Bibelerzählen - Simone Merkel - E-Book

Bibelerzählen E-Book

Simone Merkel

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Beschreibung

Das freie Erzählen ist das älteste Kulturgut und die ursprünglichste Form religiöser Überlieferung. Auch in der jüdisch-christlichen Überlieferung ist das Weiter- und Wiedererzählen eine wichtige Aufgabe und wird in vielen Kontexten von Kirche und Schule ganz selbstverständlich praktiziert - bspw. im Gottesdienst und in der Arbeit mit Kindern. Simone Merkel lädt in ihrem Grundlagenbuch ein, den Schatz des Erzählens zu heben und weiterzuentwickeln. Ausgehend von der Theorie des Erzählens leitet sie mit vielen praktischen Übungen und Beispielen an: zur freien Erzählung und zur individuellen Erarbeitung und Präsentation eines Bibeltextes. Das Buch eignet sich als Lese- sowie als Methodenhandbuch. Es richtet sich an TheologInnen und PädagogInnen und alle, die biblische Texte erzählen möchten und dabei nach einer eigenen Sprach- und Ausdrucksform suchen.

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im

Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

© 2020 Neukirchener Verlagsgesellschaft mbH, Neukirchen-Vluyn

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Grafikbüro Sonnhüter, www.sonnhueter.com

Lektorat: Ekkehard Starke

DTP: Breklumer Print-Service, [email protected]

Verwendete Schrift: Frutiger, Sabon

Gesamtherstellung: PPP Pre Print Partner GmbH & Co. KG

ISBN 978-3-7615-6700-5 E-Book

 

www.neukirchener-verlage.de

Vorwort

Sie hat mich ertappt

 

Wir treffen uns beim Neujahrsempfang. Ich freue mich auf die Begegnung mit meiner Kollegin. Sie hat das Manuskript meines Buches gelesen. Nun hält sie es in der Hand. Sie blättert darin. Hin und wieder schaut sie auf.

„Und?“, frage ich erwartungsvoll, „was sagst du? Kannst du was damit anfangen?“

„Ja“, sagt sie, aber ich bemerke ihr Zögern.

„Oder doch nicht?“, frage ich verunsichert. „Sei ehrlich!“

„Nun ja, es ist umfangreich.“

Sie macht eine Pause. Ich warte.

Nach einer Weile fügt sie hinzu: „Es ist viel, zu viel, glaube ich.“

Jetzt hat sie mich erwischt. Ich rede von spannenden Figuren, von sprudelnder Fantasie, von meiner Begeisterung für das Mündliche, vom Glauben und von Gott. Ich will sie überzeugen und füge eins zum anderen, bis sie mir schließlich ins Wort fällt.

„Glaub ich dir ja alles. Ich frage mich nur, ob du wirklich denkst, jemand liest das alles?“

„Ja. Vielleicht. Aber nicht unbedingt alles auf einmal.“

Ich zeige auf das üppige Buffet und schmunzele.

„Mit meinem Buch ist es wie mit einem Buffet. Alles ist angerichtet. Der Leser kann sich vom Anfang bis zum Ende durcharbeiten, wie der Gast von der Vorsuppe bis zur Nachspeise. Aber die Häppchen schmecken sozusagen auch einzeln. Vielleicht will jemand nur den Anfang, die Theorie. Vielleicht mag ein anderer nur Süßspeisen, also beispielsweise die Erzählungen. Alles ist möglich.“

„Du lädst zur Selbstbedienung am Buffet ein?“, sie lächelt verschmitzt.

„Dann ist es gut. Aber für mich wäre es trotzdem nichts.“

„Und warum?“, wundere ich mich und bin erneut verunsichert.

„Du schreibst nur für Männer. Ich bin eine Frau.“

Jetzt hat sie mich ertappt. Sie hat recht. Im gesamten Manuskript habe ich durchgehend die männliche Form gewählt. Jetzt ärgere ich mich. Verflixt, ich hätte es anders machen sollen.

„Es sollte einfach sein, knapp und prägnant“, verteidige ich mich. „Das ist der einzige Grund. Natürlich ist es auch an dich gerichtet. Es soll für dich sein, für Frauen und Männer und alle Erzähler*innen. Ich habe es für alle geschrieben, die schon Erzähler*innen sind, und für alle, die es werden wollen.“

„Dann ist es gut. Nun weiß ich ja, wie du’s meinst. Jetzt fühle ich mich auch angesprochen.“

Ich bin erleichtert und füge hinzu: „Alle Neugierigen sollen sich gerne am Buffet bedienen.“ „Das werden sie sicher“, lächelt meine Kollegin und reicht mir mein Manuskript. Es beginnt mit diesem Vorwort:

Gesagt – getan

 

Es war ein Samstag. Nicht so ein Samstag wie jeder andere. Nein, es war ein ganz besonderer Samstag. Ben hatte Geburtstag, seinen sechsten. Und dieser sechste Geburtstag sollte anders, besser, aufregender als alle vorherigen werden.

So jedenfalls hatte es sich Ben vorgestellt. Nun tat seine Mutter alles, wirklich alles, um diesen Wunsch zu erfüllen. Das Kinderzimmer, der Flur, das Wohnzimmer, die Küche, ja sogar das Bad waren mit Wimpeln, Ketten und Bildern von Dinosauriern geschmückt. Dinos mochte Ben am liebsten. Auf dem großen Tisch in der Küche gab es eine Dino-Tischdecke. Der Lieblingskuchen war gebacken und mit der bunten Glasur und Dinosauriern aus Zuckerwerk verziert. Aufregende und witzige Spiele waren vorbereitet. Preise lagen bereit. Witzig und aufregend auch sie.

Ben hatte die Kinder seiner Klasse eingeladen: Tom und Lisa, Selen und Emil und all die anderen. Die Großeltern kamen auch. Schließlich hatte Ben Geburtstag, seinen sechsten. Den wollten auch die Großeltern nicht verpassen.

Dann saßen alle am Tisch. Sie schmatzten den Kuchen, schleckten die Süßigkeiten, lachten und plauderten. „Hab ich euch jemals erzählt, dass ich diesem Dinosaurier“, und dabei tippte der Großvater einen Dino auf der Tischdecke an, „neulich begegnet bin?“ Die Kinder kicherten. „Aber ja, wirklich“, beteuerte der Großvater, „es war erst neulich, als ich zur Schule ging. Ich war wohl gerade so alt wie ihr.“ „Erzähl schon“, drängte Ben und alle sahen erwartungsvoll zum Großvater.

Der Großvater erzählte und die Kinder folgten begeistert seiner Geschichte. Sie staunten und ermunterten ihn lachend, immer neue Details zu erfinden. Kaum war die Geschichte beendet, erbettelten sie sich eine neue. Anschließend verlangten sie noch eine und eine weitere und immer so weiter. Der Großvater erzählte und erzählte. Vergessen war der Kuchen, vergessen die Spiele, vergessen die Preise.

Als sich alle Freunde am Abend verabschiedet hatten und Ben im Bett unter seiner Dinosaurierdecke lag, murmelte er zufrieden: „Das war der beste Geburtstag meines Lebens.“

Alles gesagt und nichts getan.

Eine junge Frau aus Berlin erzählt immer wieder diese Begebenheit. Nie versäumt sie, die Enttäuschung der Mutter zu beschreiben. Die liebevolle Mutter hatte alles getan. Alles hatte sie vorbereitet. Alle Wünsche wollte sie erfüllen. Nichts davon fand Beachtung. Die Kinder verschmähten die schönen Spiele und Spielzeuge. Die Erzählungen des Großvaters zogen sie in den Bann. Übrig bleibt das Staunen darüber, dass er nichts getan hatte und dabei doch alles. Erzählen wirkt.

 

Es ist alles gesagt.

Mit dieser kleinen Anfangsgeschichte ist alles gesagt, was es zum mündlichen Erzählen zu sagen gibt. Es geht nur um Worte, die aufgereiht wie auf einer Perlenschnur in der Summe eine Geschichte ergeben. Natürlich, um den Moment, in dem die Geschichte entsteht, um diesen zauberhaften Augenblick geht es auch. So war es einst, als man sich an den Feuern erzählte, und so ist es heute noch. Wer es je erlebt hat, wird es bestätigen. Aber gibt es dieses Erleben heute noch? Wird heute tatsächlich noch erzählt?

 

Als Johannes Merkel und Michael Nagel in den 1980er Jahren ihre Arbeiten1 zur mündlichen Erzählkunst veröffentlichten, sprachen sie von einer vergessenen Kunst, die es wiederzuentdecken gilt. Das älteste Kulturgut war in Gefahr, in Vergessenheit zu geraten. Eine Entwicklung, die vermutlich bereits begann, als die Schriftsprache zum Allgemeingut wurde. Das literarische Erzählen nahm mit steigender Tendenz größeren Raum als die Weitergabe des Mündlichen ein. Erzählungen auf Papier wurden verfügbar, wann immer sie gewünscht waren. Das Zusammentreffen von Hörer und Erzähler zu einer Zeit und an einem Ort war nicht mehr vonnöten. In der Literatur verschwand der Erzähler hinter seinem Werk. Der Hörer wurde zum Leser und blieb allein in der Welt der verschriftlichten Geschichte.

