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Nachdem Juli ihren Freund Tom im Bett mit einer Anderen erwischt hat, flüchtet sie Hals über Kopf in den Wohlfühlort ihrer Kindheit: Westkapelle an der niederländischen Nordseeküste. Doch der Winter und die Einsamkeit machen ihr auch hier schwer zu schaffen. Und dann ist da auch noch Chrissi, der ihre angeknackste emotionale Lage mit seiner unkonventionellen Art weiter ins Schwanken bringt. Ein Roman zwischen himmelhoch jauchzend und zu Tode betrübt; über Traurigkeit, Einsamkeit und die große Liebe, die sich von nichts und niemandem aufhalten lässt.
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Veröffentlichungsjahr: 2024
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Juli & Chrissi
-
Eine (ver)queere Liebesgeschichte in Zeeland
von
Elke Eike
Texte:
© Copyright by Elke Eike
Umschlaggestaltung:
© Copyright by Elke Eike
1. Auflage März 2024
Verlag:Elke EikeMillöckerstraße 570195 [email protected]
Vertrieb:
epubli – ein Service der Neopubli GmbH, Berlin
Für diejenigen Lesenden, die noch nie in den Niederlanden oder am Meer waren, möchte ich kurz vorab folgende Hinweise geben:Buhnen - in diesem Fall einzelne Rundhölzer, sind die Holzpfähle, die rechtwinklig zum Meer am Strand stehen und dem Küstenschutz dienen. Außerdem sind sie äußerst dekorativ.Grimbergen - ist das wohl beliebteste belgische Bier, das auch überall in den Niederlanden getrunken wird.Joppiesaus oder eingedeutscht Joppiesauce - ist eine in den Niederlanden erfundene, kalte gelbliche Sauce aus Mayonnaise, Zwiebeln und Curry, die zu Pommes und Snacks gegessen wird.
Poffertjes – sind ebenfalls eine niederländische Spezialität: Kleine, dicke Pfannkuchen, die man mit Butter und viel Puderzucker serviert.
Wenn so eine Köstlichkeit auf den Tisch kommt, wünscht man Eet smakelijk, also guten Appetit. Für die Menschen, die mit kölsch noch nichts zu tun hatten, hier eine "Übersetzung" der benutzten Redewendungen:Et hätt noch immer jot jejange - Wird schon gutgehenJeder Jeck is anders - Jeder Mensch ist unterschiedlich, niemand ist perfekt
Ein Köbes ist übrigens der Kellner in einem Brauhaus, sowohl in Köln, als auch in Düsseldorf, aber über Düsseldorf sprechen wir in diesem Buch nicht. Da kommt dat Jeföhl – das spezielle Gefühl, das einem nur Köln geben kann – nämlich nicht auf.
Bevor es losgeht, möchte ich noch eine kleine Triggerwarnung vorausschicken:
In diesem Buch geht es um eine junge Frau, die nach einer Trennung teilweise sehr traurige Gedanken hat, und eine nicht-binäre Person, die aufgrund dieser Tatsache auch Beleidigungen erfährt. Beides also wie im "echten" Leben auch. Das Buch enthält daher depressive Gedanken und Beleidigungen gegen nicht-binäre Personen. Bitte seht es mir nach, dass ich diese teilweise auch klar benannt habe. Dies dient der Authentizität und um deutlich zu machen, welche Probleme meine beiden Protagonist*innen haben.
"Ich hau ab", sagte ich und sprang auf die Füße.
"Warte, wo willst du denn hin?" Lisa blinzelte gegen die durch die Wolken lugende Sonne zu mir hoch.
"Keine Ahnung. Einfach nur weg", erwiderte ich und sackte energielos wieder neben ihr auf die Domstufen, die teilweise noch mit Konfetti bedeckt waren. Eigentlich war es viel zu kalt, um hier zu sitzen, aber ich war zu aufgedreht, um das zu bemerken. Gleichzeitig war ich so müde, ich war nicht sicher, ob ich es überhaupt bis nach Hause schaffen würde. Allerdings wusste ich auch nicht, was ich dort sollte. Nachdem ich vor drei Tagen meinen Freund Tom rausgeworfen hatte, kam mir die Wohnung furchtbar leer vor. ‘Ex-Freund’, höhnte eine Stimme in meinem Kopf. Okay, meinen Ex-Freund Tom.
"Juli", sagte Lisa, "das renkt sich schon wieder ein."
"Nix renkt sich wieder ein", brauste ich auf. "Tom hat mich betrogen und fand das auch noch in Ordnung. Der Typ ist für mich gestorben!" Wütend stampfte ich mit dem Fuß auf. Ich konnte immer noch nicht glauben, was passiert war.
Ich war über das Karnevalswochenende mit Lisa zu ihrer Schwester Miri in die Eifel gefahren. Am Sonntagmorgen waren wir deutlich früher als geplant wieder Richtung Köln aufgebrochen, weil Lisas Schwester, die als Krankenschwester in der Notaufnahme arbeitete, spontan zum Dienst musste. Wir waren einfach losgefahren und hatten uns auf zu Hause gefreut. Lisa auf ihre Lebensgefährtin Rike und ihre Katze Pebbles. Und ich auf Tom.
