Bilder der Levante - Michael Jansen - E-Book

Bilder der Levante E-Book

Michael Jansen

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Beschreibung

Bilder der Levante ist ein Porträt des Nahen Ostens in Momentaufnahmen, in Begegnungen und Geschichten. Schauplätze sind Beirut, Jerusalem, Gaza, Kairo, Damaskus, Aleppo, Bagdad, Orte, die die Journalistin Michael Jansen seit 1961 immer wieder besucht. Beim Lesen verdichtet sich ihre Erzählung; sie legt Verbindungen und historische Hintergründe offen, und gerade die persönliche Dimension entwickelt in ihr einen unglaublichen Sog. Das Buch beginnt mit Szenen aus Kairo 2011 während des Arabischen Frühlings. Und auf nur fünf Seiten, mit großer Lust geschrieben, bekommt der Leser eine Tiefenbohrung in die ägyptische Geschichte präsentiert, die über die sechziger Jahre bis ins 13. Jahrhundert zurückreicht und einen wachgerüttelt und neugierig geworden zurücklässt. Das Buch ist gleichermaßen eine Autobiografie vor dem Hintergrund des Nahostkonflikts wie eine Langzeitreportage über eben diesen Konflikt und all seine Auswüchse im turbulenten 20. und frühen 21.Jahrhundert. Erklärungen gibt Michael Jansen zwischen den Zeilen. Die Art, wie sie die Leserin, den Leser an ihren Beobachtungen teilnehmen lässt, vermittelt Erfahrung und ein tiefes Verständnis für die arabische Welt.

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Michael Jansen

Bilder der Levante

Eine Langzeitreportage aus dem Nahen Osten

Aus dem Englischen von Sabine Wolf

Für meine Weggefährten Godfrey und Marya und alle Menschen, die ich auf dieser langen Reise traf

Die Arbeit der Übersetzerin wurde vom Deutschen Übersetzerfonds gefördert.

Der Rotpunktverlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2021–2024 unterstützt.

Die Originalausgabe ist 2019 unter dem Titel "Windows on Interesting Times” bei Rimal Books erschienen.

© 2021 Rotpunktverlag, Zürich (für die deutschsprachige Ausgabe)

www.rotpunktverlag.ch

Umschlagbild: Aleppo, Oktober 2010, Jens Benninghofen, Alamy

eISBN 978-3-85869-908-4

1. Auflage 2021

Das gedruckte Buch enthält zwei Übersichtskarten.

Inhalt

Vorab

1Aufbruch

2Ausbruch

3Freiheit

4Autonomie

5Gewalt

6Auswege

7Grenzen

8Abkehr

9Glauben

10Befreiung

11Verlust

12Schutz

13Sturz

14Abbruch

15Aufbau

16Werden

Nachwort

Dank

Autorin

Vorab

Dieses Buch ist weder eine offizielle Geschichte des letzten halben Jahrhunderts im Nahen Osten, noch handelt es sich um Memoiren oder eine Autobiografie. Bilder der Levante zeigt, was der Titel verspricht, Bilder. Eindrücke, die unsere Zeiten beleuchten. Durch Reportagen eröffnete Einblicke. Aufnahmen, anhand deren Markierung mit Ort und Datum sich Augenzeugenberichte weitreichender Ereignisse einordnen lassen.

Das Buch ist weniger eine chronologische Vorstellung von Menschen und Ereignissen als ein impressionistisches Experiment, eine »Geschichte über Geschichten«, weniger regelmäßiges Tagebuch oder systematische Presseberichterstattung als eine Sammlung von Geschichten, die auf Gedankenströmen gleiten, Geschichten von Menschen und Geschehnissen in meiner Region der Welt im Laufe des letzten halben Jahrhunderts.

Fließt ein Gedankenstrom erst einmal, bahnt er sich zwischen Eindrücken und Erinnerungen einen eigenen Weg; er mäandert, läuft zurück und wieder nach vorne, auf und ab und gewinnt an Kraft, bis vor unserem inneren Auge schließlich Vorstellungen von Menschen entstehen, von Ereignissen und Geschehnissen, seien sie von Bedeutung oder ganz nebensächlich. Bricht sich der Strom dann an den Felsen der Realität, zerplatzen vorgefasste Ansichten, Donner übertönt altbekannte Geräusche, vertraute Gerüche verwirbeln. Mit diesem Buch möchte ich einen frischen Blick auf die Ereignisse der vergangenen fünfzig Jahre öffnen.

Was ich gesehen und gehört habe, wie ich es bewerte und welche Schlüsse ich daraus ziehe, ist selbstverständlich auch durch meine Herkunft und Geschichte beeinflusst. Dementsprechend habe ich einige prägende Momente der eigenen Geschichte mit meinen Reportagen verflochten. Kein Journalist ist unbeteiligt oder neutral. Wir alle sind auf unsere ganz eigene Art subjektiv. Und so muss man, bevor man mit einer Geschichte über Geschichten beginnt, natürlich die eigene Intention darlegen.

Im englischen Original heißt das Buch »Windows on Interesting Times«, Fenster auf interessante Zeiten. Gerahmt wurden meine Ausblicke und Vorstellungen, meine Bilder, tatsächlich durch manch echtes Fenster, auch durch manches Computerfenster während der Recherche. Inspiriert wurde ich letztlich von einer Wendung, von der man sagt, sie sei ein alter chinesischer Fluch: »Mögest du in interessanten Zeiten leben!«

1Aufbruch

Kairo, Ägypten, 28. Januar 2011

Unter der Brücke des 6. Oktober stampfen Pferde nervös vor ihren Kutschen, die nicht weiterfahren können. Die Fahrer rauchen. Das Dröhnen vom Tahrirplatz schwillt an und nimmt ab, metallisches Knallen von Schüssen. Über unseren Köpfen die Stimmen von Zuschauern, versammelt auf der Terrasse des Ramses Hilton. Conor McNally, der Sohn der irischen Botschafterin, und ich rennen in die Hotellobby, die Treppe hinauf, und beziehen Stellung hinter staubig-stachligen Kübelpflanzen an der Terrassenmauer. Unten zu unserer Linken marschiert eine geschlossene Demonstrantenfront zum Abdel-Moneim-Riad-Platz und weiter zum Tahrirplatz. Bereitschaftspolizisten mit schusssicheren Westen, schwarz behelmt und gekleidet, schießen mit Tränengas und Schrot und sprengen immer neue Demonstrantenreihen auf. Immerzu stoßen einzelne Gruppen von Demonstranten vor und werden wieder zurückgeschlagen.

Zu unserer Rechten stecken Männer, Frauen und Kinder auf der Brücke des 6. Oktober fest, andere ein Stück flussabwärts auf der Kasr-el-Nil-Brücke, die auf den Tahrirplatz mündet. Auf der Brücke des 6. Oktober stellen sich Männer zum Asr auf, dem Nachmittagsgebet, stehen andächtig, friedlich, und verbeugen sich im goldenen Nachmittagslicht. Eine Pause im Kampf um den Tahrirplatz. Der uralte Nil, eine sanfte Brise kräuselt sein metallgraues Wasser.

Vom Westufer aus schießt die Polizei mit Wasserwerfern in die Menschenmenge auf der Brücke des 6. Oktober.

Von der östlichen Uferpromenade und aus den Straßen hinter dem Hotel strömen Demonstranten. Diszipliniert, in geschlossenen Reihen, unbewaffnet. Entschlossen, den Tahrirplatz zu erreichen, trotz Tränengas, Gummigeschossen und tödlichem Schrot. Abertausende Ägypterinnen und Ägypter. Vor meinem inneren Auge verlangsamt sich ihr Vormarsch zeitlupenartig, Stille umschließt die Szene. Der Himmel voller Gas- und Rauchwolken. Ich sehe nichts als den ungeheuren Zusammenprall zweier mächtiger Gruppen, in einem tödlichen Spiel gefangen. Die Demonstranten in ausgewaschenem Bunt, die Polizei in Schwarz, die Knöpfe und Sterne auf den Schulterklappen schimmern silbern. Gebrüll vom Tahrirplatz unterbricht meine taube Konzentration.