Inzwischen hat die Wissenschaft die Bedeutung des Erzählens wieder erkannt. Aus unterschiedlichen Fachperspektiven erforschen sie die Mündlichkeit und die mündlichen Überlieferungen. Dazu sind Bücher veröffentlicht, fachliche Positionen ausgetauscht, verworfen und weiterentwickelt. Der Beitrag des Mündlichen zum Spracherwerb, zur Bewahrung und Überlieferung von Tradition und zur Bewältigung von Geschichte ist inzwischen unbestritten. Narrative Methoden haben Einzug in Lehrpläne gehalten. Erzählseminare sind in Ausbildungs- und Studiengänge für angehende Pädagogen aufgenommen worden. Das Märchenerzählen als Kunstform wird wieder populärer. Professionelle Märchenerzählausbildungen ebnen der Mündlichkeit Wege und verschaffen ihr wachsende Aufmerksamkeit. Die Absolventen solcher Ausbildungen finden in Veranstaltungen und Festivals ein begeistertes generationenübergreifendes Publikum. 2016 ist Märchenerzählen als immaterielles Kulturerbe Deutschlands in die UNESCO-­Weltkulturerbeliste aufgenommen worden.

 

Das Erzählen biblischer Geschichten als verlorene oder vergessene Kunst zu bezeichnen, würde in Theologie und Religionspädagogik entweder Entrüstung oder müde Ignoranz hervorrufen. Erzählen ist die Grundform der biblischen Didaktik, weiter- und wiedererzählen die zentrale Aufgabe der jüdisch-christlichen Überlieferung. Weder in der Schule noch in der Kirchengemeinde ist die Arbeit mit Gruppen jedweden Alters ohne Erzählen denkbar. In keiner guten Predigt darf die Erzählung fehlen. Sie ist der Dreh- und Angelpunkt des gottesdienstlichen Handelns besonders mit und für Kinder. 2018 veröffentlichte Zahlen2 bestätigen diesen Befund. Erzählen ist weder verloren noch vergessen. Darum: Es ist alles gesagt und alles getan.

 

Was gäbe es noch sagen? Was gäbe es noch zu tun?

Als Schatz ist das Erzählen entdeckt und erkannt. Dass dieser Schatz bereits gehoben ist, darf bezweifelt werden.

Bei aller fachdidaktischer Diskussion ist das lebendige freie mündliche Erzählen nach wie vor ein unklares Feld. Theologie, Bibel- und Religionsdidaktik betrachten es aus der jeweiligen Fachperspektive als dienende Methode oder bestenfalls didaktisches Prinzip. Die Bedeutung des Verhältnisses zwischen Erzähler und Hörer im Spannungsfeld der erzählten Geschichte blieb bisher weitgehend unberücksichtigt. Begriffsklärungen und Verhältnisbestimmungen zu benachbarten Feldern (z. B. Predigt und Lehre) stehen noch aus oder müssen aktualisiert werden. Obwohl das Erzählen in allen kirchlichen Feldern priorisiert wird, ist die Frage, wie das mündliche Verlebendigen der schriftlichen Überlieferung angemessen gelingen kann, noch ungeklärt. Dass erzählt werden soll, setzen Theologie und Religionspädagogik voraus und zeigen mit fachwissenschaftlicher Expertise Wege von der biblischen Überlieferung zur zeitgemäßen narrativen Schriftform. Eine umfassende Didaktik des mündlichen Bibelerzählens existiert bisher nicht. Wie und wo sich Theologen und Pädagogen das freie Bibelerzählen aneignen, bleibt ihnen bisher weitgehend selbst überlassen.

 

Dieses Buch versteht sich als Beitrag zur Verlebendigung des biblischen Erzählens. Mit einem ausführlichen Praxisteil zeigt es Ansätze auf dem Weg zu einer Didaktik des mündlichen Bibelerzählens.

 

Das erste Kapitel ist ein Informations- und Theorieteil. Begriffliche Abgrenzungen und Klärungen werden vorgenommen und Begründungszusammenhänge aufgezeigt. Mit Sieben Merkmalen des Erzählens wird das Mündliche charakterisiert. Der Blick auf das System Erzähler – Hörer – Text beleuchtet das Wirkfeld des Erzählens und führt schließlich zum Imperativ des Bibelerzählens.

 

Um das Erzählen in eine lebendige Praxis zu überführen, braucht es mehr als theoretische Betrachtungen. Darum stellt das zweite Kapitel das Mundwerk in den Vordergrund. Praxisnah und anwendungsorientiert laden vielfältige Aufgaben zum Entwickeln und freien Erzählen von Alltags- und Fantasiegeschichten ein. Anleitungen, Erklärungen und leicht nachvollziehbare Lernschritte unterstützen den Weg zur Mündlichkeit. Sieben Erzählregeln runden das Kapitel ab.

 

Den Hauptteil des Buches bildet das dritte Kapitel mit seinem Fokus auf Bibel, Bibeldidaktik und Bibelerzählen. Es verbindet die Erkenntnisse der vorangegangenen Kapitel mit theologischen Impulsen und Fragestellungen. Informationen, Übungen und konkrete Beispiele markieren den Weg zur individuellen Erarbeitung eines Bibeltextes. Vom Handlungsfaden der Geschichte über den Fokus des Textes bis hin zur Erzählvariante bleiben Erschließung und Aneignung persönliche theologische Arbeit. Die Anleitungen eröffnen mögliche Wege von Text über Herz und Verstand zur Mündlichkeit und ermutigen zum Erzählen. Kompakt fassen Sieben Schritte zur Erarbeitung eines Bibeltextes und Sieben Hinweise zum Bibelerzählen den Lernweg des Kapitels zusammen. Weitere Erzählbeispiele bietet darüber hinaus das vierte Kapitel.

 

Das Verinnerlichen und Aneignen nimmt das fünfte Kapitel in den Blick. Es lenkt die Aufmerksamkeit vom Erzähler auf die Hörer und die Rahmenbedingungen der Präsentation. Sieben elementare Erzählregeln geben Tipps unter anderem auch für das Erzählen für Kinder. Erzählanlässe werden in den Blick genommen und führen schließlich mit sieben Schritten zur eigenen Erzählung zum Blick auf den gesamten Lernweg.

 

Abschließend fragt das sechste Kapitel, was am Ende des Lernweges übrig bleibt. Es bietet sieben Ermutigungen zum kreativen Ungehorsam und wirft ein Blitzlicht auf aktuelle Entwicklungen.

 

Wenn die Schätze der Mündlichkeit gehoben werden und das Bibelerzählen seine Wirkung entfaltet, ist alles gesagt und alles getan. Dass es sich lohnt, wussten schon die Chassidim.

 

„Wenn der Baal-schem etwas Schwieriges zum Nutzen der Geschöpfe zu erledigen hatte, ging er an eine bestimmte Stelle im Wald, machte ein Feuer und sprach, in mystische Meditation versunken, Gebete; und alles geschah, wie er es sich vorgenommen hatte.

Wenn eine Generation später der Maggid von Meseritz etwas Ähnliches vorhatte, ging er an die Stelle im Wald und sagte: ‚Feuer können wir nicht mehr machen, aber die Gebete können wir sprechen.‘ Und alles geschah, wie er es sich vorgenommen hatte.

Wieder eine Generation später wollte auch der Rabbi Mosche Leib aus Sassow etwas ähnlich Wundersames vollbringen. Auch er ging in den Wald und er sagte: ‚Wir können kein Feuer machen, und wir kennen auch die geheimen Meditationen nicht mehr, die die Gebete belebten, aber wir kennen den Ort im Wald, wo das hingehört, das muss genügen.‘ Und es genügte.

Als abermals eine Generation später der Rabbi Israel von Rischin eine solche Tat zu vollbringen hatte, setzte er sich in seinem Schloss auf seinen goldenen Stuhl und sagte: ‚Wir können kein Feuer mehr machen, wir können keine Gebete mehr sprechen, wir kennen den Ort auch nicht mehr, wo man es tun müsste, aber wir können die Geschichte davon erzählen.‘ Und seine Erzählung hatte dieselbe Wirkung wie die Taten der anderen.“3

1 Erzählen wirkt

 

Assoziationen

Im Erzählseminar ist die Einladung ausgesprochen, frei zu assoziieren.

Erzählen – was ist das? Erzählen – was bedeutet es für dich?

Erzählen – woran erinnerst du dich? Erzählen – was verbindest du damit?

