Schwabenklüngel - Elke Eike - E-Book

Schwabenklüngel E-Book

Elke Eike

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Beschreibung

Als Leonie eines Abends nach Hause kommt, stellt sie überrascht fest, dass ihr Ehemann Miguel noch nicht da ist. Was auf den ersten Blick harmlos scheint, ist tatsächlich alles andere als das. Denn Miguel ist äußerst zuverlässig und würde sie doch nicht am Jahrestag ihrer Verlobung versetzen, oder? Getrieben von ihrer Sorge um ihn macht sie sich schließlich auf eigene Faust auf die Suche, jedoch erfolglos. Für Leonie bricht eine Welt zusammen, als Miguel am nächsten Morgen tot aufgefunden wird. Völlig unvorbereitet gerät sie in einen Strudel aus Lügen und Vertuschung, der auch für sie selbst sehr gefährlich werden könnte.

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Seitenzahl: 253

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Schwabenklüngel

Ein Stuttgart-Krimi

Leonie Pionet Teil 1

von Elke Eike

Texte:

© Copyright by Elke Eike

Umschlaggestaltung:

© Copyright by Elke Eike

2. Auflage August 2022

Verlag:Elke EikeMillöckerstraße 570195 [email protected]://littleblueadventures.travel.blog/

Vertrieb:epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin

Diese Reihe besteht aus folgenden Büchern:

Schwabenklüngel – Leonie Pionet Teil 1

Bi-Ba-Butzele – Leonie Pionet Teil 2

Good to know

In diesem Buch kommen drei eher lokal verwendete Begriffe vor, die vielleicht nicht jeder Leserin und jedem Leser bekannt sind. Diese möchte ich kurz erklären:

Neigschmeckte: Schwäbisch für Zugezogene

Stäffele: Schwäbisch für Freilufttreppen

Klüngel: Überwiegend im Rheinland benutzter Ausdruck für eine Gruppe von Personen, die sich gegenseitig Vorteile verschafft, wird auch oft als Vetternwirtschaft bezeichnet.

Außerdem sei mir der Hinweis gestattet, dass ich nicht gegendert habe, da dies den Lesefluss erheblich beeinträchtigen würde. Sofern nur die männliche Form verwendet wird, sollen alle Geschlechtsidentitäten mitgemeint sein.

Und jetzt geht`s endlich los!

Schwabenklüngel

Good to know

Intro

1

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5

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7

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Epilog

Danksagung

Über die Autorin

Über dieses Buch

Intro

Es ist besser, etwas gehabt

und wieder verloren zu haben,

als es nie gehabt zu haben.

(aus Wales)

Mittwoch

"Aber ich warte schon seit zwei Stunden!" Leonies Stimme klang schrill und hysterisch, sogar in ihren eigenen Ohren.

"Jetzt beruhige dich erstmal und atme tief durch. Wahrscheinlich macht er nur Überstunden und kommt gleich." Ihre Mutter Margret war bemüht, sie durch die Telefonleitung zu beruhigen. Bisher mit wenig Erfolg.

Ohne auf den Kommentar ihrer Mutter einzugehen, sprach Leonie weiter: "In der Firma habe ich auch schon angerufen, aber da ist keiner mehr. Außerdem hat er schon seit Wochen keine Überstunden mehr gemacht. Sein Chef weiß das sowieso nicht zu schätzen. Ans Handy geht er auch nicht und bisher hat er keine meiner Nachrichten gelesen."

Leonie machte eine kurze Pause, dann stand ihr Entschluss fest: "Ich werde die Polizei anrufen!"

Bevor Margret etwas erwidern konnte, legte Leonie auf.

Irgendwie hatte ihre Mutter zwar recht, aber Leonie ertrug diesen Tonfall einfach nicht. "Schätzchen, bleib ruhig. Ich koch' dir jetzt einen Kakao und morgen früh sieht die Welt schon wieder ganz anders aus". Wie früher. Aber es war eben nicht mehr so wie früher. SIE war nicht mehr so wie früher.

Leonie war inzwischen erwachsen, 25 Jahre alt und verheiratet. Mit ihrem Mann Miguel wohnte sie seit etwa fünf Jahren in einer 2-Zimmer-Wohnung in Stuttgart-Botnang. Sie war extra auf die andere Seite der Stadt gezogen, damit ihre Mutter nicht ständig in ihr Leben reinreden konnte. Eigentlich hatte sie ein inniges Verhältnis zu ihrer Mutter, aber ihre Angewohnheit, sich in alles einzumischen, was Leonie betraf, ging ihr mitunter ganz schön auf die Nerven.

