft meinen Körper. Und jetzt bin ich hier. Mit meinem Traum.

Ich nicke und halte für ein paar Sekunden die Luft an, als wir durch die weit geöffneten Türflügel ins Theater treten. »Ich glaube, ich sterbe vor Aufregung.«

»Dann sind wir schon zu zweit.« Mae lacht atemlos und dreht sich mit großen Augen einmal um sich selbst, versucht, den Innenraum des Theaters in seiner Gesamtheit zu erfassen, und scheitert, genau wie ich.

Es ist wunderschön, und wir sind noch nicht mal im Saal, sondern nur im Eingangsbereich. Der dunkelrote Teppich verschluckt jedes Geräusch, das unsere Schritte verursachen. Mein Blick bleibt an den weißen Wänden hängen. Die Stuckleisten verwandeln sich in flüssiges Gold, als Sonnenstrahlen durch die bodentiefen Sprossenfenster fallen. In einer Ecke verbirgt sich die Garderobe, ganz diskret, sodass sie zuerst gar nicht auffällt. An der gegenüberliegenden Seite befindet sich eine Bar, vor der kleine Sitzgruppen im Eingangsbereich verteilt stehen. Goldene Tische und rote, samtbezogene Stühle. Das Herzstück des Eingangsbereichs ist jedoch die große Flügeltür zum Saal. Rechts und links führen zwei breite Wendeltreppen hoch zu den oberen Rängen.

Die Gespräche um uns herum sind leiser geworden, sobald wir das Theater betreten, als würde niemand die ehrfurchtgebietende Ruhe stören wollen, die in diesen heiligen Hallen herrscht.

Ich lasse mich von dem Strom der anderen Schülerinnen und Schüler treiben, folge Mae in den Saal, und meine Haut beginnt zu kribbeln, als ich die Bühne sehe. Die dunkelroten Vorhänge sind hochgezogen, und obwohl es im Grunde natürlich eine ganz normale Bühne ist, ist sie es gleichzeitig eben auch wieder nicht.

Es ist die Bühne, auf der sich unser aller Schicksal entscheiden wird.

»Komm schon. Da vorne sind noch zwei Plätze frei.« Mae berührt mich am Arm und lenkt meine Aufmerksamkeit von der Bühne auf sich. Sie deutet auf zwei Plätze am Rand.

Ich folge ihr die schmale Treppe zwischen dem linken Parkett und dem Mittelparkett hinunter und weiß schon wieder nicht, wohin ich zuerst gucken soll.

Der Saal ist in drei Teile aufgeteilt und größer als erwartet. Acht Plätze rechts an der Seite, acht links, in der Mitte sind es sechzehn. Ich komme nicht dazu, die Reihen durchzuzählen, aber zusammen mit den oberen Rängen gibt es auf jeden Fall genug Sitze, dass nicht nur die zweihundert Schülerinnen und Schüler hier Platz finden, sondern bei Aufführungen auch ein Großteil ihrer Familien. Die Sitze sind mit dem gleichen dunkelroten Samt bezogen wie die Stühle draußen im Eingangsbereich, die Wände im Saal genauso weiß und mit goldenen Stuckleisten verziert.

»Du siehst aus, als wärst du in deinem ganz persönlichen Wunderland gelandet«, stellt Mae belustigt fest und lässt sich auf einen der weich gepolsterten Sitze fallen.

Erleichtert darüber, dass sie den Platz am Gang freigelassen hat und ich mich so nicht an jemandem vorbeiquetschen muss, setze ich mich neben sie. Ich will ihr gerade antworten, als alle Gespräche im Saal schlagartig verstummen und sämtliche Blicke sich nach vorne richten.

Direktor Pearson tritt auf die Bühne. Er ist ein groß gewachsener, schlanker Mann in den Vierzigern und bewegt sich mit einer Geschmeidigkeit, die seine Jahre als Tänzer deutlich erkennen lassen. Seine dunklen, von silbergrauen Strähnen durchzogenen Haare sind nach hinten gestylt, er trägt ein graues Sakko zu einer dunkelblauen Stoffhose und das Lächeln, das sich jetzt auf seinem Gesicht ausbreitet, ist freundlich und Respekt einflößend zugleich. Er ist einer dieser Menschen, die einen Raum, egal wie groß er ist, sofort für sich einnehmen.