Doch als ich unsere Wohnung betreten hatte, war etwas anders gewesen. An der Garderobe hing ein unbekannter Mantel, hochhackige Pumps standen neben meinen Turnschuhen und ein fremdes Parfum hing in der Luft.
Ich hatte tatsächlich den gesamten Weg der abgelegten Kleidungsstücke bis ins Schlafzimmer gebraucht, um zu kapieren, was hier vor sich ging: Mein Freund Tom lag mit einer vollbusigen Blondine in unserem Bett. Beide waren nackt, kaum von der Bettdecke bedeckt und schliefen.
Ein spitzer Schrei meinerseits hat sie allerdings umgehend geweckt. Ich sah die Szene sofort wieder vor mir: Tom rieb sich die Augen, sah erst zu mir, dann zu der Blonden, dann wieder zu mir.
"Süße", sagte er, als wäre die Situation vollkommen normal. "Da bist du ja schon."
"Wer ist das?", krächzte ich und zeigte mit dem Finger auf die Blondine. 'Man zeigt nicht mit nackten Fingern auf angezogene Leute!' dachte ich und antwortete mir sofort trotzig: 'Die ist aber nicht angezogen.'
"Katja", erklärte Tom, wurde jedoch direkt von der Blonden berichtigt: "Katrin".
Eine kleine Weile starrte ich beide an, während die Blonde langsam die Decke über ihren üppigen Busen zog. Womöglich erfasste sie die Absurdität des Ganzen trotz allem etwas schneller als ich.
"Und… Was… Ich meine… WAS?", stotterte ich hilflos.
"Süße, es ist Karneval!", rief Tom und breitete theatralisch die Arme aus. Dass dabei seine Decke vom Bett rutschte, schien er gar nicht zu bemerken. Ich wusste nun zumindest, dass er tatsächlich gänzlich nackt war, was mich noch mehr aufregte.
Der Blonden schien die Situation inzwischen allerdings reichlich peinlich zu sein. Sie hatte sich unter der Decke heraus seitlich vom Bett geschoben und schlüpfte gerade umständlich in ihren BH. Nachdem sie auch ihr Höschen gefunden und angezogen hatte, sprang sie auf und griff nach einem blauen Stoffhäufchen. Ich beobachtete, wie sie wie in Zeitlupe das Kleid über den Kopf und an ihrem Körper nach unten zog. Es saß so knapp, dass ich mich für einen Moment fragte, warum sie es überhaupt trug.
"Tschüss, Tom", presste sie hervor, während sie an mir vorbei aus dem Schlafzimmer schlich. Sie hatte den Kopf gesenkt und vermittelte den Eindruck, nicht gewusst zu haben, worauf sie sich hier einließ. Und dass es ihr ehrlich leidtat. Was man von Tom nicht gerade behaupten konnte.
"Ich rufdich an", sagte er prompt und winkte ihr nach. Mit offenem Mund stand ich da und konnte noch immer nicht glauben, was hier passierte.
Nach einigen langen Sekunden fiel die Wohnungstür ins Schloss und ich fing an zu schreien.
Lisa legte den Arm um mich und holte mich damit in die Gegenwart zurück. Auf der Domplatte hatte es spontan zu nieseln begonnen. Die Kälte kroch langsam von meinen Füßen nach oben.
"Tom ist ein Arsch. Mit dem soll sich gar nichts wieder einrenken", sagte sie leise. "Ich meinte den Rest. Dein Leben." Mit der freien Hand malte sie einen Bogen in die Luft, der die halbe Stadt mit einschloss.
"Puh", machte ich. "Kein Plan, wie das gehen soll. Ich glaub, ich muss wirklich erstmal weg."
Das Problem war nämlich, dass ich mit Tom auch meinen Job los war. Ich hatte in der Firma seines Vaters als Sekretärin gearbeitet und direkt am Montag meine Kündigung zusammen mit einer Freistellung bekommen. Vermutlich war die eigentlich nicht rechtens, aber ich hatte keinerlei Lust, mit dieser Firma einen Streit anzufangen und Tom zukünftig weiterhin an meinem Arbeitsplatz zu begegnen. Glücklicherweise hatte ich nun gute zwei Monate, nämlich bis Ende April, bezahlt frei, um mein Leben wieder auf die Reihe zu bekommen. Jobs gab es in Köln ganz sicher genug. Mir fehlte nur die Motivation, Stellenangebote zu lesen. Oder eine Bewerbung zu schreiben. 'One step at a time', sagte ich mir. Erstmal musste ich verkraften, wie sehr mein Leben aus der Bahn geworfen worden war.
"Ich rufnachher mal meinen Onkel an. Der hat doch einen Wohnwagen an der Nordsee."
Lisa schüttelte sich. "Es ist Februar!"
"Egal", erklärte ich. "Am Meer ist es doch immer schön. Außerdem ist es fast schon März."
"Wie du meinst", lachte Lisa. "Sag Bescheid, wenn du losfährst, dann gieß ich deine Blumen.”
“Danke”, sagte ich. “Kannst du Tom am Samstag dabei behilflich sein, sein Zeug aus meiner Bude zu holen? Das schaffe ich nicht.” Das Wort 'behilflich' setzte ich dabei mit den Fingern in Anführungszeichen. Lisa wusste genau, was ich damit meinte und nickte.
