Big Ideas. Das LGBTQIA*-Buch: - JON ASTBURY - E-Book

Big Ideas. Das LGBTQIA*-Buch: E-Book

Jon Astbury

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Beschreibung

Die Geschichte von LGBTQIA* grundlegend und anschaulich erklärt Was haben Menschen früher unter "Gender" verstanden? Wie hat die LGBTQIA*-Bewegung die Welt in den letzten 150 Jahren verändert? Dieses innovative Nachschlagewerk beantwortet Fragen über die Geschichte der LGBTQIA*-Kultur mit informativen Diagrammen und originellen Grafiken – klar und leicht verständlich. Von Gender und Sexualität im antiken Griechenland bis hin zum heutigen LGBTQIA*-Aktivismus in Asien.  Das große LGBTQIA*-Buch zum Nachschlagen – Zusammenhänge, Ereignisse und Biografien abwechslungsreich und einfach aufbereitet: - Die wichtigsten Meilensteine von der Antike bis heute: Was war der Stonewall-Aufstand? Und wann und wo wurde Asexualität das erste Mal anerkannt? Dieses umfassende Buch erzählt von Ideen, Phänomenen & Bewegungen aus aller Welt - Wissen über LGBTQIA* grafisch auf den Punkt gebracht: Das frische Layout mit verschiedenen Illustrationen, kreativen Infografiken und Fotografien von Protesten und Triumphen erleichtert den Zugang zum vielfältigen Themenspektrum der LGBTQIA*-Geschichte und -Kultur - Informative Kurzporträts, u.a. von Sappho, Oscar Wilde, Magnus Hirschfeld und Judith Butler sowie von wichtigen, aber weniger bekannten Personen - Die Geschichte von LGBTQIA* in sechs großen Kapiteln: Die ältere Vergangenheit; Renaissance und Strafe; Subkultur und Sichtbarkeit; Sexualwissenschaften und sexuelle Identitäten; Proteste, Pride und Bündnisse; In aller Öffentlichkeit Fundiert und zugänglich aufbereitet: Der perfekte Überblick über die unterschiedlichen Facetten der LGBTQIA*-Geschichte weltweit – Basiswissen zum Studieren, Informieren oder Nachschlagen!

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Seitenzahl: 547

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INHALT

EINLEITUNG

DIE ÄLTERE VERGANGENHEIT

Wenn Held*innen lieben

Früheste Belege für LGBTQIA*-Personen

Lege nicht mein Gebein von deinem getrennt, o Achilleus

Gender und Sexualität im antiken Griechenland

Du, die ich von allen Frauen am meisten begehre

Sappho von Lesbos

Die Leidenschaft des abgeschnittenen Ärmels

Günstlinge im Han-China

Der Mann jeder Frau und die Frau jeden Mannes

Gender und Sexualität im antiken Rom

Wer tut was, wo, wann und warum, wer weiß?

Das Kamasutra

Da ließ der Herr Schwefel und Feuer regnen vom Himmel herab auf Sodom und Gomorra

Die frühe christliche Kirche

Diese Art der Liebe ist der Natur zuwider

Sodomie und die mittelalterliche katholische Kirche

Ich sterbe aus Liebe zu ihm

Das Abbasiden-Kalifat

Ich möchte sein, wie die Natur mich gemacht hat

Interrechte

RENAISSANCE UND STRAFE

Grenzenlose Schönheit

Italienische Renaissance

Tausend freche Eitelkeiten und lüsterne Wörter

Homoerotik und die französische Renaissance

Eine Nachtigall inmitten der Schönheit

Gender und Sexualität im Osmanischen Reich

Das abscheuliche Laster wird getilgt

Die spanische Inquisition

Christliche Schuld ist noch immer ziemlich stark

Koloniales Lateinamerika

Grausam, unanständig und irrwitzig

Die Kriminalisierung von Sodomie

Ich brenne für dich

Pornografie

Meine Freude, meine Krone, meine Freundin!

Lesbianismus der Frühneuzeit

O du geliebter Knabe

Liebeslyrik zwischen Männern

Vor Gericht wurden beide zu Frauen erklärt

AFAB-Crossdresser*innen und »weibliche Ehemänner«

Der große Spiegel der männlichen Liebe

Männliche Liebe im Japan der Edo-Zeit

SUBKULTUR UND SICHTBARKEIT

Mit meinem Körper tun, was mir beliebt

Molly-Häuser

Zu meiner Liebsten sprechen

Erotische Freundinnenschaften in Nordamerika und Europa

Das eigene Ebenbild liebkosen

Gleichgeschlechtliche Zuneigung in der Urdu-Lyrik

Sich im Schoß seinergleichen wiederfinden

Sapphismus

In Männerkleidung und mit dem Schwert in der Hand

AFAB-Personen im Kampf

Wir verstoßen nicht gegen die Natur, wir dienen ihr

Revolutionäres Frankreich

Ich liebe und liebe allein das schöne Geschlecht

Die Tagebücher von Anne Lister

Dieser skandalöse Tumult

Die osmanische Gesellschaft im Wandel

Einem ganz andren Naturgesetz unterworfen

Die Definition von »homosexuell« und »heterosexuell«

Sie sagen, die Seele sei Hijra

Hijras und britischer Kolonialismus

Nicht Männer, sondern einander suchen

Paris in der Belle Époque

Wir werden alle nackt geboren. Der Rest ist Drag

Drag

Zwei Damen, die reizend und zugetan das Leben teilen

Bostoner Ehen

Eine schöne Frau und ein starker Mann zugleich

Gendernonkonformität und koloniale Zwänge in Afrika

Was die Natur hervorbringt, ist natürlich

Erste Anerkennung von Asexualität

Die Liebe, die ihren Namen nicht zu nennen wagt

Der Prozess gegen Oscar Wilde

In Jungenkleidung konnte ich mich besser ausdrücken

Männerimitator*innen

Männliche Homosexualität und Politik

Der Eulenburg-Skandal

SEXUALWISSENSCHAFTEN UND SEXUELLE IDENTITÄTEN

Homosexualität ist … kein Laster, keine Erniedrigung

Sexualwissenschaft und Psychoanalyse

Visionen der Transformation

Gendertransgressionen im modernen China

Ich habe einen Fehler der Natur berichtigt

Die ersten geschlechtsangleichenden Operationen

Zeigen, was es bedeutet, schwul zu sein

LGBTQIA*-Filme

Ein starker queerer Ort

Das erste Schwulenviertel der Welt

Bestimmt so queer wie schwarz

Die Harlem-Renaissance und die Jazz-Ära

Du bist mehr als nur keins von beidem …

Butch und Femme

Die Männer mit dem Rosa Winkel

Verfolgung während des Nationalsozialismus

Ich schreibe realistisch, nicht obszön

Ismat Chughtais Obszönitätsprozess

Wir reden nicht von Liebe. Sie schreit uns aus den Gesichtern

Die Beat Generation

Nicht alles oder nichts

Kinseys sexualwissenschaftliche Studien

Es war eine Hexenjagd

Die Lavender Scare

Unsere eigene Art von Liebe

Autorinnen verweigern sich Kategorien

Ich bin bei dir, ich bin wie du

Brasilianisches Pajubá

Gay is Good

Der Kampf für queere Rechte

Demokratie mit Unterdrückung ist keine Demokratie

Lateinamerikanische LGBTQIA*-Bewegungen

Queere Parodie

Camp

Screaming Queens

Der Compton’s-Cafeteria-Aufstand

Nicht die Aufgabe des Gesetzes

Die Entkriminalisierung gleichgeschlechtlicher Handlungen

PROTESTE, PRIDE UND BÜNDNISSE

Ich bin schwul und stolz darauf

Der Stonewall-Aufstand (1969)

Für die Homosexuellen ist das Dritte Reich noch nicht zu Ende …

LGBTQIA*-Leben in Deutschland nach 1945

Genauso valide, genauso berechtigt, genauso schön

Transrechte

Du hast nichts zu verlieren außer deiner Komplexe

CAMP Australia und der Sydney Mardi Gras

Feminismus ist eine Theorie; Lesbianismus eine Praxis

Politischer Lesbianismus

Frei sein, sich outen, Sportler*in sein

Coming-out von LGBTQIA*-Sportler*innen

Ich bin stärker wegen all meiner Identitäten

Schwarzer lesbischer Feminismus

Was immer du sein willst, sei es

Verbreitung der Ball Culture

Ein kleiner Schritt für die Geschlechtlichkeit

Pronomen und Neopronomen

Eigenständige Sexualität

»The Asexual Manifesto«

Homosexualität entpathologisieren

Homosexualität wird aus dem DSM gestrichen

Thailand hat drei Gender

Kathoey in Thailand

Die Homosexualität hat begonnen, von sich selber zu sprechen

Foucaults Sexualität und Wahrheit

Unsere Sexualität ist alle Farben

Die Pride-Flagge wird entworfen

Let that bullet destroy every closet door

Der Mord an Harvey Milk

Wir sind einfach nur eine Familie

LGBTQIA*-Eltern

Lesben sind keine Frauen

»The Straight Mind«

Heterosexualität ist eine politische Institution

Zwangsheterosexualität

Wir taten es für den Untergrund

Die Entstehung von queerem Punk

Gemeinsam bin ich alles, was ich bin

Māori Gender und Sexualität

Eine Seuche, die passieren durfte

Die AIDS-Epidemie

Solidarität im Kampf

Lesben und Schwule unterstützen Bergleute

AIDS-Aktivismus

Der Scheideweg des Seins

Anzaldúas Borderlands

Legalisierte Vorurteile

Section 28

IN ALLER ÖFFENTLICHKEIT

Wir erwarten den Tag, an dem wir die Wolken auflösen können

LGBTQIA*-Aktivismus in Asien

Wir sind hier! Wir sind queer! Gewöhnt euch dran!