Meine Atemwege, Augen und Haut brennen vom geruchs- und farblosen Gas, und ich fliehe in die Lobby. Auch Conor zieht sich schließlich zurück. Die Hoteltüren werden verschlossen. Der Wachmann sagt, wir könnten gehen, sobald sich die Situation beruhigt habe. Wir warten. Tränende Augen, juckende Haut. Ungeduldig. Von den Geschehnissen sehen wir nichts mehr. Endlich draußen. Eine Pause im Vorstoß der Demonstranten und die Abwehr durch die Polizei. Die offenen Pferdekutschen sind geflohen, die Straße ist leer. Conor und ich winken ein einsames, klappriges schwarz-weißes Taxi heran. Ich steige ein, er bleibt; ich muss einen Artikel abgeben. »Al funduk Marriott, minfudlak! Zum Marriott-Hotel, bitte!« Fünf Minuten später überqueren wir den Nil auf der Brücke des 26. Juli. Der Fahrer berechnet den Preis, den das Taxameter anzeigt.

Kairo, Ägypten, 21. Juli 1961

In Rafah im Gazastreifen stieg ich vor dem Morgengrauen in den Zug nach Kairo. In al-Arisch setzten sich drei ägyptische Armeeoffiziere, kaum älter als ich, in mein Abteil. Sie stellten sich vor, doch ihre Namen habe ich längst vergessen. Einer sprach gut Englisch, die anderen beiden lächelten steif. Es war eine lange, heiße Fahrt entlang der Sinaiküste. Feiner Staub drang durch die Fensterritzen und legte sich auf meine Arme, mein kurz geschnittenes Haar. Die Offiziere spendierten mir leuchtend rosa Limonade und Käsebrote mit Pickles, geriffelte Möhren und Gurken, deren Essigschärfe mir durch Mark und Bein fuhr. Bei El-Kantara kamen wir ins »richtige« Ägypten, dann ging es weiter südwärts nach Ismailia, vorüber an sattgrünen Äckern, betriebsamen Städten und Dörfern, bis zum Ramses-Bahnhof in Kairo. Vor dem cremefarbenen Gebäude mit seinen blauen Mosaikverzierungen stand ein riesiger Ramses aus Granit, die Arme fest an die Seiten gepresst, auf dem Haupt die Doppelkrone Ober- und Unterägyptens. Der schüchterne, stille jüngste Offizier wurde vom englischsprechenden Offizier beordert, mich sicher in mein Hotel zu bringen.

Hassan, ein palästinensischer Freund aus Beirut, hatte mir ein Zimmer in einer kleinen Pension reserviert, die Landsleute von ihm in der als »Downtown« bezeichneten Gegend betrieben. Ich bekam ein sauberes Zimmer mit Bett, Waschbecken und einem schmalen Fenster mit grünen Läden. Zu meinem Bedauern waren Toiletten und Duschen auf dem Flur. Mit einem ägyptischen Pfund die Nacht war das Zimmer jedoch erschwinglich. Hassan, der gerade ebenfalls in Kairo war, nahm mich mit in den Gezira-Club, einst Spielwiese der britischen Kolonialherren, nun übernommen von der ägyptischen Unabhängigkeitselite. Von einer Tribüne aus sahen wir einem Wettbewerb im Tontaubenschießen zu. Während die Wurfmaschinen mit einem Klacken und Zischen die Tonscheiben losschleuderten, empörten Hassan und seine Freunde sich über die jüngsten Verstaatlichungen durch die Regierung Gamal Abdel Nassers. Am anderen Ende des staubigen, welken Rasens, knapp außerhalb der Reichweite der Gewehre, sammelte ein betagter Ägypter in abgetragener Dschalabija und mit Turban auf dem Kopf gelbe Scherben in einen Korb.

Bei Einbruch der Dunkelheit lauschten wir in Gizeh einer hohl dröhnenden Tonbandstimme, die Ägyptens Geschichte erzählte, während Lichtstrahlen über die Stufenseiten der Pyramiden wanderten und die Sphinx anleuchteten. Von ihrer Nase hieß es, Napoleons Soldaten hätten sie Ende des 18. Jahrhunderts mit einer Kanonenkugel weggeschossen, obwohl schon frühere Reisende die Sphinx ohne Nase gezeichnet hatten.

Bay City, Michigan, USA, 1946

Ich kletterte auf einen Stuhl, um vom dem dritten Brett des Bücherregals ein Lesebuch für Kinder zu greifen, lief schnell zurück in mein Zimmer, setzte mich auf den Boden und schlug den festen grünen Einband auf. Blätterte Seite um Seite, wenige enttäuschende Illustrationen in Schwarz und Grau, Worte, in Sätzen geordnet, in einschüchternden Absätzen zusammengefasst. Ich entzifferte ein Wort, Buchstabe um Buchstabe, dann noch eins. Erkannte Wendungen und begriff ganze Sätze. Ich verstand Absätze und wurde als Höhepunkt mit einer vollständigen Geschichte belohnt.

Sie handelte vom Heiligen Ludwig, einem französischen König während der Kreuzzüge, der 1249 mit seinen Truppen in der ägyptischen Hafenstadt Damiette landete und seine Soldaten auf einen Gewaltmarsch nach Kairo schickte, bis sie im Nildelta auf ägyptische Truppen stießen. Das Heer des Heiligen Ludwig wurde geschlagen. Er wurde gefangengenommen, starb jedoch erst zwanzig Jahre später in Tunis zu Beginn eines weiteren Kreuzzugs.

Nach meinem Triumph mit dem Heiligen Ludwig langweilte ich mich in der Schule bei den lustigen Abenteuern von Dick und Jane und fing an, im Unterricht zu stören.

Kairo, Ägypten, 29. Januar 2011

Die Stadt erwacht nur langsam zum Leben, erschöpft von drei Tagen Massendemonstrationen auf dem Tahrirplatz.

In Zamalek, einem Wohngebiet am Nordende der Insel Gezira mitten im trägen Nil, öffnen die wenigen Geschäfte und Cafés spät. Ein kleiner Junge hält Conor und mir einen Bund frische Minze entgegen, als wir zur Brücke des 6. Oktober unterwegs sind. Bewaffnete Polizisten sperren den Verkehr über die Brücke, ignorieren aber die wenigen Fußgänger. Der Tahrirplatz ist leer, döst in den warmen Sonnenstrahlen und wartet auf den »Tag des Zorns«.

Wir gehen über den Platz und weiter nach Nordosten durch fast völlig verlassene Straßen, vorbei an Moscheen und Geschäften mit geschlossenen Läden. Die Gläubigen waren zum Mittagsgebet hier und sind wieder fort. Aus einem verbeulten blauen Auto ruft uns eine hübsche junge Frau in fließendem Englisch zu: »Sie sollten lieber nicht draußen sein! Heute passiert noch was. Wo müssen Sie denn hin?«

»Zamalek«, antwortet Conor.