“Klar, sag ihm, er soll um zehn da sein”, bestätigte sie. Ich umarmte meine beste Freundin noch einmal und machte mich auf den Heimweg.
Durchgefroren kam ich zu Hause an. Lisa hatte Recht. Es war Februar. Nicht gerade der perfekte Zeitpunkt, um ans Meer zu fahren. Zumindest, wenn das Meer die niederländische Nordsee war und nicht der Atlantik vor der Küste Portugals oder einer Südseeinsel.
Trotzdem musste ich hier weg. Tom würde am Wochenende wiederkommen und seine restlichen Sachen holen. Im Moment fühlte ich mich nicht dazu in der Lage, ein Treffen mit ihm durchzustehen. Außerdem erinnerte mich alles in dieser Wohnung an ihn.
Nachdem ich die Sneaker im Flur abgestreift und meine Jacke achtlos über den Garderobenständer geworfen hatte, ging ich ins Wohnzimmer hinüber. Das Gute war, dass das hier meine Wohnung war. Ächzend ließ ich mich auf die Couch fallen und griff nach meinem Lieblingsteddy, den ich zur Beruhigung an mich presste.
Nach dem Gymnasium auf dem Dorf hatte ich in Köln eine Ausbildung zur Bürokauffrau gemacht und war am Ende von der Firma übernommen worden. Zur Feier des neuen Lebensabschnitts war ich zu Hause aus- und in diese kleine, schnuckelige Wohnung in Lindenthal eingezogen.
Vor etwa fünf Jahren war ich Tom begegnet. Er war nach dem Ende seines Studiums in der Firma seines Vaters, in der ich arbeitete, als Juniorchef eingestiegen. Tom war drei Jahre älter als ich, überaus attraktiv und ein großer Charmeur. Diesem Charme war ich leider schnell erlegen und so kam es, dass ich ihn nicht nur tagsüber im Büro regelmäßig sah, sondern auch immer öfter abends oder nachts. Nach ein paar Monaten zog er ganz bei mir ein. Sein Vater hatte unsere Beziehung nie gutgeheißen, aber zum Glück nicht viel dazu gesagt. Vermutlich war er froh, dass sein Sohn sich nun endlich standesgemäß binden konnte.
Strenggenommen war meine Wohnung zu klein für uns zwei gewesen. Zumindest, wenn es nach Tom ging. Sie hatte gerade einmal sechzig Quadratmeter verteilt auf Flur, Schlafzimmer, Bad und Wohnzimmer mit offener Küchenzeile. Für mich war es perfekt. Tom dagegen hatte immer über den Schuhkarton gelästert, aber der Wohnungsmarkt in Köln war eben ähnlich kompliziert wie in allen anderen deutschen Städten.
Gerade war ich mehr als froh, dass ich immer noch hier wohnte und auch wohnen bleiben konnte. Zum restlichen Drama noch eine Wohnung suchen zu müssen, würde ich nicht durchstehen.
Kurzentschlossen angelte ich mein Smartphone aus der Tasche und rief meinen Onkel an. Er nahm beim dritten Klingeln ab.
"Juli!", dröhnte seine kräftige Stimme aus dem Hörer. "Was verschafft mir die Ehre?"
"Hallo, Onkel Toni", säuselte ich. "Wie geht's dir?"
"Schlechten Menschen geht's immer gut", gab er seine Standardantwort zum Besten. "Und selbst?"
"Ging schon mal besser", erwiderte ich kleinlaut. "Habmit Tom Schluss gemacht."
"Gott sei Dank!", rief mein Onkel aus. "Der Kackvogel hatte dich gar nicht verdient."
Ungewollt musste ich lachen. Mein Onkel erinnerte mich immer irgendwie an Toni Soprano. Mit seinen Sprüchen gab er sich auch alle Mühe, diesem Klischee zu entsprechen.
"Ja, vermutlich", stimmte ich nachdenklich zu. " Sagmal, hast du noch diesen Wohnwagen? Ich würde gerne ein paar Tage ausspannen."
"Klar, fahrhin und lass dir ordentlich den Kopf durchpusten. Das hilft immer!" Onkel Toni war sofort begeistert. "Ich rufe Piet, den Platzwart, an und kündige dich an. Wann willst du fahren?"
"Morgen vielleicht?", schlug ich vor.
"Perfekt. Ich bin zu Hause. Holdir einfach den Schlüssel bei mir ab, dann erkläre ich dir alles."
Gut, dann war das abgemacht. Morgen würde ich hier also erstmal die Biege machen.
Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis ich es schaffte, wieder vom Sofa aufzustehen. Ich musste die Bude aufräumen und packen, aber meine Motivation dazu war unterirdisch. Am Ende ließ mich ein dringendes Bedürfnis das Unvermeidbare nicht länger aufschieben.
Als ich schließlich am Waschbecken im Bad stand, zwang ich mich zu einem Blick in den Spiegel. Ein blasses Gesicht starrte zurück. Ich hielt inne und betrachtete mich. Inzwischen war ich näher an der 30 als an der 25, meine straßenköterblonden, schulterlangen Locken wirkten schlapp und die Ringe unter meinen hellblauen Augen hatten sich in den letzten drei Tagen deutlich verstärkt.