Die Teilnehmenden beginnen:

Nach der Arbeit, beim Kaffee zu Hause am Küchentisch erzähle ich, was am Tag passiert ist. – Pippi Langstrumpf ist meine schönste Erzählung. Ich habe sie geliebt. Als Kind las ich sie wieder und wieder. Ich liebe sie immer noch. – Am Samstagabend gab es Kakao und Apfelkuchen. Dann las meine Großmutter Märchen vor. Das waren die schönsten Stunden der Woche. Den Duft vom Apfelkuchen habe ich immer in der Nase, wenn ich heute Rotkäppchen lese. – Im großen Schlafraum im Ferienlager haben wir uns nachts Gruselgeschichten erzählt. Wir haben so lange erzählt, bis wir uns wirklich, richtig und ehrlich gefürchtet haben. – Manchmal erzähle ich meinen Kindern, wir erfinden dann Geschichten. Eins kommt zum anderen, es ergibt sich irgendwie von selbst. Meist ist es lustig und fantastisch. – Im Kindergarten erzählen wir viel. Wir schauen Bücher an, lesen die Geschichten, und irgendwann sprechen die Kinder sie mit. – ...

 

Erzählen, was ist das? Assoziativ öffnet der Begriff einen weiten Denk- und Erfahrungsraum. Erinnerungen von Nähe und Vertrautheit werden wachgerufen, Bezugspersonen sind von Bedeutung. Erzählen als Wiedergabe von erdachten und erfundenen Geschichten wird ebenso ins Spiel gebracht wie die sorgfältig konstruierte Kunstform. Das Alltägliche ist im Gespräch, und die Überlieferungen sind es auch. Lesen oder vorlesen, sprechen oder hören, schriftliches oder mündliches Erzählen werden oft gleichbedeutend verwendet. All das ist Erzählen. All das und noch viel mehr kann Erzählen sein.

 

Für die Verständigung im Rahmen dieses Buches geht es im Folgenden um Zusammenhänge und Begründungen auf dem Weg zur Klärung der Frage: Was ist Bibelerzählen?

1.1 Erzählen – was ist das?

 

Erzählen bedeutet, eine Begebenheit oder etwas Erdachtes mit Worten ausführlich wiederzugeben. Das geschieht heute in vielfältigen Formen, unter verschiedensten Rahmenbedingungen mündlich oder schriftlich.

 

Seinem etymologischen Ursprung nach hat sich das Wort aus zählen entwickelt. Etwas auf- oder vorzuzählen bedeutet, es der Reihe nach sichtbar zu machen oder darzustellen. Das gilt für Gegenstände und Dinge ebenso wie für Taten und Begebenheiten. So ging der Begriff auf den mathematisch-rechnerischen Bereich über. Im Sinne von hersagen, mitteilen und berichten steht er für in Worten darzustellende Geschehnisse.

 

Im heutigen Gebrauch wird erzählen austauschbar mit einer fast unüberschaubaren Anzahl angrenzender und fast gleichbedeutender Begriffe verwendet. Die Vielfalt der Begriffe unterstreicht die Bedeutung des Vollzugs von Sprache als Mittel zwischenmenschlicher Kommunikation. Gleichzeitig vergrößert die Fülle an Synonymen die Unklarheit und erschwert die Eingrenzung.

Alltagssprachlich sind erzählen, quatschen, plaudern und sich unterhalten nah beieinander. Geht es um erdachte Geschichten, berühren sich erzählen, fabulieren und fantasieren. Beinahe gleichbedeutend werden mitteilen, informieren, beschreiben und erzählen bei der Darstellung von Sachverhalten genutzt. Im Zusammenhang einer Präsentation ergänzen oder ersetzten sich reden, vortragen, darstellen und erzählen. Theologisch und religionspädagogisch sind die Grenzen zwischen verkündigen, lehren, erzählen und predigen durchaus fließend.

 

Anhand einiger Begriffe, die in der schulischen Didaktik als Operatoren4 Verwendung gefunden haben, soll exemplarisch eine Unterscheidung vorgenommen werden (vgl. 2.3). Neben der Klärung der Merkmale des jeweiligen Begriffs wird auch das Beziehungsverhältnis von Sprecher und Hörer bzw. Sender und Adressat (personaler Fokus) in den Blick genommen. Dieser Aspekt bezieht sich vorrangig auf die Mündlichkeit. Ergänzt ist zudem, worauf jeweils der inhaltliche Fokus liegt.

Die tabellarische Form bietet hier einen vergleichenden Gesamtüberblick.

Operatoren

Personaler Fokus

Inhaltlicher Fokus

Merkmale

erklären

Subjekt-Objekt-Beziehung,

Wissenshierarchie

Lernziel

Wissenszuwachs

bietet Sach- und Hintergrundinformationen

stellt Informationen in einen Gesamtzusammenhang

zielt auf Wissenszuwachs und Erkenntnisgewinn

berichten

Objekt-Objekt-Beziehung,

ist für den Bericht sekundär

Fakten, Tatsachen

strikt sachlich

Tatsachen in zeitlicher Reihenfolge

Ursachen und Folgen werden ggf. beleuchtet

ist ohne Wertung und ohne Urteil

informieren

Objekt-Subjekt-Beziehung,

Informationen sind für den Adressaten personalisiert

Fakten, Sachverhalte

verfolgt einen Zweck

selektiert, sinnvoll gegliedert

so wenig wie möglich, so viel wie nötig

beschreiben

Objekt-Objekt-Beziehung, ist für die Beschreibung sekundär

Gegenstand, Vorgang, Person

anschauliche Darstellung

detailliert, gründlich, sachlich

vermittelt eine genaue Vorstellung

schildern

Subjekt-Objekt-Beziehung,

Hörer hat als Reflexionsfläche dienende Funktion

Geschehnis, Ereignis, Wahrnehmung

Gedanken, Gefühle und Sinneswahrnehmungen sind im Vordergrund

sinnliche Erfahrbarkeit

bildhafte Ausschmückungen

erzählen

Dreifache Subjekt-Beziehung,

Wirkraum des Erzählens

Person, Ort, Ereignis, Kern der Story

der Spannungsbogen der Geschichte wird Schritt für Schritt aufgebaut

läuft auf einen Höhepunkt zu

ist ohne Wertung und ohne Deutung

 

Erklären

Die Erklärung stellt Sachverhalte oder komplexe Zusammenhänge so dar, dass für den Empfänger ein Wissenszuwachs oder Erkenntnisgewinn daraus folgt. Eine wissenshierarische Gesprächssituation wird vorausgesetzt. Der Sprecher ist Lehrender, der Adressat Lernender. In diesem Sinne ist der Lehrende Subjekt, der Lernende Objekt der Erklärung.

 

Berichten

Ein Bericht ist strikt sachlich gefasst. Die Darstellung von Tatsachen in richtiger zeitlicher Reihenfolge steht im Mittelpunkt. Möglicherweise werden Ursachen und Folgen benannt. Ein Urteil oder eine Bewertung gehören nicht dazu, ebenso wenig wie emotionale Ergänzungen des Berichtenden. Die Übermittlung von Fakten steht im Vordergrund. Sie sind an einen Hörer, möglicherweise auch einen unbestimmten Adressaten, gerichtet. Dem Sprecher kommt eine sekundäre Funktion zu. Sprecher wie Hörer können als Objekt bezeichnet werden, da ihre Beziehung zueinander für den Bericht nicht relevant ist.

 

Informieren

Die Information zeichnet sich durch Reduktion aus. Eine bestimmte Person wird unter bestimmten Umständen zu einem bestimmten Zweck informiert. Dem Adressaten werden ausgewählte Fakten gut gegliedert in notwendigem und sinnvollem Umfang zur Verfügung gestellt. Der Hörer steht besonders im Fokus und darf in diesem Fall als Subjekt bezeichnet werden, da die Informationen auf seinen Bedarf zugeschnitten sind.

 

Beschreiben

Personen, Gegenstände oder Vorgänge können beschrieben werden. Detailliert und gründlich wird die Darstellung anschaulich und nachvollziehbar für den Hörer gemacht. Ein Gesamtbild wird erzeugt, das auch Informationen über den Gegenstand vermittelt. Der zu beschreibende Inhalt ist vorrangig. Eine Beschreibung ist auch ohne konkreten Adressaten möglich, darum kann von einer Objekt-Objekt-Beziehung gesprochen werden. Das personale Verhältnis von Sender und Empfänger ist eher zweitrangig.

 

Schildern

Die subjektiven Wahrnehmungen des Sprechers leiten die Schilderung. Die Gedanken, Eindrücke und Sinneswahrnehmungen des Absenders stehen im Vordergrund. Mit bildhaftem Ausschmücken soll eine sinnliche Erfahrbarkeit eines Geschehnisses erzeugt werden. Als Reflexionsfläche ist der Hörer wichtig, bleibt aber sekundär und damit in diesem Sinne Objekt im Vorgang der Schilderung.