Leonie war ein Einzelkind, das von Anfang an den Mittelpunkt von Margrets Leben gebildet hatte, und sie konnte sich noch immer nur schwer zurückhalten. Leonie wusste, dass ihre Mutter sich mit 16 Jahren Hals über Kopf in einen gutaussehenden Typen namens Thomas verliebt hatte und anfangs auch alles sehr schön gewesen war. Dann war ihre Mutter jedoch ungeplant schwanger geworden und kurz nach Leonies Geburt hatte sich Thomas aus der Verantwortung gestohlen. Er war nie wieder aufgetaucht. Ihre Mutter, die bei Leonies Geburt gerade mal 19 gewesen war, hatte immer damit gehadert, dass sie keinen besseren Vater für Leonie gefunden hatte. Deshalb hatte sie stets versucht, die Abwesenheit eines Vaters durch ihre doppelte Aufmerksamkeit Leonie gegenüber zu kompensieren.

Seit der Hochzeit vor drei Jahren hatte es mit dem Abstand zu ihrer Mutter eigentlich ganz gut funktioniert, aber heute Abend hatte Leonie einfach die Nerven verloren und sie angerufen, um ihren Sorgen Luft zu machen. Leider war ihre Mutter ihr keine große Hilfe gewesen, denn sie hatte den Ernst der Lage offensichtlich nicht verstanden.

Miguel hatte vor etwa vier Stunden Feierabend gehabt. Mittwochs war in seiner Firma traditionell ein kurzer Tag. Im Grunde so wie in anderen Firmen freitags. Den frühen Feierabend gegen 15 Uhr nutzte Miguel gerne, um zumindest an einem Tag der Woche vor Leonie zu Hause zu sein. Häufig kümmerte er sich um die Wäsche, saugte Staub und bereitete das Abendessen vor. Selbst wenn er an diesem Mittwoch ausnahmsweise etwas länger als für einen Mittwoch üblich gearbeitet hätte und der Berufsverkehr besonders dicht gewesen wäre, hätte er schon seit mindestens zwei bis drei Stunden zu Hause sein müssen. Am Morgen hatte Leonie schon vor Miguel die Wohnung verlassen, da sie einen wichtigen Termin gehabt hatte. Als sie gegen 17 Uhr, also vor etwa zwei Stunden, heimgekommen war, hatte sie sich sehr auf den gemeinsamen Abend gefreut. Doch die Wohnung war verwaist, als sie durch die Tür kam. Sie hatte natürlich überall nachgeschaut, aber allzu viele Möglichkeiten, wo Miguel sein konnte, gab es in ihrer kleinen Wohnung nicht. Bis zu dem Telefonat mit ihrer Mutter war sie beunruhigt durch die Räume getigert und hatte immer wieder versucht, Kontakt zu Miguel aufzunehmen. Er war bisher immer zuverlässig gewesen und hatte ihr jedes Mal Bescheid gesagt, wenn er später kam. Einfach nicht da zu sein und sich nicht zu melden, passte überhaupt nicht zu ihm.

Schließlich setzte Leonie sich an den Küchentisch und zündete sich eine von Miguels Zigaretten aus der Notreserve im Küchenschrank an. Eigentlich hatte sie schon vor längerer Zeit mit dem Rauchen aufgehört, aber in einer solchen Situation war wohl eine Ausnahme erlaubt. Dass Miguel immer noch rauchte, nervte sie ein bisschen, denn es erschwerte es für sie selbst, standhaft zu bleiben.

Rauchwolken schwebten durch die kleine Küche, die einfach, aber modern eingerichtet war. Neben der Küchenzeile mit Herd und Spülbecken gab es einen Küchentisch mit zwei Stühlen. Im Spülbecken stapelte sich noch das Geschirr vom Vorabend, das Miguel normalerweise im Laufe des Nachmittags schon abgespült hätte. Die Mietwohnung besaß keinen Geschirrspüler und sie hatten gestern Abend keine Lust mehr gehabt, die Küche aufzuräumen. Leonie saß auf ihrem gewohnten Platz mit Blick zum Fenster, schaute der Bewegung der Rauchkringel zu und dachte nach.

Was sollte sie der Polizei sagen? "Mein Mann ist von der Arbeit noch nicht nach Hause gekommen?!" Die würden sie doch mit Sicherheit auslachen. Immerhin wurde er gerade mal seit zwei Stunden von ihr vermisst. Und dass ein erwachsener, berufstätiger Mann an einem Mittwoch um 17 Uhr noch nicht zu Hause war, war für die meisten Menschen sicher nicht ungewöhnlich. Inzwischen war es zwar schon weit nach 19 Uhr, aber auch das würde die Polizei vermutlich noch nicht als kritisch ansehen. Außerdem meinte sie, mal gehört zu haben, dass jemand mindestens 24 Stunden verschwunden sein musste, bevor man ihn als vermisst melden konnte. Mit verbitterter Miene schaute sie aus dem Küchenfenster. Das sonst so schöne weiche Gesicht war angespannt und blass. Ihre blauen Augen wirkten glanzlos und ihre rotblonden Locken kringelten sich unordentlich um ihr Gesicht. Sie schnitt ihrem Spiegelbild in der Fensterscheibe eine Grimasse, doch auch das konnte sie nicht von der aktuellen Situation ablenken.

