Leonie Pionet - Teil 2 Während Leonie versucht, ihr Leben zwischen Teilzeitjob und Baby zu meistern, verschwindet ihr Lieblingsnachbar spurlos. Einige Tage später wird er tot aufgefunden. Halb aus Neugier, halb aus Hilfsbereitschaft lässt sich Leonie in die Klärung der Frage hineinziehen, was ihm zugestoßen sein könnte. Wird sie erkennen, welche Konsequenzen ihre Schnüffelei für sie und ihr Baby haben kann, bevor es zu spät ist?
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Seitenzahl: 330
Veröffentlichungsjahr: 2022
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Ein Stuttgart-Krimi
Leonie Pionet Teil 2
von Elke Eike
Texte:
© Copyright by Elke Eike
Umschlaggestaltung:
© Copyright by Elke Eike
1. Auflage September 2022
Verlag:Elke EikeMillöckerstraße 570195 [email protected]
Vertrieb:epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin
In dieser Reihe sind bisher erschienen:
Schwabenklüngel – Leonie Pionet Teil 1
Bi-Ba-Butzele – Leonie Pionet Teil 2
In diesem Buch kommt der eher lokal verwendete Begriff Butzele vor, der vielleicht nicht jeder Leserin und jedem Leser bekannt ist. Dieser Ausdruck ist schwäbisch für ein kleines Kind.
Falls sich jemand wundert: Das Amazonienhaus in der Wilhelma heißt tatsächlich so – und nicht etwa Amazonashaus.
Außerdem sei mir der Hinweis gestattet, dass ich nicht ge-gendert habe, da dies den Lesefluss erheblich beeinträchtigen würde. Sofern nur die männliche Form verwendet wird, sollen alle Geschlechtsidentitäten mitgemeint sein.
Und jetzt geht`s endlich los!
Jedes Ding hat drei Seiten:
eine, die ich sehe,
eine, die du siehst
und eine, die wir beide nicht sehen.
(Chinesisches Sprichwort)
Inhaltsverzeichnis
1 Freitag, 22. März
2 Samstag, 23. März
3 Sonntag, 24. März
4 Montag, 25. März
5 Dienstag, 26. März
6 Mittwoch, 27. März
7 Donnerstag, 28. März
8 Freitag, 29. März
9 Samstag, 30. März
10 Sonntag, 31. März
11 Montag, 01. April
12 Dienstag, 02. April
13 Mittwoch, 03. April
14 Donnerstag, 04. April
15 Freitag, 05. April
16 Samstag, 06. April
17 Sonntag, 07. April
18 Montag, 08. April
19 Dienstag, 09. April
Epilog Zwei Monate später
Danksagung
Über die Autorin
Über dieses Buch
"Sag mal, was hast du denn da bestellt?", rief Marco, während er die Wohnungstür hinter sich schloss.
Statt einer Antwort gab Leonie ein "Ssschsssch" zurück. Jonas war gerade eingeschlafen und dieser Moment war immer besonders heikel.
Mit einem Seitenblick in seine Babywippe, für die er schon bald zu groß sein würde, vergewisserte sie sich, dass er nach wie vor schlief, und ging hinüber in den Flur. Marco gab ihr einen Kuss auf die Wange und nickte noch einmal zu dem mysteriösen Paket, das Leonie etwas ungeschickt im Flur hatte liegen lassen. Es war nicht besonders groß, aber die Art der Verpackung wirkte irgendwie merkwürdig, denn es war mit viel zu viel Klebeband umhüllt worden und sah auch ein bisschen windschief aus.
"Das habe ich heute Vormittag für Wolfgang angenommen, aber er hat es noch nicht abgeholt", klärte Leonie ihn über die Umstände des Pakets auf. "Eigentlich bin ich auch ganz froh darüber, dass seither niemand geklingelt hat, denn heute ist Jonas wirklich anstrengend." Genervt rollte Leonie mit den Augen und fügte noch hinzu: "Es war ein langer Kampf, aber jetzt schläft er endlich."
Marco zog sie in eine Umarmung und streichelte ihr über den Rücken. Er wusste, wie schwierig es manchmal für Leonie mit dem quirligen Baby war. Im Grunde entsprach sein Charakter aber nur dem seiner Mutter. Beide waren extrem neugierig und immer in Bewegung. Nach einigen Sekunden entspannte sich Leonie in Marcos Armen und lächelte an seiner Schulter.
"Magst du einen Kaffee?", fragte sie in seinen Pullover hinein.
"Unbedingt", gab Marco zurück und ließ sie los.
Während Leonie in die Küche ging, streifte Marco seine Schuhe im Flur ab, dann folgte er ihr in die kleine Küche, die gerade genug Platz für die Küchenzeile sowie einen Tisch, zwei Stühle und Jonas' Hochstuhl bot. Es war kurz nach halb drei und nach der langen Gerichtsverhandlung am Vormittag wirkte Marco ein wenig geschafft.
"Bist du fertig für heute?", erkundigte sich Leonie, nachdem sie die Kaffeemaschine in Gang gebracht hatte.
Marco nickte. "Ja. Wobei jein. Ich muss noch ein Telefonat führen und eine E-Mail schreiben. Mit beidem kann ich aber warten, bis Jonas wieder wach ist."
"Das wäre super!" Leonie zog die volle Tasse unter der Maschine hervor und stellte sie vor Marco auf den Küchentisch. Anschließend platzierte sie eine weitere Tasse darunter und startete die Maschine erneut. Als auch der zweite Kaffee durchgelaufen war, setzte sie sich zu Marco an den Tisch. Vorsichtig stellte sie die volle Tasse ab, lehnte sich erschöpft gegen die Stuhllehne und schloss kurz die Augen.
"So schlimm?", fragte Marco, doch Leonie winkte ab. "Eigentlich nicht. Aber Jonas war heute Morgen der Meinung, er müsste das Bücherregal ausräumen, während ich eine Online-Präsentation gehalten habe. Meine Ermahnungen haben den Kunden – sagen wir mal – ein bisschen irritiert." Jetzt musste sie doch lachen. "Stell dir vor, der Kunde hieß Jonas mit Vornamen, das war mir aber irgendwie nicht bewusst. Ich habe also ganz seriös mit ihm das Layout für den Flyer besprochen und zwischendurch 'Jonas, lass bitte die Bücher stehen' gesagt. Und der Kunde hat sich einfach kaputtgelacht." Marco grinste nun ebenfalls.