Traurigkeit hielt mich vom Schlafen ab und durch die Müdigkeit hatte ich den Eindruck, alles doppelt zu sehen. Keine Frage, ich musste hier weg. Merkwürdigerweise hatte ich bisher nicht geweint. Keine einzige Träne hatte ich Tom, dem Idioten, gegönnt. Gleichzeitig wusste ich, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis sich die Traurigkeit Bahn brechen würde.
Hastig wusch ich mir das Gesicht. Ich sollte packen und dann ins Bett gehen, damit ich für die bevorstehende Autofahrt fit genug war.
Nach einer weiteren schlechten Nacht war ich am nächsten Morgen komplett gerädert. Selbst die kalte Dusche konnte meine Lebensgeister nur unzureichend wecken. Erst ein starker Kaffee sorgte dafür, dass meine Augen halbwegs offen blieben.
Eilig spülte ich anschließend das Geschirr, räumte notdürftig auf und warf die restlichen Sachen in meinen Rucksack. Ich war nicht sicher, ob ich an alles Relevante gedacht hatte. ‘Mut zur Lücke’, sagte ich mir und schlüpfte in meine Winterjacke.
Kraftlos schleppte ich anschließend zwei große Reisetaschen runter auf die Straße. Vor der Haustür musste ich eine Weile überlegen, wo ich mein Auto zuletzt gesehen hatte. Oder wann. Es war nämlich schon einige Tage her, dass ich es zuletzt benutzt hatte, und der Trubel der letzten Tage hatte meinem Denkvermögen scheinbar ein wenig zugesetzt. Erfreut entdeckte ich es aber schließlich nur hundert Meter entfernt die Straße runter.
Nachdem alles verstaut war, machte ich mich auf den Weg zu Onkel Toni. Dieser wohnte in Nippes, was von meiner Wohnung in Lindenthal aus mit dem Auto quer durch Köln eine total ätzende Strecke war. Ich fluchte ausgiebig über die anderen Autofahrer, die ihre Führerscheine wohl alle in der Lotterie gewonnen hatten.
Zum Ausgleich dafür wurde ich von Onkel Toni überaus herzlich begrüßt. Seine Umarmung fühlte sich an wie im Schraubstock, tat aber trotzdem gut. Er redete wie ein Wasserfall und ich hatte die größte Mühe, seinen Worten auch nur ansatzweise zu folgen. Am Ende hatte er mir Namen und Adresse des Campingplatzes notiert, die Lage des Stellplatzes aufgemalt und eine ganze Liste an wichtigen Infos dazu gekritzelt. Dass seine Schrift absolut unleserlich war, schien ihn nicht weiter zu stören. Ich hoffte, vor Ort Hilfe zu finden oder meine Fragen telefonisch mit ihm klären zu können, wenn ich etwas aufnahmefähiger war. Und dann ging es endlich los.
Nach etwa drei Stunden Fahrt bog ich in die Einfahrt des Mini-Campingplatzes ‘Zout & Zee’ kurz hinter dem Ortsausgang von Westkapelle in Richtung Domburg ein. Als ich noch jünger war, hatte ich viele Wochenenden und große Teile meiner Sommerferien hier verbracht. Mein letzter Ausflug zur niederländischen Nordseeküste lag allerdings inzwischen einige Jahre zurück, weshalb die meisten Erinnerungen ein wenig verblasst waren. Doch an die Einfahrt des Campingplatzes erinnerte ich mich sofort. Sie war von großen Bäumen umrandet und endete direkt hinter der Straße an einem Schlagbaum. Mein roter Corsa passte gerade so zwischen Schlagbaum und Landstraße.
Bevor ich aussteigen konnte, kam ein extrem großer, dünner Mann angerannt. Er begrüßte mich überschwänglich auf Niederländisch, sodass ich kein Wort verstand. Nachdem er die Schranke geöffnet hatte, winkte er mich durch. Ich fuhr auf den Platz, hielt hinter der Schranke an und kurbelte die Scheibe runter. Ja, kurbelte. Mein Corsa war so alt, der hatte noch keine elektronischen Fensterheber.
"Ist sonst noch jemand hier?", fragte ich Piet, da der Campingplatz auf den ersten Blick ziemlich verwaist aussah. Der schlaksige Holländer war zwar in die Jahre gekommen, aber er strahlte eine unfassbare Fröhlichkeit aus. Es war unmöglich, sein Lächeln nicht zu erwidern.
"Ja, Chrissi", antwortete er.
"Wer ist Chrissi?", erkundigte ich mich neugierig. Vielleicht war es ein knuddeliger Hund? Oder eine anschmiegsame Katze?
"Das musst du selbst herausfinden", lachte der Platzwart mit starkem Akzent. Dann deutete er den Weg entlang zum Stellplatz meines Onkels. Er kam allerdings nicht mit, sondern verschwand wieder in seinem Haus. Gut, ich würde mich schon irgendwie zurechtfinden.
Ich fuhr den Weg entlang und parkte vor dem Wohnwagen von Onkel Toni. Wobei Wohnwagen die Untertreibung des Jahrhunderts war. Zugegeben, ich war lange nicht hier gewesen. Aber statt einem herkömmlichen Wohnwagen stand eine Art eingeschossige Holzhütte hinter einem riesigen Vorzelt. Hier würde es sich wohl ein paar Tage aushalten lassen.
