Big Brother Gone - Marco Overhaus - E-Book

Big Brother Gone E-Book

Marco Overhaus

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Beschreibung

Big Brother Gone: Die Krise der amerikanischen Demokratie "Der große Bruder ist zurück", titelte das Magazin Stern im März 2023, knapp ein Jahr nach Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine. Auf dem Cover zu sehen war der hünenhafte US-Präsident Joe Biden als "Big Brother", der den deutschen Kanzler Olaf Scholz in Kindesgröße an der Hand führt. Dieses Bild des Big Brother, des großen Bruders, kann im Zusammenhang mit den Vereinigten Staaten von Amerika sehr unterschiedliche Assoziationen hervorrufen. Bei vielen Menschen weckt das Bild des Big Brother die Vorstellung eines Orwell'schen Überwachungsstaates. Die Enthüllungen von Edward Snowden haben der Welt die Machtanmaßung und den Machtmissbrauch amerikanischer Geheimdienste vor Augen geführt. In Deutschland hat sich über Jahrzehnte aber auch eine positive Sicht gehalten, nämlich dass die USA ein enger und starker Verwandter in der Familie der freiheitlichen Demokratien sind, der "uns" in schwierigen Zeiten beschützt. Warum Europa mehr Eigenständigkeit braucht Jahrzehntelang hat sich Europa darauf verlassen, dass amerikanische Macht seine Sicherheit gewährleistet: militärisch eingebettet in Allianzstrukturen, flankiert durch wirtschaftliche Offenheit und basierend auf liberal-demokratischen Werten. Doch diese drei Säulen der Pax Americana sind schon lange vor den letzten Wahlen in den USA und Donald Trumps zweiter Präsidentschaft brüchig geworden. Die Glaubwürdigkeit amerikanischer Rückversicherung und Abschreckung hat abgenommen. Liberal-demokratische Werte stehen in den USA nicht nur unter Druck, sie leiten auch immer weniger deren Außen- und Sicherheitspolitik. Unter Donald Trumps Regierung wenden sich die USA immer weiter von Europa, aber auch von Teilen der restlichen Welt, ab. Trumps radikaler Kurs lässt die Frage aufkommen, ob sich die USA auf dem Weg zur Autokratie befinden, während die von ihm verhängten Strafzölle der Beginn eines neuen Handelskriegs sein könnten. Dringender denn je muss Europa seine Beziehungen zu den USA auf eine neue Grundlage stellen. In seinem Buch "Big Brother Gone" beschreibt Marco Overhaus die Krise der amerikanischen Demokratie. Er zeigt, warum Europa selbst für seine Sicherheit sorgen muss, und liefert Ideen für eine Neuausrichtung der transatlantischen Beziehungen.

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Seitenzahl: 326

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Marco Overhaus

Big Brother Gone

Marco Overhaus

Big Brother Gone

Europa und das Ende der Pax Americana

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© Fazit Communication GmbH

Frankfurter Allgemeine Buch

Pariser Straße 1

60486 Frankfurt am Main

[email protected]

Umschlaggestaltung: Nina Hegemann, Umschlagabbildung: Stemoc/ Wikimedia Commons

Satz: Nina Hegemann

Druck: CPI Books GmbH, Leck

Printed in Germany

1. Auflage

Frankfurt am Main 2025

ISBN 978-3-96251-185-2

eISBN 978-3-96251-260-6

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, vorbehalten.

Frankfurter Allgemeine Buch hat sich zu einer nachhaltigen Buchproduktion verpflichtet und erwirbt gemeinsam mit den Lieferanten Emissionsminderungszertifikate zur Kompensation des CO2-Ausstoßes.

Inhalt

Vorwort

Kapitel 1 Der Niedergang einer Idee

Die Säulen der Pax Americana

Sicherheit und Militär

Wirtschaftliche Dominanz und Offenheit

Liberal-demokratische Werte

Eine unfriedliche Welt

Kapitel 2 Erosion von innen

Von der Polarisierung zur Spaltung

Außenpolitische Folgen

Protektionistische Wende

Die Krise der amerikanischen Demokratie

Kapitel 3 Europa: Sicherheit gegen Russland – ohne Amerika?

Russlands Verbitterung

Rückkehr der Verteidigungsfrage

Die nukleare Abschreckung

Krieg gegen die Ukraine

Transatlantische Wirtschaftskonflikte

Die Pax Americana in Europa

Kapitel 4 Indopazifik: Rivalität mit China

Der amerikanisch-chinesische Systemkonflikt

Amerikas Allianzen

Von „mächtigen Drachen“ und Schwarmrobotern

Atomares Wettrüsten in Asien

Abkoppelungsängste und Selbstzweifel

Handelskriege und neue Wirtschaftsblöcke

Die Pax Americana im Indopazifik

Kapitel 5 Naher Osten: die lange Suche nach dem Exit

Amerikas vitale Interessen

Ausgestreckte Hand versus „maximaler Druck“

Iran und die „Achse des Widerstandes“

Die Golfstaaten: Unsicherheit über den Kurs Amerikas

Abraham-Abkommen

Die palästinensische Frage kehrt zurück

Wirtschaft und Geopolitik

Die Pax Americana im Nahen Osten

Kapitel 6 Amerikas schwindende Macht und Europas Unsicherheit

Abnehmende militärische Glaubwürdigkeit

Von der wirtschaftlichen Offenheit zur Geoökonomie

Werte als Konflikttreiber

Die transatlantischen Beziehungen neu denken

Literaturverzeichnis

Endnoten

Der Autor

Vorwort

Das Bild des Big Brother, des großen Bruders, kann im Zusammenhang mit den Vereinigten Staaten von Amerika sehr unterschiedliche Assoziationen hervorrufen. Es weckt bei vielen Menschen die Vorstellung eines übermächtigen Orwell’schen Überwachungsstaates. Die Enthüllungen von Edward Snowden haben der Welt die Machtanmaßung und den Machtmissbrauch amerikanischer Geheimdienste vor Augen geführt. Gerade in Deutschland hat sich über Jahrzehnte aber auch eine positive Sicht gehalten, nämlich dass Amerika ein enger und starker Verwandter in der Familie der freiheitlichen Demokratien ist, der „uns“ in schwierigen Zeiten beschützt.

Schließlich kann das Bild des großen Bruders auch auf die Selbstverzwergung der deutschen und europäischen Außenpolitik anspielen. Im März 2023, knapp ein Jahr nach Beginn des russischen Überfalls auf die gesamte Ukraine, titelte das Magazin Stern: „Der große Bruder ist zurück“. Auf dem Cover zu sehen ist der hünenhafte US-Präsident Joe Biden, der den deutschen Kanzler Olaf Scholz in Kindesgröße an der Hand führt.

Diese Assoziationen spiegeln sehr unterschiedliche Sichtweisen auf die USA und die transatlantischen Beziehungen wider. Amerika ist nicht nur selbst ein polarisiertes Land, es hat auch eine polarisierende Wirkung auf sein internationales Umfeld – und zwar nicht erst seit dem Aufstieg Donald Trumps und dessen MAGA-Bewegung. Die einen machen schon lange das amerikanische Dominanzstreben für zahlreiche Krisen und Kriege auf der Welt verantwortlich. Sie dürften sich durch Trumps Drohungen und seine jüngsten Äußerungen, die USA sollten Grönland, den Panamakanal und den Gazastreifen kontrollieren, bestätigt fühlen.