Irgendetwas musste sie doch tun können. Nur was? Dummerweise hatte sie keinerlei Telefonnummern von Miguels Kollegen oder seinem Chef, sodass sie von denen niemanden fragen konnte. Andererseits konnte sie sich auch nicht vorstellen, dass Miguel mit einem von ihnen nach Feierabend noch etwas unternommen hatte. Soweit sie wusste, hatte er keine engeren Beziehungen zu seinen Kollegen, die über das Übliche hinausgingen. Leonie kannte zwar einige vom Sehen, insbesondere von früheren Veranstaltungen und Miguels Geburtstagsparty vor knapp zwei Wochen, aber von den meisten wusste sie gerade einmal den Vornamen – wenn überhaupt.

In Gedanken ging sie daher seine und die gemeinsamen Freunde durch, konnte sich aber keinen Grund vorstellen, warum er einen von ihnen hätte besuchen sollen, ohne ihr Bescheid zu sagen. Vor allem heute. An diesem Tag vor vier Jahren hatten sie sich verlobt. Heute war somit ein besonderer Tag. Sie legten beide Wert auf solche Dinge und hatten sich mit leckerer Pasta und einem schönen Wein einen gemütlichen Abend zu zweit machen wollen. Leonie hatte sich vorgenommen, mit Miguel über die Zukunft zu sprechen und über die Frage, ob sie vielleicht so langsam mit der Familienplanung beginnen sollten. Passen würde es nun eigentlich.

Als Leonie 17 gewesen war, war sie mit Miguel zusammengekommen. Leonies Mutter und auch einige von Leonies Freundinnen hatten anfangs die Befürchtung geäußert, dass es der quirligen Leonie mit dem eher bodenständigen Miguel schnell langweilig werden könnte, aber sie hatten sich zum Glück alle geirrt. Die beiden waren von Anfang an ein Herz und eine Seele und daran hatte sich auch im Laufe der Jahre nichts geändert.

Miguel war schon damals ein intelligenter, zuvorkommender und gutaussehender junger Mann gewesen. Er hatte sie sprichwörtlich auf Händen getragen und ihre Mutter hatte ihn vom ersten Moment an gemocht. Seither hatte sie immer wieder betont, wie froh sie war, dass ihre Tochter so einen guten Fang gemacht hatte und nicht an solch einen Hallodri geraten war wie selbst.

Leonie dachte ein wenig wehmütig an die vielen gemeinsamen Urlaube, die sie mit Miguel im Laufe der Jahre verbracht hatte. Sie hatten schon viele Orte in Europa bereist, insbesondere auch die Heimatstädte seiner Eltern in Frankreich und Spanien, hatten aber auch weite Reisen nach Amerika und Thailand unternommen. Selbst der Alltag mit Miguel war schön, was nicht bei allen Paaren, die Leonie kannte, der Fall war. Oft kam es im Alltagstrubel zu Unaufmerksamkeiten und unnötigen Streitereien, was schnell eskalieren konnte. Bei Miguel und ihr hatte es diese Probleme bisher nie gegeben.

Ob er eine Andere hatte? Der Gedanke war plötzlich einfach da, drängte sich ihr regelrecht auf und verdunkelte ihren Blick. Aber nein, das konnte nicht sein. Nicht ihr Miguel, das war absurd. Basta.

Auch wenn sie den Gedanken am liebsten sofort verwerfen wollte, dachte sie schließlich doch darüber nach. Sie versuchte sich zu erinnern, ob ihr in den letzten Wochen irgendwelche Veränderungen an Miguel entgangen waren, die vielleicht den Schluss darauf zuließen, dass er eine Affäre hatte. Während sie verschiedene Situationen Revue passieren ließ, kam sie zu der Erkenntnis, dass das nicht sein konnte. Er war ihr gegenüber genauso liebevoll wie immer gewesen. Seit einigen Monaten hatte er sogar weniger Überstunden gemacht und war deshalb fast jeden Abend zu Hause gewesen oder hatte etwas mit ihr unternommen. Ihre Freundinnen machten sich teilweise darüber lustig, dass Miguel so an ihr hing, aber Leonie hatte das nie als Belastung oder störend empfunden. Im Gegenteil, sie genoss auch nach den vielen gemeinsamen Jahren jeden Moment mit ihm. Nach gründlicher Überlegung verwarf sie diese Möglichkeit. Nein, dass Miguel sich mit einer anderen Frau getroffen hatte, hielt Leonie für vollkommen unwahrscheinlich.

Schließlich beschloss sie, die engsten Freunde durchzutelefonieren. Irgendwo musste er doch sein. Vielleicht hatte jemand dringend Hilfe gebraucht und Miguel hatte in der Eile vergessen, ihr Bescheid zu sagen?

Ungefähr zehnmal wählte sie und im immer gleichen, aufgesetzt ruhigen Ton sagte sie: "Hi, ich bin's. Leonie. Ist Miguel bei dir? Nein. Na gut. Kein Problem. Mach`s gut."