Rückeroberung des Wortes »queer«

Deine Seele ist dein Gender

Indigene amerikanische Two-Spirit-Menschen

Eine ganze, fluide Identität

Bisexualität

Kein Mensch ist von Anfang an ein Gender

Butlers Das Unbehagen der Geschlechter

Sexualität dargestellt in Heimlichkeit

Sedgwicks Epistemology of the Closet

Angst vor einem queeren Planeten

Heteronormativität

Lügen, um zu dienen

Don’t Ask, Don’t Tell

Tomboys und Ehefrauen

Die chinesischen lala-Communitys

Es war nicht Gott, der mich ablehnte

LGBTQIA*-Muslim*innen

Kein Puzzle mit fehlendem Puzzleteil

Das aromantische und asexuelle Spektrum

Sein Erbe ist die Inspiration, Hass zu beenden

Der Mord an Matthew Shepard

Ich muss nicht geheilt werden

Verbot der Konversionstherapie

Liebe gewinnt

Gleichstellung der Ehe

Ich mag den Wein, nicht das Etikett

Pansexualität

Eine queere Psychologie des Affekts

Affekttheorie

Wir lernten quare, Schwarz und stolz zu sein

»Queer of Color«-Theorie

Behinderung ist queer, queerer als queer

Queere Disability Studies

Die Gewalt des Liberalismus

Homonationalismus

Ich sehe mich selbst als meine*n eigene*n Leihgebärende*n

Trans Schwangerschaft und reproduktive Gesundheit

Wir brauchen Luft zum Atmen

LGBTQIA*-Herausforderungen im modernen Afrika

Wo 49 Leben genommen wurden, bleiben 49 Vermächtnisse

Die Schießerei im Pulse

Sicher, gerecht und wissenschaftsbasiert

Blutspendegesetze für MSM

WEITERE PERSONEN

GLOSSAR

ZITATNACHWEIS

DANK

EINLEITUNG

Heutige Begrifflichkeiten für die LGBTQIA*-Community wären den Menschen aus der Antike ebenso fremd wie das Konzept dieser Community selbst. Belege für queeres Begehren, Geschlechtervarianz oder Intergeschlechtlichkeit haben Historiker*innen an vielen Stellen gefunden – von Kunst, Poesie und Theaterstücken bis hin zu Tagebüchern, Briefen und Gerichtsakten –, doch zeigen sie ein ganz anderes als das moderne Verständnis von LGBTQIA*. Wie der Historiker David Halperin (USA) bemerkt, haben die meisten Gesellschaften in der Geschichte nicht zwischen Hetero- und Homosexualität unterschieden. Das macht es problematisch, Personen aus der Vergangenheit mit denselben Begriffen zu beschreiben.

Historiker*innen, die zu queeren Erfahrungen forschen, stoßen oft auf die Frage: Wie haben Menschen in der Vergangenheit Gender und Sexualität verstanden? Können wir sie aufgrund unserer Interpretation ihrer Handlungen als queer begreifen? Historiker*innen unterliegen einer gewissen Beweislast. Wie können wir sicher sein, dass Alexander der Große und Hephaistion nicht nur enge Freunde waren? Spielt es eine Rolle, ob Frauen aus dem 19. Jahrhundert, die in »Bostoner Ehen« zusammenlebten, Sex im heutigen Sinne hatten? Dass »Beweise« für sexuelle Handlung gefordert wurden, hat einige Menschen aus der LGBTQIA*-Geschichte ausgeschlossen. Doch »was zählt«, wird in der heutigen Forschung zunehmend breiter verstanden, wie der Begriff »lesbenähnlich« von der Historikerin Judith Bennett (USA) zeigt.

Archivarische Herausforderungen

Wie jede Erforschung marginalisierter Gruppen bringt das Studium der LGBTQIA*-Geschichte Herausforderungen mit sich. Traditionelle Archive – Museen, Gerichtsakten, Bibliotheken – liefern ein Zerrbild der Vergangenheit. Denn Queerness wird in der Regel nur in Bezug auf Strafverfolgung, Skandale oder vermeintliche Abnormalität erwähnt. Das ist kein Zufall, wurden die Archive doch von jenen kuratiert, die der Existenz von LGBTQIA*-Menschen feindlich gegenüberstanden. Vor dem 19. Jahrhundert wurden die Belege für LGBTQIA*-Leben von jenen geschaffen, die sie verurteilten, unsichtbar machten. Historiker*innen müssen »gegen den Strich lesen« und Leerstellen finden, die queer gelesen werden können. Viele Historiker*innen verwenden die Bezeichnung »queere Geschichte«, weil »queer« eine Herausforderung an den Status quo ist, mit Traditionen bricht und gegen starre Definitionen und festgelegte Identitäten aufbegehrt.

»Queerness hat eine besonders schwierige Beziehung zu Beweisen. Historisch gesehen wurden Beweise für Queerness genutzt, um queere(s) Begehren, Verbindungen und Handlungen zu bestrafen und zu disziplinieren.«

José Esteban MuñozKubanoamerikanischer Akademiker (1967–2013)

Was ist LGBTQIA*-Geschichte?

Länder auf der ganzen Welt feiern den LGBTQIA*-Geschichtsmonat: Großbritannien und Ungarn im Februar, Deutschland und Kuba im Mai und die USA, Kanada und Australien im Oktober. Die Feierlichkeiten fokussieren sich auf die jüngere Geschichte der LGBTQIA*-Bewegung und beleuchten LGBTQIA*-Persönlichkeiten. Doch die LGBTQIA*-Geschichte geht weit über das hinaus, was der Pride Month abdecken kann. Sie ist ein potenziell unendliches Projekt mit endlosen Möglichkeiten zur Erforschung und Interpretation. Sie ist kein linearer Prozess von Intoleranz zur Gleichheit, ganz egal wie politisch wertvoll solch eine Behauptung sein kann. Es gibt nicht nur die eine LGBTQIA*-Geschichte, sondern viele widersprüchliche, gegensätzliche Geschichten, die sich überschneiden und auf unerwartete Weise aufeinander wirken.

Dieses Buch ist keine Aufzählung wichtiger LGBTQIA*-Momente, sondern ein Querschnitt durch Raum und Zeit. Statt individueller Schicksale werden gesellschaftliche Strukturen und Ideologien beleuchtet. Queer-Theorie ist Teil der LGBTQIA*-Geschichte. Sie erklärt nicht nur, wie Gender und Sexualität heute gedacht werden, sondern liefert auch das Fundament für den Großteil des jüngsten politischen Aktivismus.

»Transing«

Kein LGBTQIA*-Geschichtsbuch wäre vollständig ohne die Erzählungen von Transgender-, Intersex- und weiteren gendernonkonformen Menschen. Crossdressing, Leben als anderes Gender, Abweichungen von Gendernormen, Menschen, die als weder männlich noch weiblich oder als drittes Geschlecht wahrgenommen wurden – all das ist miteinander und in Geschichten über gleichgeschlechtliches Begehren verknüpft. Anstatt ahistorische Begriffe zu nutzen, bezeichnet dieses Buch all das als »transing gender« und setzt es in den Kontext vergangener Gendernormen.

»Die Sehnsucht nach Gemeinschaft ist immer wieder ein entscheidendes Merkmal von queeren historischen Erfahrungen.«

Heather LoveUS-amerikanische Wissenschaftlerin

Auch transing gender wollen wir nicht an Einzelschicksalen, sondern in sozialen Praktiken untersuchen. Weltweit gibt es beachtliche Variationen bei diesen Praktiken, von denen viele durch religiöse und politische Kräfte bedroht und verfolgt wurden und werden.

Wechselnde Terminologien

Begriffe dafür, was wir heute LGBTQIA*-Erfahrungen nennen, haben sich im Laufe der Zeit gewandelt – von Sodomie und Sapphismus zu Tribadismus, Urning und berdaches (Two-Spirits). Dieses Buch verwendet mit homosexuell, schwul, lesbisch, trans, nichtbinär, cis und queer (in akademischen Kontexten oder als selbstgewählte Identität) moderne Sprache aus vielfältigen Kontexten. Wir beschreiben trans Personen als bei der Geburt dem männlichen oder weiblichen Geschlecht zugewiesen (AMAB bzw. AFAB) und als Mann/Frau lebend. Dies spiegelt einen Wandel in der Wahrnehmung von Gender und Sexualität wider, ohne dabei Gemeinsamkeiten mit der Vergangenheit zu verdecken.

Viele der Historiker*innen, die sich mit dieser Geschichte befassen, sind selbst LGBTQIA*. Das Streben nach queerer Geschichte ist oftmals die Suche nach Herkunft und Legitimität, der Wunsch nach Beweisen, dass LGBTQIA*-Menschen schon immer existiert haben. Was die US-amerikanische Historikerin Carolyn Dinshaw als »queeres Verlangen nach Geschichte« bezeichnet, ist der Kern dieses Projekts.

DIE ÄLTERE VERGANGENHEIT

um 2400 v. Chr.

Nianchchnum und Chnumhotep, anscheinend beide Männer, sind wie ein Ehepaar zusammen begraben.

um 2000 v. Chr.

Das sumerische Gilgamesch-Epos schildert die homoerotische Beziehung zwischen Gilgamesch und Enkidu.

um 630 v. Chr.

Sapphos Geburt auf Lesbos; ihre Liebespoesie macht Lesbos zum Synonym für homosexuelles Begehren.

336–323 v. Chr.

Alexander der Große regiert mit Hephaistion, seinem Geliebten und General, das Reich von Makedonien.

77 v. Chr.

Ein römischer Gerichtsfall zeigt, dass kastrierte galloi weder Frauen noch Männer sind.

7–1 v. Chr.

Kaiser Han Aidi regiert China. Er überhäuft seinen männlichen Günstling mit Geschenken.

57 n. Chr.

Der Apostel Paulus verurteilt in seinen Brief an die Römer Homosexualität als unnatürlich.

um 100 – um 200 n. Chr.

In Indien wird das Kamasutra geschrieben, inklusive homoerotischer sexueller Handlungen.

130 n. Chr.

Antinoos, Geliebter des römischen Kaisers Hadrian, ertrinkt im Nil. Hadrian ehrt seine Schönheit indem er ihn zum Gott erhebt.

786–809 n. Chr.

Kalif Harun al Raschid regiert die Abbasiden. Sein Hofpoet Abu Nuwas ist bekannt für homoerotische Poesie.

860 n. Chr.

Der Theologe Hinkmar von Reims verwendet erstmals das lateinische Wort »Sodomia« im Sinne von »unnatürlicher« Akt.

1277

Die erste aufgezeichnete Hinrichtung wegen Sodomie findet in Basel statt.

Jeder Versuch, die erste lesbische, schwule oder trans Person, die es jemals gab, zu identifizieren, wäre ein sinnloses Unterfangen. Wenn Sexualität und Gender zumindest in gewisser Weise angeboren sind, liegt es nahe, dass Menschen schon immer das Potenzial für gleichgeschlechtliches Begehren hatten und ein Gender ausdrücken wollten, das von ihrem mutmaßlichen Geschlecht abwich. Wie die ersten Menschen Gender und Sexualität verstanden, entzieht sich unserem Verständnis. Selbst archäologische Funde von gleichgeschlechtlichen Liebespaaren oder »weiblichen« Skeletten, die in »männlichen« Posen begraben wurden, sagen nur wenig aus. Unser modernes Interesse an LGBTQIA*-Leben kann uns auf ahistorische Pfade führen. 2021 wurde z.B. vom Fund 1000 Jahre alter Überreste in Finnland als Beweis für nichtbinäre Vorfahr*innen berichtet. Forscher*innen hatten ein Skelett mit inter Merkmalen gefunden.