Die anderen sehen in der globalen Präsenz und Führungsrolle Amerikas einen unverzichtbaren Beitrag zur internationalen Sicherheit und Stabilität. Diese Position hat offensichtlich einen zunehmend schweren Stand. Viele sprechen gar vom Ende der transatlantischen Partnerschaft. Die Radikalität, mit der Trump gleich zu Beginn seiner zweiten Amtszeit Jahrzehnte alte Grundprinzipien der amerikanischen Innen- wie Außenpolitik über Bord geworfen hat, ist verblüffend. Allerdings vollziehen sich die tektonischen Verschiebungen in den USA, die in diesem Buch ausführlich beschrieben werden, schon seit Langem.

Die unterschiedlichen Sichtweisen auf Amerika helfen dabei, die aktuellen Entwicklungen besser einzuordnen und deren längerfristige Folgen für Deutschland, Europa und die Welt einzuschätzen. Deshalb komme ich in diesem Buch hin und wieder auf das Streitgespräch zwischen einer Verfechterin der Pax Americana und einem scharfen Kritiker zurück. Dieses Gespräch hat so zwar nie stattgefunden, aber die Argumente, die die beiden austauschen, sind in der politischen und gesellschaftlichen Debatte der letzten Jahre immer wieder aufgetaucht.

Ein Buch über die USA und die internationale Politik zu schreiben ist angesichts der Dynamik des Betrachtungsgegenstandes eine große Herausforderung. Der eigentliche Schreibprozess zu „Big Brother Gone“ begann Anfang 2023, also in der Mitte von Bidens Amtszeit. Dabei konnte ich mich jedoch bereits auf zahlreiche Vorarbeiten stützen. Ich beschäftige mich seit vielen Jahren im Rahmen meiner wissenschaftlichen Forschung an der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) mit der US-amerikanischen Außen- und Sicherheitspolitik.

Das Leitthema von „Big Brother Gone“ ist das komplexe und ambivalente Verhältnis zwischen amerikanischer Macht – verstanden in einem umfassenden militärischen, wirtschaftlichen und normativen Sinne – und der internationalen Sicherheit. Genauer gesagt geht es um die spezifische Ausübung amerikanischer Macht unter liberalen Vorzeichen. Bis heute stützen Deutschland und andere europäische bzw. westliche Länder ihre eigene Sicherheit auf genau diese Vorstellung der Pax Americana. Die Regierungen in diesen Ländern stehen nun vor der Aufgabe, alte Annahmen hinter sich zu lassen und die Beziehungen zu Amerika auf eine neue Grundlage zu stellen. Auch dafür soll das Buch Anregungen geben.

Dieses Unterfangen wäre ohne die großartige Unterstützung vieler SWP-Kolleginnen und -Kollegen nicht möglich gewesen. Sie haben mir wertvolle Hinweise und Anregungen zu einzelnen Kapiteln gegeben, die ihre eigene Forschung betreffen. Mein besonderer Dank gilt auch den Kolleginnen und Kollegen der Informationsdienste an der SWP sowie den Grafikern und Datenmanagern. Mein Doktorvater Prof. Hanns W. Maull gab mir einmal mehr wichtige Impulse und hat mich zu Beginn des Projektes ermutigt, nicht nur auf die militärischen und normativen Aspekte von Sicherheit zu schauen, sondern auch auf die wirtschaftlichen. Dr. Jens Seeling vom Verlag Frankfurter Allgemeine Buch danke ich für sein vorausschauendes Interesse an dem Projekt und Frau Christin Bergmann für das Lektorat. Schließlich empfinde ich tiefe Dankbarkeit gegenüber meiner Frau Szilvia, die nicht nur eine kritische Leserin des Manuskripts war, sondern mir während der Arbeit an diesem Buch auch viel Geduld entgegengebracht hat.

Berlin im März 2025

Kapitel 1Der Niedergang einer Idee

Die Vorstellung, dass US-amerikanische Macht internationale Sicherheit schafft, ist bis heute tief in den politischen Kreisen der USA verankert. Das gilt sogar für Donald Trump und die nach seinen Vorstellungen neu geschaffene Republikanische Partei. Trump möchte Amerika wirtschaftlich und militärisch stärken, weil er sich davon mehr Respekt für sein Land und zugleich eine sicherere Welt verspricht. Dieses Selbstverständnis amerikanischer Macht spiegelt sich in dem von Ronald Reagan geprägten Slogan „Frieden durch Stärke“ wider. Peace through Strength lautet denn auch die Überschrift des sicherheitspolitischen Kapitels im Wahlprogramm der Republikaner für die US-Wahlen im November 2024.

Für die Bündnispartner der USA in Europa und Asien sowie für einen großen Teil der außenpolitischen Eliten in Washington ist die Idee der Pax Americana allerdings stets voraussetzungsreicher gewesen als nur durch wirtschaftliche und militärische Stärke. Demnach ist es die spezifische Ausübung amerikanischer Macht, die internationale Sicherheit schafft. Sie zeigt sich in Form von Allianzstrukturen und internationalen Verflechtungen, wirtschaftlicher Offenheit und basierend auf liberal-demokratischen Werten. Der erneute und klare Wahlsieg Donald Trumps im November 2024 deutet darauf hin, dass dieses liberale Verständnis der Pax Americana bald endgültig Geschichte sein könnte. Doch genau darauf hat Deutschland jahrzehntelang seine Sicherheitspolitik gestützt.

Die Idee der Pax Americana ist nicht erst seit dem (ersten) Einzug Donald Trumps ins Weiße Haus heftig umstritten – in westlichen Ländern und erst recht darüber hinaus.1 Aus der Sicht ihrer Kritikerinnen und Kritiker sind die Vereinigten Staaten stets eine „Chaosmacht“ geblieben, die unter dem Strich mehr Unsicherheit als Sicherheit in der Welt verbreitet hat. Haben die USA durch ihr Drängen auf die NATO-Osterweiterungen nicht erst das Problem mit Russland geschaffen, bei dessen Bewältigung sie unter Präsident Joe Biden dann eine führende Rolle beanspruchten? Auch das Eintreten für Werte wie Demokratie, Offenheit und Rechtstaatlichkeit in der amerikanischen Außen- und Sicherheitspolitik wirkt aus dieser kritischen Perspektive wie Nebelkerzen, die die zutiefst eigennützigen wirtschaftlichen und politischen Interessen Washingtons verbergen sollen.

In Amerika wird die Idee, dass amerikanische Macht internationale Sicherheit schafft, von einer ideologisch breiten Bewegung unter dem Schlagwort Restraint (was sich am besten mit „außenpolitischer Zurückhaltung“ übersetzen lässt) zurückgewiesen. Zu dieser Bewegung zählen Realisten, Libertäre und solche, die dem außenpolitischen Mainstream in Amerika abtrünnig geworden sind, weil sie die Verwicklung der USA in ausländische Kriege ablehnen. Aus Sicht der Restrainer hat Washington weder die Mittel noch die Unterstützung der Bevölkerung, um weiterhin die Rolle des Weltpolizisten zu spielen. Für viele – nicht nur für die Restrainer – wurden die Terroranschläge vom 11. September 2001, der folgende „Krieg gegen den Terrorismus“ sowie der desaströse Einmarsch in den Irak zum Wendepunkt. Es gehört zu den zentralen Widersprüchen Donald Trumps, dass er zwar einerseits für „Frieden durch Stärke“ eintritt, andererseits aber den Amerikanerinnen und Amerikanern versprochen hat, die USA aus internationalen Krisen und Kriegen herauszuhalten.