»Steigen Sie ein, ich nehme Sie mit. Da muss ich auch hin.«

Als sie uns absetzt, frage ich sie, wo sie hinfahre. »Zum Tahrirplatz«, das Schlachtfeld zwischen Volk und Regime. »Ich treffe mich mit vier Freunden, um auf die Demo zu gehen. Eigentlich wollten noch mehr kommen, aber weder Handynetz noch Internet funktionieren, und so konnten wir keinen Treffpunkt ausmachen.«

»Warum demonstrieren Sie?«, frage ich und hoffe auf ein verwertbares Zitat. »Ich habe mein ganzes Leben unter Mubarak gelebt«, sagt sie. Hosni Mubarak, Ägyptens Präsident seit dreißig Jahren. Als sie wegfährt, sagt Conor: »Hast du gesehen? Ihr Lidschatten war auf ihr Top abgestimmt.«

Abermals überqueren wir den Nil und gehen auf der Uferpromenade zurück Richtung Tahrirplatz. Vor dem dickbäuchigen beigen Gebäude des ägyptischen Staatsfernsehens stehen Panzer. Bereitschaftspolizisten haben ein Spalier gebildet, damit Demonstranten nicht auf die Idee kommen, den Sender übernehmen zu wollen. Das Sagen hat immer noch Hosni Mubarak. Die Kontrolle über den Rundfunk entscheidet über Aufstieg oder Untergang eines Regimes.

In der Gasse neben dem Gebäude betrachten Wachmänner in Zivil, mit Holzknüppeln bewaffnet, die Passanten mit düsteren Blicken. Ein Jugendlicher bricht aus ihrem Gewahrsam aus, rennt über die Straße und stolpert das Flussufer hinunter, wird jedoch von einem schnellen Polizisten eingeholt und in die Gasse zurückgezerrt. Wir gehen weiter, angezogen vom Getöse auf dem Tahrirplatz.

Kairo, Ägypten, 25. November 2010

Die Stadt der Toten schien zu schlafen. Die staubige Imam-al-Lesi-Straße lag verlassen. Türen und Tore der Hausgräber und großen Mausoleen waren fest verschlossen. An manchen Eingängen hingen Vorhängeschlösser, andere waren zugemauert. An den Grabmauern standen die Namen und Daten der Verstorbenen auf Marmortafeln. Inoffizielle Siedler, manchmal Familienmitglieder, wollen hier nicht erkannt werden, tun so, als wären sie Wärter. Ein leerer Bus schlingerte vorüber. In der Tür eines Hauses, flankiert von zwei verkrüppelten Bäumen, erschien eine Frau in einem blauen Kaftan. Raya, eine Witwe aus Oberägypten, eine von vielleicht einer halben Million Siedlern, lebte seit dreißig Jahren hier. Ein Stück die Straße runter saß ein Mann vor dem Tor eines Hausgrabs, in dem sein Sohn lag, und las im Koran. Die Männer waren bei der Arbeit, die Kinder in der Schule und die Frauen mit Aufgaben innerhalb der Grundstücksmauern beschäftigt. Nur die Toten ruhten.

Gestapelte Rahmenhölzer für Sessel vor einer Werkstatt, eine Satellitenschüssel auf dem Dach eines Mausoleums, trocknende Wäsche in einer Mauernische und scharrende Hühner in einem Durchgang zeugten von dem Leben auf dem riesigen Friedhof, gegründet zur Zeit der muslimischen Eroberung Ägyptens 642 n. u. Z. Am Ende der Straße lag in Geschäften voller Fliegen schlaffes Gemüse und lädiertes Obst in Plastikkisten aus. Frische Lebensmittel konnten sich die lebenden Bewohner der Stadt der Toten ebenso wenig leisten wie eine Mietwohnung in den Armenvierteln Großkairos.

Zwischen den Wahlen vergaßen die Politiker die Probleme und Sorgen der hier hausenden Familien. Sobald jedoch der nächste Wahlkampf anfing, umwarben sie sie. Der Hauptplatz hing voller Plakate und Banner, die Kandidaten für die Parlamentswahlen anpriesen.

An einem Tisch am Straßenrand saßen zwei gesprächsfreudige Männer. Sie stellten sich als Sayyed Muhammad Abdel ‘Al und dessen Onkel Hag Subhi Abdel ‘Al vor. Als der Kellner Gläschen süßen Tees vor uns stellte, sagte Sayyed, sie beide seien »Wächter des Viertels«. Sie entpuppten sich als »Wächter« im Dienst von Mubaraks Regierungspartei NDP. Während der Onkel an seiner Wasserpfeife sog, sagte Sayyed: »Die Wähler lassen sich von den Kandidaten nicht bestechen. Die Watani [NDP] ist hier stark. Wir sind für Präsident Hosni Mubarak. Wir lieben Hosni Mubarak.« Ich fragte, wie es mit Gamal aussähe, Mubaraks Sohn und mutmaßlichem Nachfolger. »Nein«, antworteten die Männer einstimmig. »Nur Hosni Mubarak!«

Ihre Unterstützung für Mubarak bedeutete nicht, dass sie der Regierung und deren Partei kritiklos gegenüberstünden. Am stärksten treibe die Leute das Thema Privatisierung um, besonders der Verkauf des staatlichen Krankenhauses an einen Privatkonzern. »Die Leute hier haben kein Geld für medizinische Versorgung«, beschwerte sich Sayyed. »Die Imam-Shafei-Mädchenschule wurde auch verkauft. Die Leute sind verärgert.« Sayyed schlug mir vor, ich solle zu den Wahlkampfkundgebungen am Abend wiederkommen.

In der Abenddämmerung erwachte die Stadt der Toten zum Leben. Die Cafés waren randvoll mit Männern. Am Straßenrand werkelten Mechaniker an Automotoren und Motorrädern. Leute gingen spazieren, unbekümmert in der Gesellschaft ihrer Ahnen. Sayyed und Hag warteten im Café, in dem wir uns am Morgen getroffen hatten. In ihrem zerbeulten alten Auto machten wir uns auf die Suche nach dem Wahlkampfkonvoi von Nasser Shurbagi, einem unabhängigen Kandidaten. Wir fanden ihn schließlich in den brechend vollen, hell erleuchteten Straßen des pulsierenden Viertels unterhalb der gewaltigen Mauern der Zitadelle. Die Anlage war im 12. Jahrhundert unter Saladin verstärkt worden, jenem Sultan von Ägypten, der in der Schlacht bei Hattin in Palästina am 4. Juli 1187 die Kreuzfahrer geschlagen hatte.

»Nasser Shurbagi in die Volksversammlung, Nasser Shurbagi!«, verkündete ein Lautsprecher von der Ladefläche eines Lastwagens. Zwischen den Durchsagen schlugen auf dem Laster Trommler auf ihre Instrumente. Shurbagi, lächelnd, die glänzende Halbglatze von dunklem Haar umkränzt, hielt seinen Konvoi an, um einer Gruppe potenzieller Wähler die Hand zu schütteln. Er versprach, Straßen zu reparieren, sicherzustellen, dass die Lebenden die Stadt der Toten nicht verlassen müssten, und das Krankenhaus wieder in den öffentlichen Sektor zurückzuführen. Als er in seinem ramponierten orangefarbenen Auto davonfuhr, blaffte ein Jugendlicher: »Scheißlügen!«

Die meisten Lebenden in der Stadt der Toten waren nicht ins Wahlregister eingetragen und misstrauten den Polizeirevieren, in denen die Wahlscheine ausgestellt wurden. Sie gingen davon aus, dass Stimmzettel von Toten den Vorsprung der NDP noch weiter vergrößern würden.

Der Wahltag war bestimmt von einer niedrigen Wahlbeteiligung, gewaltsamen Zusammenstößen und Anschuldigungen von Wahlbetrug und Mehrfachstimmabgaben. In Wahlkreisen, in denen bei der Parlamentswahl 2005 die Opposition Erfolge erzielt hatte, verwehrte man Kandidaten, Beobachtern und Wählern den Zugang zu den Stimmlokalen. Um 508 Parlamentssitze bewarben sich 5200 Kandidaten, 1100 von ihnen von Parteien aufgestellt, davon 780 allein von der NDP. Auch die Mehrheit der 4100 unabhängigen Kandidaten gehörte zur NDP. Die Partei war entschlossen, sich bis zur Präsidentschaftswahl 2011 eine solide Mehrheit zu sichern. Mubarak war ihr einziger Kandidat. Von 40 Millionen ägyptischen Wahlberechtigten sollen bei dieser Parlamentswahl nur 10 Prozent ihre Stimme abgegeben haben. Es waren die letzten Wahlen unter Mubarak.