Sie wollte lieber keine Fragen zulassen, um keine Erklärungen abgeben zu müssen, die sie selbst nicht hatte. Sie brauchte jetzt auch kein aufgesetztes Mitleid und wollte ebenso wenig, dass sich noch mehr Menschen Sorgen um ihn machten. Vermutlich würde sich ohnehin bald alles aufklären. Eigentlich war ihr auch von vornherein klar gewesen, dass er bei keinem von ihnen sein würde, denn er hätte mit Sicherheit zumindest eine kurze Nachricht geschickt und ihr Bescheid gesagt. Es war einfach nicht seine Art, wortlos zu verschwinden. Sie wollte aber auch nichts unversucht lassen.

Gegen Viertel vor neun Uhr abends – Miguel hatte unter normalen Umständen vor fast sechs Stunden Feierabend gehabt – entschloss sich Leonie, ihn zu suchen. Die Frage war nur, wo sie anfangen sollte. Sie entschied sich, erstmal zu seinem Büro zu fahren, dann würde sie weitersehen. Vielleicht saß er wirklich noch hinter seinem Schreibtisch, arbeitete und hatte die Zeit vergessen. Sie wusste selbst, dass die Wahrscheinlichkeit für dieses Szenario ziemlich gering war, aber sie wollte nicht über die deutlich schlechteren Alternativen nachdenken.

Leonie suchte Zettel und Stift aus einer Schublade und schrieb Miguel schnell eine Notiz, für den Fall, dass er in der Zwischenzeit heimkommen würde. Sie legte den Zettel mittig auf den Küchentisch, sodass er ihm auch auf jeden Fall ins Auge fallen würde:

Hallo Mig!

ich hab mir Sorgen gemacht, weil du noch nicht da warst und ich dachte, ich schau mal, wo du steckst. Ruf mich auf dem Handy an, wenn du das liest.

Kuss, Nelly

Draußen war es noch hell und angenehm warm. Sie schaute sich auf der Straße um, ob irgendwo sein Dienstwagen stand, aber sie konnte den relativ neuen dunkelblauen VW Passat mit dem Logo der Firma FNT-Logistik nirgends entdecken.

Im kleinen Park hinter dem Haus herrschte eine merkwürdig angespannte Stimmung, die offensichtlich von ihr ausging. Die Jugendlichen, die auf der Bank am Ende der Grünfläche saßen, beobachteten sie misstrauisch, sodass sie automatisch schneller ging und zu Boden sah. Der Versuch, gelassen und unauffällig zu wirken, misslang ihr so auf jeden Fall. Aber sie konnte sich nicht zusammenreißen oder wenigstens dazu zwingen, langsamer zu gehen. Mittlerweile hatte sie es so eilig, zu Miguels Büro zu kommen, dass sie schon fast rannte.

Die U-Bahn-Station war vollkommen leer, was sicher an der Uhrzeit lag, und Leonie fröstelte leicht, obwohl es immer noch sehr warm war. Sie musste am Rotebühlplatz in die S-Bahn umsteigen, stand aber bald wieder in der Stuttgarter Abendluft unweit von dem Bürogebäude in Weilimdorf, in dem Miguel arbeitete.

Schon von Weitem sah sie, dass kein Licht mehr brannte, was im Grunde zu erwarten gewesen war. Sorgfältig ließ sie ihren Blick über sämtliche Fenster schweifen, aber es war wirklich alles dunkel. Sie überlegte schon, ob sie nicht doch wieder zurückfahren sollte, als sich ein Gefühl in ihr breitmachte, dass sich nicht mehr so einfach verdrängen ließ. Was, wenn ihm etwas passiert war und er allein – vielleicht verletzt, vielleicht bewusstlos – in seinem Büro lag? Bis morgen Früh jemand auf die Idee kam, nach ihm zu sehen, war es sicher schon zu spät.

Da sie in dem Bürogebäude früher schon einige Male gewesen war, um Miguel von der Arbeit abzuholen, war sie ziemlich sicher, dass es keine Alarmanlage gab. Bei dem Haus handelte sich um ein mehrstöckiges Gebäude, in dem viele Firmen Büros angemietet hatten. Ein typisches Geschäftshaus eben.

Leonie war schon immer neugierig gewesen und bereits als Kind (wenn ihre Mutter nicht in der Nähe gewesen war) und auch später als Jugendliche gerne auf Baustellen und in Abrisshäusern herumgeklettert. Sie war ganz bestimmt nicht kriminell gewesen, aber so ganz gesetzeskonform hatte sie sich vermutlich auch nicht immer verhalten. Natürlich hatte sie auch in ihrem bisherigen Leben genug Krimis gelesen und war sich dadurch sicher zu wissen, was jetzt zu tun war. Sie umrundete das Gebäude, um ihr Glück im Hinterhof, in dem sich auch die Parkplätze für Mitarbeiter und Besucher der verschiedenen Büros befanden, zu versuchen.