Besonders vehement stößt die Idee der Pax Americana jedoch außerhalb Europas und Nordamerikas, ob in Lateinamerika, im arabischen Raum, in Afrika und in weiten Teilen Asiens, auf Kritik und wird – um das eine mal Wikipedia zu zitieren – als „Legitimationsdiskurs für einen US-amerikanischen Neokolonialismus und Imperialismus“ abgelehnt.2 Das wirft unweigerlich die Frage auf, wessen Sicherheit Amerika zu schützen beansprucht. Der Anspruch ist durchaus universalistisch. Demnach schützen die USA nicht nur ihre Bündnispartner, die vor allem dem Kreis westlicher Demokratien angehören, sondern sind letztendlich Garant der internationalen Sicherheit. In den Machtzentralen Chinas, Russlands und anderer autoritär regierter Länder wird dies sicher anders gesehen. Aber auch viele nicht-westliche Länder, nicht zuletzt des sogenannten Globalen Südens, die sich als Demokratien begreifen, stehen der Idee, dass amerikanische Macht internationale Sicherheit schafft, ambivalent oder offen ablehnend gegenüber.

Die Säulen der Pax Americana

Diese Idee hat auch die – bis heute stark amerikanisch geprägte – Forschung über die internationalen Beziehungen beeinflusst. Die „Theorie hegemonialer Stabilität“3 besagt beispielsweise, dass es eines wirtschaftlich und militärisch dominanten Staates bedarf, um internationale Sicherheit und Stabilität zu gewährleisten. Entsprechend dieser Theorie hat nur ein dominanter Staat die Möglichkeiten und letztendlich auch das Interesse, „öffentliche Güter“ wie Sicherheit oder wirtschaftliche Stabilität bereitzustellen.

Das Grundproblem liegt darin, dass es in der internationalen Politik keine Weltregierung gibt, die Sicherheit oder wirtschaftliche Wohlfahrt schaffen und dafür zudem Steuergelder mobilisieren könnte. Hinzu kommt, dass Staaten häufig vor einem Dilemma stehen. Sie haben naturgemäß große Anreize, nach ihren eigenen kurzfristigen Interessen zu handeln – etwa indem sie in wirtschaftlich schwierigen Zeiten ihre Märkte gegen Konkurrenz abschotten oder danach trachten, ihre eigene Sicherheit durch nationale Rüstungsanstrengungen zu verbessern. Das Risiko, dass dabei alle verlieren, ist groß.4 Denn wenn sich viele oder sogar alle Staaten abschotten und aufrüsten, leben am Ende womöglich alle in ärmeren und unsicheren Verhältnissen.

Die Idee der Pax Americana bedeutet einerseits, dass Amerika als militärisch und wirtschaftlich besonders mächtiger Staat diese Lücke einer fehlenden Weltregierung zumindest teilweise ausfüllt und andere Staaten durch Anreize oder Sanktionen zu einer gedeihlichen Zusammenarbeit bringt. Die Annahme ist dabei keineswegs, dass die Vereinigten Staaten uneigennützig handeln. In dem von ihnen geschaffenen System profitieren zwar alle, vor allem jedoch sie selbst.

Die Pax Americana geht aber über die reine Machtpolitik hinaus. Entsprechend dieser Idee ist es ihre liberal-demokratische Verfasstheit, die dafür sorgt, dass die USA ihre Macht nicht im Sinne klassischer Imperien zur Unterdrückung und Ausbeutung anderer nutzen – sondern für das internationale „Gemeinwohl“.5 Gerade mit Blick auf diese Wertedimension wird deutlich, dass die Pax Americana sehr stark westlich geprägten Vorstellungen entspricht. Sie ist ideengeschichtlich tief verwurzelt in der europäischen Aufklärung sowie im Gründungsmythos der USA. Im amerikanischen Selbstverständnis waren die Abwesenheit von Feudalismus und Klassenunterschieden, der Schutz religiöser Freiheiten vor staatlicher Unterdrückung sowie die „Zivilisierung“ vermeintlich „leerer“ Räume die Grundlage für den Aufstieg und die Besonderheit der eigenen Nation.6

Die Idee der Pax Americana verbindet Macht mit Werten und ruht dabei auf drei Säulen. „Macht“ bezeichnet dabei ganz allgemein die Fähigkeit eines Staates bzw. Akteurs, mit militärischen und wirtschaftlichen Mitteln andere dazu zu bringen, etwas Bestimmtes zu tun oder zu unterlassen. Die erste Säule der Pax Americana betrifft die militärische Macht gegenüber anderen Staaten – sowohl solchen, die mit Amerika verbündet sind als auch den „strategischen Wettbewerbern“ bzw. Gegnern. Die Verknüpfung von wirtschaftlicher Macht und wirtschaftlicher Offenheit ist die zweite Säule. Drittens schließlich ruht die Idee der Pax Americana auf der normativen Ausstrahlungskraft liberal-demokratischer Werte, für die Amerika über Jahrzehnte beansprucht hat einzustehen. Diese Attraktivität der amerikanischen Ideale verleiht dem weltpolitischen Anspruch der USA Legitimität und sichert ihnen die Unterstützung ihrer Verbündeten und Partner. Die konkrete Ausgestaltung der Pax Americana mit ihren drei Säulen hängt jedoch wesentlich vom regionalen Kontext ab.7

Sicherheit und Militär

Die USA galten über Jahrzehnte als die unangefochtene Führungsmacht, wenn es um militärische Fähigkeiten und Kräfteverhältnisse gegenüber anderen Staaten ging. Zwar konnte die Sowjetunion Amerika während der Zeit des Kalten Krieges mit Blick auf die atomaren Arsenale und die Zahl der Truppen, Panzer und Schiffe durchaus Paroli bieten. Allerdings verfügten die USA anders als die Sowjetunion über ein schlagkräftiges Allianzsystem und zumindest langfristig über eine wesentlich größere Innovationsfähigkeit auch im militärisch-technologischen Bereich. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion waren die USA die einzige verbliebene militärische Supermacht. Noch heute geben sie Schätzungen zufolge mehr Geld für ihre Streitkräfte aus als die zwölf nächstgrößeren Militärmächte zusammengenommen.8

Die Grundlage amerikanischer Militärmacht bildet jedoch nicht in erster Linie die Höhe der Verteidigungsausgaben, sondern die Glaubwürdigkeit von Rückversicherung und Abschreckung. Die beiden Begriffe bezeichnen zwei Seiten der gleichen Medaille und unterscheiden sich vor allem durch den jeweiligen Adressaten. Die Rückversicherung richtet sich in erster Linie an die Verbündeten und Partner, denen Amerika Sicherheit bietet. Die wohl weitreichendste Form von Rückversicherung ist der nukleare Schutzschirm im Rahmen formaler Allianzen wie der Nordatlantischen Allianz (NATO). Dahinter steht das politische Versprechen Washingtons, die Sicherheit anderer Staaten notfalls auch mit den eigenen Atomwaffen zu verteidigen – trotz der Gefahr, dass die USA dann im Extremfall selbst zum Ziel atomarer Schläge werden könnten.