Kairo, Ägypten, Juli 1961

Ein Bediensteter in Kaftan und Kappe öffnete die Tür der großzügigen Villa in der Mohamed-Mazhar, einer Zamaleker Straße voller prächtiger Villen im italienischen Stil, gebaut von Politikern und Kaufleuten, die während des britischen Protektorats ein Vermögen gemacht hatten. Ich wurde durch geräumige Zimmer mit hohen Decken geführt, die Fensterläden waren gegen die Hitze und das gleißende Licht geschlossen, die Möbel mit Tüchern verhängt, als ob der Besitzer lange verreist wäre.

Sitt Leila Doss empfing mich auf der Veranda mit Blick auf das unruhige braune Wasser des Nils – sitt heißt Frau. Der Nachmittagstee wurde serviert und meine zarte Porzellantasse mit Untertasse einem fragilen Tischchen auf staksigen Beinen anvertraut. Constantine Vlachopoulos, ein griechischer Freund vom UN-Hilfswerk für Palästinaflüchtlinge (UNRWA), hatte mir Leila Doss’ Telefonnummer gegeben und gesagt, sie könne mir etwas über die sich wandelnde Rolle der Frau in diesem zutiefst konservativen Land sagen. Leila Doss erzählte mir von ihrer Arbeit mit tuberkulosekranken Kindern und beschrieb, wie sich die ägyptische Gesellschaft seit den zwanziger und dreißiger Jahren, als sie aufgewachsen war, verändert hatte.

»Der Nikab und der Schleier verschwinden allmählich, Frauen nehmen eine aktivere Rolle ein. Aber nur gebildete, privilegierte Frauen.«

Sie schickte mich in ein Dorf auf dem Land, damit ich mir ansehen könne, was die Regierung für die Fellachen tat, die Ackerbau treibende Landbevölkerung. Sie versorgte sie etwa mit Saatgut und Plänen für größere Ernteerträge.

Im Zentrum von vier Bewässerungskanälen stand ein weißgekalktes, von Eukalyptusbäumen umgebenes Anwesen. Der Erdfußboden des Innenhofs war von harten Besenborsten blankgefegt. In dem Mehrzweckgebäude war eine Außenstelle des Landwirtschaftsministeriums untergebracht, eine Schule und eine saubere Klinik, in der eine Krankenschwester Babys wog und den Bauernkindern Medikamente verabreichte.

Zurück nach Gaza flog ich im Cockpit einer weißen Hercules der UNO, gesteuert von zwei fröhlichen Kanadiern.

Unter uns erstreckte sich majestätisch der Nil, die Arme zum Delta hin aufgefächert, dazwischen Ackerland, von Bewässerungskanälen umgrenzt, wolkenbeschattete Dörfer, die Ränder des kobaltblauen Mittelmeers von hellem Schlamm befleckt, die Mündungen entlang der Küste des Sinai, dann die Wüste, al-Arisch und schließlich Rafah, geteilt zwischen Ägypten und Gaza.

Kairo, Ägypten, in der Nacht des 28. Januar 2011

Die Polizei zieht sich aus den Straßen zurück. Die Bevölkerung ist Schlägern und Kriminellen ausgesetzt. Sie wurden von Loyalisten aus dem Gefängnis entlassen, die das Volk für den Treuebruch an Mubarak bestrafen wollen.

Im Wohnzimmer der irischen Residenz warte ich mit der Botschafterin Isolde Moylan, ihrem amerikanischen Ehemann Tom McNally und ihrem Sohn Conor ungeduldig vor dem Fernseher auf eine Ansprache Mubaraks an die Bevölkerung. Congo drückt sich an unseren Knien vorbei, wackelt mit seinem beträchtlichen Hinterteil, wedelt mit dem Schwanz und wischt dabei fast unsere Weingläser von dem niedrigen Tischchen. Kurz nach Mitternacht tritt Mubarak vor die Kameras, entlässt das Kabinett und ernennt den Direktor des Geheimdienstes, Omar Suleiman, zum Vizepräsidenten. Mubarak, unbeirrt von den Flammen rund um die Zentrale der Regierungspartei, tritt nicht zurück.

Conor nimmt Congo an die Leine, ignoriert die Ausgangssperre und geht mit mir auf der Straße des 26. Juli zurück zum Marriott. Ich betrete das Hotelgelände durch das hintere Tor und gehe über den Parkplatz. Die automatischen Türen des Hotels gleiten auf wie ein Sesam-Öffne-Dich, ich lasse meine Tasche auf das Fließband der Sicherheitsschleuse plumpsen, nehme sie am anderen Ende wieder auf und nicke den diensthabenden Männern zu. Ich gehe an Roy’s Country Kitchen und dem Kasino vorbei und eile durch den Garten zum Gezira-Turm, vorbei an leeren Tischen und Stühlen vor diesem Palastgebäude, in dem das schicke Kairo sich zum Lunch und Tee trifft.

Kairo, Ägypten, Juli 2013

Aus ihrem eleganten Palais am Nil, den sie schon vor langer Zeit verkauft hatte, war Lili, Leila Doss, nach Garden City gezogen, in den achten Stock eines öden braunen Gebäudes zwischen streng bewachten Botschaften beim Tahrirplatz. Von dort war sie viermal in ihrem Rollstuhl zum Demonstrieren auf die Straße heruntergekommen und war so zu Ägyptens ältester Revolutionärin geworden. »Die Leute freuen sich so, mich zu sehen. Sie küssen mir die Hand und fotografieren ihre Kinder mit mir […] Wir mussten Mubarak und seine Leute loswerden, ihre Geldgier war einfach unfassbar geworden. Die Bevölkerung ist immer weiter verarmt. Das Land hat der Regierung den Rücktritt befohlen. Es war unglaublich.«

Lili, Jahrgang 1916, hat drei ägyptische Revolutionen miterlebt, 1919 gegen die Briten, 1952 gegen den König und 2011 bis 2013 gegen die Autokratie. Ihre revolutionäre Karriere begann früh. Sie lehnte sich gegen ihren konservativen Vater auf, Tewfik Pasha Doss, koptischer Christ und Minister zur Zeit der Monarchie, der den Grundpfeiler der Kasr-el-Nil-Brücke gelegt hatte, einen der Hauptzugänge zum Tahrirplatz. Mit fünf Jahren zog sich Lili die Hosen ihres Bruders an, damit sie im Garten des Familienpalais auf Bäume klettern konnte. Als begehrenswerte junge Frau weigerte sie sich zu heiraten, selbst den äthiopischen Kronprinzen. Ihr Vater fand, Mädchen sollten nicht studieren, und sagte ihr, sie solle sich wohltätiger Arbeit widmen. So wurde Lili 1936 Mitgründerin von Tahseen al-Seha, einer Organisation zur medizinischen Versorgung von Kindern in Armut.

Immer wieder forderte Lili die aufeinanderfolgenden Regime heraus. Unter Präsident Gamal Abdel Nasser durfte sie nicht ins Ausland reisen. Sein Nachfolger Anwar al-Sadat verlieh ihr einen Orden für 25 Jahre Dienst; Lili verkaufte den Orden und spendete den Erlös dem Kinderkrankenhaus bei den Pyramiden. Sie kämpfte gegen Mubaraks Ehefrau Suzanne, die das Krankenhaus zu einem Museum machen wollte. »Nur über meine Leiche«, sagte Lili. »Mit 65 bin ich in den Ruhestand gegangen, habe mein Fachabitur gemacht und einen Bachelor- und Master-Abschluss«, an der American University in Kairo. Mittlerweile gab es keinen Vater mehr, der es hätte verbieten können.