Während sie die Fenster auf der mittlerweile recht dunklen Rückseite des Gebäudes inspizierte, überlegte sie, welcher Anblick sie wohl oben erwarten würde. Verschiedene Szenarien spukten ihr durch den Kopf, aber keines wollte so recht passen. Als sie alle Fenster begutachtet hatte, sah sie ihre Befürchtung bestätigt, dass alle geschlossen waren. Die Fenster boten ihr also keine Möglichkeit, ins Haus zu gelangen. Eine Weile stand Leonie auf dem Parkplatz und starrte vor sich hin. Eigentlich wollte sie noch nicht aufgeben, aber sie konnte auch schlecht ein Fenster einschlagen. Das wäre dann Sachbeschädigung und Einbruch oder sowas in der Art und würde ihr ganz sicher ordentlich Ärger einbringen.

Irgendwann kam sie auf die Idee, es an der Hintertür, die zum Parkplatz führte, zu probieren. Sie drückte angespannt die Klinke herunter und zog zugleich leicht daran. Fast hätte sie vor Überraschung aufgeschrien, denn die Tür schwang problemlos in ihre Richtung auf. Sie war tatsächlich offen! Welcher Idiot…?! Aber das war ihr jetzt eigentlich egal. Sie war im Haus und nur das war wichtig.

Ins Treppenhaus fiel nur durch vereinzelte Fenster schwaches Licht von draußen und so schlich Leonie nahezu lautlos über die ziemlich dunklen Stufen nach oben. Schnell hatte sie das Büro der Firma FNT-Logistik gefunden. Es war im vierten Stock links vom Treppenhaus. Die Tür war verschlossen, was ebenfalls zu erwarten gewesen war. Trotzdem hatte Leonie bisher nicht darüber nachgedacht, was sie in diesem Fall tun sollte. Wenn sie ehrlich war, hatte sie ohnehin nicht so richtig überlegt, was sie vor Ort unternehmen konnte. Im Grunde war es eine vollkommene Schnapsidee, hier allein etwas ausrichten zu wollen.

Gedankenversunken setzte sich Leonie auf den Treppenabsatz und kramte ihr Handy hervor. Kein Anruf. Keine Nachricht. Nach wie vor waren ihre Nachrichten an Miguel ungelesen. Sie dreht das Handy unschlüssig in der Hand herum und starrte die Stufen hinab. Plötzlich hatte sie eine Idee. Wenn Miguel tatsächlich irgendwo hinter dieser Tür war, könnte es doch sein, dass sie sein Handy klingeln hörte!

Sie sprang auf, presste ihr Ohr an die Tür und wählte. Stille. Dann ertönte das Freizeichen in ihrem Ohr – und die Melodie von Miguels Handyklingelton drang leise durch die Tür. "Heaven" von Bryan Adams. Ein Song, der sehr viel Bedeutung für sie beide hatte, nicht zuletzt, weil sie diesen Song auch für ihre Trauung im Standesamt ausgesucht hatten.

Vor Schreck hätte Leonie fast das Handy fallen gelassen. Panisch drückte sie auf "Auflegen" und die Melodie verstummte. Sekundenlang stand sie wie erstarrt da, dann begann sie unkontrolliert zu zittern. Aus dem Büro drang kein Geräusch mehr.

Es fiel ihr schwer, einen klaren Gedanken zu fassen, und sie stieß hektisch die Luft ein und aus. Währenddessen versuchte sie, die Möglichkeiten im Kopf durchzugehen, und schnell stand für sie fest, dass ihr Mann niedergeschlagen hinter seinem Schreibtisch lag und ihre Hilfe brauchte. Wie wild hämmerte sie gegen die Tür, natürlich ohne Erfolg. Dann überkam sie urplötzlich die Angst. Was, wenn der Täter noch da war und sie als Nächstes angreifen würde?

Als stünde diese ominöse Person bereits neben ihr im Flur, rannte Leonie kopflos die Treppe hinunter, stürzte durch die Hintertür und stolperte auf den Parkplatz. Dort ließ sie sich schluchzend hinter dem nächstbesten Auto auf den Boden fallen, ihre Gedanken rasten. Sie versuchte sich zu beruhigen, um einen möglichen Mörder nicht auf sich aufmerksam zu machen, wenngleich es dafür vermutlich zu spät war.

In ihrer Verzweiflung spielten zwei Fragen in ihrem Kopf Pingpong: Was war nur mit ihrem Miguel passiert? Und warum war an diesem Mittwochabend ihre Welt so aus den Fugen geraten?

2

Nach einer gefühlt endlos langen Zeit hatte sich Leonie soweit beruhigt, dass sie, wenn auch noch mit stark zitternden Fingern, den Notruf wählen konnte. Das Freizeichen erklang. Dann klingelte es zweimal, bevor sich eine freundliche Stimme meldete, deren Worte es nicht bis in ihr Gehirn schafften.

Stattdessen platzte Leonie einfach drauf los: "Sie müssen mir helfen! Mein Mann… Ich glaube, ihm ist was passiert! Bitte, kommen Sie schnell!"