Die USA haben dieses Versprechen allen mittlerweile 31 anderen Mitgliedstaaten der NATO gegeben und unterhalten in Asien mit fünf weiteren Staaten formale Verteidigungsbündnisse. Hinzu kommt noch die Quasi-Allianz mit Taiwan. Auch bei den Bündnissen mit asiatischen Staaten haben die Nuklearwaffen eine große Bedeutung. Unterhalb dieser Schwelle gibt es eine Reihe weicherer Formen der Rückversicherung – etwa in Form loser Sicherheitspartnerschaften oder durch bilaterale Rüstungskooperationen.

Eine der grundlegenden Annahmen der Pax Americana lautet, dass mit Amerika verbündete oder befreundete Staaten im Lichte amerikanischer Sicherheitszusagen weniger Furcht vor ihren Nachbarn haben müssen. Sie rüsten daher weniger auf und verhalten sich friedlicher, als es ohne diese Bündnisse der Fall wäre. So konnten amerikanische Bündnispartner auf die Entwicklung eigener Nuklearwaffenarsenale verzichten, solange sie den atomaren Schutzschirm Amerikas als glaubwürdig erachteten.

Der zweite Mechanismus, durch den eine militärisch mächtige Führungsmacht für internationale Sicherheit sorgen kann, ist die Abschreckung. Sie richtet sich an die „strategischen Wettbewerber“ bzw. Gegner, die von einem Angriff auf die USA, ihre Verbündeten sowie die internationale Ordnung insgesamt abgehalten werden sollen. Dies wird erreicht, wenn die Kosten und Risiken eines solchen Angriffs von einem potenziellen Aggressor als unverhältnismäßig im Vergleich zu dem erhofften Nutzen betrachtet werden.

Es ist unmöglich zu beziffern, wie viele Waffen Amerika tatsächlich braucht, um die Sicherheitszusagen gegenüber den Verbündeten und die Abschreckung gegenüber den Gegnern glaubwürdig zu machen. Militärische Eckdaten, wie die relative Größe der Verteidigungshaushalte, Truppenkontingente und die Modernisierung der Waffensysteme sind dabei wichtige Faktoren. Die jüngeren Entwicklungen in der Ukraine sowie im Nahen Osten zeigen jedoch, dass sich Einschätzungen zu militärischen Kräfteverhältnissen im Lichte eines tatsächlichen Krieges auch verändern können. Glaubwürdigkeit ist zudem ein hochgradig subjektives Konzept – sie liegt im Auge des Betrachters.9 Das gleiche gilt auch für die Abschreckung: Erst dann, wenn ein Krieg ausgebrochen ist, weiß man, dass sie nicht funktioniert hat.

Für die Amerikaner spielen Atomwaffen10 bei der Abschreckung eine zentrale Rolle. Die USA sind tatsächlich die einzige Atommacht mit dem ausdrücklichen Anspruch, nicht nur sich selbst, sondern im Zuge der sogenannten erweiterten nuklearen Abschreckung auch seine Bündnispartner zu schützen. Dies rechtfertigt aus Sicht Washingtons ein großes und breit aufgefächertes Waffenarsenal. Die Annahme, dass (atomare) Abschreckung Frieden schafft, ist weiterhin tief verwurzelt im amerikanischen bzw. westlichen strategischen Denken. Auch wenn Abschreckung meist mit Nuklearwaffen in Verbindung gebracht wird, so beruht sie ebenso auf nichtatomaren (sogenannten konventionellen) Waffen. Entscheidend ist, ob das Kalkül des Gegners dahingehend beeinflusst wird, dass er nicht ein- bzw. angreift.

Vor allem im ersten Jahrzehnt nach dem Ende des Kalten Krieges – der Zeit unangefochtener amerikanischer Hegemonie – herrschte in den USA ein breiter Konsens, dass Rückversicherung und Abschreckung im Sinne der Pax Americana funktionieren. Nicht zuletzt aufgrund des machtpolitischen Aufstiegs Chinas sind jedoch sowohl in Washington als auch bei vielen Verbündeten die Zweifel gewachsen. Zwei ehemals führende Verteidigungspolitiker im US-Senat haben diese Zweifel wie folgt zusammengefasst:

„Die Glaubwürdigkeit der amerikanischen Abschreckung beruht auf einer einfachen Grundlage. Amerika verhindert Kriege, indem es seine Gegner davon überzeugt, dass sie nicht gewinnen können. [US-]Verteidigungsminister Jim Mattis hat es kurz und bündig gesagt: Abschreckung ist erreicht, wenn der Feind beschließt: ‚Heute nicht. Wir können militärisch nicht gewinnen, also versuchen wir es erst gar nicht.‘ Gegenwärtig bröckelt diese Grundlage der Abschreckung im indopazifischen Raum, da ein zunehmend aggressives China seine umfassende militärische Modernisierung fortsetzt.“11

Aber nicht nur China, sondern auch Russland hat in den letzten Jahren stark in die Modernisierung seiner Streitkräfte investiert. Iran betrieb im Nahen Osten mit viel Geld und Energie den Aufbau eines großen Netzwerks aus Milizen und Terrorgruppen, um die USA und Israel zu bedrohen. Zudem steht das Land heute an der Schwelle, ein Atomwaffenstaat zu werden. Nordkorea hat diesen Status längst erreicht und baut sein Arsenal trotz aller Sanktionen konsequent aus. Während die USA lange Zeit ihre weltweite militärische Überlegenheit als gegeben ansehen konnten, müssen sie sich in Zukunft verstärkt auf eine „Verteidigungspolitik ohne Dominanz“ einrichten, wie es der US-Militärexperte und ehemalige Mitarbeiter des Streitkräfteausschusses im US-Senat Christian Brose formuliert hat.12

Militärische Macht lässt sich schließlich auch, wenn sie klug genutzt und mit wirtschaftlichen Anreizen kombiniert wird, diplomatisch zur Einhegung oder gar Lösung sicherheitspolitischer Krisen und Konflikte nutzen. Dabei kommt es darauf an, vor den Konfliktparteien als glaubwürdiger Vermittler aufzutreten, der im Idealfall auch über die militärischen und wirtschaftlichen Ressourcen verfügt, um ein Abkommen durchzusetzen.