"Aber du hast die Präsentation trotzdem noch halbwegs ordentlich zu Ende gebracht, oder?", hakte er nach.
"Klar. Ich bin die Seriosität in Person. Weißt du doch!" Leonie kicherte. "Nein, im Ernst, dem Kunden hat der Entwurf gut gefallen und das Ganze kann so in den Druck gehen. Ist alles schon veranlasst." Sie griff nach ihrer Tasse und lächelte.
Dass sie ihren Job während der Elternzeit in Teilzeit größtenteils von zu Hause ausüben konnte, war sehr hilfreich. Sie arbeitete in einer Werbeagentur mit angeschlossener Druckerei, die Marcos bestem Freund Stefan Bachmann gehörte. Allerdings hatte sie den Job schon länger, als sie Marco kannte, und diesen durch die Vermittlung ihres Chefs kennengelernt. Sie arbeitete sehr gerne für die Agentur und ohne den Zuverdienst in der Elternzeit, der aktuell immerhin zwanzig Stunden pro Woche auf Vertrauensbasis betrug, hätte sie sich vermutlich die Wohnung nicht mehr leisten können. Und an dieser Wohnung hing Leonie sehr. Mittlerweile war es schon fast sieben Jahre her, dass sie mit ihrem inzwischen verstorbenen Ehemann Miguel hier eingezogen war. Sie waren in dieser Wohnung sehr glücklich gewesen. Aber dann war Miguel im vorletzten Sommer von seinem Vorgesetzten, Dominik Kanthäuser, umgebracht worden, und auch Leonie war ihm nur mit Mühe und der Hilfe ihres Nachbarn Wolfgang entkommen.
Im Krankenhaus nach Kanthäusers Überfall auf sie war festgestellt worden, dass Leonie schwanger war. Miguels Sohn Jonas war vor knapp elf Monaten auf die Welt gekommen. Er sah Miguel sehr ähnlich mit seinen braunen Augen, braunen Locken und der niedlichen Stupsnase, hatte aber von Leonie das Wesen eines Wirbelwinds geerbt. Marco hatte sie damals als Rechtsanwalt im Mordprozess gegen Kanthäuser vertreten. Aus der Mandantenbeziehung war im Laufe der Zeit eine Freundschaft geworden. Schließlich hatten sich beide ineinander verliebt. Marco war während der schwierigsten Phase ihres Lebens für sie da gewesen und kümmerte sich nicht nur liebevoll um Leonie, sondern auch um Jonas. Inzwischen waren sie seit gut einem Jahr ein Paar. Obwohl Leonie ihren Miguel nach wie vor schrecklich vermisste, hatte sie mithilfe von Marco wieder zu ihrer alten Form zurückgefunden und empfand wieder Freude am Leben.
Während sie ihren Kaffee tranken, erzählte Marco kurz von seiner Gerichtsverhandlung am Vormittag, in der es um einen äußert uneinsichtigen Ladendieb gegangen war. Danach überlegten sie, was sie mit dem Wochenende anfangen sollten. Es war Ende März und in der letzten Zeit ziemlich ungemütlich draußen. Regen, Schnee und Sturm schienen sich seit Tagen abzuwechseln und die Temperaturen kamen kaum über den Gefrierpunkt hinaus. Leonie hatte in der vergangenen Woche ihren 27. Geburtstag gehabt und der ursprüngliche Plan, mit Jonas und seinen Großeltern als kleine Feier ihres Ehrentages in die Wilhelma zu gehen, schien gerade nicht mehr besonders attraktiv. Eigentlich hatte Leonie große Lust auf den beliebten Stuttgarter Zoo, in dem sie schon viel zu lange nicht mehr gewesen war. Aber zumindest ein bisschen frühlingshaftes Wetter wäre dafür schon wünschenswert.
In ihre Überlegungen hinein begann Leonies Handy zu vibrieren. Seit Jonas auf der Welt war, war es dauerhaft auf Vibration gestellt, um den Kleinen bloß nicht zu wecken, wenn er eine seiner seltenen Schlafphasen hatte. Als Anrufer auf dem Display stand der Name von Miguels Mutter Carmen. Leonie hatte nach wie vor ein sehr gutes Verhältnis zu Miguels Eltern. Daran hatte sich auch durch seinen Tod nichts geändert und die beiden liebten ihren Enkelsohn sehr.
"Hallo Carmen", meldete sich Leonie fröhlich.
"Hallo Liebes. Wie geht es euch?" Carmen sprach wie immer mit einem leichten spanischen Akzent, der auch nach den vielen Jahren, die sie nun schon in Deutschland lebte, untrennbar zu ihr gehörte. Carmen war Spanierin und unterrichtete als Lehrerin an einem Vaihinger Gymnasium, Miguels Vater Raphaël war Franzose und betrieb ein kleines französisches Restaurant in Vaihingen, mit dem Leonie viele schöne Erinnerungen verband. Insbesondere die Hochzeit mit Miguel hatte sie dort gefeiert.
"Gut", erwiderte Leonie, "wir überlegen gerade, was wir wegen des eher schlecht angesagten Wetters statt der Wilhelma morgen zusammen machen könnten."
"Ah, sehr gut. Deshalb rufe ich an." Carmen machte eine kleine Pause, in der sie den Geräuschen nach zu urteilen eine Tür schloss. "Weißt du, Raphaël ist gestern gestürzt. Er würde es nie zugeben, aber ich glaube, ein Zoobesuch ist gerade das Letzte, was er brauchen kann."
"Oh, nein!", rief Leonie in unterdrücktem Ton aus. "Ist er schlimm verletzt?"
Carmen schwieg einen Moment, bevor sie sagte: "Du weißt ja, wie er ist. Wenn du ihn fragst, ist alles in bester Ordnung. Aber wenn man genauer hinschaut, ist es das eben nicht. Er ist im Restaurant auf dem Rückweg in die Küche mit einem Stapel leerer Teller in der Hand über ein Stuhlbein gestolpert. Weil er die Hände voll hatte, konnte er sich nicht abfangen und ist ziemlich ungeschickt aufgeschlagen. Ich denke, er hat sich das Knie geprellt und den Arm verdreht. Wenn es am Montag nicht besser ist, werde ich ihn zum Arzt schleifen, ganz egal, ob er will oder nicht!"