Die Beweisarten

Einige antike archäologische Funde lassen vermuten, dass gleichgeschlechtliche Partner*innenschaften existierten und akzeptiert waren. So wurden die Manikeure Nianchchnum und Chnumhotep etwa 2400 v. Chr. gemeinsam begraben. In der Grabmalerei sind sie als Ehepaar dargestellt. Auch in der Mythologie gibt es Legenden, die als homoerotische Partner*innen oder eindeutig als Liebhaber*innen dargestellt wurden – wie z.B. Enkidu und Gilgamesch aus dem sumerischen Gilgamesch-Epos und Achilles und Patroklos aus der Ilias.

Einige der berühmtesten Beispiele für Homoerotik in der Antike stammen aus höfischen Aufzeichnungen. Sie berichten von Herrschern, für die es als akzeptabel galt, Beziehungen mit ihren männlichen Günstlingen zu führen. Das trifft insbesondere auf die Han-Kaiser von China zu (206 v. Chr. – 220 n. Chr.). Höfische Aufzeichnungen nennen aber auch Abbasiden-Kalif al-Amin (reg. 809–813), der die Gesellschaft von versklavten Männern jener von Frauen bevorzugte. Antike Poesie und Traktate liefern weitere wichtige Belege: von den Gedichten der griechischen Dichterin Sappho bis hin zum indischen Lehrwerk über Erotik, dem Kamasutra. Dieses beschreibt Sex zwischen gleichgeschlechtlichen Paaren und eheähnlichen Bindungen zwischen Männern, parasparaparigraham genannt.

Heute eindeutig homosexuell, wurden diese Beziehungsformen in der Antike anders verstanden. In Griechenland bestand das Paar aus einem älteren und einem jüngeren Mann. Der Jüngere nahm die passive Rolle beim Sex ein. Ähnlich wurde in Rom zwischen dem aktiven, penetrierenden Partner und dem passiven, empfangenden Mann unterschieden. Ersterer zu sein war akzeptabel, Letzterer beschämend.

Gender verstehen

Antike Gesellschaften erkundeten Gender auf unterschiedlichste Weisen. Einige antike Begriffe beschreiben Überschreitungen von Geschlechtergrenzen und Leben abseits der binären Norm. Dazu gehören die als »Männer-Frauen« bezeichneten Tempelarbeiter*innen der Göttin Inanna, die »Frau-Jungen« des antiken Ägyptens und die »Dritte Natur« im Kamasutra. Der Fokus ist hier auf dem gelebten Genderausdruck, nicht auf den Genitalien. Umgekehrt gab es in der Antike aber auch Diskurse zu Geschlechtsorganen: Griechenland und Rom schufen Statuen für die inter Gottheit Hermaphroditos. Besonders Rom war mit der Idee des Geschlechterwandels vertraut. Römische Ärzt*innen schrieben über Phänomene, die wir heute Intersexualität nennen würden. Galloi genannte Priester kastrierten sich selbst und lebten als Frauen, und Kaiser Nero soll eine*n Chirurg*in engagiert haben, um seine neue Frau Sabina (AMAB) geschlechtsangleichend zu operieren.

Religiöse Verfolgung

Mit dem Christentum veränderte sich das Verständnis dessen, was als sexuelle Sünde gesehen wurde. Im 1. Jahrhundert n. Chr. verurteilte Paulus im Brief an die Römer homoerotische Lust und ab dem 4. Jahrhundert begannen christliche Denker*innen den biblischen Untergang von Sodom und Gomorra als das Ergebnis gleichgeschlechtlichen Verhaltens zu deuten. Im 5. Jahrhundert begann die Kirche unehelichen Sex zu verurteilen und ab dem 12. Jahrhundert wurde gleichgeschlechtlicher Sex als Verbrechen gegen die Natur verfolgt. Ab dem frühen 13. Jahrhundert wurde das Verbrechen mit dem Tode bestraft.

WENN HELD*INNEN LIEBEN

FRÜHESTE BELEGE FÜR LGBTQIA*-PERSONEN (UM 2400 V. CHR.)

IM KONTEXT

SCHWERPUNKT

Quellenauswertung

FRÜHER

Um 2600 v. Chr. Der Meistermusiker von Mari, Ur-Nanshe, wird mit Brüsten und in einem Kleid dargestellt.

SPÄTER

800 v. Chr. Der griechische Dichter Homer verfasst die Ilias. Das antike Epos enthält die Geschichte von Achilles und Patroklos.

Um 400 v. Chr. Der Historiker Ktesias schreibt in Persiká über die »Verweiblichung« von König Aššurbanipal, die schuld am Untergang des Neuassyrischen Reiches sei.

1849 Das Gilgamesch-Epos wird in Aššurbanipals Bibliothek von Ninive gefunden.

1964 Arbeiter*innen entdecken in Sakkara das Grab von Nianchchnum und Chnumhotep.

Es gibt nur wenige archäologische Funde, die Hinweise darauf geben, wie Menschen in der Antike über Gender und Sexualität dachten. Als Europäer*innen im 15. Jahrhundert begannen, die Welt zu kolonialisieren, stellten sie fest, dass viele Kulturen einen flexibleren Umgang mit Sexualität und Gender pflegten. Wahrscheinlich war das schon seit Jahrhunderten so. Doch das ist schwer zu beweisen, da es kaum schriftliche Aufzeichnungen gibt.

Heroische Paare

Viele antike Erzählungen drehen sich um Männerfreundschaften. Gilgamesch und Enkidu aus dem sumerischen Gilgamesch-Epos, Achilles und Patroklos aus Homers Ilias sowie David und Jonathan aus der hebräischen Bibel sind voller Zuneigung füreinander. Doch auf die genaue Art ihrer Beziehung wird nicht weiter eingegangen.

Anders verhält es sich bei Nianchchnum und Chnumhotep. Die beiden Männer aus dem alten Ägypten waren Manikeure des Königs Niuserre und wurden um 2400 v. Chr. gemeinsam in Sakkara begraben. Ein Bild zeigt sie in einer innigen Umarmung. Daher gehen viele Historiker*innen davon aus, dass sie in einer romantischen Beziehung waren. Andere glauben jedoch, dass sie Brüder waren.

Gender verstehen

Sind schriftliche Quellen vorhanden, kann die Übersetzung problematisch sein. Im 2. Buch der Könige verweist König Josia die »männlichen Prostituierten« des Tempels von Aschera. Dabei könnte es sich um transfeminine Priester*innen gehandelt haben, gleich den römischen galloi im Tempel der Kybele. Christliche Übersetzer*innen versuchten vermutlich, andere Religionen als sexbesessen darzustellen und waren nicht mit Geschlechterfluidität vertraut. Das hebräische Wort qedešah wurde als Sexarbeiter*in übersetzt, was heute umstritten ist. Es könnte sich um cis Männer ohne sexuelle Rolle im Kult gehandelt haben.

»Wie über einem Weib hast du über ihm geraunt, … er aber wird dich immer wieder erretten.«

Gilgamesch-EposGilgameschs Mutter deutet seine Träume über Enkidu.

Nianchchnum und Chnumhotep umarmen sich auf diesem Wandgemälde in ihrem Grab in Sakkara, ein Motiv, das verheirateten Paaren vorbehalten war.

Die Maximen des Ptahhotep aus der Zeit um 1991 v. Chr. belehren ägyptische Männer darin, tugendhaft zu sein. Leser*innen wird geraten, effeminierte Jungen zu meiden. Die wörtliche Übersetzung lautet: »Frau-Junge«. Ähnliche Begriffe tauchen im Werk der sumerischen Prinzessin Enheduanna auf. Sie schreibt der Göttin Inanna die Macht zu, Männer in Frauen und Frauen in Männer zu verwandeln. Was genau sie meint, ist unklar. Doch es gibt Hinweise, dass Inannas ursprünglich männliche Tempelarbeiter, die gala, als Sänger*innen arbeiteten und in einem Dialekt sprachen, der Frauen vorbehalten war. Das British Museum besitzt das Fragment einer gala-Statue aus der Zeit um 2000 v. Chr. Die Inschrift lautet »Silimabzuta, die Mann-Frau von Inanna«.

In der Sprache der Inka, Quecha, gibt es einen ähnlichen Begriff, der mit »Mann-Frau« übersetzt wird: quariwarmi. Wir wissen nicht, ob er das Geschlecht, die Sexualität oder beides meint. Diese Kulturen kannten ein Dasein außerhalb der Geschlechternormen.

»Einen Mann in eine Frau zu verwandeln und eine Frau in einen Mann, das ist deines, Inanna.«

Enheduanna»Eine Hymne an Inanna«

LEGE NICHT MEIN GEBEIN VON DEINEM GETRENNT, O ACHILLEUS

GENDER UND SEXUALITÄT IM ANTIKEN GRIECHENLAND (UM 800–30 V. CHR.)

IM KONTEXT

SCHWERPUNKT

Frühe Beweise

FRÜHER

Um 2000 v. Chr. Das Gilgamesch-Epos beschreibt die homoerotische Freundschaft zwischen Gilgamesch und Enkidu.

SPÄTER

1. Jh. n. Chr. Der Warren Cup, ein silberner Kelch aus dem östlichen Römischen Reich, zeigt zwei gleichgeschlechtliche Männerpaare.

5. Jh. n. Chr. Briefe aus Klöstern in Ägypten erwähnen weibliche Mitglieder, die »körperliches Begehren« für andere Frauen zeigen.

1973 Im Iran werden zwei männliche Skelette aus der Zeit um 800 v. Chr. in einer innigen Umarmung entdeckt.

Im archaischen Zeitalter entsteht um 800 v. Chr. das erste literarische Werk: Homers Ilias. In dem Mythos spielt die Beziehung zwischen den legendären Kriegern Achilles und Patroklos eine zentrale Rolle.

Fünf Jahrhunderte später umfasste das griechische Reich unter Alexander dem Großen das heutige Ägypten, den Nahen Osten, Persien (heute Iran) und den Himalaja. Nach seinem Tod im Jahr 323 v. Chr., spaltete sich das Reich in vier hellenistische Königreiche. Diese erhielten den griechischen Einfluss in der antiken Welt für Jahrhunderte aufrecht, sogar nach der Eroberung durch die Römer. In der klassischen Zeit des antiken Griechenlands entstand das, was wir heute als »Demokratie« kennen. Allerdings galt sie nur für männliche Bürger; nicht für Frauen und versklavte Menschen. Es gab damals zahlreiche Sklav*innen verschiedener Ethnien, die in griechischen Haushalten und für den Staat arbeiteten. Sie galten als angemessene Sexualpartner*innen für die Männer, die sie versklavten.

Päderastie im antiken Griechenland

Jüngerer Manneromenos (der Geliebte) genannt Passiver Partner in der Beziehung

Älterer Mannerastes (der Liebhaber) genannt Aktiver Partner in der Beziehung

Archaisches Begehren

Die Oden des Dichters Alkman aus dem 7. Jahrhundert beweisen, dass gleichgeschlechtliche Beziehungen zwischen nicht versklavten Menschen akzeptiert waren. Unverheiratete Frauen aus Sparta trugen die Gedichte in Chören vor und priesen die Schönheit und erotische Anziehungskraft anderer Frauen – ein Hinweis darauf, dass weibliches homoerotisches Begehren weithin anerkannt war. Ein Tellerbild aus Thera (um 500 v. Chr.) stützt die These. Darauf tauschen zwei Frauen Girlanden aus – ein Symbol für Begehren.