Atemlos und tränenüberströmt ließ sie ihr Handy sinken. Leonie war überhaupt nicht klar, was sie der Stimme sagen sollte. Im Grunde wusste sie nur, dass Miguels Handy in seinem Büro lag. Aber was war mit ihm? War er selbst tatsächlich auch dort? Darauf konnte sie keine Antwort finden. Die Angst war zu groß.

Nach einem Moment realisierte sie, dass die Stimme im Handy wiederholt "Hallo?", fragte, weshalb sie das Handy wieder ans Ohr presste und "Entschuldigung, ich bin völlig durcheinander!" herausbrachte.

Die Stimme fragte sie nach ihrem Namen und wo sie sich befand. Die Frage, was passiert sei, konnte Leonie nicht beantworten. Sie stammelte eine Antwort und konnte sich schon im nächsten Moment nicht mehr erinnern, aber die freundliche und hilfsbereite Stimme versprach zum Glück, schnellstmöglich einen Streifenwagen zu schicken.

Nachdem Leonie aufgelegt hatte, versuchte sie, ruhig und bewusst zu atmen und auch das Zittern ihrer Hände in den Griff zu bekommen. Es würde gleich jemand da sein, der ihr helfen konnte. Alles würde gut werden. Ganz bestimmt.

Es verstrichen einige Minuten, bis sie sich soweit in der Gewalt hatte, dass sie aufstehen konnte. Sie verließ den Hinterhof, umrundete das Gebäude und wartete vor der Eingangstür auf die Polizei.

Nach einigen weiteren Minuten der Angst und Ratlosigkeit bog ein Streifenwagen um die Ecke und hielt auf dem Gehweg vor ihr an. Sofort stürzte sie auf die zwei Polizisten zu, die gerade ausstiegen. Der Fahrer war jung, groß und von schlanker Gestalt, der Beifahrer schien deutlich älter, war ebenfalls groß und ein bisschen untersetzt. Beide trugen die üblichen Polizeiuniformen, aufgrund der sommerlichen Temperaturen allerdings ohne Jacke. Der ältere von beiden hatte viele Sterne auf den Schulterklappen seines Hemdes, der jüngere ein paar weniger. Leonie hatte keine Ahnung, was sie bedeuteten und war irritiert, dass sie überhaupt Notiz davon nahm.

"Frau…", begann der Ältere und schaute sie auffordernd an.

"Pionet", ergänzte Leonie automatisch. Ihre Stimme war kratzig und klang noch immer atemlos.

"Frau Pionet also", begann der Ältere erneut. Im Grunde wirkte er nicht unfreundlich, aber doch irgendwie reserviert. Er beäugte sie mit einem wachsamen Blick. Sein jüngerer Kollege musterte aufmerksam die Fassade des Gebäudes hinter ihr.

"Sie haben den Notruf angerufen und ehrlich gesagt konnten wir uns aus Ihren Worten keinen rechten Reim machen. Also erzählen Sie bitte mal ganz von vorn."

Auffordernd schaute er Leonie an, während er die Hände in seine Hosentaschen schob und den Bauch vorstreckte. Wahrscheinlich hatte er bis eben in der Polizeizentrale gesessen, Kaffee getrunken, belegte Brötchen gegessen und über alte Zeiten schwadroniert – und war wenig erfreut über diesen Einsatz.

Leonie bemühte sich, sich zusammenzureißen, auch wenn es ihr schwerfiel. Aber der Polizist musste ja nicht unnötig gereizt werden. Schließlich war sie auf seine Hilfe angewiesen. Sie straffte die Schultern und atmete einmal tief durch, dann begann sie mit dem Versuch, die Situation zu erklären.

"Mein Mann Miguel ist heute nicht von der Arbeit nach Hause gekommen. Er hätte um 15 Uhr Schluss gehabt, weil er mittwochs immer früher Feierabend macht. Als ich gegen 17 Uhr nach Hause kam, war er aber nicht da. Ich habe es ohne Erfolg mehrmals auf seinem Handy probiert, weil das schon sehr ungewöhnlich für ihn ist. Gegen 18 Uhr habe ich in der Firma angerufen, aber da ist niemand mehr ans Telefon gegangen. Die haben schon seit Jahren mittwochs einen kurzen Arbeitstag und gehen alle spätestens um 16 Uhr. Ich habe mir Sorgen gemacht, weil dieses Verhalten einfach nicht zu meinem Mann passt. Natürlich habe ich auch die engsten Freunde angerufen, aber keiner hat ihn gesehen oder etwas von ihm gehört. Also bin ich hergefahren und als ich oben vor der Bürotür stand…"

"Sie waren in dem Haus?!", unterbrach der Jüngere sie barsch und schaute sie ungläubig an. Gedanken wie "Hausfriedensbruch!" und "Einbrecherin!" waren ihm deutlich anzusehen.