Kairo, Ägypten, Anfang 1965

Am frühen Abend, als die Sterne am dämmrigen Himmel zu funkeln begannen, überquerten wir die Bulakbrücke und bogen in die Einfahrt des Omar-Khayyam-Hotels, gingen die Freitreppe hinauf zur Rezeption, checkten ein und erhielten den Schlüssel zu unserem Chalet. Der Angestellte lächelte. »Willkommen in Ägypten!«

Ma, meine Mutter, Dorothy Ellen Fancher, geborene Kibby, sagte: »Schau mal, hier liegen so viele Teppiche, dass sie sich überlappen.« Belutsch-Gebetsteppiche, anatolische und persische Teppiche, der Saum des einen über dem des anderen, bildeten kleine Schwellen mit ineinanderverwickelten Fransen. Ma war vor dieser Reise noch nie außerhalb der USA gewesen.

Wir folgten dem Gepäckträger durch einen Korridor, die Hintertreppe hinunter und in den Garten. Unser hölzernes Chalet war kühl, der Gepäckträger stellte die Klimaanlage an, um das schlichte Zimmer zu heizen; das angrenzende Bad war mit Kerosin parfümiert, das zum Desinfizieren und Desodorieren in die Toiletten geschüttet wurde.

Nach dem Abendessen in einem eleganten, aber kalten Raum des Palasthotels auf Gartenhöhe gingen wir an die Bar, um uns mit Aprikosenschnaps innerlich zu wärmen. Mas gesprenkelte nussbraune Augen leuchteten neugierig in dem weichen Licht. Der Bartresen war aus hochglanzpoliertem Holz, darin Intarsien aus Perlmutt und verschiedenfarbigen Hölzern. Die Wände waren mit matter, dunkelgrüner Seide verhangen. Ma trug ein ärmelloses grünes Velourskleid über einem cremefarbenen Seidenhemd mit langen Ärmeln, ein warmes Tuch um die Schultern geschlungen. Ihr Haar war aufgetürmt. An ihren Handgelenken schwere, breite, geriffelte Silberarmreife.

Am nächsten Morgen nahmen wir ein Taxi zu den Pyramiden. Ma in hohen braunen Stiefeln war eingewickelt in einen rotgraukarierten Mantel, mit einem Kopftuch gegen den Wind. Ich trug glücklicherweise Jacke und Hose.

Als wir auf der Ebene von Gizeh angekommen waren, entschied sie, ich solle auf die Cheops-Pyramide klettern, an das Handgelenk eines großen Fremdenführers geklammert, der Dschallabija und einen Wollschal um den Kopf trug.

Die Steinblöcke bildeten schenkelhohe Stufen, manche bröckelnd, manche uneben. Mein Fremdenführer, der Gummi-Flipflops trug, kannte den besten Weg und trat präzise auf die Stufen. »Folgen Sie mir, folgen Sie mir«, forderte er mich auf Englisch auf, während er mich die Pyramide hinaufzog. »Festhalten, festhalten.« Er hielt nicht einen Moment inne, und zog mich, Steinblock um Steinblock, bis zur Spitze empor. Von dort spähten wir zu Ma hinunter, klein und einsam in der Wüste, und betrachteten Initialen, die frühere Besucher in das Gipfelplateau geritzt hatten. Dann ging es wieder rasch hinunter, Block um Block, meine Wadenmuskel zitterten und meine Knöchel drohten einzuknicken. »Siebeneinhalb Minuten«, stellte Ma fest, als wir wieder bei ihr waren. Der Fremdenführer sagte, seine Bestzeit liege bei vier Minuten, und schien sich über das Trinkgeld von zwanzig Dollar zu freuen.

Kairo, Ägypten, 29. Januar bis 11. Februar 2011

An der Rezeption des Marriott-Omar-Khayyam-Hotels haben sich Schlangen abreisender Touristen gebildet. Neben dem Informationsschalter türmen sich auf den aufgereihten Gepäckwagen die Koffer. Sonderflüge nationaler Fluglinien holen die Leute aus Ägypten heraus. Banken und Geldautomaten sind geschlossen, aber an der Rezeption funktionieren die Kreditkarten noch.

Der Himmel ist bedeckt, die Luft weich und feucht. Am östlichen Nilufer schwelen die Überreste des mehrstöckigen Gebäudes von Mubaraks Nationaldemokratischer Partei.

Die lächelnden Gesichter zweier junger Ägypter auf einer Werbetafel sind vom Brand verschont geblieben.

Ich rase im Taxi zum Büro der Agence France Presse und gebe am Satellitentelefon der Nachrichtenagentur zwei Artikel durch. Mir ist klar, dass ich eine Alternative hierzu finden muss, genauso wie zu Isoldes diplomatischer Internetverbindung, die von der Kommunikationsblockade ausgenommen ist. Die Lösung ist einfach. Meine Kollegen und ich drucken und faxen unsere Manuskripte vom Marriott aus; unsere E-Mail-abhängigen Zeitungen müssen, bis Mobiltelefone und das Internet wieder funktionieren, ihre alten Faxgeräte ausgraben.

Tausende Ägypterinnen und Ägypter aller Altersstufen und Schichten strömen auf der Kasr-el-Nil-Brücke zusammen und gehen dort unter dem Blick der Statue des Khedive Ismail Pascha entlang, der als Herrscher im 19. Jahrhundert das heutige Stadtzentrum erbauen ließ. Sie gehen hindurch zwischen den Paaren riesiger Bronzelöwen, die auf Sockeln sitzend die Brücke an beiden Enden flankieren. Die Menschen tragen Flaggen, Banner und Plakate mit einem einzigen Wort: erhal (verschwinde). Sie blicken sich nach schwarz gekleideter Bereitschaftspolizei und nach den baltagiya, den Schlägertrupps in Zivil um. Die Bevölkerung bewegt sich frei in Richtung Tahrirplatz. Sie gehen an den wachenden Löwen vorbei, zu deren Pranken kleine Jungen sitzen. Am Zugang zum Platz sind behelfsmäßige Barrikaden errichtet und an für Frauen und Männer getrennten Kontrollposten überprüfen Freiwillige höflich die Taschen. Väter mit kleinen Kindern auf den Schultern, Frauen mit oder ohne Kopftuch vermischen sich mit Jugendlichen in T-Shirts, die »al-sh’ab yurid isqat al-nizam« (Das Volk will den Sturz des Regimes) rufen.

»Thawra, thawra!« (Revolution, Revolution!), antwortet die Menge. »Wir verlassen diesen Platz, wenn Mubarak Ägypten verlässt«, ruft Ahmad, ein Bursche mit Strickmütze. Junge Männer scharen sich um mich, um ihre Meinung zu äußern. Ahmad befiehlt: »Schreiben Sie, schreiben Sie auf, was wir sagen, erzählen Sie der Welt, dass wir Demokratie und Freiheit wollen. Keine Korruption mehr. Keinen Mubarak mehr.«

Karin Leukefeld, eine deutsche Kollegin, ist aus Damaskus gekommen und geht mit mir die zwanzig Minuten vom Hotel zum Tahrirplatz. Wir haben uns 2003 in Bagdad kennengelernt und seitdem in Irak, Ägypten und Syrien oft ein Team gebildet. Umgeben von protestierenden Professoren, die uns drängen, über ihre Ansichten zu berichten, werden wir selbst zu Studentinnen von Seminaren, die wir unter uns »Revolution 101« nennen. Uns begegnen ein nubischer Taxifahrer, der Geld braucht für die Diabetesmedikamente seiner Frau und die Ausbildung seines Sohnes. Ein Mann, voller Staub vom Tahrirplatz, der behauptet, Mubarak habe 70 Milliarden Dollar gestohlen. Als wir ihn fragen, woher er das wisse, antwortet er, aus dem Guardian, allerdings spricht er kein Englisch. Studenten, die ganze Nächte und Tage auf dem Platz verbringen, um die Besetzung durch das Volk aufrechtzuerhalten. Jeden Morgen gehen sie nach Hause, um zu duschen und sich zu rasieren.