Sappho (um 630–um 570 v. Chr.), die Gedichte über das Begehren zwischen Frauen schrieb, war in der gesamten griechischen Welt bekannt. Im 3. Jahrhundert v. Chr. benennt die hellenistische Dichterin Nossis sie als ihre Inspiration und Aphrodite als ihre Schutzgöttin.

Im 6. Jahrhundert v. Chr. breitete sich der Orpheuskult aus. Die Anhänger huldigten dem berühmten Dichter und Musiker aus der griechischen Mythologie und verbreiteten erotische Liebe zwischen Männern in ganz Griechenland. Damit einher ging der Glaube an ein Leben nach dem Tod, das voller homosozialer und homoerotischer Intimität sein würde.

Grabfresken aus der ganzen griechischen Welt weisen auf den Kult hin: So zeigt das »Grab des Tauchers« in Paestum, Italien gleichgeschlechtliche Paare in unterschiedlichen intimen Posen. Die Paare praktizierten Päderastie. Der Begriff ist vom griechischen paides (Kinder) und eros (Liebe) abgeleitet.

Päderastie war ein komplexer Aspekt der griechischen Gesellschaft. Quellen bestätigen, dass eine päderastische Beziehung stets zwischen einem erwachsenen bärtigen Mann, erastes, und einem bartlosen Jugendlichen, eromenos, bestand. Die Beziehungsform galt als Hilfestellung für den sozialen Übergang vom Jugendlichen zum Mann und Bürger, ähnlich der Lehrer-Schüler-Bindung. Die antike Literatur legt nahe, dass ein junger Mann ab seiner Pubertät als eromenos begehrt werden konnte, so wie pubertierende Mädchen heiratsfähig waren. Einige Quellen behaupten, dass junge Männer mit Vollbart als zu alt galten, um attraktiv zu sein. Das begehrteste Alter war 16.

Sexuelle Identitäten

In der Klassik gab es die moderne Vorstellung einer fixen Sexualität wie »homo-« oder »heterosexuell« nicht. Der Geschlechtsakt konnte zwar als »gleichgeschlechtlich« oder »gegengeschlechtlich« gelten. Doch auch wenn sie eindeutige Vorlieben hatten, wurden Menschen nicht anhand dieser Begriffe beschrieben. Von Männern wurde erwartet zu heiraten und Kinder zu bekommen. Außerhalb der Ehe wurde jedoch kaum unterschieden, ob ein Mann mit Frauen oder Jungen schlief. Solange er den »aktiven« Part (penetrieren) ausübte, blieb sein Ansehen intakt. Ein Mann, der die passive Rolle übernahm, wurde als »frauenhaft« verspottet.

»Nichts ist süßer als Lieb’, und Alles, was sonst noch für köstlich Gilt, kommt hernach …«

NossisFragment

In den wenigen Schriften über Sex zwischen Frauen wurde missbilligt, dass hier beide Frauen den »aktiven« Part innehatten. Dies galt als Überschreitung der Geschlechternormen.

Achilles und Patroklos

Im homosozialen Leben der Männer wurde kaum zwischen platonischer (Freundschaft ohne Sex) und erotischer Intimität unterschieden. In Homers Ilias wird die Art der Beziehung zwischen Achilles und Patroklos nicht explizit gemacht. Doch die tiefe Zuneigung zwischen den Kriegern führte die Philosophen der Antike zu der Annahme, dass sie eine sexuelle Beziehung hatten.

Die Marmorstatue zeigt die Gottheit Hermaphroditos mit Brüsten und Penis. Es gibt viele ähnliche Statuen, die im Kontext eines antiken Kults entstanden sind, manche davon mit Bärten.

In einem Fragment der Myrmidonen, einer griechischen Trilogie über Achilles vom Dramatiker Aischylos (ca. 525–um 456 v. Chr.), betrauerte Achilles den Tod von Patroklos, indem er über »der Schenkel Bund« der beiden sinnierte. Die Philosophen der damaligen Zeit diskutierten nicht, ob die beiden miteinander sexuell intim waren, sondern vielmehr, wer welche Rolle in ihrer Beziehung einnahm – eromenos oder erastes.

Platon über Sexualität

Platons (428–347 v. Chr.) Symposium beschreibt ein fiktives Trinkgelage, bei dem Reden über die Liebe gehalten werden. Eine Rede geht um Achilles und Patroklos, allerdings um die Frage, wer eromenos und wer erastes sei, und nicht um die Art der Beziehung. Auch die Päderastie zwischen dem Athener Pausanias und dem Dichter Agathon wird erwähnt. Das Paar blieb selbst dann zusammen, als der jüngere Agathon mündig wurde. Platons Schüler, Aristoteles (384–322 v. Chr.), geht in seinem Werk auf diese Praxis ein. Die Fortsetzung der Beziehung sei dann möglich, wenn der Junge einen gefälligen Charakter habe und gut aussehe.

In Platons Symposium erklärt der Komödiendichter Aristophanes sexuelle Vorlieben mit einer Allegorie, in der Menschen ursprünglich aus zwei Köpfen, vier Armen, vier Beinen und zwei Geschlechtsteilen bestanden. Diese waren entweder männlich-männlich, männlichweiblich oder weiblich-weiblich. Aus Angst vor ihrer Macht zerteilte Zeus sie in zwei Hälften. Seitdem suchen Menschen nach ihrer anderen Hälfte, was zu verschiedenen sexuellen Präferenzen führe.

Auf einem Trinkgefäß aus dem 5. Jh. ist Patroklos mit einem Bart abgebildet. Er ist der erastes für den jüngeren eromenos Achilles. Dieser versorgt die Wunden Patroklos’.

In seinem Werk Nomoi kritisiert Platon jedoch gleichgeschlechtlichen Sex. Dieser stelle Lust über Selbstkontrolle und widerspreche der natürlichen Ordnung. Sex diene ausschließlich der Fortpflanzung.

»Bei Ganymedes, dem Lockengeschmückten!Du hattest dich selber, Zeus im Himmel, einmal verliebt.«

Kallimachos3. Jh. v. Chr.

Mythologische Erzählungen

In der griechischen Mythologie zeigt sich, dass es ein Bewusstsein für gleichgeschlechtliche Anziehungskraft gab. Tatsächlich haben außer dem Kriegsgott Ares alle Götter einen Liebhaber. Am bekanntesten sind Zeus und Ganymed. Zeus war so verliebt in den trojanischen Prinzen, dass er ihm als Adler erschien und ihn auf den Olymp flog. Dort blieb er als Mundschenk für immer bei ihm. Bis heute ist er im Sternbild Ganymed und im Sternzeichen Aquarius verewigt.

Mythen über romantische Beziehungen zwischen Frauen waren weniger üblich. Doch Zeus’ Verführung der Nymphe Kallisto galt in der klassischen und hellenistischen Literatur als Beweis für ihre sapphische Neigung. Als seine Annäherungen zurückgewiesen werden, verkleidet sich Zeus als die Göttin Artemis, woraufhin Kallisto bereitwillig mit ihr/ihm intim wird.

In Berichten über die Heilige Schar geht es um romantische und sexuelle Beziehungen zwischen militärischen Helden. Die Militäreinheit aus dem 4. Jahrhundert v. Chr. bestand angeblich aus 150 männlichen Paaren. Sie sollen die weitaus größere Streitkraft Spartas besiegt haben. Zwar sind die Berichte über die Einheit nicht unbedingt historisch gesichert, doch homoerotische Beziehungen zwischen Soldaten gab es. Sie könnten sogar begünstigt worden sein, um Loyalität zu fördern. Das macht die Existenz der Heiligen Schar glaubhafter.

Gendervariant

Die griechische Mythologie befasst sich auch mit dem Konzept der Geschlechtsidentität. Statuen der Aphrodite aus Zypern deuten auf einen Kult der »bärtigen Aphrodite« oder auch Hermaphroditos hin. Die Göttin wird mit Brüsten, Penis und manchmal mit Bart abgebildet. Diese Abbildungen von Hermaphroditos würden wir heute wohl als intersexuell beschreiben.

Auch um den Gott Dionysos gab es einen Kult, der Gendervarianz sichtbar machte. Er wurde als Mädchen aufgezogen, galt dementsprechend als »frauenhaft« und trug »Frauenkleider«.

»(…) entflamme das Herz, die Leber, den Geist von Gorgonia (…) mit Liebe zu Sophia (…).«

Fragment eines hellenistischen Zauberspruchs

Bitten an die Gött*innen

Als das hellenistische Ägypten um 30 v. Chr. unter römische Herrschaft gelangte, überlebte die griechische Kultur. Archäolog*innen entdeckten magische Liebesamulette aus dem 2. Jahrhundert n. Chr. Auf Blei oder Papyrus standen Zaubersprüche, die Gottheiten – meist Göttinnen – nannten, sowie die gewünschte Wirkung des Zaubers. Einen solchen Zauber gab ein Mann namens Serapiakos in Auftrag. In dem Fragment heißt es, dass Herz und Seele des Mannes Ammoneios für ihn brennen sollen. Auch queere Menschen nutzen also die Zauber.

Alexander und Hephaistion

Alexander der Große umarmt und küsst Hephaistion auf diesem Wandteppich aus dem 17. Jh. (Hampton Court Palace, Großbritannien).

Alexander der Große (356–322 v. Chr.) war Regent von Makedonien, einem der größten Imperien der Geschichte. Historiker*innen streiten über seine Beziehung zu Hephaistion, obwohl Quellen bestätigen, dass sie ein intimes Verhältnis pflegten. Laut dem Historiker Arrian (um 86–160 n. Chr.) legten sie als Symbol ihrer Liebe Girlanden auf das mutmaßliche Grab von Achilles und Patroklos und Alexander sagte der persischen Königin Sisygambis, dass »(Hephaistion) auch Alexander ist«. Ein Brief des Philosophen Diogenes (um 404–323 v. Chr.) beschuldigt Alexander, »zwischen den Schenkeln des Hephaistions gefangen« zu sein.

Als Hephaistion verstarb, weinte Alexander tagelang über seinem Leichnam und löschte die heilige persische Flamme, ein Akt, der sonst verstorbenen Königen vorbehalten war.

DU, DIE ICH VON ALLEN FRAUEN AM MEISTEN BEGEHRE

SAPPHO VON LESBOS (UM 630 – UM 570 V. CHR.)