Jetzt tritt er an den Rand der Bühne, die Hände lässig in die Taschen seiner Hose geschoben, und öffnet gerade den Mund, um mit seiner Rede zu beginnen, als hinter uns schnelle Schritte erklingen, gefolgt von einem atemlosen Lachen.

In einer synchronen Bewegung drehen sich alle Anwesenden um. Ein Junge und ein Mädchen versuchen gerade, in gebückter Haltung so unauffällig wie möglich in einer der hinteren Reihen zu verschwinden, bleiben jedoch abrupt stehen, als sie merken, wie alle sie anstarren.

Das Mädchen dreht sich als Erste Richtung Bühne, ein unschuldiger Ausdruck liegt auf ihrem Gesicht. Die dunklen, langen Haare fallen weich über ihre Schultern. Sie ist groß, größer als ich, aber genauso zierlich, und sie ist wunderschön. Ihre Bewegungen haben etwas Feenhaftes an sich.

Mein Blick wandert genau in dem Moment zu ihrem Begleiter, in dem Direktor Pearson seinen Namen ausspricht.

»Jase! Skye! Wollt ihr euch nicht hier vorne hinsetzen, wenn ihr schon zu spät kommt?« Es ist eine rhetorische Frage, und ein schadenfrohes Murmeln rauscht durch den Saal.

Ich verstehe kein Wort, kann ihn nur anstarren, als er sich jetzt ebenfalls umdreht, einen kurzen, nicht deutbaren Blick mit Skye wechselt und sich dann in Bewegung setzt.

Jase.

3. KAPITEL

Zoe

Warst du schon mal verliebt?

Ich bin mir nicht sicher. Ich meine, wie fühlt es sich an, verliebt zu sein? Woher weiß man überhaupt, ob man verliebt ist?Ja.– P

Es fühlt sich an, als hätte mir jemand einen heftigen Schlag mitten auf die Brust verpasst, der sämtliche Luft aus mir herauspresst. Ich kann nicht atmen. Mein Herz überschlägt sich, rast dann weiter. Viel zu schnell. Ich spüre, wie mir das Blut aus dem Gesicht weicht. In meinem Nacken bildet sich kalter Schweiß, und meine Hände zittern plötzlich. Neinneinnein.

Ich wusste, dass er hier sein würde. Ich wusste es, habe es allerdings sehr erfolgreich verdrängt. Jetzt stelle ich fest, dass es was völlig anderes ist, etwas zu wissen oder mit dieser Tatsache konfrontiert zu werden.

Es war vorbei. Das alles. Mit ihm und mir. Ich habe damit abgeschlossen. Es war nicht mehr wichtig. Nichts davon. Weil alles andere zu viel war.

Ich habe das alles hinter mir gelassen. Ich habe ihn hinter mir gelassen, weil ich es tun musste. Ich hatte keine andere Wahl.

Danach habe ich ihn nie wiedergesehen. Nicht nach dieser Nacht. Kein einziges Mal. Ich habe mich geweigert, über ihn nachzudenken, weil alles wehgetan hat. Ich habe ihn ausgesperrt.

Aber jetzt ist alles wieder da. Die Zettel, die Wahrheiten, das Kribbeln, das ein einziger, kurzer Blick in meine Richtung in mir ausgelöst hat.

Alles in mir drängt danach, mich abzuwenden, den Kopf einzuziehen und zu beten, dass er mich nicht bemerkt, doch ich kann nicht. Ich kann nicht wegsehen, und in diesem Moment nehme ich nichts wahr außer ihm. Gleichzeitig ist mein Hirn nicht in der Lage, ihn in seiner Gesamtheit zu fassen zu kriegen.

Ich blinzle.

Moosgrüne Augen unter dichten Brauen. Viel zu lange schwarze Wimpern.

Noch ein Blinzeln.

Hohe Wangenknochen. Gerade Nase. Eine wie aus Stein gemeißelte Kieferlinie.

Ich blinzle ein drittes Mal.

Volle Lippen. Viel zu volle Lippen, die sich zu einem arroganten Lächeln verziehen.

Er ist anbetungswürdig.

War er schon immer, aber jetzt irgendwie noch mehr.

Ich spüre, wie Hitze in mir aufsteigt. Das Blut rauscht in meinen Ohren, und vor meinen Augen tanzen silbrige Sterne, bis ich mich wieder daran erinnere, wie man atmet.

Atme, Zoe, atme.