Ihr Ton klang bestimmt und Leonie konnte sich lebhaft vorstellen, wie ihre resolute Schwiegermutter ihren Ehemann auch gegen seinen Willen zum Arzt bringen würde. Allerdings war das wirklich kein Zustand, in dem Raphaël stundenlang durch die Wilhelma laufen sollte.
Bevor Leonie etwas erwidern konnte, ergriff Carmen wieder das Wort: "Jedenfalls hatte ich überlegt, ob ihr nicht vielleicht zu uns kommen wollt und wir im Restaurant gemeinsam Kaffee trinken. Ich könnte Kuchen backen und dann können wir hier gemütlich sitzen. Raphaël öffnet samstags sowieso immer erst abends. Und bei dem Wetter kommen auch abends eher wenig Gäste. Wir hätten also Zeit und Platz."
Die Idee gefiel Leonie. Ihre Wohnung war ohnehin zu klein für mehr als drei Leute und so würden sie zumindest mal rauskommen. Und Raphaëls kleines, aber sehr gemütliches Restaurant eignete sich ganz hervorragend für eine solche Feier.
"Ja, sehr gerne", sagte sie deshalb. "Soll ich meine Mutter auch anrufen?"
"Nicht nötig, ich kümmere mich darum, wenn ihr mit der Idee einverstanden seid", gab Carmen zurück. "Es reicht, wenn du Jonas und Marco mitbringst." Leonie stimmte zu und sie vereinbarten, sich gegen 15 Uhr im Restaurant zu treffen. Außerdem versprach Leonie sich zu melden, sobald sie und ihre Männer sich am Samstag auf den Weg machen würden. Aufgrund von Jonas' unberechenbaren Mittagsschlafgewohnheiten war es nicht so einfach, eine genaue Uhrzeit festzulegen. Aber das Thema kannte ihre Schwiegermutter schon und es war für sie kein Problem.
Carmen verabschiedete sich und legte auf. Nachdem Leonie ihr Handy auf den Tisch gelegt und einen großen Schluck aus ihrer Tasse getrunken hatte, gab sie den Plan an Marco weiter. Leonie war unheimlich froh, dass ihre Schwiegereltern kein Problem mit dem neuen Mann in ihrem Leben hatten. Es war Leonie nach Miguels Tod ganz und gar nicht leichtgefallen, sich ihre Liebe zu Marco einzugestehen. Anfangs hatte sie richtiggehend ein schlechtes Gewissen gehabt. Aber sowohl ihre Mutter Margret als auch Miguels Mutter hatten sie ermutigt, ihr Leben weiterzuleben und glücklich zu sein. Deshalb hatte sie schließlich in ein Date mit Marco eingewilligt und schon nach kurzer Zeit waren sie zusammengekommen. Die Chemie zwischen ihnen beiden stimmte einfach. Das erste Date war inzwischen schon über ein Jahr her und Leonie bereute diese Entscheidung keinen einzigen Tag.
Auch wenn beide nach wie vor getrennte Wohnungen hatten, verbrachten sie möglichst viel Zeit miteinander und Marco war ein guter Ersatzvater für Jonas. Selbstverständlich hatten sie schon mehrfach über eine gemeinsame Wohnung gesprochen, aber zum einen fiel es Leonie schwer, sich von ihrer Wohnung zu trennen, und zum anderen war der Stuttgarter Wohnungsmarkt auch so eine Sache für sich. Die inserierten Wohnungen waren entweder bezahlbar, aber furchtbar oder sie sahen gut aus, lagen aber weit über ihrem Budget.
Da Marco selbst nur eine kleine Einzimmerwohnung in Stuttgart-West hatte, verbrachten sie die gemeinsame Zeit in Leonies Wohnung in Stuttgart-Botnang. Leonies Wohnung war zwar ebenfalls nicht riesig, aber immerhin hatte sie zwei Zimmer und war direkt am Kräherwald.
Während Leonie noch über ihre aktuellen Lebensumstände sinnierte, hörte sie Geräusche aus dem Wohnzimmer, die kurze Zeit später in Gequengel übergingen und schließlich zu lautstarkem Weinen anschwollen. Marco legte seine Hand auf Leonies und stand auf. Er ging hinüber ins Wohnzimmer und sie hörte, wie er beruhigend mit Jonas sprach. Der Kleine quietschte schon einen Moment später wieder vergnügt und gleich darauf stand Marco mit Jonas im Arm im Türrahmen. Beide grinsten von einem Ohr zum anderen.
"Was habt ihr angestellt?", fragte Leonie sofort.
"Nichts!", sagte Marco mit einem Augenzwinkern. Jonas grinste dazu etwas schief, wobei er noch leicht schlaftrunken wirkte. Lachend streckte Leonie die Arme aus und nahm Jonas in Empfang. Ihr Baby war inzwischen gar nicht mehr so klein, kuschelte sich aber immer noch liebend gerne an sie. Bisher brachte er nur wenige eher unverständliche Worte zustande und schien sich mehr auf die ersten Gehversuche zu konzentrieren. Leonie empfand die Entwicklung, die er gerade durchmachte, als besonders spannend. An manchen Tagen schien er tausend Dinge gleichzeitig zu lernen, an anderen klappte plötzlich gar nichts mehr.
"Komm", sagte sie, während sie aufstand. "Wir spielen ein bisschen im Wohnzimmer und lassen Marco noch etwas arbeiten." Im Vorbeigehen küsste sie Marco auf die Wange, der dankbar lächelte und sogleich seinen Laptop aus dem Flur holte. Leonie hörte, wie er die Küchentür schloss und kurz darauf mit jemandem telefonierte.
Sie ließ sich mit Jonas auf den Wohnzimmerfußboden nieder. Gemeinsam schoben sie Spielzeugautos über seinen Spielteppich mit Straßenaufdruck. Jonas krabbelte dabei die ganze Zeit hin und her, während Leonie vor allem dasaß und ihn betrachtete. Sie wollte auf keinen Fall einen seiner Entwicklungsschritte verpassen. Er war in letzter Zeit wirklich groß geworden.
Eine Weile später, inzwischen war es schon kurz nach 17 Uhr, betrat Marco das Wohnzimmer.