IM KONTEXT

SCHWERPUNKT

Das Erbe von Sappho

FRÜHER

23. Jh. v. Chr. Die sumerische Priesterin Enheduanna schreibt Oden an die Göttin Inanna und nennt sich Inannas »Braut«.

SPÄTER

1650/60er Die »englische Sappho«, Dichterin Katherine Philips, feiert weibliche Liebe und Freundinnenschaft.

17.–19. Jh. Die Wörter »sapphisch« und »lesbisch« werden zunehmend für Frauen verwendet, die Frauen begehren.

1840 In »The Picture of Sappho« von der Britin Caroline Norton sehnt Sappho sich nach einem Mann.

2004 Papyrusfunde vervollständigen beinahe Sapphos »Tithonus«-Gedicht.

Sappho von Lesbos war eine der bekanntesten Lyriker*innen der Antike. Die Bibliothek von Alexandria besaß wahrscheinlich über neun Bände ihres Werkes. Doch nur 1000 Zeilen überlebten, hauptsächlich in Fragmenten.

Zu den Gründen für den Verlust ihres Werkes zählen ein Feuer während der römischen Belagerung im Jahr 48 v. Chr., die christliche Kirche, die nach dem 4. Jahrhundert n. Chr. die Gedichte wegen ihrer erotischen Symbolik zerstörte und der natürliche Zerfall des Papyrus.

Lediglich die 28-zeilige »Ode an Aphrodite«, die sich an die Liebesgöttin wendet, überlebte. Dennoch wurde Sapphos Name zum Synonym für Liebe zwischen Frauen. Sapphos Vermächtnis liegt nicht nur in ihrer Poesie, sondern auch in ihrer symbolischen Bedeutung für Lesben auf der ganzen Welt.

Ursprünge

Der Begriff »lesbisch« ist von Lesbos abgeleitet, einer Insel vor der Westküste der Türkei. Doch die Etymologie des Wortes in Bezug auf Sexualität ist kompliziert. Das altgriechische Verb lesbiazein bedeutete »beflecken« oder etwas genauer: »wie eine Frau von Lesbos handeln«. Dem niederländischen Gelehrten Erasmus (um 1466–1536) zufolge waren die Frauen für ihre sexuelle Zügellosigkeit bekannt, vor allem für das Praktizieren von Oralverkehr. Eine »Lesbe« war also eine Person, die diesen Akt ausübte.

Obwohl Sappho so eng mit Lesbianismus verbunden wird, finden viele Wissenschaftler*innen es anachronistisch, diese Bezeichnung für die Dichterin anzuwenden. »Sapphisch« und »lesbisch« wurden erst im 17. Jahrhundert für frauenliebende Frauen verwendet. Zu Sapphos Lebzeiten wurden Sexualität und Geschlechtsidentität anders als heute gedacht. Anstatt Personen als »homo-« oder »heterosexuell« (Begriffe aus dem 19. Jahrhundert) zu definieren, ging es darum, ob eine Person eher einen passiven oder einen aktiven Part beim Sex einnahm.

»Jemand wird sich an uns erinnern, sag ich, auch in anderen Zeiten.«

SapphoFragment 147

Sapphische Verse

In ihrem Werk feiert Sappho die weibliche Schönheit und macht Frauen Liebeserklärungen. In einem Fragment besingt sie Atthis, die sie vor langer Zeit geliebt hatte. In Fragment 16 sehnt sie sich nach ihrer einstigen Geliebten Anactoria – »ihren reizenden Schritt, ihren funkelnden Blick und ihr liebliches Gesicht«.

In Sapphos Lyrik werden kaum reale Männer genannt. Die meisten männlichen Figuren sind mythisch. Im Gegensatz dazu nennt Sappho die Namen von 14 Frauen, von denen einige tatsächlich auf Lesbos lebten. Sappho war nicht die Einzige auf Lesbos mit gleichgeschlechtlichem Verlangen. In Fragment 213 beschreibt sie Archeanassa und Gorgo als Ehefrauen.

»Eros wiederum quält mich, der Gliederlösende, süßbitteres unbezwingbares Getier.«

SapphoFragment 130

Sapphos Verse wurden bereits zu ihrer Lebzeit gelobt. Sie waren zuerst Teil einer athenischen (etwa 5. Jahrhundert v. Chr.), später einer alexandrinischen Sammlung (3. oder 2. Jahrhundert v. Chr.), da die ägyptische Hauptstadt einen Kanon griechischer Literatur aufbaute. Sappho wurde von dem griechischen Philosophen Platon als »Sappho die Schöne« gelobt. Spätestens seit dem 5. Jahrhundert v. Chr. wurde Sappho auf Vasen abgebildet, oftmals mit einer Leier in der Hand – eine traditionelle Darstellung von Dichter*innen. Sie wurde auch zu einer beliebten Figur für griechische Dramatiker. Mindestens fünf Komödien wurden im 4. Jahrhundert v. Chr. über sie geschrieben. In diesen Werken wurde Sappho allerdings verspottet, indem ihr ein übermäßiges sexuelles Interesse an Männern zugeschrieben wurde.

Sappho umarmt die Poetin Erinna (links) in einem Garten auf Lesbos. Gemälde von Simeon Solomon, 1864 – einem schwulen Künstler, der zu männlicher Homosexualität und Lesbianismus arbeitet.

Ein wandelndes Vermächtnis

Sapphos Ruf in der Antike war so vielfältig, dass einige Wissenschaftler*innen davon ausgehen, dass es zwei Frauen mit dem Namen auf Lesbos gab. Während die Poetin Sappho verehrt wurde, gab es noch Sappho die Hetäre (eine Sexarbeiterin), assoziiert mit sexueller Zügellosigkeit. Über die nächsten Jahrtausende änderte sich die Darstellung Sapphos je nach Epoche. Zu den unterschiedlichen Versionen gehörte ihr Selbstmord aufgrund unerwiderter Liebe zu einem Mann, ihre heterosexuelle Hurerei und ihr Lesbianismus. Der römische Dichter Ovid fasste im 1. Jahrhundert v. Chr. alle biografischen Stränge in den Heroiden zusammen. Zu den Gedichten über (meist legendenhafte) Frauen, die von den Männern, die sie liebten, verschmäht wurden, zählt auch »Sappho an Phaon«. Darin werden Sapphos Gefühle für Frauen und Männer beschrieben. So verzichtet Sappho auf ihre Liebe für Frauen, als sie sich in Phaon verliebt, einem mythischen Fährmann, dem von Aphrodite Jugend und Schönheit verliehen wurde.

Im frühen Mittelalter nahm Sapphos Popularität in Europa ab. Doch in der Renaissance flammte das Interesse an ihr erneut auf, sie wurde als talentierte Poetin gefeiert. Die französische Schriftstellerin Christine de Pizan lobte ihre Weisheit und Anmut in dem feministischen Werk »Das Buch von der Stadt der Frauen« (1405). In lateinischen Kommentaren zur venezianischen Ausgabe der Heroiden wurde Sappho als »Tribade« identifiziert – der römischen Bezeichnung für Lesbe. Als volkssprachliche Übersetzungen die lateinischen und griechischen Texte ersetzten, wurde Sapphos lesbische Sexualität vertuscht.

Fragment 44 aus Sapphos Gedichten beschreibt die Hochzeit der mythologischen Figuren Hektor und Andromache. Es wurde in einer antiken Mülldeponie gefunden und 1914 veröffentlicht.

Sapphos Bild wurde den politischen und intellektuellen Sitten der Zeit angepasst. Im 18. Jahrhundert wurde sie als heterosexuelle Frau dargestellt, deren sexuelle Begierden ihr zum Verhängnis wurden. Zeitgleich wurden »sapphisch« und »lesbisch« verwendet, um Sex zwischen Frauen zu verurteilen.

Im 19. Jahrhundert konterten europäische Altertumswissenschaftler*innen die homosexuelle Lesart von Sappho mit einer keuschen Version von ihr. Der deutsche Gelehrte Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff malte sie sich als Lehrerin aus, umgeben von Schülerinnen, für die sie nur platonische Zuneigung empfand. Gleichzeitig inspirierte Sappho viele britische Schriftstellerinnen, darunter Christina Rossetti, Felicia Hemans und Caroline Norton – allerdings als von ihrem Liebhaber verschmähte Frau.

Sappho wieder beanspruchen

Ende des 19. Jahrhunderts begann eine wachsende »sapphische« Bewegung Sappho als Frauen-Liebhaberin zu verehren und stellte ihre Vorbildfunktion für lesbisches Begehren wieder her. Lesbische Künstler*innen griffen dies im frühen 20. Jahrhundert auf. Die Schriftstellerin Radclyffe Hall bezeichnet sie in ihrem Gedicht »Ode an Sappho« als »unsterbliche Lesbe«.

»Geliebte Lesbe! Wir würden wagen zu beanspruchen, durch die gleiche Träne zärtlicher Verbindung, mit deinem Los; Doch ist es genug, wenn wir Deinen Namen hauchen Deine Seele nur hinhört und Uns nicht vergisst.«

Radclyffe Hall»Ode to Sappho«, 1908

Die feministische Bewegung der 1960/70er-Jahre erhob Anspruch auf Sappho. Feministische Altertumswissenschaftler*innen begannen, ihre Arbeit neu zu lesen. Die vorherige Vorstellung von Sappho als reiner Frau und Lehrerin wurde abgelehnt. Lesbische feministische Schriftstellerinnen wie Rita Mae Brown (USA) und Jeanette Winterson (UK) nennen sie als Vorbild – als Lesbe und als Dichterin.

Immer noch werden neue Fragmente aus Sapphos Werk entdeckt, wenn auch die Herkunft der jüngsten Entdeckung, dem »Brüdergedicht« (2014), umstritten ist.

Das Interesse an Sappho bleibt in akademischen und LGBTQIA*-Kreisen groß. »Sapphisch« ist nach wie vor eine beliebte Bezeichnung für Frauen, nichtbinäre und trans Personen, die sich zu Frauen hingezogen fühlen. Die sapphische Pride Flag hat oben und unten rosa Streifen und ein Veilchen in der Mitte – jene Blume, die mit Sappho assoziiert wird. In Fragment 94 beschreibt sie ihre einstige Geliebte als »Kronen aus Veilchen und Rosen« tragend.

Sappho von Lesbos

Um 630 v. Chr. auf Lesbos in eine aristokratische Familie hineingeboren, wurde Sappho zur gefeierten lyrischen Poetin – eine Person, die von einer Leier begleitet Verse sang. Es gibt Hinweise, dass Sappho einen Ehemann hatte. Doch er bleibt unbenannt. Im Suda, einem byzantinischen Lexikon aus dem 10. Jahrhundert, taucht ein Name auf – allerdings als derber Scherz: »Kerkylas der aus Andros kam«, was übersetzt so viel heißt wie »Herr Penis, der von der Männer-Insel stammt«.

Viele Historiker*innen nehmen an, dass Sappho Mutter war. In Fragment 132 erwähnt sie ein Mädchen namens Cleïs (evtl. auch der Name von Sapphos Mutter), die mit einem griechischen Wort beschrieben wird, das entweder »Tochter«, »Kind« oder »Sklavin« bedeutet.