Es gibt viele Beispiele, die weithin als Erfolge amerikanischen Peacemakings gelten. Zu nennen wären etwa der israelisch-ägyptische Friedensvertrag vom März 1979, der 1993 unter US-Präsident Clinton begonnene Oslo-Friedensprozess zwischen Israelis und Palästinensern sowie das Camp-David-Abkommen von 2000. Auch das Ende des Bosnienkrieges durch das Dayton-Abkommen von 1995 gilt als Erfolg amerikanischer Diplomatie. Auffällig ist jedoch, dass die großen Erfolge des amerikanischen Peacemakings schon einige Zeit zurückliegen. Heute sehen einige Beobachter die Lage kritischer: Amerika werde immer weniger als „ehrlicher Makler“ wahrgenommen, während zugleich die wirtschaftliche und militärische Dominanz schwinde.13

Wirtschaftliche Dominanz und Offenheit

Die zweite Säule der Pax Americana ist ökonomischer Natur. Die Vorstellung dahinter lautet, dass Amerika durch seine wirtschaftliche Größe in Kombination mit seiner wirtschaftlichen Offenheit maßgeblich zur Stabilität der Weltwirtschaft beiträgt. Der Wirtschaftshistoriker Charles Kindleberger hat in einer vielbeachteten Studie aufgezeigt, dass die Weltwirtschaftskrise der 1930er-Jahre deshalb so weitreichend, so desaströs und so lang andauernd war, weil damals ein ökonomischer „Stabilisator“ fehlte. Großbritannien als scheidende Führungsmacht war damals nicht mehr in der Lage und Amerika als künftige Führungsmacht noch nicht fähig, diese Rolle zu spielen. Damit fehlte eine Macht, die das globale Wirtschaftssystem durch die Öffnung des eigenen Marktes sowie durch die „antizyklische“ Bereitstellung von Kapital auch während des wirtschaftlichen Abschwungs hätte stabilisieren können.14

Nach dem Zweiten Weltkrieg übernahm Amerika diese Rolle. Die wirtschaftliche Säule der Pax Americana manifestierte sich in der Integration der Weltwirtschaft unter Führung der USA sowie auf Grundlage neuer internationaler Regime: das Bretton-Woods-Abkommen von 1944 sowie das General Agreement on Tarrifs and Trade (GATT) von 1947. Der Zusammenbruch des Bretton-Woods-Systems fester Wechselkurse Anfang der 1970er-Jahre ließ zunächst Zweifel an der wirtschaftlichen Dominanz und Führungsmacht der USA aufkommen. Die Krise leitete eine Phase der multipolaren Weltwirtschaftsordnung ein, in der Europa, Japan und später die OPEC-Länder eine wesentlich größere Rolle spielten als zuvor.15 Dessen ungeachtet setzte sich Washington als Führungsmacht weiterhin für die Liberalisierung der Weltwirtschaft ein. In den 1990er-Jahren trieben die USA Freihandelsinitiativen voran, der US-Kongress stimmte der Gründung der Nordamerikanischen Freihandelszone (NAFTA) sowie der Welthandelsorganisation (WTO) zu.16

Die Pax Americana bezieht sich allerdings nicht nur auf die Wahrung ökonomischer Stabilität und die Förderung von Wohlstand. Es geht darüber hinaus auch ausdrücklich um sicherheitspolitische Ziele. Handel soll nicht nur eigenen wirtschaftlichen, sondern auch sicherheitspolitischen Interessen dienen. Die Logik dahinter lautet: Der freie wirtschaftliche Austausch schafft Wohlstand und stärkt demokratische Regierungsführungen. Weil Handel profitabler ist als Krieg und Demokratien friedliebender sind als Diktaturen, so die Annahme, fördert wirtschaftliche Offenheit und freier Handel die internationale Sicherheit.

In der Wissenschaft ist umstritten, ob und unter welchen Bedingungen der freie Handel tatsächlich Sicherheit und Frieden fördert. Entscheidender als sozialwissenschaftliche Erkenntnisse sind jedoch politische Überzeugungen, die auch das Verhältnis zu geopolitischen Wettbewerbern prägen. So war die amerikanische Chinapolitik vom Ende der 1970er-Jahre bis hinein in die zweite Amtszeit Barack Obamas überparteilich von der Überzeugung getragen, dass die enge wirtschaftliche Verflechtung zwischen den beiden Ländern auch im amerikanischen Interesse liege.17 Diese Überzeugung hat sogar einen eigenen Begriff hervorgebracht: Chimerica.18

Die wichtige Ausnahme des Offenheits-Paradigmas der amerikanischen Außenwirtschaftspolitik war während des Kalten Krieges freilich die Sowjetunion, deren Ökonomie u. a. durch Exportkontrollen in die Knie gezwungen werden sollte. Doch das änderte sich nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, als es einmal mehr darum ging, ehemalige Feinde in eine amerikanisch geführte, freie Weltwirtschaftsordnung zu integrieren.19

Mit dem ersten Amtsantritt Donald Trumps 2017 trat die abnehmende wirtschaftliche Offenheit drastisch zutage. Das Paradigma hatte jedoch schon vorher deutlich an Strahlkraft verloren. Dabei spielte sicherlich die weltweite Welle der Globalisierungskritik eine wichtige Rolle, die in den 1990er-Jahren über den Erdball rollte und auch die USA erreichte. Der amerikanische Wirtschaftsliberalismus aus der Gründerzeit von Bretton Woods ging über das Ziel ökonomischer Stabilität hinaus und war an sozialstaatliche Maßnahmen gekoppelt.20 Das änderte sich mit dem Aufstieg des Neoliberalismus seit den 1970er-Jahren, der nicht nur auf den Abbau von Schranken für den Handel und den Kapitalfluss setzte, sondern auch auf Privatisierung, Deregulierung und insgesamt den Rückbau des Staates. Mit der Zunahme an sozialer Ungleichheit in Amerika und vielen Ländern der Erde sowie weltweiter Finanzkrisen, die weithin dem Neoliberalismus zugeschrieben werden, ging auch eine Delegitimierung der Pax Americana einher.

Der eigentliche Paradigmenwechsel in der Außenwirtschaftspolitik der USA wurde jedoch ausgelöst vom wirtschaftlichen Aufstieg Chinas, den damit einhergehenden strukturellen ökonomischen und sozialen Umbrüchen in Amerika sowie der Zunahme geopolitischer Spannungen seit den frühen 2010er-Jahren. Seither sind wirtschaftliche Interdependenz und offene Märkte als politische Ziele immer mehr in den Hintergrund getreten und werden durch ein neues geoökonomisches Denken ersetzt. „Geoökonomie“ verbindet, mit den Worten von Edward Luttwak, die „Logik des Konflikts mit den Methoden des Handels“.21 Dieser Paradigmenwechsel vollzog sich freilich nicht nur in Washington, sondern auch in Peking und den Hauptstädten anderer Wirtschaftsmächte.

Der freie Austausch von Gütern, Kapital und Technologien gilt demnach ebenso wie die Mobilität von Arbeitskräften nicht mehr als etwas grundsätzlich Positives, das Wohlstand schafft22 und Innovation fördert. Stattdessen rücken die vermeintlichen Risiken in den Fokus. Sicherheitspolitische Erwägungen überlagern immer mehr wirtschaftliche Interessen. Die Frage lautet oft nicht mehr, ob wirtschaftlicher Austausch allen Seiten nutzt. Stattdessen geht es darum, wer einen größeren Nutzen daraus ziehen kann und bei wem dieser Austausch größere Abhängigkeiten schafft. Vor dem Hintergrund dieser Logik begannen die USA bereits während der Amtszeit Obamas damit, den handelspolitischen Multilateralismus und die zugrunde liegenden Regeln der WTO systematisch zu unterlaufen.

Der Wechsel vom Paradigma der Offenheit hin zu jenem der Geoökonomie hat insbesondere das amerikanischchinesische Verhältnis der letzten Jahre geprägt, wenngleich er nicht darauf beschränkt ist.