Über uns fliegen Hubschrauber, ein Panzer fährt im Slalom über den Platz und wird von der Menge, die für den ächzenden Koloss zur Seite tritt, bejubelt. Die Menschen vom Tahrirplatz, die Tahriris, glauben, die Armee, die sich aus den Gefechten herausgehalten hat, stehe auf ihrer Seite und gegen Mubarak, gegen seine Sicherheitsleute und die baltagiya. Ein dünner Jugendlicher in rotem Hemd zeigt die Hülse einer scharfen Patrone vor, ein Mann hält mir eine Handvoll Gewehrpatronen hin. »Sehen Sie mal, die sind aus amreeka«, ruft er und hält die grüne Hülse hoch, um das Messingende zu zeigen: »USA«.

Männer mit salafistischen Bärten ohne Oberlippenbart und mit Bärten im Stil der Muslimbruderschaft, Nikabs und Hidschabs, Frauen mit Locken in Jeans und Pullovern, Junge, Alte und Menschen mittleren Alters, alle sind hier. Hier auf dem Tahrirplatz, zur Zeit der Befreiung.

Der Lärm von Kampfflugzeugen übertönt die Stimmen auf dem Tahrirplatz, wo Hunderte Richter für den Rückzug der Polizei demonstrieren und Untersuchungen zu Schüssen auf unbewaffnete Demonstranten fordern. Ghada Shahbender von der Ägyptischen Organisation für Menschenrechte sagt, die Zahl der Toten belaufe sich in Kairo auf einhundert, in Alexandria auf dreißig und in Suez auf sechzig.

Die Ausgangssperre ab sechzehn Uhr wird ignoriert. Menschen sind zu allen Tages- und Nachtzeiten auf der Straße. Entlang der Straße des 26. Juli haben sich Nachbarschaftswachen aufgestellt, um mit Knüppeln und Gehstöcken Kriminelle und baltagiya zu vertreiben. Ein Mann in einer braunen Lederjacke, begleitet von einem großen Schäferhund, bietet mir an, mich sicher zur Residenz zu geleiten. Conor, der sich der Wache angeschlossen hat, sagt: »Wir haben Molotowcocktails und Besenstiele.«

Die Armee umringt den Tahrirplatz mit gepanzerten Mannschaftswagen, Spähwagen und Kampfpanzern, die im Tarnbeige der Wüste aus dem Stadtbild fallen. Sie kappt den Zugang mit Rollen von Klingendraht. Soldaten werden zu Torwächtern des Platzes, prüfen Ausweise, ohne Namen aufzuschreiben.

Flugdrachen in den Farben der ägyptischen Flagge sinken und steigen über der Kasr-el-Nil-Brücke. Straßenhändler verkaufen Fahnen, überdimensionierte Zylinder in Grün, Schwarz und Rot sowie T-Shirts. Jugendliche bieten an, winzige ägyptische Flaggen auf Wangen zu malen. Man könnte meinen, die Ägypter hätten sich seit Monaten oder Jahren auf eine Revolution vorbereitet und seien nicht von einem plötzlichen Aufstand überrascht worden. Der Organisator Sherif sagt, als über Facebook zu Demonstrationen am 25. Januar aufgerufen worden sei, hätten sie »fünfzig Leute hier und hundertfünfzig da« erwartet. Es kamen fünfzigtausend.

Jungen schieben Fahrräder, an den Lenkern Plastiktüten voller Styroporschachteln mit Geflügel und Nudeln, um die Menschenmenge mit Essen zu versorgen. Andere tragen Tüten mit runden Brotlaiben und verteilen Wasserflaschen. Am östlichen Ende des Platzes werden an behelfsmäßigen Ständern Porträts der in den Gefechten Umgekommenen befestigt, die wie Märtyrer gefeiert werden. Aktivisten stellen Zeichnungen des Tahrirplatzes aus und malen, auf dem Boden auf Kartonbögen kniend, Poster, die Mubaraks Amtsenthebung fordern. In der Nähe von Hardee’s-Schnellimbiss vor der Haupttribüne, wo Freiwillige die Tonanlage bedienen, bilden sich Schlangen; den ganzen Tag über erschallen spontane Reden über die Lautsprecher. Die Ägypter sagen ihre Meinung.

Restaurants und Geschäfte am Platz haben geschlossen, manche sind mit Rollläden verschlossen, andere nicht. Kein einziges ist beschädigt, kein Fenster eingeschlagen. In einem Zelt auf dem Verkehrskreisel ist ein Feldlazarett untergebracht, dort sagt ein Grafikdesigner, der sich nach dem altägyptischen Gott Horus nennt: »Zum ersten Mal seit dreißig Jahren sind wir stolz, Ägypter zu sein. Wir waren taub geworden. Jetzt können wir kaum glauben, dass wir die Dinge selbst in die Hand nehmen.«

Als wir wieder zur Kasr-el-Nil-Brücke gehen, ruft ein junger Mann in einem blauen Pulli Karin und mir hinterher: »Danke fürs Kommen!«, als hätten wir einer Teegesellschaft beigewohnt, nicht einer Revolution.

Organisatoren fordern einen »Marsch der Millionen« vom Tahrirplatz zum Präsidentenpalast in Heliopolis, doch das Militär blockiert den Weg. Wieder tritt Mubarak im Fernsehen auf, dieses Mal um elf Uhr abends, und verkündet, dass er nicht mehr für das Präsidentenamt kandidieren wird. Fassungslos buhen und pfeifen die Menschen auf dem Tahrirplatz ihn aus.

An der Uferpromenade versammeln sich Mubaraks Anhänger vor dem Gebäude des Staatsfernsehens. Ein Mann trägt einen ganzen Strauß von Flaggen an Stangen und verteilt sie an alle, die kommen. Abhängige Beamte und Arbeiter aus Fabriken, die Loyalisten gehören, unrasierte harte Männer von der inneren Sicherheit und Polizisten in Zivil. Wir eilen zurück in die Sicherheit des Tahrirplatzes.

Die Armee lockert ihren Griff um den Tahrirplatz und lässt zu, dass Mubaraks Männer auf Kamelen und Pferden, mit Peitschen und Knüppeln auf den Platz reiten. Sie werden von Demonstranten zurückgedrängt, die sich mit Schilden aus Wellkunststoff und Pflastersteinen bewaffnet haben. Der Zusammenstoß wird nach einer wichtigen Schlacht der islamischen Geschichte »Kamelschlacht« getauft. Am nächsten Morgen sind ordentliche Haufen grober Pflastersteine an strategischen Punkten rings um den Platz verteilt. Wachen trommeln rhythmisch auf hohlen Laternenpfosten, wann immer sich Schläger im Dienst des Regimes nähern. Männer bewaffnen sich mit blau ummantelten Aluminiumrohren von der Baustelle vor dem Ägyptischen Museum. Die Demonstranten, wütend darüber, dass die Soldaten und Panzer die Angreifer nicht aufgehalten haben, skandieren nicht mehr »Volk und Armee gehen Hand in Hand«.

Außer der Kasr-el-Nil-Brücke sind alle Zugänge zum Tahrirplatz gefährlich. In der Talaat-Harb-Straße und der Muhammad-Mahmud-Straße lauern Sicherheitsleute in Zivil, warten baltagiya und Lockspitzel auf Aktivisten und Journalisten. Ein französisches Fernsehteam wird verschleppt und stundenlang auf einer Polizeiwache festgehalten. In Sichtweite des Talaat-Harb-Platzes werden wir von zwei gut gekleideten, stämmigen Typen angehalten. Als sie Karins Tasche durchsuchen wollen, versteckt sie ihre Kamera am Boden unter einem Schal und zieht nur ihr Tonbandgerät hervor. Ein junger Ägypter in unserer Nähe beobachtet die Situation und greift ein. »Reden Sie nicht mit denen und kommen Sie mit.« Er führt uns bis zum Platz, wo wir in ein zerbeultes schwarz-weißes Taxi steigen und durch die wäscheverhangenen staubigen Hintergassen Bulaks fahren, bis wir schließlich die Brücke nach Zamalek überqueren. Unser Entführer stellt sich als Hussein vor. Als wir drei in der Nähe der Buchhandlung Diwan aussteigen, gibt er uns seine E-Mail-Adresse.