Todesursache und -tag von Sappho sind unbekannt. Der griechische Dramatiker Menander aus dem 4. Jahrhundert v. Chr. schuf wahrscheinlich die Legende, dass sie wegen ihrer unerwiderten Liebe zu dem mythischen Fährmann Phaon von den Weißen Felsen von Leukas sprang.

DIE LEIDENSCHAFT DES ABGESCHNITTENEN ÄRMELS

GÜNSTLINGE IM HAN-CHINA (206 V. CHR. – 220 N. CHR.)

IM KONTEXT

SCHWERPUNKT

Gleichgeschlechtliche Hofgünstlinge

FRÜHER

4. Jh. v. Chr. Alexander der Große und Hephaistion eifern den griechischen Helden (und Liebhabern) Achilles und Patroklos nach.

SPÄTER

1307–1322 n. Chr. Edward II. begünstigt Piers Gaveston, angeblich sein Geliebter. Der Adel wendet sich von ihm ab.

Um 1579–1625 Jakob I. hat mit drei seiner männlichen Höflinge Verhältnisse.

1624–1663 Nzinga von Ndongo und Matamba (heute Angola) regiert als König, trägt Männerkleider und hat einen Harem aus Ehefrauen.

Um 1644–1662 Christina von Schweden trägt Männerkleidung und hat ein intimes Verhältnis mit einer Gräfin.

Einer der ältesten Euphemismen für Homosexualität in China, die »Leidenschaft des abgeschnittenen Ärmels«, geht zurück auf die Han-Dynastie (206 v. – 220 n. Chr.). Sie galt als Goldenes Zeitalter des chinesischen Altertums. Durch die Entwicklung des Beamtentums und die Seidenstraße legte sie die Grundlage für das kulturelle und wirtschaftliche Wachstum späterer Dynastien. Die Geschichte des abgeschnittenen Ärmels geht auf die Regierungszeit von Kaiser Han Aidi zurück, der im Jahr 7 v. Chr. mit 20 den Thron bestieg.

Laut dem Hanshu (Buch von Han) liebte Aidi einen Günstling namens Dong Xian. Dong Xian war 19, ein Hofbeamter und verheiratet, als er auf den Kaiser traf. Nichts davon war jedoch ein Hindernis. Dongs Familie zog in den Palast in Chang’an (heute: Xi’an), um bei Aidi und seiner Frau zu leben. Aidi ließ luxuriöse Quartiere für seinen Geliebten bauen und überhäufte ihn mit Geschenken. Laut dem Hanshu erwachte Aidi eines Tages und fand Dong auf seinem Ärmel schlafend vor. Anstatt seinen Ärmel wegzuziehen, ließ er ihn abschneiden. Danach wurde es Mode für Männer am Hof, einen abgeschnittenen Ärmel zu tragen.

In dem Bild des Künstlers Chen Hongshou (1652) lässt sich Aidi den Ärmel abschneiden, um seinen Geliebten nicht zu wecken.

Dong und Aidi

Aidi zeigte Dong seine Gunst, indem er ihn zum Befehlshaber der Streitkräfte machte, eine der mächtigsten Positionen. Außerdem verlieh er Dongs Familie Titel. Als Aidi schwer erkrankte, wollte er Dong sogar als Erben einsetzen, doch dies wurde als Machtmissbrauch empfunden.

Aidis Berater und die Kaiserwitwe Wang (die Mutter von Aidis Vorgänger) verschworen sich, um ihren Neffen, Wang Mang, einzusetzen, der die kurzlebige Xin-Dynastie (9–23 n. Chr.) einleitete. Dong Xian und seine Ehefrau nahmen sich das Leben – entweder auf Druck des neuen Regimes oder aus Angst davor.

Eine Han-Tradition

Aidi war nicht der einzige Han-Kaiser, der einen Günstling hatte. Die Position war so verbreitet, dass der Han-Historiker Sima Qian in Shiji (Aufzeichnungen des Chronisten) mehrere Günstlinge wegen ihrer Fähigkeiten und Errungenschaften nennt. Sima Quian zufolge begünstigte Kaiser Gaouzu (reg. 202–195 v. Chr.) einen »jungen Mann« namens Ji. Kaiser Hu (reg. 195–188 v. Chr.) hatte einen Günstling namens Hong. Ji und Hong wurden wegen ihres guten Aussehens in der Chronik erwähnt und weil andere Männer am Hof versuchten, ihren Modestil nachzuahmen.

Kaiser Wen (reg. 180–157 v. Chr.) hatte drei Günstlinge. Zwei Eunuchen – Zhao Tan, der in der Sternenkunde bewandert war, und Beigong Bozi, »ein würdiger und liebevoller Mann« – und den Bootsmann Deng Tong, der dem Kaiser im Traum erschienen war. Der Kaiser suchte nach ihm und zeigte ihm seine Gunst, als er ihn fand. Im Gegenzug soll Deng Tong den kranken Herrscher gepflegt haben, indem er den Eiter aus seinen Wunden saugte.

»Jungen, gekleidet wie Beamte, waren ständig im Schlafgemach des Kaisers.«

Sima QianSima Qian, chinesischer Historiker (etwa 145–87 v. Chr.) über Kaiser Huidis Günstlinge

Aidi war der letzte westliche Han-Kaiser, doch die Dynastie endete nicht mit ihm. Nach dem Xin-Interregnum wurde die Hauptstadt unter der Östlichen Han-Dynastie (25–220 n. Chr.) von Chang’an nach Luoyang verlegt. Die Günstlinge verloren in der Tang-Dynastie an Bedeutung und wurden nach dem Ende der Song-Dynastie im 13. Jahrhundert nicht mehr erwähnt. Mitschuld waren die religiösen Einflüsse aus dem Westen.

Der angebissene Pfirsich

Noch älter als die Geschichte des abgeschnittenen Ärmels ist die des »angebissenen Pfirsichs«.

Laut einer Erzählung des Philosophen Han Fei war Mizi Xia ein schöner und beliebter Höfling des Herzogs Ling von Wey (reg. 543–492 v. Chr.). Bei einem Spaziergang im Garten biss er in einen Pfirsich, den er so köstlich fand, dass er dem Herzog den Rest anbot. Damals sah der Herzog darin eine liebevolle Geste. Doch nachdem seine Liebe zu Mizi Xia erlosch, sah er es als Affront an.

Ob Mizi Xia jemals existierte oder nicht, sein Name wurde später zum Synonym für männliche Schönheit und der angebissene Pfirsich wurde zur Anspielung auf homosexuelle Liebe.

DER MANN JEDER FRAU UND DIE FRAU JEDEN MANNES

GENDER UND SEXUALITÄT IM ANTIKEN ROM (ETWA 240 V. CHR.– 476 N. CHR.)

IM KONTEXT

SCHWERPUNKT

Sexuelle Unterschiede akzeptieren

FRÜHER

4.–5. Jh. v. Chr. Im antiken Griechenland entwickelt sich Päderastie – intime Beziehungen zwischen Männern und Jugendlichen – zu einem Teil der Erziehung junger Männer.

SPÄTER

15.–16. Jh. Die Wiederentdeckung der antiken Welt während der Renaissance führt zu einem höheren Bewusstsein für homosexuelle Beziehungen.

1969 Der italienische Filmregisseur Federico Fellini verfilmt das Werk Satyricon des römischen Autors Petronius, das offen männliche gleichgeschlechtliche Anziehung darstellt.

2018 In London werden die Büsten von Hadrian und Antinoos Teil der Ausstellung »Desire, love, identity: LGBTQ histories trail«.

»O Juventius, dürft’ ich meine Lippen Immer dir auf die holden Augen pressen, Wohl unzähligemal wollt’ ich sie küssen.«

Catull

Das antike Rom war zutiefst patriarchal geprägt. Männliche Bürger kontrollierten Ehefrau, Versklavte und Familie in allen Haushaltsangelegenheiten – einschließlich Liebe und Sex. Dennoch missbilligten die Römer gleichgeschlechtliche Beziehungen und Gender-Crossing nicht. Frühste schriftliche Aufzeichnungen (um 240 v. Chr.) über das römische Leben belegen (unterschiedlich zuverlässig) Diversität bei Sexualität und Gender. Im Laufe der langen Geschichte Roms veränderte der multikulturelle Einfluss aus verschiedenen Teilen des Reiches diese Einstellung.

Phallische Dominanz

Die Verehrung von Männerliebe im antiken Griechenland wurde auch in Rom praktiziert, doch weniger auf spirituelle als auf hedonistische Weise. Wesentlich in der römischen Ideologie war die Macht des Penis. Sexuelle Penetration bedeutete Dominanz. Obwohl Zurückhaltung und Selbstkontrolle auch beim Geschlechtsakt zu den Tugenden gehörten, hielten sich viele privilegierte Römer nicht daran. Je mehr Personen man penetrierte, umso mächtiger galt man als Mann.

Wen man penetrierte, war bedeutend. Von römischen Männern wurden mit der Ehefrau gezeugte Nachkommen erwartet. Mit Sklav*innen konnte ein Römer machen, was er wollte. Anders war das beim penetrativen Sex mit anderen Bürgern. Penetriert zu werden galt als schändlich für den Mann. Trotz der gesellschaftlichen Ächtung zeugen Dokumente vom Sex zwischen Männern und deuten an, dass einige Römer die Penetration genossen. Sie galten als unmännlich und wurden mit vielen Ausdrücken umschrieben. Ein mollis war ein »weicher Mann«, ein pathicus ein leicht zu dominierender und ein cinaedus (eigentlich eine Art griechischer Tänzer) war offen feminin. Römer nutzen cinaedus regelmäßig als Beleidigung und hätten sich nie selbst so genannt.

Die Römer trugen phallische Bronzeanhänger, um böse Geister abzuwehren. Der Phallus galt als Symbol für Macht, Potenz und Wohlstand.

Der Warren Cup ist nach einem US-amerikanischen Sammler benannt, der ihn 1911 erwarb. Edward Perry Warren war ein bekannter Verfechter des antiken griechischen Ideals der Liebe zwischen Männern.

Toleranz für Homosexualität

Graffiti in Pompeji und Fresken, die in Bordellen und Bädern gefunden wurden, beweisen die Beliebtheit von verschiedensten homosexuellen Praktiken. Auch erotische Poesie, besonders von Catull (um 84–54 v. Chr.), belegt dies. Viele seiner Gedichte richten sich an seine Geliebte Lesbia. Andere jedoch an einen jungen Mann namens Juventius. Eine der bekanntesten Darstellungen von Homosexualität im Römischen Reich ist der Warren Cup. Das silberne Trinkgefäß wurde zwischen 15 v. und 15 n. Chr. hergestellt. Es zeigt einen bärtigen älteren Mann, der einen Jüngling penetriert. Auf der anderen Seite penetriert ein junger bartloser Mann einen Jungen. Sex zwischen älteren und jüngeren Männern – im antiken Griechenland als erastes-eromenos-Beziehung idealisiert – wurde toleriert. Einige reiche Römer, auch Kaiser, versklavten Jungen und kastrierten sie vor der Pubertät, um ihre Jugend zu erhalten.