"Wochenende!", teilte er fröhlich lächelnd mit und hockte sich zu Leonie und Jonas auf den Fußboden, wo er ebenfalls nach einem Spielzeugauto griff. Für einige Minuten spielten sie einträchtig mit den Autos, bis Leonies Magen unvermittelt in voller Lautstärke knurrte. Jonas spitzte sofort die Ohren und Marco lachte.
"Hast du heute das Mittagessen ausfallen lassen oder was ist da los?", fragte er und stupste sie in den Bauch. Leonie, die am Bauch sehr kitzlig war, wehrte die Attacke geschickt ab. Dann stutzte sie.
"Stimmt. Ich habe zwar Jonas was zum Mittagessen gemacht, aber selbst gar nichts gegessen. Oha."
"Dagegen lässt sich ja etwas tun", sagte Marco, während er schon aufstand und in die Küche ging. Nur einen Moment später kam er mit dem Flyer von Giovannis Pizzeria in der Hand zurück. Es war sehr praktisch, dass Giovanni, der Inhaber ihrer Lieblingspizzeria, die fußläufig von ihrer Wohnung aus erreichbar war, inzwischen auch Gerichte zum Abholen anbot und das bereits ab 17 Uhr. Leonie streckte die Hand aus und griff nach dem Flyer. Eigentlich wusste sie ohnehin, was sie essen wollte, aber es konnte ja nicht schaden, noch einmal nachzuschauen.
Als sie Marco den Flyer nach kurzem Durchblättern zurückgab, fragte dieser nur "Wie immer?" und sie nickte. Marco wählte die Nummer der Pizzeria und bestellte eine Pizza Parma und eine Pizza Rucola zum Mitnehmen, wobei er außer der Bestellung noch einige Scherze mit Giovanni austauschte. Nachdem er aufgelegt hatte, sagte er: "Ich kann die Pizza in 20 Minuten abholen. Wollt ihr mitkommen?"
Leonie schaute erst aus dem Fenster, danach zu Jonas und beschloss, dass es eine gute Idee wäre, zumindest noch ein paar Minuten an die frische Luft zu gehen. Es dämmerte zwar sicher bald, aber es schien trocken zu sein. Ein wenig umständlich stand sie auf und erklärte Jonas, dass sie einen kleinen Ausflug machen würden. Das Wort Ausflug verstand er schon ganz hervorragend und quittierte es immer mit einem Jubelschrei. Problemlos ließ er sich hochziehen und in den Flur tragen.
Nach kurzer Zeit waren alle drei fertig angezogen und Jonas bei Marco im Tragetuch verstaut. Ohne es näher abzusprechen, liefen sie in den Kräherwald hinein, wählten den Weg aber so, dass sie nach etwa einer Viertelstunde bei Giovanni an der Pizzeria ankamen. Der Inhaber begrüßte alle drei freudestrahlend und tätschelte Jonas die Wange, der dazu fröhlich quietschte. Nachdem sie die Pizza bezahlt hatten, machten sie sich wieder auf den Heimweg. Diesmal nahmen sie den kürzesten Weg und erreichten schon wenig später wieder das Haus, in dem Leonie wohnte.
Als sie im Eingangsbereich nach ihrer Post schaute, stellte Leonie ein wenig überrascht fest, dass der Briefkasten ihres Nachbarn Wolfgang, der neben ihrem eigenen war, nahezu überquoll. Mehrere Sendungen, insbesondere Werbung, schauten aus dem Briefschlitz heraus, sodass nichts weiter hineinpasste.
"Das ist aber merkwürdig", bemerkte sie etwas irritiert. "Wolfgang hat mir gar nicht Bescheid gesagt, dass er wegfährt. Sonst macht er das doch immer, damit ich seine Blumen gieße und seine Post reinnehme. Ich schreibe ihm nachher mal eine Nachricht. Vielleicht hat er es nur vergessen."
Oben in der Wohnung angekommen, machten sie es sich mit der Pizza auf der Couch gemütlich. Als Jonas später ständig die Augen zufielen, brachte Marco ihn ins Bett. Jonas' Kinderbett stand bei Leonie im Schlafzimmer, für ein eigenes Zimmer war kein Platz in der Wohnung. Es dauerte geraume Zeit, bis Marco zurück ins Wohnzimmer kam. Währenddessen hatte Leonie die Pizzakartons weggeräumt und Tee gekocht. Außerdem hatte sie Wolfgang eine Nachricht wegen des Pakets und des überquellenden Briefkastens geschrieben.
"Der kleine Racker wollte wieder nicht schlafen, obwohl er vorher so müde war", sagte Marco und verdrehte die Augen wie Leonie es auch immer tat. Leonie grinste und fragte: "Aber jetzt schläft er?"
Während Marco das Babyphone auf den Tisch stellte, sagte er nickend: "Ich habe gewonnen!" Dann ließ er sich neben ihr auf die Couch fallen und schlang die Arme um sie.
"Endlich hab' ich dich für mich", murmelte er an ihrer Schulter, wobei er ohne Vorwarnung begann, sie stürmisch zu kitzeln. Vor Überraschung hatte Leonie Mühe, sich gegen die spielerischen Attacken zu verteidigen.
Am Samstagmorgen beim Frühstück beschlossen Leonie und Marco, das gerade trockene Wetter für einen Spaziergang durch den Wald zu nutzen. Später am Tag war schon wieder Regen angesagt. Während Leonie das Geschirr vom Frühstück spülte, versetzte Marco sich selbst und den kleinen Jonas in einen ausgehfertigen Zustand. Nachdem sich auch Leonie etwas angezogen hatte, wagten sie sich ordentlich warm eingepackt nach draußen. Jonas war, wie meistens, wenn sie gemeinsam unterwegs waren, bei Marco im Tragetuch untergebracht.
Zunächst absolvierten sie den schmalen Pfad in den Kräherwald hinein im Gänsemarsch, danach schob sich Leonie auf dem Hauptweg neben Marco und nahm seine Hand. Es waren nicht viele Menschen im Wald unterwegs und so genossen sie die Ruhe. Durch das bisher recht ungemütliche Wetter war der Frühling noch nicht so richtig in Fahrt gekommen und der größte Teil des Waldes war noch kahl. Einige Vögel zwitscherten aber schon und ein Specht hämmerte irgendwo unablässig auf einen Baumstamm ein.