 

Erzählen

Das anschauliche Darstellen von Geschehnissen und Ereignissen ist erzählen. Die Erzählung folgt einem realen oder fiktiven Handlungsverlauf, in dem Figuren, Orte und Ereignisse einem Spannungsbogen folgend in Beziehung gesetzt sind. Sie läuft auf einen Höhepunkt zu. Exposition, Komplikation, Auflösung und Schluss können als Grundelemente der Erzählung bezeichnet werden. Sie ist ohne Deutung und Wertung. Erzähler, Hörer und Geschichte bewegen sich im gleichrangigen Beziehungssystem, im Wirkfeld des Erzählens.

Beschreibende und schildernde Elemente können in der Erzählung durchaus enthalten sein. Sie sind aber immer dem Handlungsverlauf und Spannungsbogen untergeordnet.

 

Erzählen kann im weitesten Sinne als grundmenschliche und damit existentielle Form des Weltzugangs verstanden werden. Erzählend bauen Menschen ihre Welt, deuten sie und konstruieren sie neu. Naturwissenschaftlich galt das Erzählen lange als minderwertige Form der Erkenntnisvermittlung. In neuerer Zeit entwickelt sich die Narration zur kulturwissenschaftlichen Leitkategorie. Sie findet ebenso Anwendung in Rechts- und Geschichtswissenschaft wie auch in Soziologie und Psychologie.

Musik und Film bedienen sich seit eh und je der großen Menschheitsmotive und bauen aus der Verquickung von Liebe, Hass und Leidenschaft immer neue Geschichten. Der Film nutzt dazu bewegte Bilder. Die Musik erzählt in Harmonien und Notenfolgen. Die digitalen Medien spielen mit virtuellen Welten, animierten Bildern und interaktiven Strukturen und erzählen so auf ihre Weise.

Das Storytelling hat heute in nahezu allen Lebensbereichen seinen Platz gefunden. Als unverzichtbares didaktisches Mittel wurde es in die Lehrpläne des Geschichtsunterrichts und anderer Fächer aufgenommen. Auch als Marketing- oder Problemlösungsmethode in Unternehmen oder beispielsweise als Methode des Wissensmanagements in der Informatik ist es gängig und anerkannt.

 

Diese hier nur stichwortartig angedeuteten Felder finden in diesem Buch keine weitere Betrachtung. Der Vergleich zwischen schriftlichem und mündlichem Erzählen dient hinreichend der Begriffsklärung, um schließlich das Bibelerzählen zu charakterisieren.

1.2 Schriftliches Erzählen

 

Das Erzählende, die Epik, in Vers- wie auch in Prosaform, ist neben Lyrik und Dramatik eine der drei großen Gattungen in der Literatur. Roman, Autobiografie, Novellen, Kurzgeschichten und andere gehören zur erzählenden Literatur. Sie schildern individuelle Begebenheiten und nehmen die Mitgestaltung gesellschaftlicher Zustände für sich in Anspruch. Die Vergegenwärtigung von Vergangenem, dessen Weitererzählung, Umdeutung und Neuinszenierung sind wesentliche Merkmale der epischen Formen.

 

Der Autor webt in Texten den Erzählfaden, baut den Spannungsbogen auf und treibt das Geschehen dem Höhepunkt und schließlich der Lösung zu. Die Schrift ist das Trägermedium. Sorgfältig gewählte Worte, stilvoll geformte Sätze und lyrisch kunstvolle Konstruktionen machen die schriftliche Erzählung aus. Die individuelle Sprache wird als Charakteristikum des Autors oder Stilmittel des Werkes erkennbar. Ausgefeilt zu Papier gebracht, bearbeitet und korrigiert, ist die vollkommene Erzählung das Endprodukt. Ein Prozess, der abgeschlossen und vollendet wird, ohne auf den Leser angewiesen zu sein. Der wiederum benötigt als Rezipient Erklärungen, Schilderungen und Beschreibungen in einem Maße, das ihn in die Lage versetzt, das Gelesene vor dem eigenen inneren Auge zu imaginieren. Ein guter Autor stellt genau das zur Verfügung, ohne selbst verfügbar zu sein.

 

Die schriftliche Erzählung folgt der Logik des Lesens. Sie setzt auf die Wahrnehmung über die Augen, das Sehen. Voraussetzung dafür ist die Schriftkompetenz des Rezipienten. Die Aneignung des Textes kann individuell sein. Tempo und Rhythmus der Aufnahme der Erzählung bestimmt der Leser selbst. Textpassagen können übersprungen oder wiederholt werden. Der Verfasser hat auf diesen Prozess keinen Einfluss. Der Rezipient bleibt mit der Erzählung und den in seiner Fantasie erzeugten Bildern allein.

 

Das schriftliche Erzählen muss notwendigerweise eine Distanz herstellen. Franz K. Stanzel beschreibt die Mittelbarkeit5 als Gattungsmerkmal der Epik. Der Leser nimmt die Welt der Geschichte nicht unmittelbar, sondern gewissermaßen durch die Brille des Erzählers wahr. „Es ist also davon auszugehen, dass der auktoriale6 Erzähler eine innerhalb gewisser Grenzen eigenständige Gestalt ist, die vom Autor ebenfalls geschaffen wird wie die anderen Charaktere des Romans und die sich daher mit ihrer Eigenpersönlichkeit der Interpretation stellt.“7 Er ist demnach die schriftstellerische Konstruktion des Verfassers. Der Autor lässt den Erzähler schauen, betrachten, fühlen, bewerten. Über den fiktiven Erzähler gibt der Autor seine eigene oder eben nur die fiktive Perspektive des konstruierten Erzählers an den Leser weiter. Unterscheidet man also zwischen Erzähler und Autor, wie Stanzel es tut, vergrößert sich die Distanz zwischen Verfasser und Leser noch zusätzlich. Der Verfasser wird damit nahezu unsichtbar hinter seinem Werk. Ein unmittelbares Wirkfeld zwischen Verfasser, Leser und Text gibt es nicht.

 

Und schließlich: So sehr sich ein Autor stilistisch der Sprachwelt seiner möglichen Leserschaft anzunähern sucht, das Geschriebene ist niemals dasselbe wie das Gesprochene. Wer je die Gelegenheit hatte, die wörtliche Niederschrift einer Rede oder eines Vortrags mit seiner schriftlichen Grundlage zu vergleichen, der ahnt, wie weit das Schriftliche vom Mündlichen entfernt ist. Die Schrift ist nur eine Erscheinungsform von Sprache. Das gesprochene Wort, die mündliche Erzählung, die andere.

 

Auf sehr unterhaltsame Art und Weise vergleicht Rafik Schami Schriftlichkeit und Mündlichkeit und zeigt Möglichkeiten und Grenzen der einen wie der anderen Form auf. Einen unbestreitbaren Vorteil der Schrift sieht er darin, dass sie Wissen, Meinungen, Ideen und auch Fantasien festhält, überprüfbar macht und damit der Diskussion stellt. „Am Festgehaltenen kann sich der Geist feilen. … Ist das Wort schriftlich festgehalten, so kann man es auch nach Jahrhunderten genau überprüfen, kommentieren und korrigieren. Die Schrift friert das Wort ein und macht es endgültig. ... Die Schrift macht das Wort zeitlos, unsterblich wie die Götter, die Pyramiden.“8

 

Die über Jahrhunderte mündlich überlieferten Lieder, Sprüche und Erzählungen von Glaubenserfahrungen haben vom diesem Vorteil der Schriftsprache profitiert. Sie wurden der Subjektivität des Mündlichen entzogen, vor der Gefahr des Vergessens bewahrt und dauerhaft, über Generationen und Zeiten hinweg, zugänglich gemacht. Überprüfbar und zeitlos stehen die Texte der Bibel zur Verfügung. Beatmet durch die Kraft des Mündlichen können sie seit ihrer schriftlichen Fixierung immer wieder neu lebendig werden.

1.3 Mündliches Erzählen

 

Mit eigenen Augen und Ohren

Sie war Mutter und Ehefrau, das wussten die Kinder. Sie war Trösterin und Ratgeberin, das erlebten die Kinder. Sie war Erzählerin, das faszinierte die Kinder. Sie tat scheinbar nichts und doch alles.

Alle wussten: Sie hat die besten Kekse und den besten Tee der Welt. Sie kennt die beste Spiele. Sie spendet Trost im größten Kummer. Sie weiß Rat in der größten Not. Sie kennt alle Geschichten der Welt. Sie kennt die Geschichten nicht nur, sie erzählt sie auch.

Wann immer sie erzählte, wurde sie umringt von Großen und Kleinen. Alle lauschten gebannt. Je gebannter die Hörer lauschten, um so intensiver erzählte sie. Je intensiver die Erzählung wurde, um so aufmerksamer folgten ihr die Hörer. Sie malte Bilder mit Worten und öffnete Türen in andere Welten. Sie ermöglichte den Großen wie den Kleinen, in ihre eigene Welt einzutreten. Sie erzählte von Trauer und Freude, von Not und Glück, vom Streiten und Versöhnen, vom Leben und vom Sterben, von Gott und den Menschen. Während sie erzählte, stand die Zeit still. Gemeinsam war sie mit ihren Hörern unterwegs in einer Welt, die sie erzählend erschuf. Unbemerkt entdeckte jeder dabei seine eigene Welt. Sie erzählte, was sie wusste, und ein jederhörte, was er brauchte, und alle wussten: Es ist wahr, denn sie hatten es mit eigenen Ohren gehört und mit eigenen Augen gesehen.