Ägypterinnen und Ägypter, die zum Tahrirplatz wollen, strömen durch Zamaleks verwinkelte Straßen und breite Alleen zur Kasr-el-Nil-Brücke. Dort bilden sie fröhlich Schlangen von einem Löwenpaar zum anderen. Kleine Jungen mit Flaggen klettern auf die Statuen. Verschwunden sind die Haufen von Pflastersteinen, die Knüppel und Schilde, mit denen die Verteidiger die Kontrolle der Revolution über den Platz aufrechterhielten. In einem plötzlichen Gesinnungswandel stehen jetzt Soldaten in Flakwesten und Helmen bereit, um die Demonstranten vor Angreifern zu schützen. Vizepräsident Omar Suleiman ruft Eltern auf, ihre Kinder nach Hause zu holen. Doch die Eltern und Großeltern sind selbst auf dem Platz und feiern ihre Befreiung.

Auf der Hauptbühne beklagt ein Mann am Mikrofon dreihundert Märtyrer. Isolde Moylan, elegant in Hosenanzug und Seidenschal, kommt auf den Platz, um den Leuten zuzuhören. Christen bieten Muslimen Schutz, indem sie sich während der täglichen Gebete um sie stellen. Ein koptischer Priester predigt einer hauptsächlich muslimischen Gemeinde. Alle zusammen singen wir Biladi, die ägyptische Nationalhymne. Mira, eine Studentin, hält ein Plakat in die Höhe, auf das ein Ausweis gemalt ist: »Name: Bürgerin; Religion: Ägypterin; Geburtsort: Tahrirplatz; Beruf: Revolutionärin.«

An den Barrikaden zum Tahrirplatz sagen Soldaten, wir dürften den Platz nur mit ägyptischen Presseausweisen betreten. Nach einem Anruf bei der Pressestelle wird uns der Zutritt gewährt. Gleich am Rande des Platzes stehen in zwei Reihen Männer mit Trommeln und Tamburinen. »Wartet, wartet«, ruft der Dirigent. Und während wir an ihnen vorbeigehen, singen die Männer: »Raus, raus, Omar!«, schlagen auf ihre Trommeln und schütteln die Tamburine. General Hassan al-Rawini, Chef des Zentralkommandos der Armee für Kairo, betritt den Platz. Er ist umringt von bewaffneten Soldaten und klettert auf die Bühne. Als er verkündet: »All eure Forderungen werden heute Abend erfüllt«, tragen jubelnde junge Männer ihn auf den Schultern umher.

Wieder tritt Mubarak im Abendprogramm auf und wieder erklärt er, er werde bis zur Präsidentschaftswahl im September des Jahres im Amt bleiben. Der Tahrirplatz gerät in Rage. In der Abenddämmerung des 11. Februar, ein Freitag, verkündet Omar Suleiman, blass und sichtlich mitgenommen, einen Offizier an der Seite, Mubarak habe »entschieden, sein Amt als Präsident niederzulegen« und das Militär zur Regierungsmacht ernannt. Der Tahrirplatz tost vor Freude, Feuerwerke werden gezündet, leere Straßen füllen sich mit hupenden Autos, die die Scheinwerfer aufflackern lassen. Die Ägypter tanzen auf der Straße, umarmen einander, weinen, lachen, schreien »Hurriya, hurriya!« (Freiheit, Freiheit!).

Kairo, Ägypten, 12. Februar 2011

Die Bevölkerung geht auf die Straße, geht zum Tahrirplatz. Mit Besen und Eimern, Plastiktüten, Farbeimern und Pinseln bewaffnet, überqueren Menschen die Kasr-el-Nil-Brücke. Ein Abschleppwagen zieht ausgebrannte Autos aus dem Zugang zur Metrostation Sadat. Ägypterinnen und Ägypter mit Mundschutz und Handschuhen fegen Müll zusammen und leeren ihn in Säcke. Eine gut gekleidete Frau in kniehohen Lederstiefeln, eine ägyptische Flagge um die Schultern gelegt, schwingt ungeübt einen Besen. Schmutzige Straßenkinder schieben Karren voller Mülltüten zu Sammelstellen, von denen Laster die Säcke wegfahren. Auf dem Boden ausgebreitete Plastikplanen werden mit Blumen belegt, um zu markieren, wo Märtyrer gestorben sind. Andere Teams schrubben Graffiti von der Statue Abdel Moneim Riads und von Gebäudefassaden. Jugendliche streichen ein Wachhäuschen vor der Villa, in der sich das Außenministerium befand, und erneuern die schwarz-weißen Streifen an Bordsteinkanten. Barrikaden werden abgebaut und fortgetragen. Mädchen, die die Straße kehren, haben auf ihren Pulloverrücken Zettel befestigt: »Entschuldigen Sie bitte die Unannehmlichkeiten. Wir bauen gerade Ägypten auf.«

Larnaka und Agios Dometios, Zypern, 14. Februar 2011

Andreas schob den bezahlten Parkschein in den Automaten, um die Schranke an der Ausfahrt des Flughafens zu öffnen. Er schimpfte mich aus: »Meine Frau und ich haben uns Sorgen um Sie gemacht. Wir haben im Fernsehen gesehen, was in Ägypten los ist. Als Sie mich nicht angerufen haben, damit ich Sie vom Flughafen abhole, haben wir uns Sorgen gemacht. Ich war mal in Ägypten. Wir sind mit dem Schiff nach Alexandria und dann mit dem Zug nach Kairo. Auf der Reise wollten alle Ägypter Geld von uns.«

Er parkte vor meinem Tor bei der hohen schiefen Pinie und hob meinen Rollkoffer aus dem Kofferraum des Mercedes. Ich nahm den Koffer, legte mir meine Laptoptasche um und stieg die Stufen zur Veranda hinauf. Zwischen dem schmiedeeisernen Gitter und dem Türglas steckte ein Zettel: »Bitte melde dich.« Noch jemand Besorgtes. Im Hausflur war es kühl, ein wenig feucht. Nadeln der gefährlich schiefen Pinie vor dem Haus waren unter der Tür hindurchgeweht und hatten sich am Saum des rot-grünen Beduinenteppichs auf dem Terracottaboden gesammelt. Ich sah mein Gesicht und meine Schultern in dem Spiegel, in dessen Holzrahmen drei Pfauen geschnitzt waren, die Arbeit eines Insassen im Gefängnis von Baaklin, an einen Beiruter Trödelladen verschleudert, nachdem die Ehefrau des Häftlings sich beklagt hatte, Pfauen brächten Pech. Über der Tür zum Wohnzimmer Maaths Gemälde von fünf um einen Tisch versammelten Clownsköpfen mit dem frechen Titel »Das letzte Abendmahl«. Über der Tür zum Arbeitszimmer das Bild eines zyprischen Malers im Stil van Goghs, Explosionen strudelnder winziger blauer und goldener Ovale. Auf dem persischen Kelim über den Holzdielen lagen Faxe, das rote Licht des Anrufbeantworters blinkte. Als ich den Computer angeschaltet hatte, rief ich Marya, meine Tochter, an und sagte ihr, ich sei wieder sicher zu Hause.