"Hat dir Wolfgang inzwischen geantwortet?", fragte Marco nach einer Weile.
Leonie schüttelte den Kopf. "Jetzt, wo du es sagst. Da kam gar nichts zurück. Das ist aber schon irgendwie komisch."
"Hast du eigentlich seinen Schlüssel noch?", wollte Marco wissen.
"Ja, klar. Warum?", fragte Leonie zurück.
"Wir könnten ihm das Paket in seine Wohnung rüber stellen. Bei dir im Flur ist ja nicht gerade viel Platz dafür. Und wir könnten vielleicht auch die Post aus dem Briefkasten nehmen und drauflegen. Was meinst du?" Leonie dachte kurz darüber nach und stimmte schließlich zu. Ihr Wohnungsflur war wirklich ziemlich klein und durch die Sachen, die sie für Jonas benötigte, zusätzlich vollgestellt. Der klappbare Buggy zum Beispiel kam zwar selten zum Einsatz, aber er war trotzdem hin und wieder wichtig, weshalb sie ihn nicht in den Keller bringen wollte.
Eine Weile liefen sie schweigend durch den Wald, bis Marco das Thema Sommerurlaub aufbrachte. Leonie hatte sich bisher dagegen gesträubt, denn sie war sich einerseits nicht sicher, ob sie sich einen Urlaub leisten konnte. Außerdem wusste sie nicht, wie gut sie mit Jonas in einer fremden Umgebung zurechtkommen würde. Andererseits hatte sie große Lust, mal rauszukommen und etwas anderes zu sehen als immer nur ihre Wohnung und den Wald vor der Tür. Die Idee, die Marco diesmal vorschlug, klang auch ziemlich verlockend. Er hatte eine babytaugliche Ferienwohnung im Schwarzwald entdeckt, die sie mit dem Auto in zwei Stunden erreichen konnten. Sie war nach seinen Aussagen hübsch, erschwinglich und bot viele Ausflugsmöglichkeiten in der näheren Umgebung. Leonie erbat sich noch ein wenig Bedenkzeit, war aber eigentlich schon so gut wie überzeugt, sofern ihr Kontostand es zuließ. Das würde sie später noch einmal prüfen und alles genau durchrechnen.
Als sich der Himmel wieder zuzuziehen begann, machten sie sich auf den Rückweg. Im Vorbeigehen fiel Leonie auf, dass Wolfgangs Auto nicht auf seinem Parkplatz stand. Da er aber scheinbar nicht zu Hause war, war das allerdings auch nicht weiter verwunderlich. An den Briefkästen stellten sie fest, dass Wolfgangs Post noch immer unverändert aus dem Schlitz schaute. Nach kurzer Diskussion beschlossen sie daher, den Plan in die Tat umzusetzen, und ihm Paket und Post in die Wohnung zu legen. Gemeinsam liefen sie die Treppe hinauf. Nachdem sie in ihrer Wohnung angekommen waren, griff sich Leonie die Schlüssel, die Wolfgang ihr gegeben hatte, vom Schlüsselbrett und ging wieder hinunter, um seine Post aus dem Briefkasten zu holen.
Während sie mit der Post in der Hand erneut die Treppe in den zweiten Stock erklomm, blätterte sie gewohnheitsmäßig die Briefe durch, so, wie sie es mit ihrer eigenen Post auch immer tat. Ihr war klar, dass sie das eigentlich nichts anging, aber sie war eben neugierig und dachte sich nichts weiter dabei. Zwischen Katalogen und anderen Werbesendungen erregten gleich zwei Briefe ihre Aufmerksamkeit. Der eine hatte obenauf gelegen und trug den Poststempel von Donnerstag, der andere schien schon etwas älter zu sein, denn der Poststempel war von Samstag vor einer Woche. Diesen Umstand fand Leonie äußerst merkwürdig. Warum sollte Wolfgang schon seit Anfang der Woche seinen Briefkasten nicht geleert, aber ein Paket bestellt haben? Wenn er so lange unterwegs war, sagte er ihr eigentlich auch immer Bescheid. Die Blumen würden bestimmt schon die Köpfe hängen lassen. Im Moment konnte Leonie sich auch nicht mit Sicherheit daran erinnern, wann sie Wolfgang zuletzt gesehen hatte. Womöglich am Beginn der Woche. Oder war das doch schon in der letzten Woche gewesen?
Außerdem waren die beiden Briefe an sich irgendwie dubios. Leonie konnte nicht mit Bestimmtheit sagen, woran sie das festmachte, aber Wolfgangs Adresse war mit einem dicken grünen Stift in Großbuchstaben auf die Umschläge geschrieben worden. Die Buchstaben sahen aus, als hätte sich jemand sehr bemüht, ordentliche Druckbuchstaben zu malen. Das wirkte irgendwie merkwürdig.
Im zweiten Stock angekommen, hielt Leonie die Briefe gegen das Licht, das durch das Flurfenster schien. Es befand sich jeweils nur ein Blatt darin und Leonie hätte schwören können, dass auch hierauf mit grünen Großbuchstaben ein kurzer Text geschrieben war, den sie allerdings nicht erkennen konnte. Am liebsten hätte sie die Briefe geöffnet, um herauszufinden, welchen Inhalt sie hatten. Das ging aber dann doch selbst ihr zu weit und sie riss sich, wenn auch schweren Herzens, zusammen.
Irritiert von diesen Briefen ging Leonie zuerst in ihre eigene Wohnung zurück. Marco saß auf der Couch und blätterte mit Jonas auf dem Schoß in einem Wimmelbuch. Eifrig zeigte der Kleine auf irgendwelche Sachen, die er in einem Ton- und Silbenkauderwelsch benannte. Es würde wohl noch etwas dauern, bis er Bezeichnungen vergeben konnte, die auch verständlich waren.
"Du, das ist echt komisch", sagte Leonie, als sie das Wohnzimmer betrat.
"Was ist komisch?", fragte Marco zurück. Leonie schwenkte die Post durch die Luft. Dann erklärte sie: "Ich weiß nicht, da sind außer viel Werbung zwei Umschläge dabei, die total gleich aussehen. Da hat jemand mit dickem, grünem Filzstift Wolfgangs Namen und seine Adresse in akkuraten Großbuchstaben drauf geschrieben. Ich glaube, die Zettel in den Umschlägen sind auch so beschrieben. Und der eine Brief ist schon seit Anfang der Woche oder so im Briefkasten. Das ist doch seltsam, oder?"