1.3.1 Erfahrung austeilen und Rat geben

 

Die Kunst des mündlichen Erzählens gibt es seit Urzeiten. Schon in frühester Zeit trug man Erzählungen, Sprichwörter und Gedichte, religiöse und politische Reden vor. Sie wurden vorgetragen, um Meinungen zu bilden, Meinungen zu ändern und auch Handeln zu bewirken. Rafik Schami formuliert es so: „Liebe, Erziehung, Krieg und Revolution wären undenkbar ohne das gesprochene Wort, aber sie waren wohl möglich ohne Schrift.“9 Das gesprochene Wort gestaltet sich, es bewegt, es motiviert, es wirkt.

 

Erfahrung austeilen und Rat geben sind die Quellen, aus denen sich das Erzählen entwickelt hat. Die großen Lebensmotive der Menschheit sind eingewebt in Märchen, Mythen, Legenden und biblischen Geschichten. Walter Benjamin beschreibt die Entwicklung der mündlichen Überlieferung als einen Jahrtausende währenden Prozess. „Man muss sich die Umwandlung von epischen Formen in Rhythmen vollzogen denken, die sich denen der Verwandlung vergleichen lassen, die im Laufe der Jahrhunderttausende die Erdoberfläche erlitten hat. Schwerlich haben sich Formen menschlicher Mitteilung langsamer ausgebildet, langsamer verloren.“10 Die Formen haben sich verändert, geblieben sind die Bilder, Symbole und Motive. Immer wieder geht es um die Sehnsucht nach Liebe, die unbändige Kraft der Leidenschaft, um Hoffnung, Glück, Schmerz und Verzweiflung. Es sind die großen Fragen des Lebens, die die Erzählungen tragen: Woher komme ich? Warum lebe ich? Wie kann das Leben gelingen? Wohin gehe ich? In immer neuen Variationen werden die Lebensfragen gestellt, es wird nach Möglichkeiten und Antworten gesucht.

 

Der Erzähler kennt die Quellen der Erfahrung und bedient sich ihrer. Er schöpft aus ihnen, macht sie sich zu eigen und gestaltet die Motive. So wird er Ratgeber und Weiser, nicht, weil er erklärt und belehrt, sondern weil er die Keimkraft des Erzählens wahrt. Er deutet an, er öffnet und zeigt auf. Er bietet nicht die eine mögliche Antwort, sondern zeigt mit der Erzählung und ihren Protagonisten Identifikationsfiguren und Wege auf. Dem Hörer bleibt es überlassen, sich zu distanzieren, sich hineinzubegeben oder sich aus der Vielfalt der angebotenen Möglichkeiten zu bedienen.

 

Den Erzähler als Ratgeber und Weisen, wie ihn Walter Benjamin beschreibt, unterzieht Christoph Bräuer11 einer kritischen Betrachtung. Die gesellschaftlichen Strukturen und die individuellen Lebensbedingungen haben sich, seit den Zeiten Benjamins, in den letzten einhundert Jahren dramatisch gewandelt. Antworten auf die großen Lebensfragen zu suchen, heißt heute nicht nur, sich erzählen zu lassen. Denn: „Hieß Erzählen (einst), dem Gesamtzusammenhang einen Sinn zu entnehmen, in der Welt einen Sinn zu sehen und gerade dadurch dem einzelnen Identität, Sicherheit und Sinn zu stiften, so sind wir heute aufgefordert, Lebenssinn und Identität immer wieder neu zu suchen und selbst zu bestimmen.“12

Es kann also nicht mehr nur darum gehen, als Hörer auf Weisheit und Rat des Erzählers zu trauen, sondern vor allen Dingen darum, selbst Erzähler zu sein.

Durch das Erzählen lernen Menschen einander kennen und formen das eigene Selbst. Sie zählen Begebenheiten des eigenen Lebens auf und bringen sie von neuem hervor. Die erzählten Geschichten rufen die eigene Welt, das eigenen Leben in Erinnerung und vergegenwärtigen das eigene Ich. Subjektiv verknüpfen sie die vergangene Zeit mit der Gegenwart und eröffnen den Blick für die Zukunft. So wird das Leben sinnvoll, weil es sichtbar wird und damit neu betrachtet und konstruiert werden kann. Längst geht es nicht mehr nur um die erzählende Tradierung identitätsstiftender Motive. Das Sichern und Festhalten der Überlieferung hat ohnehin die Schriftsprache übernommen. Den mündlichen Erzählungen werden zusätzlich neue Rollen zuteil. Als Suchbewegung nach Identität sind sie Ausdruck tätiger Selbstbestimmung und entfalten ihre Kraft als Erfahrung der Selbstwirksamkeit. „Um das eigene Selbst in Erzählungen zu konstruieren, bedarf es immer noch einer Auseinandersetzung mit den Erfahrungen der Gegenwart und der Vergangenheit, aber die Perspektive richtet sich an einem zukünftigen Selbst aus.“13

Peter Bichsel sagt: „Weil ich erzählen kann, bin ich, und weil ich’s erzählen kann, stehe ich’s durch. ... Wer sich auf das Erzählen einlässt, tut es nicht, um sein Leben zu retten, er tut es, um sein Leben zu leben.“14

Insofern heißt erzählen auch, sich selbst vergewissern, sich selbst Rat geben und daraus den Weg in die eigene Zukunft konstruieren.

1.3.2 Dialog und Beziehung

 

Erzählen ist das älteste und unmittelbarste Kommunikationsmittel. Es ist ein dialogischer Prozess, der nur im Zusammenspiel von Erzähler und Zuhörer existieren kann. Das gesprochene Wort allein ist noch lange keine Erzählung. Der Erzähler ist kein Alleinunterhalter, er kann auf die Beteiligung der Zuhörer nicht verzichten.

Reden, schweigen und mit allen Sinnen aufnehmen sind unverzichtbare Bestandteile des kommunikativen Prozesses. Der Erzähler hat seine Hörer im Blick, hält mit ihnen Kontakt, stellt sich auf ihre Reaktionen ein, nimmt sie auf und wird so selbst zum Zuhörenden. Mit ihren Reaktionen, mit staunendem Interesse, mit fragenden Blicken, mit gähnender Langeweile, beeinflussen die Hörer den Erzähler. So steuern beide den Fluss der Erzählung, subjektiv, selbstbewusst und als wirkmächtige Subjekte der Kommunikation, die sich ereignet. Aus dem Gespräch entwickelt, bleibt die Erzählung immer eine Form des Gespräches.

 

Dabei geht es hier gerade nicht um Gespräche und Aktivitäten, wie sie in pädagogischen Kontexten rund um das Erzählen oft empfohlen werden. Norbert Kober spricht beispielsweise, ausgehend vom Märchenerzählen für jüngere Kinder, von einer „dialogischen Grundhaltung“15, die das Erzählen zum Spiel macht. Er schlägt vor, die zuhörenden Kinder in Wort und Tat, in Aktion und Gespräch einzubinden. Methoden des Mitsprechens und Mitmachens im Erzählfluss empfiehlt er ebenso wie die Unterbrechung der Geschichte, um Erklärungen oder Gesprächssequenzen einzubinden.

Diese Art der Pädagogisierung misstraut der Kraft des Wirkfelds des Erzählens. Dass solches Misstrauen sich als unbegründet erweist, zeigen beredte Beispiele aus der Erzählpraxis in Grundschulen in Berlin-Neukölln, die Kristin Wardetzky sehr anschaulich beschrieb. „Erzählen ist ein Spiel mit Vorstellungen, Imaginationen, die durch Sprache vermittelt werden, ein Spiel ohne körperliche, aber mit höchster geistiger Aktivität. Wenn man in die Gesichter der zuhörenden Kinder schaut, dann braucht es keine hirnphysiologischen Apparaturen, um zu erkennen, in welchem Maße sie aktiv am Geschehen beteiligt sind. ... Die Konzentration auf nichts anderes als den Mund, die Augen, die Hände der Erzählerin setzt geradezu hypnotische Kräfte frei: Kinder, die im regulären Schulalltag nicht länger als 5 bis 7 Minuten zuhören können, hängen bis zu 40 Minuten an den Lippen derer, die ihnen da Geschichten von Leben und Tod, Liebe und Hass, Versagen und Bewährung erzählen.“16

 

Erzählen ist Dialog, der von der Entdeckung der Langsamkeit lebt. Die Zeit des Alltags steht still, das Zeitmaß für den Dialog ist die Geschichte. In diesem Raum der Entschleunigung eröffnet der Erzähler den Hörern die Möglichkeit zum Mittun. Er schöpft dafür aus den Vorratslagern an Elementen, die Erzähler über die Jahrtausende angesammelt haben. Metaphern und Anspielungen, Übertreibungen und Umschreibungen, kurze Sätze und Ellipsen, Wiederholungen und Pausen sind die Elemente des Spiels. In ganz eigener Weise agiert der Erzähler dabei, er entwickelt, baut auf, gestaltet und wiederholt. In Raum und Zeit entwirft er einen Rhythmus, der die Möglichkeit bietet, dass sich Fantasieräume öffnen. Innere Bilder entstehen, sie steigen auf, wachsen und formen sich. Es sind kostbare individuelle Illustrationen, die in der eigenen Welt des Hörers verankert sind. Die Erzählung baut die Brücke zwischen den Fantasieräumen und ruft Bilder wach, die im Hörer bereits angelegt sind. Motive, Figuren oder gar die ganze Geschichte kann so zu seiner eigenen werden oder ist es vielleicht bereits. In aller Offenheit entfaltet die Erzählung ihre Keimkraft und kann zur Erfahrung der Selbstwirksamkeit werden. Denn: Der Erzähler erzählt, was er weiß. Der Hörer hört, was er braucht. Nicht mehr und nicht weniger.