Die meisten römischen Kaiser hatten homosexuelle Beziehungen. Der römische Historiker Sueton (69–um 122 n. Chr.) behauptete, dass von den ersten 12 Kaisern nur Claudius (10 v. Chr.–54 n. Chr.) ausschließlich mit Frauen schlief. Hadrian (76–138 n. Chr.), hieß es, habe keinerlei Interesse in Frauen, auch nicht an seiner Frau Vibia Sabina.

Geschlechtswechsel

Römer*innen standen der Möglichkeit des Geschlechtswechsels offen gegenüber. Sie wussten von nichtbinären biologischen Geschlechtsmerkmalen. Man sprach von »Hermaphroditismus« (heute Intergeschlechtlichkeit). Bekannteste*r »Hermaphrodit*in« der römischen Geschichte war Favorinus (um 85–155 n. Chr.), Philosoph*in, Redner*in und Günstling von Hadrian. Aufzeichnungen legen nahe, dass Favorinus (AMAB) nie in die Pubertät kam und ein Leben lang glatte Haut und eine hohe Stimme hatte.

Ähnlich wie Aristoteles glaubte der römische Arzt Galenos (129–um 216 n. Chr.), dass eine Frau ein Mann war, der sich in der Gebärmutter nicht voll entwickelt hatte. In der Pubertät, so hieß es, könnten die Geschlechtsorgane des Mädchens noch herauswachsen und sie in einen Jungen verwandeln. Der römische Gelehrte Plinius der Ältere (23–79 n. Chr.) und der griechische Autor Phlegon von Tralleis aus dem 2. Jahrhundert v. Chr. berichten davon. Laut moderner Wissenschaft beschrieben sie das Vorkommen eines inter Merkmals, das heute als Steroid-5-Alpha-Reduktase-Mangel bekannt ist. Bei Menschen mit diesem Merkmal fangen Penis und Hoden erst in der Pubertät an zu wachsen. Deswegen gelten sie als AFAB-Personen.

Ein Fresko zeigt einen Dreier zwischen einer Frau und zwei Männern, von denen einer den anderen penetriert. Rechts davon berühren sich zwei Frauen intim.

Römer*innen erkannten an, dass das Gender vom Männlichen zum Weiblichen wechseln konnte. Am stärksten verkörperten die galloi dies – ein Priester*innenkult rund um die Göttin Kybele. Im 3. Jahrhundert v. Chr., als Hannibals Truppen italienischen Boden besetzten, suchten Römer*innen Hilfe bei der Schutzgöttin Kybele. Eine diplomatische Vertretung wurde zu Kybeles Heimstätte Phrygien (in der heutigen Türkei) gesandt und kam mit einer heiligen Statue von ihr zurück. Kybele wurde von ihren Anhänger*innen begleitet, den galloi, die sich rituell kastrierten und fortan als Frauen lebten. Laut dem jüdischen Historiker Philon von Alexandria (um 20 v. Chr.– um 50 n. Chr.) taten die galloi das, um Frauen zu werden, wobei es wohl einige gab, die sich, z.B. durch Armut, dazu gedrängt fühlten.

Aufzeichnungen eines Gerichtsprozesses aus dem Jahr 77 v. Chr. zeigen, dass ein gallus namens Genucius das Erbe eines Freundes nicht antreten durfte, da er weder als Mann noch als Frau galt. Die Kastration, ein Affront gegen römische Männlichkeit, bedeutete, dass galloi niemals gleiche Rechte haben würden. Doch der Prozess zeigt, dass die Existenz von mehr als zwei Geschlechtern im römischen Gesetz akzeptiert war. Trotz der Abneigung, die die meisten Römer*innen den galloi entgegenbrachten, setzte sich der Kybele-Kult im ganzen Römischen Reich fort, bis Rom im 4. Jahrhundert n. Chr. christlich wurde. Kaiser Claudius manifestierte das Frühlingsfest der Kybele als Teil des römischen Kalenders. Der Tag der Kastration neuer galloi (24. März) wurde zum Feiertag erklärt.

Römische Regent*innen und Gender

Gender-Crossing wurde im römischen Kaiser*innenhaus offen praktiziert. Die Kaiser Caligula (12–41 n. Chr.) und Nero (37–68 n. Chr.) waren bekannt für ihr Crossdressing. Als Neros Frau Poppaea Sabina starb, schlugen Höflinge ihm Ersatz vor – eine junge Person namens Sporus, die Nero Sabina nannte. Sabina (AMAB) war sehr weiblich. Nero gab seiner neuen Frau Dienstmädchen, Kleidung, Schmuck und eine Adelige, um ihr Benehmen beizubringen. Laut Sueton – keine vertrauenswürdige Quelle – sprach Nero Chirurgen eine Belohnung dafür aus, Sabina zu einer ganzen Frau zu machen. Sueton nutzt das lateinische Wort transfigurare – die erste bekannte Verwendung des Präfixes »trans« in Bezug auf eine geschlechtsangleichende OP.

»[Die galloi] sagen sie sind keine Männer … sie wollen als Frauen durchgehen.«

Firmicus MaternusChristlicher Römer, der gegen das Heidentum polemisierte

Römische Historiker erzählten eine ähnliche, aber unglaubwürdige Geschichte über Elagabal, die*r 218 v. Chr. mit 14 Jahren Kaiser*in wurde und vier Jahre später ermordet. Die*r Kaiser*in, hieß es, flirtete mit Palastwachen, heiratete einen Mann mit dem Ruf, einen enormen Penis zu haben, entfernte sies Körperbehaarung und bot eine Belohnung für jenen Arzt, der siem eine Vagina gäbe. Der Wahrheitsgehalt ist schwer zu klären, da die römischen Quellen nach Elagabals Tod verfasst wurden. Sie könnten der Versuch gewesen sein, die Ermordung zu »rechtfertigen«.

Unvollständige Geschichtsschreibung

Beweise für AFAB-Menschen, die eher männlich agierten, sind in römischen Quellen rar. Der Satiriker Lukian von Samosata (120– um 180 n. Chr.) schrieb über eine Person namens Megillos (AFAB), die als Mann lebte und eine Frau hatte. Megillos ist fiktiv. Doch Phlegon von Tralleis liefert in seinem Buch der Wunder womöglich Beweise für Personen, die heute als trans Männer bezeichnet werden würden. Zwei Geschichten handeln von Männern, die gebaren. Es ist wahrscheinlich, dass sie AFAB-Personen waren, die römische Gesellschaft sie aber als Männer akzeptierte.

Ein Grabrelief (2. Jh. n. Chr.) zeigt eine*n gallus, gekleidet und geschmückt wie eine Römerin, umgeben von Objekten des Göttinnenkultes um Kybele.

»Frauen, die sich in Männer transformieren, das ist kein müßiges Märchen.«

Plinius der ÄltereNaturalis historia, 77 n. Chr.

Römische Gräber haben einige archäologische Beweise für Personen geliefert, die heute trans wären. 2002 offenbarte eine Ausgrabung in Catterick im britischen Yorkshire ein Skelett aus dem 4. Jahrhundert n. Chr., das männlich schien, aber mit Schmuck ausgestattet war, der oft mit galloi-Priester*innen assoziiert wurde. 1979 wurde in der Londoner Harper Road anscheinend das Grab einer Frau entdeckt, doch DNA-Tests offenbarten 2016 beim Skelett XY-Chromosomen (die Kombination für AMAB-Personen). Obwohl das Skelett eher der üblicherweise als weiblich geltenden Form entsprach.

Das Problem ist das unbekannte Leben der Gefundenen. Grabbeigaben können irreführend und die Bestimmung des Geschlechts fehlerhaft sein. Das Grab in der Harper Road könnte das eines weiblichen Mannes, einer trans Frau oder einer inter Person sein. Während einzelne Fälle von Genderfluidität in Rom umstritten sind, deutet die Fülle der Beweise darauf hin, dass die römische Gesellschaft so divers war wie die meisten modernen Gesellschaften.

Die geheimen Sehnsüchte der Frauen

Frauen gingen im alten Rom ohne Zweifel verschiedene sexuelle Handlungen miteinander ein, auch wenn das weniger gut dokumentiert ist. Sie wurden als tribas bezeichnet – als Person, die etwas oder jemanden reibt. Dies inspirierte den englischen Begriff »tribade«, der ab dem 17. Jahrhundert genutzt wurde, um frauenliebende Frauen zu bezeichnen.

Archäolog*innen fanden Beweise für römische Dildos aus Leder. Der Poet Martial schrieb ein Epigramm über eine Frau namens Bassa, von der er sagte, dass sie sowohl rieb als auch einen Dildo mit anderen Frauen verwendete. Martial und andere römische Männer, die über Sex zwischen Frauen schrieben, sahen dies als absurd und entwürdigend an. Was römische Frauen dachten, ist nicht bekannt.

»… wie ihr anderen [Frauen] alle bin auch ich auf die Welt gekommen, mein Sinn jedoch, meine Begierden, alles in mir ist männlich.«

Lukian von SamosataLügengeschichten und Dialoge

Hadrian und Antinoos

Hadrian, Sohn eines römischen Senators, wurde ein Vertrauter des Kaisers Trajan (53–117 n. Chr.). Er heiratete dessen Großnichte Vibia Sabina. Trajan blieb kinderlos und setzte Hadrian als kaiserlichen Erben ein – möglicherweise auf Bestreben seiner Frau Pompeia Plotina.

Hadrian war ein Verehrer der griechischen Kultur, inklusive der Sitte einer intimen Beziehung zwischen einem älteren und einem jüngeren Mann. Er fühlte sich besonders zu einem seiner Pagen hingezogen, Antinoos – im Jahr 110 n. Chr. in Bithynien (Nordwesten der Türkei) geboren. Als Antinoos älter wurde, erblühte seine Beziehung zum Kaiser.

Im Jahr 130 n. Chr. reiste die kaiserliche Familie durch Ägypten und Antinoos ertrank im Nil. Der untröstliche Hadrian erhob Antinoos zum Gott. Ihm wurden 28 Tempel geweiht. Der Kult hielt über 200 Jahre an.

Nach Antinoos Tod ließ Hadrian Tausende Statuen und Büsten seines Liebhabers anfertigen und im ganzen Reich aufstellen. Diese Büste stammt aus den Jahren 130–138 n. Chr.

WER TUT WAS, WO, WANN UND WARUM, WER WEISS?

DAS KAMASUTRA (UM 100–200 N. CHR.)