Marco schüttelte den Kopf und sah Leonie tadelnd an. Mit einem leichten Schmunzeln antwortete er dann: "Leonie, hast du schon mal was vom Postgeheimnis gehört? Das geht uns nichts an."
Leonie lachte auf. "Alles klar, Herr Anwalt! Dann bringe ich mal alles rüber in Wolfgangs Wohnung."
Sie drehte sich um und ging zurück in den Flur. Natürlich hatte Marco recht, aber sie war einfach so schrecklich neugierig. Und wenn etwas so merkwürdig aussah wie diese beiden Briefe, dann konnte sie sich nur schwer beherrschen. Im Vorbeigehen griff sie nach dem Paket und trug alles hinüber zu Wolfgangs Wohnungstür. Aus einem Reflex heraus klingelte sie noch einmal, aber als nichts geschah, schloss sie sie Tür auf und trat ein.
In der Wohnung roch es muffig und war erstaunlich kalt. Da hatte wohl jemand vergessen, die Heizungen ein wenig aufzudrehen, bevor er gegangen war. Leonie trug alles ins Wohnzimmer, um das Paket samt der Post auf dem Esstisch abzulegen, der bei Wolfgang nicht in der Küche, sondern im Wohnzimmer stand. Dabei wanderte ihr Blick automatisch durch den Raum.
Wolfgang war zwar noch nie besonders ordentlich gewesen, aber das Chaos, das hier herrschte, war selbst für ihn eher untypisch. Über den Fußboden verteilten sich Bücher und Zeitschriften. Der Couchtisch stand voll mit leeren Flaschen, als hätte eine Party stattgefunden, nach der noch niemand aufgeräumt hatte.
Angestachelt von ihrer Neugier warf Leonie einen Blick ins Schlafzimmer. Das Bett war zerwühlt und diverse Kleidungsstücke lagen wild im ganzen Raum verstreut herum. Die Türen des Kleiderschranks standen offen. Ein bisschen sah es aus, als hätte jemand in aller Eile einen Koffer gepackt oder etwas gesucht. Leonie stockte, denn plötzlich erinnerte sie die Szene an ihre eigene Wohnung nach dem Einbruch von Dominik Kanthäuser vor anderthalb Jahren.
Entsetzt fuhr sie herum und stürzte Richtung Wohnungstür. Im Hausflur blieb sie stehen und versuchte sich zu sammeln, wobei ihr Herz spürbar schneller klopfte. Als sie sich ein wenig beruhigt hatte, zog sie ihr Handy aus der Hosentasche und öffnete den Chatverlauf mit Wolfgang. Er hatte ihre Nachricht vom Vorabend nach wie vor nicht gelesen. Ein ungutes Gefühl machte sich in Leonie breit. Während sie Wolfgangs Nummer wählte, ging sie einen Schritt zurück in seine Wohnung. Alles blieb stumm. Allerdings war es wohl auch nicht besonders wahrscheinlich, dass er das Handy nicht mitgenommen hatte. Und falls es doch in der Wohnung lag, würde das Handy nach fast einer Woche, die Wolfgang scheinbar nicht mehr hier gewesen war, aber sicher auch nicht mehr in Betrieb sein. Der Akku eines normalen Smartphones schaffte nun wirklich keinen derart langen Zeitraum mehr.
Da Wolfgang sich nicht meldete, legte Leonie auf und ließ das Handy sinken. Unschlüssig stand sie da. Schließlich warf sie doch noch einen Blick in Arbeitszimmer, Bad und Küche. Es war irgendwie nicht fair, dass Wolfgang so eine große Wohnung für sich allein hatte, während sie selbst mit Jonas in ihrer winzigen Wohnung saß und nichts Größeres fand. Der Gedanke irritierte sie. Ihr Lieblingsnachbar war verschwunden und sie war neidisch auf seine Wohnung? Ärgerlich schob sie den Gedanken beiseite.
Auch in den anderen Räumen von Wolfgangs Wohnung herrschte ein furchtbares Durcheinander. Die Regale im Arbeitszimmer sahen durchwühlt aus und die Ordner waren im ganzen Raum verteilt worden. Im Badezimmer lagen Handtücher sowie diverse Badartikel in der Badewanne und auf dem Fußboden. In der Küche stapelte sich Geschirr auf der Arbeitsplatte, mehrere Schranktüren und Schubladen waren aufgezogen worden. Außerdem lag Wolfgangs Handy auf dem Fensterbrett. Hastig griff Leonie danach, aber natürlich ließ sich das Display nicht mehr zum Leben erwecken.
Irgendwie passte das alles überhaupt nicht zusammen. Wolfgang war zwar ein bisschen unordentlich, aber nicht so. Und dass er ohne sein Handy für eine längere Zeit die Wohnung verließ, war auch irgendwie unwahrscheinlich. Natürlich konnte er es einfach vergessen haben, aber, wenn man für ein paar Tage wegfuhr, hinterließ man seine Wohnung doch nicht wie ein Schlachtfeld, oder?
"Um Himmels Willen, was ist denn hier los?", fragte Marco plötzlich hinter ihr. Überrascht wirbelte Leonie herum. Sie hatte Marco gar nicht hereinkommen hören. Er hatte Jonas auf dem Arm und schaute mindestens genauso irritiert wie sie selbst.
"Ich weiß auch nicht", gab Leonie zurück. "Die ganze Wohnung sieht so aus und Wolfgangs Handy liegt ausgeschaltet hier in der Küche. Das ist schon irgendwie seltsam, oder?"
"Ja, in der Tat, das ist es." Marco verließ die Küche, um einen kurzen Rundgang durch die Wohnung zu machen. Schließlich fand Leonie ihn im Wohnzimmer am Esstisch wieder, wo er gerade die Briefumschläge, die sie selbst als merkwürdig eingestuft hatte, anschaute, jedoch ohne sie anzufassen.
Er schwieg eine Weile, bis er schließlich sagte: "Okay, hier stimmt was nicht. Ich weiß zwar nicht, was. Aber das ist wirklich nicht normal." Mit der freien Hand beschrieb er einen Bogen durch den Raum. "Nimmst du bitte Jonas und gehst wieder rüber? Ich rufe die Polizei an."