Ich stellte den Motor ab und stieg aus. Der Wind war eiskalt und der Nieselregen noch unangenehmer als in Köln. Vielleicht war es doch keine so gute Idee gewesen, im Februar hierher zu kommen. 'Es ist schon fast März!', hörte ich mich trotzig zu Lisa sagen.
Bevor ich mich ans Ausladen machte, inspizierte ich mein Feriendomizil. Im Vorzelt stand eine Sitzgruppe um einen großen Tisch herum neben einem ausladenden Grill.
Neugierig schloss ich die Tür zum Wohnwagen auf. Offensichtlich handelte es sich eher um ein Mobile Home, das sich nicht mehr wegfahren ließ. Das musste Onkel Toni in den letzten Jahren gegen den klapprigen Wohnwagen getauscht haben, der früher hier gestanden hatte. Im Inneren erwarteten mich eine Art Sofa mit Couchtisch und Fernseher, eine Küchenzeile, ein gemütlich aussehendes Doppelbett und ein kleines Bad mit WC und Dusche. Alles war tip-top in Schuss, wirkte aber durch die dunklen Farben etwas altbacken.
Allerdings war es eiskalt. Hoffentlich würde ich herausfinden, wie es warm wurde. Als erstes wollte ich jedoch meine Sachen aus dem Auto holen, um später nicht noch einmal in das ungemütliche Wetter hinaus zu müssen. Gesagt, getan.
Anschließend suchte ich nach dem Zettel, auf den mir Onkel Toni geschrieben hatte, wie ich die Heizung in Gang brachte. Im Grunde konnte ich zwar nichts lesen, aber in Kombination mit dem, was von seinem Redeschwall hängen geblieben war, und den Gegebenheiten vor Ort, schaffte ich es, das Rätsel zu lösen. Während ich bibbernd meine Sachen auspackte, wurde es langsam wärmer.
Glücklicherweise hatte ich mir einige Grundnahrungsmittel mitgenommen, sodass ein Einkauf heute nicht mehr notwendig war. Darum würde ich mich morgen kümmern. Inzwischen schüttete es nämlich wie aus Eimern und der Wind rüttelte kräftig am Vorzelt. Mein Bedürfnis, meine Behausung noch einmal zu verlassen, hielt sich deshalb stark in Grenzen. Gut, dass es ein voll eingerichtetes, funktionsfähiges Bad im Wohnwagen gab. Das war früher nicht so gewesen. Damals hatte man bei jedem Wetter zum Waschhäuschen laufen müssen.
Obwohl es noch recht früh am Nachmittag war, war es fast schon dunkel. Nachdem ich herausgefunden hatte, wie der Herd funktioniert, kochte ich mir einen Kaffee und ließ mich auf dem Bett nieder. Eigentlich wollte ich lesen, aber meine Konzentration war nicht die Beste. Dankbar für die Ablenkung griff ich daher nach meinem Smartphone, als es klingelte. Leider war es Tom. Ich kämpfte mit mir, nahm das Gespräch dann aber doch an. Vermutlich wollte er klären, wann er seine restlichen Samstag abholen konnte. Gut, dass ich das mit Lisa schon besprochen hatte.
"Was?", fragte ich statt einer Begrüßung bissig.
"Juli, Süße", säuselte er. Ich unterdrückte den sich automatisch einstellenden Brechreiz.
"Vergiss es!", fuhr ich ihn an. "Ich bin nicht mehr deine Süße!"
"Okay, okay", beschwichtigte er. Ich konnte mir problemlos vorstellen, wie er mit der freien Hand dazu gestikulierte. "Ich wollte fragen, wann du am Wochenende zu Hause bist."
"Gar nicht", triumphierte ich, während ich aus dem Fenster auf meinen Corsa schaute, der wie ein begossener Pudel im strömenden Regen stand. Hoffentlich hatte ich das Fenster wieder zugemacht. "Lisa erwartet dich am Samstag um zehn Uhr in meiner Wohnung. Sei pünktlich, sonst wirft sie deinen Scheiß auf die Straße."
Bevor er antworten konnte, drückte ich das Gespräch weg. Das war dann also erledigt. Ich schickte Lisa eine Sprachnachricht, um ihr mitzuteilen, dass ich Tom die vereinbarte Uhrzeit durchgegeben hatte. Bei der Gelegenheit jammerte ich gleich noch ein bisschen übers Wetter. Einsam war ich auch, aber das behielt ich lieber für mich. Immerhin war ich freiwillig hergefahren.
Später kochte ich mir Nudeln mit Tomatensoße und öffnete mir ein Bier aus Onkel Tonis Vorrat. Ich würde es später ersetzen. Es fühlte sich dekadent an, unter der Woche Bier zu trinken. Aber es war Donnerstag und damit ja im Grunde fast Wochenende. Das Alleinsein nagte an mir. Vielleicht hätte ich Lisa fragen sollen, ob sie mitkommen wollte. Aber das hätte sie in eine Zwickmühle gebracht und das wollte ich nicht. Sie musste arbeiten und ihre Lebensgefährtin Rike brauchte sie auch gerade. Die hatte sich nämlich am Montag den linken Fuß gebrochen und kam allein nicht so richtig gut zurecht.