Leonie schluckte. "Ja, aber die Hintertür war offen!", verteidigte sie sich. "Jedenfalls hat sein Handy im Büro geklingelt, als ich versucht habe, ihn anzurufen. Ich bin sicher, er ist dort oben und…" Leonies Stimme überschlug sich fast und brach bei der Vorstellung, was mit ihm passiert sein könnte. Mühsam unterdrückte sie ein Schluchzen. Die beiden Polizisten hielten sie sicher ohnehin schon für verrückt oder hysterisch und sie wollte diesen Eindruck ungern weiter verfestigen.

"Hat Ihr Mann vielleicht Feinde?" Halb belustigt schauten die beiden Polizisten sie an. Die Frage meinten sie vermutlich nicht ernst, aber Leonie sah erst verwirrt von einem zum anderen, dann antwortete sie: "Ich weiß nicht. FNT-Logistik ist eine seriöse Firma. Mein Mann würde ganz sicher keine krummen Geschäfte…" Genervt brach sie ab. Das war doch alles Quatsch! Sie wollte endlich mit Hilfe der Polizisten in Miguels Büro nachschauen, ob alles in Ordnung mit ihm war. Bevor sie etwas sagen und die beiden zur Eile drängen konnte, fragte der Ältere provokant: "Haben Sie mal darüber nachgedacht, dass Ihr Mann vielleicht eine Geliebte hat?"

Der Spott stand den beiden Polizisten unübersehbar ins Gesicht geschrieben. Für die Beamten stand scheinbar bereits fest, dass der vermeintlich Vermisste sein Handy im Büro liegen gelassen und bei seiner Geliebten die Zeit vergessen hatte. Ganz einfach.

Leonie wies die Vermutung der Polizisten entschieden zurück: "Mein Mann hat keine Geliebte!", sagte sie trotzig und hätte am liebsten mit dem Fuß aufgestampft. Im letzten Moment konnte sie sich davon abhalten, damit die Polizisten nicht noch schlechter von ihr dachten als ohnehin schon.

"Hören Sie, Frau Pionet", begann der Ältere und versuchte ernst und mitfühlend zu klingen. Aber das leichte Schmunzeln um seine Mundwinkel war deutlich sichtbar und zerstörte den Eindruck. "Es tut uns leid für Sie, aber wir können nicht wegen eines solchen … fadenscheinigen Verdachts –" Er gestikulierte dazu mit den Händen durch die Luft. "Sie müssen schon verstehen, wir können nicht einfach die Tür eintreten und nachschauen. Dazu sehe ich absolut keinen Grund. Da müsste schon jemand aus der Firma herkommen und die Tür aufschließen, wozu wir aber wohl um diese Uhrzeit –", dabei schaute er demonstrativ auf seine Armbanduhr, die inzwischen weit nach 22 Uhr anzeigte, "niemanden mehr bewegen können dürften. Außerdem…", er machte eine weitere kunstvolle Pause und schaute sie streng an, "Ihr Mann ist erwachsen und kann seinen Aufenthaltsort selbst bestimmen. Ohne triftigen Grund können wir nichts tun. Und ich sehe hier keinerlei Gefahr im Verzug, die ein Tätigwerden unsererseits rechtfertigen würde."

Er verstummte und schaute zu seinem jüngeren Kollegen, der bisher kaum etwas gesagt hatte, aber fleißig zu den Worten des älteren Kollegen nickte. Leonie hätte am liebsten laut losgeschrien. Dienst nach Vorschrift und bloß schnell wieder zurück ins gemütliche Revier! Zum Kotzen einfach, wo doch vermutlich das Leben Ihres Mannes auf dem Spiel stand.

Der Jüngere setzte sein freundlichstes Lächeln auf und schlug in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete, vor: "Wir fahren Sie jetzt nach Hause, schlafen Sie erstmal eine Nacht drüber und morgen wird sich bestimmt alles klären." Das war eindeutig zu viel für Leonie. Der redete schon fast wie ihre Mutter. Nahm sie und ihre Sorgen eigentlich überhaupt niemand ernst?

Leonie diskutierte noch eine Weile, aber sie konnte nichts machen. Die Polizisten änderten ihre Meinung nicht. Stattdessen fuhren die beiden ach so netten Beamten sie schließlich nach Hause und warteten solange, bis Leonie die Tür aufgeschlossen hatte und im Hausflur verschwunden war.

In der Wohnung brannte kein Licht. Alles war unverändert. Miguel war also in der Zwischenzeit nicht hier gewesen. Angezogen ließ Leonie sich aufs Bett fallen und dachte nach. Wenn sie jetzt zurückfuhr und auf eigene Faust die Tür "öffnete", wäre sofort klar, wer den Einbruch begangen hatte. Die Polizisten kannten ihren Namen und wussten, wo sie wohnte. Davon abgesehen hatte sie keine Ahnung, was man benötigte, um eine Tür aufzubrechen.