Widerwillig nickte Leonie und nahm ihm ihr Kind ab. Eigentlich würde sie schon gerne wissen, wie das Ganze weiterging. Andererseits weckte die Situation lange verdrängte Erinnerungen an Miguels Tod und den Einbruch in ihre eigene Wohnung. Es war wohl besser, wenn sie ein bisschen Abstand dazu bekam. Und Marco würde ihr auf jeden Fall später erzählen, was sie wissen musste.
In ihrer Wohnung angekommen setzte sie Jonas auf seinem Spielteppich im Wohnzimmer ab und ging hinüber in die Küche, um sich einen Kaffee zu machen. Ihre Gedanken fuhren Achterbahn und ihr war ein bisschen übel. Zu schmerzhaft waren die Erinnerungen, die sich ihr gerade mit Macht aufdrängten.
Mit dem Kaffee in der Hand kehrte sie schließlich ins Wohnzimmer zurück und ließ sich auf die Couch fallen. Ihr Blick war fest auf Jonas geheftet, der gerade dabei war, die Räder an einem Bagger zu drehen. Dabei gluckste er, als wäre diese Beschäftigung das Tollste auf der Welt. Es war schon erstaunlich, womit man Kinder begeistern konnte.
Kurz darauf kam Marco in die Wohnung zurück. Er steckte seinen Kopf ins Wohnzimmer, schnüffelte angestrengt und sagte: "Oh, Kaffee", woraufhin er in der Küche verschwand. Leonie konnte hören, wie die Kaffeemaschine gurgelte. Wie konnte er sie nur so auf die Folter spannen? Bevor sie aufstehen und hinübergehen konnte, kam Marco mitsamt seiner Kaffeetasse zurück. Er setzte sich zu ihr aufs Sofa und lächelte ihr zu.
"Also", begann er, "ich habe die Polizei angerufen und es kommt gleich jemand vorbei. Große Hoffnung habe ich allerdings nicht, denn die Dame am Telefon meinte schon, dass es ja gut sein könnte, dass Wolfgang ein paar Tage verreist ist und dir nicht Bescheid gesagt hat. Wenn dann müsste ihn schon seine Familie als vermisst melden oder so." Leonie verdrehte genervt die Augen. Der negative Eindruck, den sie in der Vergangenheit von der Polizei gewonnen hatte, schien sich einmal mehr zu bestätigen.
Marco schien ihre Gedanken zu erraten und sagte deshalb: "Jetzt lass uns erstmal abwarten. Wenn die Polizisten sehen, wie es da drüben aussieht, ändern sie bestimmt ihre Meinung." Zwar war Leonie davon nicht so richtig überzeugt, aber sie nickte.
"Weißt du etwas über seine Familie?", erkundigte sich Marco, was Leonie jedoch verneinen musste. Wolfgang hatte nie von sich aus über seine Familie gesprochen und Leonie hatte auch nicht nachgefragt. Aufgrund ihrer eigenen komplizierten Familiensituation war sie der Meinung, dass so etwas von jedem selbst angesprochen werden sollte, wenn er überhaupt darüber sprechen wollte. Leonie war ohne Vater aufgewachsen, da sich dieser schon kurz nach ihrer Geburt aus dem Staub gemacht hatte. Aus ihrer Geburtsurkunde wusste sie, dass er Thomas Feldmann hieß, ihre Mutter hatte früher auch gelegentlich über ihn gesprochen. Er war ihre Jugendliebe gewesen, war aber offensichtlich nicht für ein Kind bereit gewesen. Leonie hatte in ihrer Jugend eine Weile darüber nachgedacht, ob sie Kontakt zu ihm haben wollte, sich aber dagegen entschieden und das Thema für sich abgehakt. Ihr eigener Sohn hatte zwar nun eine Art Vater, aber eben nicht den leiblichen, da dieser schon vor seiner Geburt gestorben war. Väter waren in Leonies Leben offensichtlich eine schwierige Sache.
"Ich habe auch keine Ahnung, wann ich Wolfgang zuletzt gesehen habe", sagte sie nachdenklich. "Ich denke, dass es Anfang der Woche war, aber so ganz sicher bin ich mir nicht. Vielleicht war es auch schon letzte Woche?"
Mit einem Blick auf die Uhr sagte sie schließlich: "Ich würde mal etwas für Jonas zu essen machen, damit ich den kleinen Quälgeist für seinen Mittagsschlaf ins Bett bringen kann. Heute müssen wir ja ein bisschen früher in die Gänge kommen, damit wir nicht zu spät zum Kaffeetrinken kommen. Hast du schon Hunger?"
Marco schüttelte den Kopf. "Nein, eigentlich nicht. Wollen wir uns nicht einfach nachher mit Kuchen vollstopfen?" Das war im Grunde eine gute Idee. Carmen war eine begnadete Bäckerin. Es würde mit Sicherheit genug leckeren Kuchen geben.
"Gute Idee!", stimmte Leonie lachend zu. "Carmen plant für jeden Gast eh immer mindestens einen halben Kuchen zu viel ein."
Nachdem sie ihren Kaffee ausgetrunken hatte, stand Leonie auf, um in die Küche zu gehen.
"Soll ich noch einen Blick auf Jonas haben, bis die Polizei kommt, oder nimmst du ihn gleich mit in die Küche?", fragte Marco, während sie an ihm vorbeiging. Er fing ihre Hand auf und stoppte sie damit. Langsam drehte sich Leonie zu ihm um. Irgendwie war ihr nicht gut. Das Bild, das sich ihr in der Nachbarwohnung geboten hatte, setzte ihr doch mehr zu, als ihr lieb war. Marco schien die Angst in ihren Augen zu erkennen. Er stand auf und zog sie wortlos an sich.
Nach einigen Sekunden sagte er sanft: "Alles wird gut und klärt sich sicher bald auf. Wolfgang ist bestimmt nichts passiert." Beiden war klar, dass es nur eine Floskel war, denn sie konnten nicht wissen, was wirklich los war. Aber Leonie war trotzdem dankbar, dass Marco sie ernst nahm und zu beruhigen versuchte. Schließlich nickte sie an seiner Schulter.