Es trifft zwar keineswegs zu, dass die USA in den vergangenen 35 Jahren generell an weltwirtschaftlicher Dominanz verloren hätten.23 Allerdings ist die Wahrnehmung eines relativen wirtschaftlichen Abstiegs gegenüber China zu einer der treibenden Kräfte der US-amerikanischen Außen- und Sicherheitspolitik geworden. So ist der Anteil Chinas an der Weltwirtschaft (gemessen am globalen Bruttoinlandsprodukt) seit 1990 von gerade einmal 1,6 Prozent auf mehr als 18 Prozent im Jahr 2021 gestiegen (mit einem leichten Rückgang in den folgenden zwei Jahren). Der Anteil der USA blieb mit zuletzt 26 Prozent (2023) zwar deutlich darüber, insbesondere in den 2000er-Jahren sank er jedoch deutlich. Bei den jeweiligen Anteilen am Welthandel war die Aufholjagd Chinas gegenüber Amerika noch deutlicher sichtbar – vor allem bei den Exporten.

Anteile am weltweiten BIP

China und Vereinigte Staaten im Vergleich zwischen 1990 und 2023

Anteile am Welthandel

China und Vereinigte Staaten im Vergleich zwischen 1990 und 2023

Doch die Wahrnehmung eines wirtschaftlichen Abstiegs gegenüber China betrifft nicht nur die Wirtschaft im Allgemeinen, sondern auch den Technologiesektor im Besonderen. Der technologische Vorsprung und die Innovationsfähigkeit sind über Jahrzehnte eine wesentliche Grundlage für die amerikanische Vormacht in der Wirtschaft und beim Militär gewesen. Heute können die USA in immer weniger Branchen eine technologische Vorrangstellung für sich beanspruchen und werden teilweise sogar von China überholt. Das gilt nicht zuletzt für die sogenannten Zukunftstechnologien, also Künstliche Intelligenz, Quanten-Computing, Biotechnologie, Fintech oder moderne Telekommunikationsnetzwerke.24 In Bereichen, die für die „grüne Transformation“ der Weltwirtschaft entscheidend sind, wie Batterien und Photovoltaik, ist China bereits heute führend.25

Der Grundbaustein nahezu aller Zukunftstechnologien sind Computer-Chips. Gerade bei der Entwicklung und Fertigung besonders anspruchsvoller Logik-, Grafik-, oder KI-Chips sowie bei Werkzeugen für die Fertigung solcher Chips genießen die USA bzw. ihre Verbündeten (inklusive Taiwan) noch immer eine Vormachtstellung.26 Amerika setzt daher bei Chips und anderen, insbesondere auch militärisch nutzbaren Technologien verstärkt auf Exportkontrollen und andere restriktive Maßnahmen, um Chinas Aufholjagd abzubremsen. Washington begründet dies teils mit Chinas unfairen Handelspraktiken und teils mit Belangen der nationalen Sicherheit.

Kritikerinnen und Kritiker werfen den USA vor, dass ihre Technologiepolitik gegenüber China von der längst überholten Annahme geleitet ist, dass China dauerhaft von bestimmten Technologien ausgeschlossen werden könne. Die enge wirtschaftliche Integration Chinas in die Weltmärkte und die Diffusion technologischer Innovation durch private Akteure steht dem entgegen. Darin unterscheidet sich die heutige Situation grundlegend von der Systemrivalität mit der Sowjetunion während der Zeit des Kalten Krieges.27

Der eine Sektor, den Amerika weiterhin unangefochten dominiert, ist das internationale Finanzsystem mit dem US-Dollar als Leit- und Machtwährung. Diese Position hat die USA insbesondere seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 dazu verleitet, immer stärker auf das Instrument von Finanzsanktionen zurückzugreifen, um außen- und sicherheitspolitische Zielsetzungen zu verfolgen.

2022, so ist in einer entsprechenden Auswertung der US-amerikanischen Denkfabrik Council on Foreign Relations zu lesen, hat das US-Finanzministerium mehr als 12.000 Personen, Organisationen oder Staaten sanktioniert – zwölfmal so viele wie noch zu Beginn der 2000er-Jahre.28

Amerikanische Sanktionen und andere restriktive Maßnahmen richten sich jedoch nicht mehr ausschließlich gegen internationale Normenbrecher oder Terrornetzwerke, sondern auch gegen Freunde und Verbündete. Im Frühjahr 2018 erklärte unter Präsident Trump erstmals eine US-Regierung die Importe enger Partner und Verbündeter zu einer Sicherheitsbedrohung, als sie Zölle auf die Einfuhr von Stahl und Aluminium, u. a. aus Europa, erließ.29 Damit besteht die Gefahr, dass die amerikanische Wirtschafts- und Finanzpolitik die von den USA geführten Sicherheitsbündnisse untergräbt.

Liberal-demokratische Werte

Die dritte Säule der Pax Americana betrifft die liberaldemokratischen Werte, für die die USA und der Westen beanspruchen, auf der internationalen Bühne einzustehen. Die USA haben über Jahrzehnte ihre außen- und sicherheitspolitische Macht mit diesem Wertekanon verknüpft. Das Selbstverständnis einer an liberalen Werten ausgerichteten Außen- und Sicherheitspolitik war lange Zeit in beiden großen politischen Parteien in den USA verankert, bei Demokraten und Republikanern, solange diese noch auf eine ideologisch breit gestreute Wählerschaft abzielten.30 Der Aufstieg Donald Trumps und seiner MAGA-Republikaner stellt die Wertorientierung der US-Außenpolitik indes grundlegend infrage.

Dies betrifft sowohl die Art und Weise, wie Amerika seine sicherheitspolitische Führungsrolle wahrnimmt als auch die Werte, für die es dabei international einzutreten beansprucht. Mit Blick auf das „Wie“ der Führung bedeutet das Attribut „liberal“, dass sich Amerika von anderen heutigen und historischen Mächten – insbesondere von klassischen Imperien – darin unterscheidet, dass es breitere Zielsetzungen verfolgt, die über seine eigene, eng verstandene Sicherheit hinausgehen. Die Idee der Pax Americana basiert auf der Annahme, dass auch für die Weltmacht nicht das Recht des Stärkeren gilt und sich die USA entsprechend in machtpolitischer Selbstbeschränkung üben. Dementsprechend ist die Ausübung amerikanischer Macht mehr durch Konsens als durch Mächtegleichgewichte oder die Unterwerfung anderer Staaten gekennzeichnet.31

Die machtpolitische Selbstbeschränkung Amerikas wurde in den letzten Jahrzehnten teils sehr unterschiedlich gehandhabt. Manche US-Administrationen – wie etwa jene unter Führung von Bill Clinton oder zuletzt von Joe Biden – haben der amerikanischen Sicherheitspolitik ein multilaterales Antlitz verliehen, während andere (z. B. George Bush der Jüngere und Donald Trump) weitgehend darauf verzichteten. Dennoch beanspruchten die USA selbst während der ersten Amtszeit von Präsident Trump, geopolitische Blöcke, Einflusssphären oder Imperien abzulehnen.