IM KONTEXT

SCHWERPUNKT

Gleichgeschlechtlicher Sex im Hinduismus

FRÜHER

1. Jh. v. Chr. – 1. Jh. n. Chr. Die medizinischen Sanskrit-Schriften Charaka Samhita und Sushruta Samhita beschreiben gleichgeschlechtliche sexuelle Handlungen und Geschlechtsvarianz.

SPÄTER

Um das 13. Jh. Das Jayamangala, ein Kommentar zum Kamasutra von Yashodhara Indrapada, erkennt gleichgeschlechtliches Begehren zwar an, wendet aber abwertende Begriffe an.

Um das 14. Jh. Eine Sanskritversion des hinduistischen Padma-Purana und einige Manuskripte des bengalischen Krittivasa Ramayana beschreiben, wie zwei Frauen sich lieben und mit der Hilfe eines Priesters ein Kind zeugen.

Die allererste Schrift über den Genuss sexueller Handlungen, das Kamasutra, ist ein alter hinduistischer Text über das kama (Liebe, Begehren). Sutra heißt so viel wie »Faden« oder »Anleitung« und bezieht sich auf einen Text, in den Lehren eingewoben sind.

Im Hinduismus gibt es vier Hauptziele und eines davon ist kama. Gleichzeitig ist es der Name der Gottheit der Begierde – eine Figur, die dem griechischen Gott Eros entspricht.

Intime Künste

Das Kamasutra ist in sieben Teile und 36 Kapitel unterteilt. Es beginnt mit dem Appell, dass sich alle mit dem Buch befassen sollten, auch junge Männer, junge Frauen und Kurtisanen. Das Buch listet 64 Künste auf, in denen alle sich üben sollten, darunter Tanzen, Lesen, Schreiben, Zeichnen, Musizieren, Kochen, Blumenbinden, Kampfsport, Gedichte rezitieren und Gymnastik.

Gekürzte Versionen des Kamasutra beziehen sich meist nur auf den zweiten Teil. Dieser umfasst 64 heterosexuelle Sexstellungen und andere intime Handlungen wie Küssen, Liebesbisse, Liebesklapse und Kratzen. Weitere Kapitel decken andere Bereiche der Intimität ab: Es gibt Ideen für ein Mädchen, einen Mann zu umgarnen, und Anleitungen für Ehemänner, das Vertrauen der Ehefrau zu gewinnen, zum Beispiel indem man die ersten drei Nächte keinen Sex hat, stattdessen mit ihr spricht und langsam beginnt, sie zu streicheln. Außerdem gibt es Kapitel zum Umgang mit Sexarbeiter*innen.

Eine erotische Schnitzerei im Hindu-Tempelkomplex Khajuraho (Madhya Pradesh, Indien) zeigt drei Frauen, die mit einem Mann und miteinander intim sind.

Die »dritte Natur«

Kapitel neun behandelt die »dritte Natur« (fälschlicherweise oft als »drittes Geschlecht« übersetzt) oder männerbegehrende Männer. Diese Männer können feminin (früher häufig falsch als »Eunuch« übersetzt) oder maskulin wirken. Feminin wirkende Männer können leicht männliche Liebhaber finden. Maskulin wirkenden Männern schlägt der Text vor, durch die Arbeit als Masseur oder Friseur Partner zu finden. Darauf folgt eine anschauliche Beschreibung, wie man sich einem Kunden annähert, wie man den Penis auf acht Arten stimuliert und wie man Oralsex durchführt.

Der Text merkt an, dass Männer, die nicht der »dritten Natur« zugeordnet werden, Oralsex mit jungen Dienern und Schauspielern haben können. Zwei befreundete Männer, die sich vertrauen, können ein parasparaparigraham eingehen. Paraspara bedeutet »gegenseitig«, während parigraha mehrere Bedeutungen hat. Dazu zählen »nehmen«, »akzeptieren« und »ergreifen«, was auf den sexuellen Akt deutet. Der französische Indologe Alain Daniélou (1907–1994) übersetzt es mit »heiraten«. Bei der Verwendung im Text wird parasparaparigraham hauptsächlich genutzt, um eine eheartige Bindung außerhalb des heiligen Sakraments der Ehe zu bezeichnen.

»[Gleichgeschlechtlicher Sex] sollte um seiner selbst willen als eine der Künste praktiziert werden.«

Kamasutra

»Es gibt auch Bürger*innen der dritten Natur, die manchmal sehr aneinander hängen, die heiraten.«

Kamasutra

Sex zwischen Frauen

Das Wort paraspara wird im Kamasutra auch verwendet, um Sex zwischen Frauen zu beschreiben. Der Text erwähnt eine eigenwillige Frau (svairini), die die Männerrolle übernimmt, evtl. mit einer anderen Frau. Auch Frauen, die bei anderen Frauen Gemüse als Dildos oder ihre Finger nutzen, werden erwähnt.

Abseits dieser knappen Erwähnungen gleichgeschlechtlicher Praktiken behandelt das Kamasutra Oralsex als primäre Form von homosexuellem Sex. Bisexuelles Verhalten wird nur flüchtig erwähnt. Im Text heißt es, dass einige Kommentator*innen gleichgeschlechtliche Handlungen missbilligen. Diesen wird geraten Faktoren wie Zeit, Ort und unterschiedliche Vorlieben zu berücksichtigen.

Die allgemeine Akzeptanz von gleichgeschlechtlichen Beziehungen im Kamasutra wird durch die eigene Schlussfolgerung ausgedrückt: »Wer tut was, wo, wann und warum, wer weiß?«

Die Entstehung des Kamasutra

Das Kamasutra entstand wahrscheinlich in der wohlhabenden Stadt Pataliputra (dem heutigen Patna in Bihar, Nordostindien), um 100 bis 200 n. Chr. Der Gelehrte Vatsyayana gilt als sein Verfasser. Über ihn ist wenig bekannt. Laut einer Erklärung im Kamasutra habe er das Werk geschrieben, nachdem er Texte über kama gelesen habe. Dazu zählten Schriften der Gelehrten Auddalaki, Babhravya und Charayana. Die Texte existieren nicht mehr. Außerdem heißt es, dass er enthaltsam lebte und sich im Zustand der Kontemplation befand.

Es wird versichert, dass alle, die das Kamasutra studieren und dharma (Pflicht, Ethik), artha (Wohlstand, Fülle) und kama (Begehren) praktizieren, ihr Streben nach siddhi (Erfüllung) und moksha (Befreiung) überwinden werden. Jene, die den Text zum Vergnügen nutzen, werden keine Erfüllung erlangen.

Gemälde, die im Juna Mahal Palast (Indien) entdeckt wurden, zeigen Sex- und Verführungstechniken aus dem Kamasutra.

DA LIESS DER HERR SCHWEFEL UND FEUER REGNEN VOM HIMMEL HERAB AUF SODOM UND GOMORRA

DIE FRÜHE CHRISTLICHE KIRCHE (4.–6. JH. N. CHR.)

IM KONTEXT

SCHWERPUNKT

Frühchristliche Ansichten zu Homosexualität

FRÜHER

5. oder 6. Jh. v. Chr. Das Buch Genesis wird fertiggestellt.

Um 57 n. Chr. Jesu Apostel Paulus verurteilt in seinem Römerbrief Homoerotik.

79 n. Chr. Ein Vulkanausbruch zerstört Pompeji (Süditalien). In den Ruinen wird später erotische Kunst entdeckt, die Homosexualität im Römischen Reich belegt.

SPÄTER

11. Jh. Die Kirche entwickelt das Konzept »Sodomie« für sexuelle Handlungen, die nicht reproduktiv sind.

13. Jh. Weltliche Autoritäten beginnen in Europa Sodomie zu kriminalisieren.

Frühe christliche Schriftsteller*innen nutzen mehrere Passagen aus der Bibel, um homoerotisches Verhalten zu verurteilen, vor allem die Zerstörung von Sodom im Buch Genesis. Die Katastrophe wurde als Strafe für gleichgeschlechtliche Beziehungen der Einwohner*innen ausgelegt. Diese Interpretation hat dazu beigetragen, dass die Erzählung homophob gelesen wurde. Der biblische Text selbst bleibt unklar, was die genauen Gründe für Sodoms Untergang angeht.

Die Sünden Sodoms

Genesis 19 erzählt, wie zwei Engel nach Sodom kamen, um die Sünden der Stadt zu untersuchen. Der Patriarch Lot bot ihnen Unterkunft an. Gerade als der gesamte Haushalt zu Bett gehen wollte, versammelten sich Sodoms Bewohner um das Haus und forderten Lot auf, seine Gäste auszuliefern, »dass wir sie erkennen!« (Genesis 19,5). Zum Schutz seiner Gäste bot Lot stattdessen seine Töchter an. Die Engel brachten Lot und seine Familie aus der Stadt, um sie zu verschonen. Danach wurden Sodom und die Nachbarstadt Gomorra, die ebenfalls als sündig galt, zerstört. Gott ließ »Schwefel und Feuer« – ein biblischer Ausdruck für den Zorn Gottes – herabregnen, als Bestrafung für das Fehlverhalten.

Über die mögliche Bedeutung des Wunsches, Lots Gäste zu »erkennen« wurde viel spekuliert. Während das hebräische Wort als »erkennen« sexuelle Bedeutung haben kann, kehren moderne Kommentator*innen zu frühen jüdischen Lesarten der Sodom-Erzählung zurück, die besagen, dass die Sünde der Stadt nicht die Homoerotik war, sondern Ungastlichkeit und Vergewaltigung.

Weitere Beweise

Die moderne Interpretation der Passage wird durch eine andere biblische Erzählung untermauert. Das Buch der Richter 19 erzählt von einem Mann des hebräischen Stammes Levi, der mit Diener und Konkubine in Gibea Unterkunft suchte. Ein alter Mann nahm sie auf, doch einige Einwohner klopften an dessen Tür und forderten den Alten auf, den Leviten auszuliefern. Sie wollten sich »an ihm befriedigen«. Der alte Mann weigerte sich und bot stattdessen seine Tochter und die Konkubine des Leviten an. Er flehte sie an, dieses »unnatürliche« Verbrechen nicht an seinem Gast zu begehen. Die Konkubine wurde den Männern überlassen, die sie die ganze Nacht misshandelten und sie tot auf der Türschwelle des alten Mannes zurückließen.

Die beiden Bibelerzählungen weisen zwei Ähnlichkeiten auf. Erstens können sie als Lektion über Gastfreundschaft gelesen werden: Der Gastgeber verstößt gegen seine Verpflichtungen gegenüber Reisenden. Und: Beide Narrative handeln von sexueller Gewalt oder deren Androhung als Machtmittel gegenüber Fremden. Hätten die Sodomiten Lots Angebot, seine Töchter auszuliefern, angenommen, wären die Mädchen vergewaltigt worden. Im Buch der Richter wird eine Frau dem Mob übergeben, vergewaltigt und getötet.