"Du hast vermutlich recht. Ich mache Jonas ein Gläschen warm und hole ihn, sobald ich fertig bin oder wenn die Polizei kommt, damit du dich darum kümmern kannst." Dankbar drückte sie noch einmal Marcos Hand, dann löste sie sich von ihm.
In der Küche stellte Leonie ihre Tasse ins Spülbecken und lehnte sich kurz an die Küchenzeile. Diese Geschichte nahm sie doch ganz schön mit. Nachdem sie sich einen Moment gesammelt hatte, öffnete sie die Schranktür, hinter der die Gläschen mit Babynahrung standen. Normalerweise kochte sie selbst etwas, aber für den Fall, dass es schnell gehen musste, hatte sie immer ein paar der Fertigessen auf Vorrat. Außerdem standen die Schinkennudeln bei Jonas gerade hoch im Kurs, weshalb sie hoffte, dass das Mittagessen ohne größere Schwierigkeiten verlaufen würde.
Während sie das Essen in der Mikrowelle aufwärmte, ließ Leonie den Blick aus dem Fenster gleiten. In der Zwischenzeit hatte es angefangen zu regnen und die Welt vor dem Küchenfenster sah trist und grau aus. Schließlich gab die Mikrowelle ein Pling von sich, um mitzuteilen, dass sie fertig war. Leonie öffnete die Tür, nahm vorsichtig das Gläschen heraus und füllte die Nudeln auf einen von Jonas' Tellern um. Als sie den Teller gerade auf den Tisch vor dem Hochstuhl gestellt hatte, kam Marco mit Jonas auf dem Arm zur Küchentür herein.
"Der kleine Racker wollte schon wieder das Bücherregal ausräumen", informierte Marco sie mit einem Augenzwinkern. Jonas hatte dazu einen unschuldigen Blick aufgesetzt, als könnte es keinesfalls um ihn gehen. Lachend setzte Marco Jonas in den Hochstuhl und band ihm ein Lätzchen um. Im nächsten Moment klingelte es, deshalb wandte er sich zur Tür, um sich um die Polizei zu kümmern. Beim Verlassen der Wohnung lehnte er die Wohnungstür nur an, sodass Leonie zumindest bruchstückhaft mit anhören konnte, was im Flur vor sich ging.
Während sie sich damit abmühte, Jonas mit den Schinkennudeln zu füttern, wurden die Stimmen leiser. Die Polizei war wohl mit Marco in Wolfgangs Wohnung gegangen. Als würde er ahnen, dass Leonie unkonzentriert war, war Jonas heute besonders widerspenstig. Immer wieder versuchte er, ihr den Löffel aus der Hand zu schlagen, und hätte um ein Haar seinen vollen Wasserbecher umgestoßen.
Irgendwann hatten sie die Mahlzeit geschafft und Leonie trug Jonas hinüber ins Schlafzimmer. Wie so oft war es ein Kampf, den Knirps zum Mittagsschlaf zu bewegen, aber zumindest lenkte sie die Einschlafbegleitung davon ab, was in der Nachbarwohnung vor sich ging. Nach einer Weile war Jonas endlich eingeschlafen und Leonie ging mit dem Babyphone in der Hand in die Küche hinüber. Während sie noch unschlüssig dastand und überlegte, ob sie die Reste von Jonas' Mittagessen jetzt oder später aufräumen sollte, kam Marco zur Wohnungstür herein, die er leise hinter sich schloss. Er hängte den Schlüssel von Wolfgangs Wohnung zurück ans Schlüsselbrett und bedeutete ihr, mit ins Wohnzimmer zu kommen.
Bevor er etwas sagte, zog er Leonie an sich. Beruhigend streichelte er ihr über den Rücken, bis sie sich ein wenig entspannt hatte. Schließlich setzten sie sich, lehnten sich auf dem Sofa zurück und Marco ergriff das Wort: "Die Polizisten fanden das Ganze auch merkwürdig. Die Wohnung sah ja so aus, als hätte jemand eine Party gefeiert und im Suff alles durchwühlt, nur um danach abzuhauen und nichts Relevantes einzupacken. Die Polizei hat jetzt jedenfalls sein Handy mitgenommen. Ihre Techniker werden versuchen, es zum Laufen zu bringen und jemanden von seiner Familie zu erreichen, sofern sie dazu irgendwelche Hinweise finden. Wir sollen uns auf jeden Fall melden, falls er wieder auftaucht oder sich irgendwas tut."
Es war zwar nicht viel, aber immerhin etwas. Leonie war schon vorher klar gewesen, dass die Polizei keine Suchtrupps losschicken würde. Das erschien auch irgendwie unpassend bei einem erwachsenen Mann.
"Besser als nichts", sagte sie daher zu Marcos Erzählung.
"Ja, das finde ich auch", gab er zurück.
"Was haben sie zu den komischen Briefen und dem Paket gesagt?", hakte Leonie nach, aber Marco schüttelte den Kopf. "Die haben sie nicht angefasst. Solange sie nicht wissen, ob ihm etwas passiert ist, wollten sie daran nicht rühren."
Eine Weile saßen sie schweigend auf der Couch und Leonie glitt in einen leichten Dämmerzustand über. Sie war plötzlich furchtbar erschöpft und eine unbestimmte Angst, erneut eine schlimme Situation durchleben zu müssen, breitete sich in ihr aus.
Es verging eine ganze Weile, bis sich Jonas über das Babyphone meldete. Marco stand auf und ging ins Schlafzimmer hinüber, um sich um ihn zu kümmern. Leonie konnte die beiden Lachen und Quatsch machen hören und ein leichtes Glücksgefühl keimte in ihr auf. Ihre kleine Familie war einfach großartig. Jonas verschlang zwar wirklich einen großen Teil ihrer Energie, aber er war ihr Ein und Alles. Und Marco war nicht nur ein toller Partner, sondern bisher auch ein hervorragender Vater. Sie hatten nie darüber gesprochen, aber er ging vollkommen natürlich in dieser Rolle auf, obwohl Jonas nicht sein leibliches Kind war.
Schließlich kam Marco mit Jonas ins Wohnzimmer zurück. Leonie stand auf, umarmte beide spontan und gab ihnen einen Kuss auf die Wange.
"Jonas ist soweit fertig und ich auch fast. Wie sieht es mit dir aus?", fragte Marco schließlich.