Hinsichtlich der politischen Werte, für die die USA nach eigenem Selbstverständnis auf internationaler Ebene eintreten, sind zuvorderst Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte, demokratische Werte sowie die Achtung internationaler Regeln und des Völkerrechts zu nennen. Die Verbreitung liberal-demokratischer Werte trägt zur internationalen Sicherheit bei, so die Annahme, weil die Außen- und Sicherheitspolitik von Staaten letztendlich ein Spiegel ihrer inneren Verfasstheit ist. Mit anderen Worten: Liberale Demokratien verfolgen das Ziel einer offenen, freien und dem Recht verpflichteten internationalen Ordnung.

Sozialwissenschaftlich belegt ist, dass Demokratien in aller Regel keine Kriege gegeneinander geführt haben. Weniger klar ist allerdings, dass Demokratien tatsächlich weniger Gewalt in ihren Außenbeziehungen ausüben als autoritär regierte Staaten. In jedem Fall hat die „Theorie des Demokratischen Friedens“ großen Einfluss auf die amerikanische Außen- und Sicherheitspolitik der letzten 100 Jahre gehabt – von Woodrow Wilsons Versprechen, die „Welt sicher für die Demokratie“ zu machen, über das Eintreten der USA für EU- und NATO-Osterweiterungen in den 1990er-Jahren bis zum Sturz Saddam Husseins im Namen der Freiheit.32

Der politische Liberalismus hat einige historische Metamorphosen durchlebt.33 Er konnte zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Ländern jeweils sehr unterschiedliche Dinge bedeuten. Im 18. und 19. Jahrhundert verband man in Europa (insbesondere in Frankreich und Deutschland) mit dem Liberalismus noch viel mehr als heute Werte wie Pflicht, Solidarität und Patriotismus.

Der angelsächsische Liberalismus beinhaltete – oder tolerierte zumindest – bis ins 20. Jahrhundert eine gehörige Portion Rassismus, denn wirklich „frei“ waren nur weiße, männliche Landbesitzer. Gegen diese Lesart des Liberalismus wandte sich der Antikolonialismus, der eben auch eine antiliberale Komponente hatte. Bis heute können Länder wie Russland oder China dies nutzen, um den amerikanischen bzw. westlichen Liberalismus mit Kolonialismus gleichzusetzen.

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts dominierte zunehmend eine auf individuelle Rechten – statt auf gemeinschaftlichen Pflichten – basierende Variante des Liberalismus.34 Hintergrund waren die Erfahrungen zweier Weltkriege und des Holocaust sowie das ideologische Ringen mit dem Kommunismus während des Kalten Krieges. Der Neoliberalismus der 1970er- und 1980er-Jahre gab die soziale Einbettung individueller Freiheit weitgehend auf.

Bei allen Wandlungen und Variationen zeichnen die folgenden vier Grundmerkmale den klassischen Liberalismus jedoch im Wesentlichen aus.35 Dies ist erstens der Individualismus, der dem Einzelnen einen moralischen Vorrang vor den Forderungen/Rechten sozialer Gruppen einräumt; zweitens der Egalitarismus, wonach alle Menschen den gleichen moralischen Status haben, während rechtlichen und politischen Unterscheidungen keine Relevanz zugeschrieben wird; drittens der Universalismus, der von der moralischen Einheit der Menschheit ausgeht und spezifische historische Verbindungen und kulturelle Formen als zweitrangig ansieht; und schließlich viertens der Meliorismus, also der Glaube an die Verbesserungsfähigkeit des Menschen und der von ihm geschaffenen sozialen und politischen Institutionen. Dabei spielt auch die Freiheit der Wissenschaft eine wichtige Rolle.

Der Widerstand gegen den Liberalismus hat in den vergangenen Jahren deutlich zugenommen – durch die Antagonisten der Pax Americana wie Russland und China, generell durch autoritär regierte Länder, aber auch durch illiberale Bewegungen und sogar durch Regierungsvertreter von EU-Staaten (siehe Viktor Orbáns Plädoyer für eine illiberale Demokratie).36 Aber auch in den USA stehen liberal-demokratische Institutionen zunehmend unter Druck (dazu im nächsten Kapitel mehr). Eine wesentliche Herausforderung für die liberal-demokratischen Grundlagen der Pax Americana liegt auch im weltweiten Rückzug der Demokratien, der sich seit der Jahrtausendwende beobachten lässt.37

Zu Beginn seiner Amtszeit stellte US-Präsident Joe Biden die Außenpolitik seiner Regierung in den Zusammenhang eines epischen Kampfes der Demokratien gegen autoritär regierte Staaten. Damit drohte er allerdings, ähnlich wie George W. Bush und dessen „Freiheitsagenda“ vor ihm, deutlich über das Ziel hinauszuschießen. Denn es ist mehr als fraglich, ob ein solcher Kampf von Demokratien gegen Autokratien, wenn er denn konsequent ausgetragen würde, der internationalen Sicherheit dienlich wäre.

Donald Trump dagegen hatte während seiner ersten Amtszeit im Weißen Haus von Anfang 2017 bis Anfang 2021 offensichtlich kein Interesse daran, die amerikanische Außen- und Sicherheitspolitik an liberalen Werten auszurichten. Stattdessen trachtete er danach, amerikanische Vormacht ohne die „liberale Infrastruktur“ wie internationale Allianzen und multilaterale Organisationen zu gewährleisten.38 Sein persönlicher Regierungsstil wirkte nicht nur erratisch, sondern zeichnete sich durch eine besondere Vorliebe für autoritäre Herrscher aus. Der Regierungsapparat agierte unter Trump zwar wesentlich planvoller und gemäßigter als der Präsident selbst. Dem Image der USA als liberale Führungsmacht hat die vierjährige Amtszeit Trumps trotzdem massiv geschadet. Es ist davon auszugehen, dass Trumps illiberale Tendenzen die amerikanische Außen- und Sicherheitspolitik während seiner zweiten Amtszeit noch stärker prägen werden.

Eine unfriedliche Welt

In den letzten 25 Jahren ist die Welt unsicherer, unberechenbarer und gewalttätiger geworden. Internationale Abkommen wie der Vertrag über konventionelle Rüstungskontrolle in Europa, der amerikanisch-russische Vertrag über das Verbot landgestützter Mittelstreckenraketen oder der Vertrag über die Reduzierung strategischer Atomwaffen (ebenfalls zwischen den USA und Russland) sind gescheitert oder drohen zu scheitern. Zentrale völkerrechtliche Normen wie das Gewaltverbot oder die Achtung der territorialen Integrität von Staaten werden offen missachtet.

Zugleich haben die Spannungen in den geopolitischen Brennpunkten in Osteuropa, Asien und im Nahen Osten deutlich zugenommen und sind teilweise in offene Kriege eskaliert.39 Der Angriff Russlands auf die Ukraine hatte bereits vor dem Februar 2022 mehr als 14.000 Menschen das Leben gekostet. In Asien haben die territorialen Konflikte im Süd- und Ostchinesischen Meer sowie über die staatliche Eigenständigkeit Taiwans an Intensität gewonnen. Ein amerikanisch-chinesischer Krieg erscheint zunehmend als eine reale Möglichkeit.