Erst durch den Respekt vor dem Zuhörer verdient Kommunikation, Erzählen genannt zu werden. Was das Erzählen ausmacht, ist das Interesse am Anderen, an seinem Denken und Fühlen. Im gleichberechtigten und gleichwertigen Beziehungsgeschehen gestaltet sich der erzählende Dialog. Daraus entwickelt sich seine motivierende und heilsame Kraft.

So sind Lebendigkeit, Unmittelbarkeit, Gegenwärtigkeit, Nähe und Vertrautheit die Charakteristiken des Mündlichen.

 

Ein Erzählen, das zu recht diesen Namen verdient, hat nichts zu tun mit dem sogenannten Erzählen, das Sten Nadolny kritisiert. „Da sind die manisch getriebenen Witzeerzähler, die unermüdlichen Lieferanten von Gehörtem und Erlauschtem, die Musterschüler, die ihre ganze Klugheit auf einmal hersagen müssen, ferner Exhibitionisten, die gerade dem völlig Unbekannten ihr Intimstes auftun, weil sie ihn nie wiedersehen werden – sie missbrauchen ihn, wenn er genügend in Höflichkeit befangen ist, für eine Art Entsorgung. (... Das) ist Müll.“17

Der Hörer wird hier benutzt und das Erzählen verzweckt. Es dient ausschließlich der emotionalen Entlastung des Erzählers. Die Unmittelbarkeit kann zur Belastung werden und die Vertrautheit zum Übergriff. Ähnliches kann geschehen, wenn Erzählungen in hierarchischen Strukturen als Mittel der Belehrung, Erziehung oder Manipulation genutzt werden.

 

Gegen die Besserwisserei

In der Schule gab es einen alten Lehrer. Wie alt er wirklich war, wusste niemand. Man konnte ihn aus unterschiedlichen Gründen für alt halten. Er war Kettenraucher, trug schütteres graues Haar, sein Rücken war gebeugt. Stets wirkte er mürrisch. Seine hakenförmige Nase und die hagere Gestalt gaben seinem Ausdruck etwas Bitteres. Dass er je etwas von Pädagogik gelernt hatte oder dass er junge Menschen mochte, ließ er sich – falls es der Fall war – jedenfalls nicht anmerken. Die Gleichförmigkeit seines Stundenaufbaus unterbrach er dann und wann mit Geschichten. Er erzählte aus seiner Jugendzeit. Als Soldat im Zweiten Weltkrieg hatte er unter Generalfeldmarschall Erwin Rommel gedient. Er erzählte von „Wüstenfuchs“ Rommel und vom Feldzug in Nordafrika. Er erzählte von Märschen in der Hitze der Wüste, von Härte und Durchhaltevermögen und von Entbehrungen, die stählen. Er erzählte von Kameradschaft, die überlebenswichtig ist, und von Befehlsgewalt, die Bedingungslosigkeit fordert. Mit der Autorität dessen, der es erlebt hat, verlieh er jedem einzelnen Wort Nachdruck. So ist das Leben! Das war seine Erfahrung. Diese Erfahrung teilte er aus, um gegen jugendliche Verweichlichung und die Besserwisserei der 17-jährigen Abiturienten anzureden. Er erzählte, was er wusste, aber die Hörer fanden nichts, was sie brauchen konnten.

 

Erst der Dialog in gleichrangiger, wertschätzender und respektvoller Subjekt-Subjekt-Beziehung darf sich mit gutem Recht Erzählen nennen.

1.3.3 Flüchtigkeit und Wahrheit

 

„Es gehört zu den Eigenschaften des Mündlichen, dass seine Spuren fein sind und schnell verschwinden können. Das Gesprochene von mehreren Jahrhunderten lässt sich im Nachhinein kaum mehr überprüfen. ... Das mündlich gesprochene Wort wird vielleicht im Augenblick sehr intensiv, aber es stirbt auch im Moment seiner Geburt.“18

 

Das Mündliche ist flüchtig. Ein Satz ist gesprochen, und sogleich ist er auch schon davon. Das gesprochene Wort ist nicht festzuhalten, nicht zu überprüfen, nicht zu korrigieren und auch nicht zurückzuholen. Gerade in dieser Flüchtigkeit liegt das Besondere. Durch Worte entstehen Bilder, steigen auf und verschwinden wieder, lassen etwas zurück oder ziehen einfach nur vorüber. Alles gilt nur für den Augenblick und verflüchtigt sich, sobald man es fassen will.

 

Die Geschichte lebt nicht allein vom schematischen Aufbau mit einem Anfang, einem Höhepunkt und einer Lösung. Sie lebt vor allen Dingen von diesem zauberhaften, flüchtigen Moment. In diesem Augenblick ist der Erzähler vor allen Dingen seinem Publikum verpflichtet. Er öffnet eine Tür, um die Hörer mit hineinzunehmen in das Innerste. Gemeinsam durchwandern sie die Geschichte wie ein verwunschenes Schloss, sehen sich um, verweilen, gehen voran und kehren zurück. Poetisch und ausschweifend, filigran und reduziert kann das Betrachten sein, anschaulich und wirksam ist es allemal.

 

Mündlichkeit zielt auf erinnern, mit eigenen Worten neu hervorbringen, nach- und wiedererzählen. So folgt das Gesprochene anderen Regeln als die Schriftsprache. Nicht komplexe und verschachtelte, sondern einfache Satzstrukturen sind die Bausteine, aus denen der Hörer das Material zur Ko-Konstruktion der Erzählung nimmt. Wiederholungen und sprachliche Formeln rhythmisieren den Text. Sie verankern Motive, Bilder und Symbole in der inneren Struktur der Geschichte. Auf erklärende Beschreibungen kann das Mündliche verzichten. Mit Gestik und Mimik füllt der Erzähler die scheinbaren Lücken. Wut und Trauer, Glück und Freude muss schriftliche Erzählung in Worte fassen. Bereits ein Augenzwinkern, ein grollender Ton in der Stimme oder ein freudiger Aufschrei machen die Emotionen erlebbar und erfahrbar vor den Augen und Ohren aller. Stimmungen sind da, sie passieren im gegenwärtigen Moment.

 

Das Mündliche erreicht das Bewusstsein über das Hören. In der Wissenschaft besteht heute Einigkeit darüber, dass Hören die Sinneswahrnehmung ist, die den Menschen nachhaltig im Inneren erreicht. Was beim Hörer Resonanz findet, ist sehr individuell. Das Gesprochene und das Gehörte sind häufig sehr verschieden. Die Aneignung des Inhalts erfolgt nur zu einem Bruchteil über das Wort. Einen weitaus größeren Teil machen die wahrnehmbaren Sinneseindrücke der Gesamtheit, der Präsenz, Gestik und Mimik des Erzählers aus.

 

Der Erzähler kann nicht hinter seinem Werk verschwinden. Er verkörpert nicht eine Rolle, er ist da, real und präsent. Nahezu deckungsgleich mit dem auktorialen Erzähler der Geschichte schlüpft er in dessen Haut, steht für ihn ein und macht ihn lebendig. Selbst wenn er sie nicht verfasst hat, ist er Autor seiner Geschichte. Es ist seine Geschichte geworden, weil er sie über Kopf, Herz und Seele aufgenommen und zu seiner eigenen gemacht hat. Durch seine Erfahrung, Vorstellungskraft, Sprache und Ausdrucksfähigkeit trägt sie etwas von seinem eigenen Ich. Seine Persönlichkeit macht die Geschichte einzigartig. Niemals wären zwei Geschichten mit demselben Inhalt dieselben Erzählungen.

Für das, was er erzählt, muss der Erzähler selbst einstehen. Er zeigt sich unverwechselbar, kann sich nicht verbergen. In gewisser Weise offenbart er sich. Das erfordert Mut, denn er macht sich angreifbar und setzt sich aus. Aber gerade diese Unmittelbarkeit macht das Erzählen authentisch und wahr.