Im Gegensatz zu mir. Ich war nur traurig, weil Tom ein Idiot war. Und allein war ich deshalb jetzt auch. Wobei Alleinsein und Einsamsein zwei völlig unterschiedliche Sachen waren. Theoretisch. Allein war man, wenn eben sonst niemand da war, aber Einsamkeit war ein trauriges Gefühl weit darüber hinaus. Gerade war ich allein und einsam. Falls das Wetter morgen besser war, würde ich ins Dorf radeln und mich in einen Strandpavillon setzen. Innerlich zeigte ich mir einen Vogel. Strandpavillon im Februar. Ich würde erfrieren.
Vielleicht könnte ich auch versuchen, Chrissi kennenzulernen. Aus irgendeinem Grund ging ich inzwischen nicht mehr davon aus, dass es sich bei Chrissi um ein Haustier handelte, sondern um einen Menschen. Womöglich war das eine passable Ablenkung von mir selbst und meiner Grübelei. Hoffentlich war Chrissi eine junge Frau wie ich, die auch von Männern die Schnauze voll hatte.
Der nächste Morgen begrüßte mich mit strahlendem Sonnenschein. Wobei Morgen nicht ganz korrekt war. Ich wachte erst gegen elf Uhr auf und konnte mir beim besten Willen nicht erklären, wie ich so lange geschlafen hatte. Ich kämpfte mich aus dem Bett und kochte mir erst einmal einen starken Kaffee. Dazu füllte ich Müsli in eine Schale und übergoss sie mit Hafermilch. Okay, Hafermilchalternative. Aber wer würde da am frühen Mittag schon kleinlich sein?
Während ich das Müsli löffelte und an meinem Kaffee nippte, beobachtete ich den Ausschnitt des Campingplatzes, den ich vom Fenster aus sehen konnte. Platzwart Piet schien mit irgendwelchen Ausbesserungsarbeiten beschäftigt zu sein. Ich sah ihn immer wieder ins Bild laufen, herumhantieren und kurze Zeit später wieder verschwinden.
Nachdem ich gefrühstückt hatte, stellte ich mein Geschirr zu dem restlichen dreckigen Geschirr vom Vorabend auf die Küchenzeile. Darum würde ich mich später kümmern. Mein nächster Weg führte mich ins Bad. Ein vorsichtiger Blick in den Spiegel ergab, dass die Augenringe etwas heller geworden waren. Erstaunlich, was Schlaf alles bewirken konnte.
Anschließend zog ich mich warm an. Ich wollte nach Onkel Tonis Fahrrad schauen, um meinen Plan in die Tat umsetzen zu können und ins Dorf zu radeln.
Das Fahrrad fand ich tatsächlich im Vorzelt hinter dem monströsen Grill unter einer weiteren Abdeckung. Deshalb war es mir gestern also nicht aufgefallen. Ich zog die Plane herunter und verstaute sie ordentlich zusammengelegt in der Truhe mit den Sitzauflagen für die Vorzeltstühle. Wer hätte gedacht, dass ich so schnell spießig werden würde, nur weil ich auf einem Campingplatz war?
Das Fahrrad schien noch ausreichend Luft in den Reifen zu haben. Ich holte meinen Rucksack, verschloss die Tür zum Wohnwagen und schob das Fahrrad aus dem Vorzelt nach draußen.
Die Sonne blendete, aber es war arschkalt. Am Wohnwagen gegenüber war eine dick eingemummelte Gestalt damit beschäftigt, Laternen aufzustellen. Das musste Chrissi sein. Leider sah ich sie nur von hinten. Irgendwie hatte ich aber das Gefühl, mein Wunsch nach einer Freundin vor Ort war erhört worden. Vielleicht würde ich nachher mal bei ihr klopfen. Im Moment konnte ich mich aber nicht dazu aufraffen, sie zu stören und beschloss, mich erst einmal um meinen Einkauf zu kümmern.
Ich schwang mich aufs Rad und setzte mich in Bewegung. Handschuhe wären schlau gewesen, aber daran hatte ich natürlich nicht gedacht und keine Lust umzudrehen. Während der kurzen Fahrt versuchte ich, die Jackenärmel so weit es ging über die Hände zu ziehen. Leider mit eher mäßigem Erfolg.
Durchgefroren und mit eisigen Fingern erreichte ich nach wenigen Minuten das Ortsschild von Westkapelle. Ich konnte den Panzer auf dem Deich sehen und in einiger Entfernung die Hauptstraße runter stand der Leuchtturm, der nach meiner Erinnerung zur Geschichte des Ortes früher eine Kirche gewesen war. Der rot-weiße Leuchtturm am Strand lag in die andere Richtung, also von meinem Campingplatz aus in Richtung Domburg. Erinnerungen an früher machten sich in mir breit. Es sah alles vertraut aus und ich spürte eine tiefe Traurigkeit, dass ich so lange nicht hier gewesen war.
Die Fischbude und die Pommesbude unterhalb vom Panzer waren bereits geöffnet, aber kaum besucht. Den Leuten war es wohl einfach zu kalt, um draußen zu essen. Ich würde mir vielleicht auf dem Rückweg etwas holen und mit zum Campingplatz nehmen.