Auch im Nahen Osten und Afrika haben sich die sicherheitspolitischen Spannungen in den letzten Jahren deutlich verschärft. Am 7. Oktober 2023 griff die palästinensische Terrorgruppe Hamas Israel an und tötete mehr als 1200 Menschen. Israel reagierte mit massiver Vergeltung, die wiederum Schätzungen zufolge bis zum Oktober 2024 mehr als 43.000 Palästinenserinnen und Palästinenser das Leben kostete und den Gazastreifen in ein Ruinenfeld verwandelte.40

Dass die Welt insgesamt gewalttätiger und unfriedlicher geworden ist, lässt sich auch anhand bestimmter Indikatoren „messen“. Das im australischen Sydney ansässige Institute for Economics and Peace erstellt jährlich einen Global Peace Index, um zu bewerten, wie es um den Frieden in der Welt bestellt ist. Berücksichtigt werden dabei nicht nur Konflikte und Kriege, sondern auch die Zahl von Geflüchteten, Gewaltkriminalität, politischer Terror und die Höhe weltweiter Verteidigungsausgaben. Dabei kommen die Forscherinnen und Forscher zu einem ernüchternden Ergebnis: In zwölf von 16 Jahren seit Erstellung des ersten Friedensindex 2008 sei die Welt von Jahr zu Jahr weniger friedlich geworden – so zuletzt auch im Jahr 2024.41

Forscherinnen und Forscher an der Uppsala-Universität in Schweden zählen Jahr für Jahr akribisch die Zahl weltweiter Gewaltkonflikte. Für das Jahr 2002, im Jahr nach den Terroranschlägen in den USA und dem militärischen Eingreifen des Westens in Afghanistan, sind dort 122 Gewaltkonflikte auf der Welt verzeichnet. In den folgenden Jahren nahm deren Zahl tendenziell ab, bis sie 2010 auf 86 gesunken war. Seitdem ist sie jedoch wieder stark gestiegen – bis auf 181 im Jahr 2017 – und verharrte in den letzten Jahren auf diesem hohen Niveau.42 Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang auch eine Erkenntnis des Forscherteams, das jährlich den Global Peace Index erstellt: Immer weniger Gewaltkonflikte werden entweder durch den klaren Sieg einer Seite oder durch ein Friedensabkommen beendet.43

Von Bedeutung ist jedoch nicht nur die Zahl der Gewaltkonflikte, sondern auch die Zahl der Menschenleben, die sie gekostet haben. Während 2002 mehr als 40.000 Menschen weltweit ihr Leben durch Gewaltkonflikte verloren, waren es 2022 mehr als 300.000 Tote. Diese Zahlen schwanken allerdings über die Jahre erheblich in Abhängigkeit davon, ob besonders verlustreiche Kriege ausgebrochen sind oder beendet werden konnten. Dabei wird mitunter auch deutlich, wie verzerrt die westliche Sicht auf das weltweite Konfliktgeschehen sein kann. So war der brutale Krieg in Äthiopien zwischen der Regierung und der Tigray People’s Liberation Front im Jahr 2022 für mehr als die Hälfte aller weltweit erfassten Konflikttoten verantwortlich.44 Der Friedensschluss zur Beendigung dieses Kriegs führte zu einem erheblichen Rückgang der Zahl globaler Konflikttoter im folgenden Jahr. Währenddessen fokussierte sich die öffentliche Aufmerksamkeit in den USA, Deutschland und anderen europäischen Ländern fast ausschließlich auf die Kriege in der Ukraine und in Gaza.

Die Ursachen für Gewalt und Kriege sind komplex und lassen keine einfachen Rückschlüsse auf die „Leistungsbilanz“ der Pax Americana zu. Das trägt auch dazu bei, dass sich die Sichtweisen auf die Rolle der USA im internationalen Konfliktgeschehen sehr stark unterscheiden können. Ein „imaginäres“ Streitgespräch zwischen einer Verfechterin der Pax Americana und einem Kritiker soll dies verdeutlichen.

Aus Sicht des Kritikers ist es vor allem das Streben Washingtons nach sicherheitspolitischer und ökonomischer Macht, das entsprechende Gegenreaktionen in China, Russland und anderen Ländern hervorruft – und so geopolitische Spannungen anheizt. Entsprechend dieser Sichtweise hätte China seine Politik im Südchinesischen Meer und gegenüber Taiwan als Reaktion auf die Hinwendung der USA nach Asien unter Präsident Obama verschärft.45 Und Russland tritt aus dieser Perspektive in seiner europäischen Nachbarschaft vor allem deshalb so aggressiv auf, weil die USA das Land im Zuge der NATO-Osterweiterungen politisch und militärisch in die Enge getrieben haben.

Der Anspruch und das Ziel, liberale Werte nicht nur mit politischen und wirtschaftlichen Mitteln, sondern auch unter Androhung und Anwendung militärischer Gewalt in die Welt zu tragen, hat aus Sicht des Kritikers alles noch weiter verschlimmert. Denn schließlich rechtfertigte US-Präsident George W. Bush die amerikanische Militärintervention im Irak 2003 nicht zuletzt auch mit einer „Freiheitsagenda“, also mit der Berufung der USA, liberale und demokratische Werte weltweit zu verbreiten. Zugleich dominierte der „Krieg gegen den Terrorismus“ die amerikanische Politik nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 – mit dem Ergebnis, dass Menschenrechte und andere liberale Werte nicht nur missachtet, sondern willentlich mit Füßen getreten wurden.

Der Kritiker könnte auch darauf hinweisen, dass die USA und ihre europäischen Partner maßgeblich an „internationalisierten Gewaltkonflikten“ beteiligt waren. Dabei greift ein Staat indirekt in das Konfliktgeschehen eines anderen Staates ein, indem er eine der Parteien militärisch unterstützt. Solche internationalisierten Konflikte sind in den vergangenen 20 Jahren zahlreicher geworden – angetrieben nicht zuletzt auch durch die Bemühungen der USA und ihrer westlichen Partner, dschihadistische Gruppen wie den „Islamischen Staat“ (IS) zu bekämpfen.46 Ein Mittel der Wahl war dabei der Einsatz bewaffneter Drohnen, wobei Amerika zwischen 2001 und 2021 für den Löwenanteil der geschätzt mehr als 1.900 Drohnenangriffe verantwortlich war.47

Die Verfechterin der Pax Americana würde dagegen darauf hinweisen, dass die Zurückdrängung des internationalen Terrorismus auch Menschenleben gerettet und die Welt sicherer gemacht habe. Tatsächlich hängt der Rückgang der Gewalt – gemessen an den Konflikttoten – in Syrien und im Irak bis 2019 auch mit der Zerschlagung des IS-Kalifats zusammen.48 Die Verfechterin würde vielleicht auch darauf aufmerksam machen, dass die Welt gerade dann besonders gewalttätig wurde, wenn Amerika aus innenpolitischen oder anderen Gründen nicht eingeschritten ist. In nur drei Monaten – von April bis Juli 1994 – sprengte der Völkermord der Hutu an den Tutsi in Ruanda alle Gewaltdimensionen, die die Welt nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs erlebt hatte. 500.000 bis 1.000.000 Menschen starben, je nach Schätzungen, in kürzester Zeit. Die Clinton-Administration wurde damals international heftig dafür kritisiert, dass sie im Vorfeld des Genozids untätig blieb, obwohl die Central Intelligence Agency (CIA) frühzeitig Kenntnisse über die zunehmenden Spannungen in Ruanda hatte.