 

Wahrheit im erzählerischen Sinne entzieht sich der wissenschaftlichen Messbarkeit. Kriterien der Vergleichbarkeit des Faktischen gibt es nicht und das Mündliche braucht sie auch nicht.

Selbst die Wahrheitskategorie der informierenden Berichterstattung unterliegt einem Irrtum. Denn: „Sprache kann nie wiedergeben, was eigentlich ist, sie kann Realität nur beschreiben. Die Personenbeschreibung eines Augenzeugen zum Beispiel ist nicht etwa deshalb ungenau, weil er kein gewandter Schriftsteller ist. Der Augenzeuge kann ein noch so guter Beobachter sein, er wird mit Sprache den Täter optisch nicht fixieren können. Wichtig für den Bericht des Augenzeugen ist ja nicht nur das, was er gesehen hat. Genauso wichtig sind seine zusätzlichen Erfahrungen: Seine Beschreibung ist von allem abhängig, womit er die Person des Täters vergleichen kann.“19 Ein zweiter Irrtum besteht darin, dass die Fantasie des Menschen begrenzt ist, durch alles, was bereits ist oder denkbar ist. So enthält jede Geschichte Wahrheit und ist zugleich Erfindung. Peter Bichsel sagt: „Während ich Geschichten erzähle, beschäftige ich mich nicht mit der Wahrheit, sondern mit den Möglichkeiten der Wahrheit. Solange es noch Geschichten gibt, so lange gibt es noch Möglichkeiten.“20

Was also ist Erzählen? Ist es fantasievolles Beschreiben oder wahrheitsgemäßes Erfinden? Vermutlich ist es von beidem etwas. In jeder Erzählung sind Wahrheit und Erfindung untrennbar verwoben. Sten Nadolny empfiehlt, der Wahrheit in aller Freiheit zu begegnen. Wahrheitsliebe bedeutet erzählerisch nicht, ihr sklavisch zu dienen. Augenzwinkernd fügt er hinzu, „dass sie (die Wahrheit) ungern persönlich in Erscheinung tritt, sondern es vorzieht, sich von Abertausenden von Geschichten annäherungsweise abbilden zu lassen. Sie selbst steht amüsiert daneben und sieht zu. Ihre Liebhaber wissen das. ...“21

 

Auch für biblisches Erzählen kann das oben Genannte als zutreffend gelten. Religiöse Wahrheiten entziehen sich der faktischen Überprüfbarkeit. Glaubenserfahrungen sind und bleiben subjektiv. Als solche sind sie nicht beweisbar im naturwissenschaftlichen Sinne, wohl aber erzählbar. Ihre Glaubwürdigkeit ziehen sie aus der Überlieferung und aus den Spuren, die sie in der Geschichte über Generationen hinweg hinterlassen haben. Die wichtigste Münze der Wahrheit aber ist die Leibhaftigkeit und Glaubwürdigkeit des Erzählers in der aktuellen Gegenwart. Es geht nicht um das Faktische des Glaubens, sondern um Möglichkeiten. Dass es Möglichkeiten der Glaubenserfahrungen gibt, macht der Erzähler mit seinen Geschichten hörbar, sichtbar und real.

„Die Augen- und Ohrenzeugenschaft des Erzählers mag so abstrakt bleiben wie in den Märchenformeln oder so offensichtlich angemaßt wie in manchen aus dem Leben gegriffenen Geschichten ... Der sinnlichen Gewissheit des Hörers tut das keinen Abbruch, es bleibt ein ‚Wahrheitsbeweis‘, der ihm gestattet, sich beruhigt auf die Erzählung einzulassen.“22

Unter den Bedingungen der Offenheit können die Möglichkeiten der Wahrheit zu erzählbaren Erfahrungen der Hörer werden.

1.3.4 Sieben Merkmale des Erzählens

 

Merkmal 1 – Mündliches Erzählen ist dialogisch.

Reden und schweigen, sprechen und mit allen Sinnen aufnehmen sind gleichermaßen Vollzugsweisen von Sprache. So kann Erzählen nur im Zusammenspiel von Erzähler und Hörer existieren. Beide steuern gemeinsam den Fluss des Dialogs.

 

Merkmal 2 – Mündliches Erzählen ist lebendig.

Sprache, Mimik, Gestik und Präsenz des Erzählers verleihen der Geschichte Kraft und Lebendigkeit. Emotionale Rede führt die Figuren, Orte und Begebenheiten den Hörern real vor Augen.

 

Merkmal 3 – Mündliches Erzählen ist unmittelbar.

Zwischen Erzähler und Hörer gibt es kein trennendes Medium. Der Erzähler setzt sich aus, zeigt sein eigenes Ich, macht sich hinterfragbar, ist verfügbar. Er steht mit seiner Person ein für das, was er erzählt.

 

Merkmal 4 – Mündliches Erzählen ist subjektiv.

Erzählend wird Erfahrung mitteilbar. Über die eigenen inneren Bilder finden die Motive, Figuren und Geschehnisse Anknüpfungspunkte in der Welt des Hörers. Sie werden so zur erzählbaren Erfahrung des Hörers.

 

Merkmal 5 – Mündliches Erzählen ist wahr.

Sprache kann Wirklichkeit nicht abbilden, sie kann sie nur beschreiben. Jede Erzählung enthält Wahrheit und Erfindung gleichermaßen. Sie wird wahr, weil sie mit eigenen Augen und Ohren sichtbar und hörbar wurde.

 

Merkmal 6 – Mündliches Erzählen ist respektvoll.

Das Interesse am Anderen macht gutes Erzählen aus. Erst der Dialog auf Augenhöhe in wertschätzender Subjekt-Subjekt-Beziehung darf sich Erzählen nennen.

 

Merkmal 7 – Mündliches Erzählen ist zweckfrei.

Grundlage allen Erzählens ist die Freiheit. Nicht einer Absicht oder einem Zweck verpflichtet, sondern im Bewusstsein der Flüchtigkeit, in Offenheit und Selbstbestimmtheit kann es seine Kraft entfalten. Der Erzähler erzählt, was er weiß. Der Hörer hört, was er braucht.

1.4 Bibelerzählen

 

Bibelerzählen – was ist das?

„Bist du Erzähler?“ „Das bin ich. Ich erzähle Alltagsgeschichten und unterhalte die Leute.“

„Bist du Erzählerin?“ „Auf jeden Fall. Ich erzähle Märchen aus aller Welt. Ich entführe die Menschen in das Reich des Zaubers und der Fantasie.“

„Und du?“ „Ich bin Bibelerzähler. Das ist etwas Besonderes.“

„Was sollte daran besonders sein?!“

„Ich erzähle vom Leben.“ „Das tun wir auch.“

„Ich erzähle von Gott.“ „Manchmal haben unsere Geschichten auch mit Gott zu tun.“

„In meinen Geschichten ist Gott die Mitte, die Hauptperson. Er ist keine Rolle.“

„Er ist keine Rolle? Was dann?“ „Er ist da. Er wirkt. Lebendig. Kraftvoll. Widersprüchlich.“

„Und die Menschen in deinen Erzählungen?“

„Sie lachen, sie weinen, sie klagen, sie zweifeln, sie jubeln, sie leben.“

„Wo findest du die Geschichten.“

„Es ist kein Finden. Es ist ein Suchen. Es ist ein Tasten. Mühsam manchmal. Schmerzlich zuweilen. Beglückend immer. Es ist ein Weg. Ich lese in der Bibel. Ich begegne Menschen. Ich stelle ihnen Fragen. Wir suchen gemeinsam. Erfahrungen werden lebendig. Dann ist Gott da. Mitten unter uns.“

 

Bibelerzählen ist leicht.

Jochem Westhof23 gibt angehenden Erzählern zwei Hinweise mit auf den Weg: Mach dir ein inneres Bild! Nutze viel wörtliche Rede!

Viele biblische Geschichten bringen narrative Strukturen bereits mit. Die großen Zyklen der Vätergeschichten, von Abraham über Isaak und Jakob bis hin zu Josef haben scheinbar alles, was eine Erzählung braucht. Ganze Erzählwerke komponierten die Evangelisten, verschachtelten darin kleine Erzählungen und ließen sogar Jesus selbst erzählen. In diese Narrationen kann sich der heutige Erzähler einbinden.

Versuch es einfach, lautet die Ermutigung.

 

Bibelerzählen ist schwer.

Bei der Annäherung an die Bibeltexte werden Dissonanzen und Widersprüche sichtbar. Die Texte wollen oft nicht zueinander passen. Wissen und Vorstellungen von politischen Verhältnissen, Lebensweise und Umwelt der damaligen Zeit sind lückenhaft. Kein heutiger Erzähler war Augenzeuge der einstigen Taten und Wunder. Die Gottesbilder der biblischen Geschichten sind vielfältig und widersprüchlich. Im Ringen nach Worten und Suchen nach Handlungsfäden kann das eigene Gottesverständnis brüchig werden. Wie lässt sich da noch erzählen?