Zunächst fuhr ich aber zum Bäcker und anschließend zum kleinen Supermarkt im Ort, um mich mit einigen frischen Lebensmitteln einzudecken. Es war zwar Freitag und damit nach Onkel Tonis Informationen eigentlich Markttag in Westkapelle, aber heute standen keine Stände auf dem Marktplatz, wie ich schon von Weitem festgestellt hatte. Vielleicht fand der Markt ja im Winter nicht statt oder ich war einfach zu spät dran.
Ich brauchte ewig für meinen Einkauf, weil ich so lange zwischen den vielen unbekannten Produkten herumstöberte, die seit meinem letzten Besuch vor gefühlt hundert Jahren Einzug in den Supermarkt gehalten hatten. Einige von ihnen fanden auch den Weg in meinen Einkaufswagen. An der Kasse fragte ich mich, wie ich das alles eigentlich transportieren wollte, denn in meinen Rucksack passte es nicht. Ich kaufte mir noch zwei Tüten dazu, die ich wohl an den Lenker hängen musste. Am Fahrrad stellte ich erfreut fest, dass Onkel Toni so eine Art Packtaschen am Gepäckträger hatte, in denen sich alles prima verstauen ließ. Perfekt. Ein wenig wunderte ich mich, dass mir diese bei der Inspizierung des Fahrrads nicht aufgefallen waren, aber so schusselig wie ich in letzter Zeit war, kam es darauf irgendwie auch nicht mehr an.
Den Besuch an Fisch- und Pommesbude verschob ich aber dann doch lieber. Das Essen hätte ich sonst wohl auf dem Kopf balancieren müssen. Seltsam erheitert über diesen Gedanken radelte ich zurück zum Campingplatz.
Weder Piet noch Chrissi waren irgendwo zu sehen, weshalb ich direkt zu Onkel Tonis Wohnwagen fuhr und das Fahrrad ins Vorzelt schob. Ich packte alles aus und verstaute die Einkäufe anschließend im Kühl- beziehungsweise Küchenschrank. Zum späten Mittagessen, nachdem meine eisigen Hände wieder aufgetaut waren, gab es Brot und Käse. Ich liebte niederländischen Käse und war erstaunt, wie sehr mir der Geschmack gefehlt hatte. Richtig original schmeckten Urlaubserinnerungen eben nur am Urlaubsort.
Nach dem Essen haderte ich eine Weile mit mir, was ich mit dem angebrochenen Tag anfangen sollte. Es war Freitag, fühlte sich aber überhaupt nicht so an, wobei ich mir auch nicht sicher war, wie sich ein Freitag anfühlen müsste.
Schließlich machte ich mich zu Fuß auf den Weg zum ‘kleinen’ Leuchtturm, wie wir den rot-weißen Leuchtturm am Strand früher immer genannt hatten. Diesmal hatte ich an Handschuhe gedacht. Ich zog mir die Mütze fest über die Ohren und setzte zusätzlich die Kapuze auf, als ich den Deich hinauf lief. Der Wind war eiskalt. Der Blick aufs Meer entschädigte mich allerdings für alles. Durch den kräftigen Wind wirkte es aufgewühlt, glitzerte aber gleichzeitig in der Sonne. Weit draußen konnte man ein großes Containerschiff sehen, das vermutlich durch die Westerschelde nach Antwerpen unterwegs war.
Unwillkürlich musste ich daran denken, wie ich als Kind mit meinen Eltern hier auf dem Deich gestanden und den Schiffen hinterher gesehen hatte. Damals, als alles noch in Ordnung gewesen war. Oder vielleicht auch nur für mich als Kind in Ordnung gewirkt hatte. Wir waren mehrere Jahre infolge zusammen hier gewesen, bevor sich meine Eltern getrennt hatten. Damals war ich in der zweiten Klasse gewesen. In den folgenden Sommern war ich mit meiner Mutter hergekommen, später nur mit Onkel Toni, Mamas Bruder. Mama hatte arbeiten müssen, damit wir über die Runden kamen. Mein Vater hatte wenig bis keinen Unterhalt gezahlt und irgendwann eine neue Familie gegründet und weitere Kinder mit seiner neuen Frau bekommen. Meine Halbgeschwister kannte ich kaum, was mich manchmal schwer beschäftigte und manchmal nicht. Es war kompliziert, wie scheinbar gerade alles in meinem Leben.
Ich schüttelte mich, um die trüben Gedanken zu verdrängen. Trotz der Scheidung meiner Eltern hatte ich eine schöne Kindheit gehabt und die Sommer in Westkapelle gehörten zu den besonders schönen Erinnerungen dazu.
Inzwischen hatte ich den kleinen Leuchtturm erreicht. Bisher hatte ich eher selten das Bedürfnis verspürt, ein Gebäude zu umarmen, aber bei diesem Leuchtturm konnte ich mir fast vorstellen, eine Ausnahme zu machen. Schüchtern grüßte ich und fragte vorsichtig, ob er mich wiedererkannte. Meine Angewohnheit, mit Gegenständen und Gebäuden zu sprechen, fanden andere oft befremdlich. Für mich hatte es etwas Beruhigendes an sich.