Ganz gleich, was hinter der Bürotür der Firma FNT-Logistik an diesem Abend passiert sein mochte, Leonie würde es heute nicht mehr erfahren. In dem Gedankenwirrwarr tauchte plötzlich die Frage auf, wo eigentlich Miguels Dienstwagen war. Vor ihrem Haus hatte sie ihn beim Verlassen der Wohnung nicht gesehen und auf dem Firmenparkplatz hatte sie nicht danach geschaut. Es hatten mehrere Autos dort gestanden und die Dienstwagen sahen ohnehin alle gleich aus. Aber es wurmte sie, dass sie darauf nicht geachtet hatte. Wenn der Wagen nicht dort geparkt war, dann war an der Theorie mit der Geliebten vielleicht doch etwas dran. Und wenn er dort stand, war Miguel ganz sicher tatsächlich in den Büroräumen. Jetzt wäre sie doch am liebsten nochmal hingefahren, um nachzuschauen. Da ihr aber bewusst war, dass sie den Wagen ohnehin nicht zweifelsfrei identifizieren konnte, verwarf sie den Gedanken schließlich wieder.

Traurig griff Leonie nach Miguels Kissen und drückte es an sich. Sie war gleichzeitig aufgekratzt und vollkommen erschöpft und so dauerte es nicht lange, bis sie in einen unruhigen Schlaf fiel.

3

Donnerstag

Leonie erwachte einige Stunden später schweißgebadet direkt aus dem Geschehen eines Albtraums. Sie konnte sich an keine Details erinnern, aber nach ein paar Sekunden fiel ihr ein, dass sie sich auch in der Realität gerade in einem Albtraum befand. Deshalb dachte sie nicht länger über den Traum nach, sondern sich konzentrierte auf die Wirklichkeit.

Sie schlug die Augen auf und schaute sich um. Es war schon ziemlich hell im Schlafzimmer und unerträglich warm. Die Sonne schien durchs Fenster und ein Blick auf die Uhr verriet ihr, dass es kurz vor 7 Uhr war. Sie drehte sich zu Miguels Betthälfte um, doch von ihm fehlte jede Spur. Die Geschehnisse des vergangenen Abends drängten sich in ihr Bewusstsein und sie schluckte schwer gegen einen Kloß im Hals an. Langsam setze sie sich auf.

Die Luft im Schlafzimmer war heiß und stickig. Es war Juli und sie hatte am Abend vor dem Einschlafen das Fenster nicht geöffnet und den Rollladen nicht heruntergelassen. Sie trug auch noch ihre Kleidung vom Tag zuvor und hatte sich nicht abgeschminkt. Mehr als etwas getönte Tagescreme und Wimperntusche benutzte sie zwar selten, aber im Bad stellte sie fest, dass diese sich über ihr halbes Gesicht verteilt hatte. Kein Wunder, dass die Polizisten sie gestern nicht für voll genommen hatten, wenn sie ausgesehen hatte wie ein hysterischer Pandabär.

Sie ließ ihre Kleidung auf den Fußboden fallen und ging unter die Dusche, die sie sehr kalt aufdrehte in dem Versuch, einen klaren Kopf zu bekommen. Anschließend zog sie sich frische Sachen an, putzte sich die Zähne und schminkte sich leicht. Danach ging sie in die Küche, um einen Kaffee zu trinken. Während sie am Küchentisch saß, schob sie ihren Zettel an Miguel vom Vortag herum. Unschlüssig starrte sie in ihre Tasse und rauchte eine weitere Zigarette aus dem Notvorrat, wobei sie überlegte, wie es weitergehen sollte. Sie drehte die wenigen Gedanken eine Weile im Kopf hin und her. Am Ende beschloss sie, als erstes zu Miguels Arbeitsplatz zu fahren und ihrer eigenen Arbeit vorerst fernzubleiben. Da ihre Kernarbeitszeit erst um 9 Uhr begann und sie an diesem Vormittag keine Termine hatte, bleib ihr genug Zeit, um dazu später eine Entscheidung zu treffen.

Achtlos warf sie die Zigarette in ihre halbleere Kaffeetasse, sodass es zischte, und stand mit einem Ruck auf, durch den der Stuhl gefährlich ins Wanken geriet. Leonie nahm das alles jedoch nicht wahr. Ihr Kopf war leer und zugleich voller nicht in Worte fassbarer Sorgen.

Sie griff nach ihrer Tasche und ihrem Schlüssel und verließ mit ihrem Handy in der Hand die Wohnung. Drei verpasste Anrufe von ihrer Mutter sowie einige Nachrichten von ihr, die Leonie nicht näher anschaute. Für ihre Mutter hatte sie im Moment überhaupt keinen Nerv.

Eilig lief sie in Richtung Haltestelle und saß um kurz nach 8 Uhr in der U-Bahn. Nervös nestelte sie an ihrer Umhängetasche herum und war so in Gedanken, dass sie fast den Umstieg am Rotebühlplatz verpasst hätte. Mit etwas Mühe schaffte sie es, in die richtige S-Bahn zu steigen und nach einigen Minuten Fahrzeit, die ihr unendlich lang erschienen, erreichte sie wie tags zuvor die Haltestelle Weilimdorf.