 

Bibelerzählen kann gelingen.24

In biblischen Geschichten verdichten sich die Menschheitserfahrungen seit Urzeiten. Alle Generationen haben aus diesen Erfahrungen geschöpft. Vielfältige Wege werden heute gesucht und erprobt, um sie immer wieder neu zugänglich zu machen. Ob sie musikalisch oder bibliodramatisch, religionsdidaktisch oder wissenschaftlich-exegetisch sind, hängt von formalen Bedingungen oder ganz persönlichen Entscheidungen ab. Die Herangehensweise im Theologiestudium an der Universität ist eine andere als in der Bibelstunde des Hauskreises, die Bibelarbeit auf dem Kirchentag findet andere Anknüpfungspunkte als die Verkündigung im Kindergottesdienst.

Für den Erzähler führt der Weg in der Rolle des Autors in den Text. Auf der Suche nach dem besonderen, dem heiligen Moment findet er Zugang über die Personen, Orte und Ereignisse, die die jeweilige Geschichte tragen. Als Autor tritt er ein, verweilt und wird Teil dieser Geschichte. Dann beginnt das Suchen und Fragen. Unbestritten kann dieser Weg spirituelle Züge haben, dennoch erfordert er gewissermaßen auch handwerkliches Geschick.

 

Man stelle sich einen Tischler vor, der Holz bearbeitet. Er nimmt einen Holzklotz, sägt, hobelt, glättet, härtet, lackiert. Das Holz bleibt Holz, aber es verändert sich mit jedem Arbeitsschritt. In jedem Schritt und jeder Veränderung hinterlassen der Wille, das Geschick oder Unvermögen des Tischlers seine Spuren.

Zuweilen dient dieses Bild der Beschreibung der mündliche Überlieferung. Demnach gleicht das Erzählen über Generationen hinweg diesem handwerklichen Prozess bei dem sich langsam, beinahe unmerklich transparente Schichten überdecken. An jeder Schicht haftet die Spur eines Erzählers oder einer Generation. In jede Schicht ist Erfahrung eingewebt, als Ausdruck eines neuen Verständnisses oder einer neuen Perspektive. In dieser Weise lässt sich auch die Überlieferung der Bibel verstehen. Viele Bearbeitungsstufen werden sichtbar, und viele Stimmen sind hörbar. Es ist ein vielstimmiger Chor der Gotteserfahrung und des Gottesverständnisses.

Der Autor lässt sich auf diesen Prozess ein. Er gesellt sich in den vielstimmigen Chor und muss dabei seine eigene Stimme finden. Das gelingt nicht im oberflächlichen Nacherzählen oder infantilen Verlebendigen. Es geht nicht um ein Aus- oder Offenlegen des Kerns der Geschichte um der aktuellen Erklärbarkeit oder Alltagstauglichkeit willen. In Gestalt der biblischen Figuren und Geschehnisse vergegenwärtigt der Erzähler Vergangenes. Vor allen Dingen aber ist es ein Sprechen von Gott, seiner Gegenwart und Unverfügbarkeit. Da nun der Mensch nicht in der Lage ist, Gott zu fassen oder zu beschreiben, kann alles Reden immer nur eine individuelle Verhältnisbestimmung zu Gott sein. „Im Grunde macht genau diese ständige Verhältnisbestimmung authentisches Sprechen von Gott ganz leicht. Denn ich muss mich nicht an das Gegenüber anbiedern, sondern ich kann von mir erzählen, von dem, was ich glaube, und von dem, was ich erlebt habe, worauf ich vertraue und was Gott für mich bedeutet. Ich muss Gott nicht lange umformulieren, bis ich die richtige Variante für das Gegenüber gefunden habe. Das Sprechen von Gott ist kein Zielgruppenmarketing, sondern Selbstoffenbarung.“25 Der Erzähler lässt sich ein und setzt sich aus. Auf diese Weise öffnet er seinen Hörern Türen, um einen eigenen Zugang zur Geschichte zu finden und in den Chor der Gotteserfahrung einzustimmen.

 

Sorgfältiger und respektvoller Umgang mit den Texten ist Voraussetzung dafür, dass sie ihre Keimkraft bewahren und ihre Wirkkraft entfalten können. Ingo Baldermann fordert hier doppelte Authentizität. Sie ist notwendig im Blick auf diejenigen, von denen erzählt wird. Es geht darum, „authentisch (zu) reden im Blick auf die Leiden und die Hoffnung derer, von denen ich erzähle. Was ich von ihnen sage, muss vor ihnen bestehen können.“26 Gleichzeitig fordert er die Authentizität des Erzählers gegenüber sich selbst. „Ich kann ja nur wahrnehmen, was in mir selbst Resonanz findet. Insofern bin ich in jeder Geschichte, die ich erzähle, auch selbst präsent; ich teile viel von mir selbst mit, und das kann manchmal auch bedeuteten: Beim Erzählen liefere ich mich aus. ... Im Ernst erzählenswert ist nur, womit ich selbst noch nicht ganz fertig bin, und diesen Ernst darf ich den biblischen Erzählungen ... um keinen Preis nehmen. Ich muss die Geschichte zuallererst auch mir selbst noch einmal erzählen, sonst kann auch nichts zu denen ankommen, die mir zuhören.“27

Bibelerzählen wirkt.

Beim freien Erzählen biblischer Geschichten verdichten sich die Merkmale des Mündlichen. Bibelerzählen gestaltet sich als Subjekt-Subjekt-Subjekt-Beziehung im Wirkfeld des Erzählens zwischen Erzähler, Hörer und Text.

 

Für den Erzähler gestaltet sich das Wirkfeld in der Dimension der Selbstwirksamkeit.

Erzählen heißt auch, sich selbst erzählen. Die individuelle Gottesbeziehung in aller Gewissheit oder Ambivalenz, Zerrissenheit oder Beständigkeit wird zur Sprache gebracht. Dabei bleibt der Erzähler das Subjekt seiner eigenen Geschichte und der Deutung seines eigenen Lebens. Erzählen wird zur Erfahrung der Selbstwirksamkeit.

Für den Hörer bietet das Wirkfeld die Dimension des Modelllernens. Gelegenheit macht bekanntlich die Diebe. Erwachsene ebenso wie Kinder sind heute auf Modellpersonen angewiesen, denen sie das Erzählen ablauschen können. Das Hören und die staunende Begeisterung für die lebendigen Geschichten bieten gute Möglichkeiten dafür.

Der Text trägt sich in das Wirkfeld in der Dimension der Verkündigung ein. Die Überlieferung wird in aller Subjektivität lebendig und offen für die heutigen Erfahrungen, Hoffnungen und Bedrohungen des Lebens.

 

Bibelerzählen ist herausfordernd, denn als erwachsene Form religiöser Selbstaussage ist es über Jahrzehnte in Vergessenheit geraten. Es muss die Kinderschuhe der infantilen Beschaulichkeit abstreifen und den Hörenden jeder Generation als Gegenüber ernst nehmen. Bibelerzählen ist schwer, weil es voraussetzt, dass der Erzähler sich auf die mitdenkenden Zuhörer, sich selbst und den wirkmächtigen und unverfügbaren Gott einlässt.

Bibelerzählen ist leicht, denn es lebt durch die elementaren Grundformen menschlicher Kommunikation und die individuellen Denk- und Sprachfähigkeiten, die in jedem Menschen bereits angelegt sind. Bibelerzählen ist möglich, weil die Geschichten zwischen Himmel und Erde, Gott und den Menschen da sind. Die Bibel stellt ihren reichen Schatz zur Verfügung und gesteht jedem einzelnen Menschen Deutungshoheit zu.

 

Wer das Bibelerzählen lernen will, bewegt sich in drei unterschiedlichen Feldern und führt sie gestaltend zusammen. Die Nutzung des Mundwerks, das wendige Spiel mit Worten, Sprache und fantasievollen Bildern ist das eine Feld. Das zweite ist die Suche nach Gott und dem Leben in theologischer Auseinandersetzung. Die Ergebnisse münden schließlich im dritten Feld, der Präsenz und freien Rede vor einem Publikum.

 

Bibelerzählen ist gebunden an den siebenfachen Imperativ des Erzählens.

1.5 Siebenfacher Imperativ des Erzählens

 

Imperativ der Gegenwärtigkeit

Mit seiner Person steht der Erzähler für die Wahrhaftigkeit seiner Erzählung ein. Die Erzählungen gestalten sich im Hier und Jetzt. Sie eröffnen Räume für die Ahnung der Gegenwart Gottes.

 

Imperativ der Glaubwürdigkeit

Die Erzählungen bewahren die inneren Widersprüchlichkeiten ihrer Gestalten. Sie können dem Leben mit seinen Bedrohungen und seinen Hoffnungen standhalten. Sie teilen Erfahrung aus und eröffnen Lebensmöglichkeiten.

 

Imperativ des Kongruenz