Eine Weile stand ich auf dem Deich, schaute auf den Leuchtturm und aufs Meer und spürte, wie der Wind meine Gedanken durcheinander wirbelte. Ein paar davon durfte er gerne mitnehmen. Da hing ich nicht dran. Später konnte ich nicht sagen, ob es am eisigen Wind gelegen hatte oder ob ich einfach beim Anblick der Nordsee und des Leuchtturms ein wenig sentimental geworden war, jedenfalls füllten sich meine Augen mit Tränen. Egal, wie sehr ich blinzelte, es war nichts zu machen. Schließlich gab ich nach, schrie meinen Frust dem Meer zu und heulte wie ein Schlosshund. Irgendwann musste das ja passieren.
Als ich mich umdrehte, um zurück zum Campingplatz zu gehen, stieß ich mit einer Person zusammen. Es war nur ein kleiner bärtiger Ausschnitt vom Kopf zu sehen, der Rest verschwand in der riesigen Kapuze eines dunkelblauen Parkas.
"Aber sonst geht's gut?", fragte der Parka auf Deutsch.
"Ja… Äh… Klar", stammelte ich. "Sorry." Eilig schob ich mich an ihm vorbei. Wie peinlich. Zum Glück kannte mich hier niemand. Ich fummelte ein Taschentuch aus meiner Jackentasche und wischte mir über die Augen. Genug geheult für heute.
Auf dem Mini-Campingplatz war es ruhig. Ich schielte zu Chrissis Wohnwagen hinüber, konnte aber kein Lebenszeichen entdecken. Vermutlich war sie nicht da. Es war wahrscheinlich eh besser, jetzt nicht bei Fremden zu klopfen. Nach meiner Heulattacke am Leuchtturm sah ich sicherlich entsprechend verquollen aus.
Im Wohnwagen war es frisch geworden. Ich drehte die Heizung höher und kochte mir einen Tee. Mit der Tasse setzte ich mich anschließend auf die kleine Couch. Mein Handy zeigte einige Nachrichten an, die ich vorsichtig öffnete. Nichts von Tom. Ich atmete auf. Lisa erkundigte sich, ob ich schon erfroren war. Und Mama hatte geschrieben. Onkel Toni hatte ihr scheinbar gesteckt, wo ich war. Und warum. Plötzlich kam ich mir reichlich blöd vor, dass ich Hals über Kopf abgehauen war, aber noch nicht mit meiner Mutter über das Chaos gesprochen hatte, das mich im Laufe der letzten Tage ereilt hatte. Kurzerhand rief ich sie an.
"Julchen", sagte sie und meine Beherrschung war wie weggeblasen. Meine Mutter war die einzige Person, die mich Julchen nannte. Bei allen anderen hatte sich Juli eingebürgert. Mit vollem Namen hieß ich Juliane, hatte aber als Kind bei der Vorstellung immer bei Juli aufgehört. Ich vermutete, manche Menschen glaubten bis heute, dass ich tatsächlich Juli hieß.
"Ach, Mama", schluchzte ich. Hatte ich nicht vorhin beschlossen, dass ich für heute genug geheult hatte?
"Meine Kleine, was ist denn da los bei dir? Und warum muss ich das von Onkel Toni erfahren?" Ihre Stimme klang liebevoll-streng und im Moment wünschte ich mir nichts sehnlicher, als mich in ihre Arme zu kuscheln und zu hören, dass alles gut werden würde.
"Tut mir leid", murmelte ich. "Mir ist das alles irgendwie über den Kopf gewachsen, da musste ich raus aus Köln."
"Verstehe. Westkapelle also", sagte sie liebevoll. "Da wäre ich auch hingefahren." Wir schwiegen für einen Moment, dann fragte sie: "Aber ist es nicht saukalt?"
"Draußen schon", lachte ich, während ich die Tränen wegwischte. "Im Wohnwagen geht's. Wusstest du, dass Onkel Toni einen neuen hat?"
"Ja, das hat er mal erzählt", bestätigte Mama. "Gesehen hab ich ihn aber noch nicht. Schickmir doch mal ein paar Fotos. Wie geht es jetzt weiter bei dir?"
"Keine Ahnung ", antwortete ich wahrheitsgemäß. "Ich bin gerade so frustriert. Ich habe nichts falsch gemacht und bin sowohl Tom als auch meinen Job los."
"Das ist wirklich ungerecht und großer Mist. Aber du findest ganz sicher schnell einen neuen Job, immerhin hast du eine gute Ausbildung. Hast du dich schon beim Arbeitsamt gemeldet?", sprach sie fürsorglich weiter.
"Nee, muss ich?" Damit hatte ich mich tatsächlich noch gar nicht beschäftigt. Mist.
"Ja, musst du. Und zwar möglichst schnell!", erklärte sie.
"Okay, ich kümmere mich drum, sobald ich aufgelegt habe. Was für eine Scheiße das alles ist!"
"Et hätt noch immer jot jejange", sagte Mama auf Kölsch. "Was ist mit Tom?” Ich wusste, dass meine Mutter noch nie ein großer Fan von ihm gewesen war. Sie hatte nichts gesagt, aber ihre Art ihm gegenüber war einfach nicht so herzlich wie normalerweise anderen Menschen gegenüber.