Sie antwortete lebhaft und voller Energie, Brian und Lili gehe es gut. »Ich habe auf Facebook erwähnt, dass du in Ägypten bist und alle haben gefragt, was du dort machst. Also habe ich Links zu deinen Artikeln gepostet.«

Auf dem Bücherregal neben Telefon und Fax stand der Porzellanrahmen mit Godfreys Foto; die Hand zur Betonung seiner Rede geöffnet, blickte er mich mit geschürzten Lippen an. Er hätte die Szenen auf dem Tahrirplatz großartig gefunden und sie in sehr viel bessere Worte als ich gefasst. »Du hast dein Bestes getan, vergiss den Rest«, hätte er gesagt.

Ich lüftete das Wohnzimmer, in dem neben dem verrußten Kamin der grün-goldene Metallpfau Wache stand, und öffnete die Türen zur Seitenveranda. Ich holte den Weihnachtsstern herein und stellte ihn in den silbernen Topf auf das Kupfertablett, unsere Tischplatte. Unter dem Tisch lag Grandma Fanchers rosa-weiß-blauer Saruk, 1908 von ihr erstanden, im Geburtsjahr meines Vaters.

2Ausbruch

Bay City, Michigan, USA, vierziger Jahre

Grandma Fancher erlaubte nur ein paar leichte Möbelstücke auf ihrem Saruk; Schuhe waren verboten. Aber sie hatte nichts dagegen, wenn ich mit meinem Spielzeugauto über die blau geblümte Fahrbahn entlang des Teppichrands fuhr. Der Saruk ist viel herumgekommen. In Iran geknüpft, in Bay City erstanden, nach Denver und wieder zurück transportiert, dann nach Beirut, Damaskus und schließlich in das zweitausend Jahre alte Agios Dometios, die Mischung aus Vorort und Dorf, wo ich heute wohne.

Grandma Fancher bewohnte eine Zimmerflucht in dem schönen Haus mit Garten ihrer Schwester Minnie. Der Saruk bedeckte die Holzdielen im Salon meiner Großmutter, um ihr Bett im Nebenzimmer waren drei blaue chinesische Seidenteppiche gelegt. Auf ihrem Frisiertischchen ein silbernes Art-Déco-Set, Handspiegel, Kamm und Bürste, verziert mit einer Frau mit fließendem Haar. Grandma Fancher frühstückte im Bett, saß dort in ihrer wattierten Jacke, das Essen vor sich auf einem Tablett mit Füßchen, von der Köchin hereingebracht. In der rechten oberen Ecke des Tabletts stand immer eine kleine Teekanne mit Blumenmuster, dazu die passende Tasse und Untertasse. Über Nacht hatte ihr ein spinnenfeines Haarnetz eine zarte Linie quer über die Stirn gezeichnet. Nachdem sie gebadet, sich mit Talkumpuder eingerieben und angekleidet hatte, frisierte sie sich mit einem elektrischen Lockenstab das drahtige graue Haar, das sie kurz, aber nicht zu kurz trug.

Grandma Fancher, eine zierliche Frau mit dunklen, tief liegenden Augen, stets in elegante, dunkelblaue oder burgunderrote Kleider aus weicher Wolle gekleidet, eine Brosche am hohen V-Ausschnitt, sah ihrer großgewachsenen, knochigen, hellhäutigen älteren Schwester überhaupt nicht ähnlich.

Vor dem Mittagessen zog der Duft von Hefebrötchen und Brathähnchen durchs Haus. Bei Tisch musste ich stillsitzen und aufessen. Die Ehre meines Zweigs der Familie – der jüngeren, benachteiligten Seite – lag auf meinen Schultern. Der Zweig von Großtante Minnie war die wohlhabende, ältere Seite.

Ida, meine Großmutter, hatte die High School als Jahrgangsbeste abgeschlossen und wollte gern ans Vassar College, doch ihr Vater, der dafür wohlhabend genug gewesen wäre, sagte: »Mädchen gehen nicht aufs College, sie heiraten.« Ida rächte sich, indem sie ihrer Schwester Minnie den Verlobten stahl. Auf Idas Nachttischchen stand in einem Silberrahmen ein Foto vom großen, ernsten Arthur und ihr selbst, in Weiß, breitkrempige Hüte auf den Köpfen, während eines Urlaubs in Palm Beach.

Sie hatte immer nach Hawaii gewollt. Arthur versprach es ihr, starb aber in Denver, bevor sie die Reise hätten antreten können. Mit meinen Eltern kehrte sie nach Bay City zurück, um sich dort im Netz der Familie zu verfangen, breit ausgeworfen von der auch verwitweten Minnie.

Ich rechne es Grandma Fancher hoch an, die Grundlagen für meinen Triumph mit dem Heiligen Ludwig gelegt zu haben. In goldenen Brokat gekleidet, saß sie in der Wohnung meines Vaters im Ohrensessel und las mir aus den Märchen der Gebrüder Grimm und Hans Christian Andersen vor, bis ich sie auswendig kannte und sich die Worte klammheimlich in mein Unbewusstes eingeprägt hatten. Als ich dann gedruckten Worten in der Geschichte über den Heiligen Ludwig begegnete, sprangen sie mich praktisch aus den Seiten an.

Bay City, Michigan, USA, September 1951

Der blasse Lehrer, unsere erste männliche Lehrkraft in der Grundschule, war neu und kannte sich in der Schule noch nicht aus. Als er die Anwesenheitsliste durchging, »Billie Carlisle« rief und ein Mädchen aufstand, wirkte er kurz ratlos. Sagte aber nichts. Als dann bei »Michael Fancher« ein zweites Mädchen aufstand, schickte er uns beide zur Direktorin. Die gute Seele brachte uns zurück ins Klassenzimmer und erklärte, dass diese Männernamen tatsächlich unsere seien. Er hätte wissen können, dass Billie durchaus als Mädchenname verwendet wird, bei Michael hätte er zugegebenermaßen mit einem Jungen rechnen können. Nach diesem kleinen Intermezzo fragte er mich nie, warum man mich so genannt hatte.

Gefragt haben mich das viele Leute, aber eine zufriedenstellende Antwort habe auch ich nicht. Stimmungsabhängig sagte Ma manchmal: »Dein Vater mochte keine Mädchennamen«, oder sie selbst habe sich für den Vornamen von »Michael Strange« entschieden, dem Pseudonym und Lieblingsnamen von Blanche Oelrichs, einer gefeierten Schauspielerin und Dichterin (von der meine Mutter vorgab, sie zu kennen). Blanche oder Michael war die zweite Ehefrau des Schauspielers John Barrymore; er wiederum war der zweite ihrer drei Ehemänner. Ihre Biografie Who Tells Me True erschien 1940, in meinem Geburtsjahr. Das mag sich auf meine Namensgebung ausgewirkt haben.

Oder Ma sagte, sie liebe Michael Arlens Der grüne Hut, einen gewagten Roman, der sowohl in New York und London für die Bühne bearbeitet als auch mit Greta Garbo und John Gilbert verfilmt worden war. Wie Blanche fühle ich mich wohl mit »Michael« und finde, der Name passt zu mir, auch wenn er hin und wieder für Verwirrung sorgt. Ein paar Wochen, nachdem ich angefangen hatte, für die Irish Times zu schreiben, erzählte mir ein Diplomat, im irischen Außenministerium gehöre es zum Insiderwissen, dass Michael Jansen eine Frau sei.

Beirut, Libanon, April 1965

Während unserer anfänglichen Telefonate wegen eines Jobs hatte Godfrey mich »Miss F.« genannt. Bei unserer wichtigsten Begegnung musste er im Bett liegen. Bei einem Besuch von Freunden im Bergdorf Schemlan hatte er eine schwere Kiste Lebensmittel vom Auto ins Haus getragen und einen Bandscheibenvorfall gehabt. Er hatte mir gesagt, der Haustürschlüssel liege unter dem Fußabtreter. Ich solle einfach in die Wohnung und ins Schlafzimmer kommen, dort liege er seit sechs Monaten. Der Professor, der mich für die Stelle als Redaktionsassistentin vorgeschlagen hatte, warnte mich vor dem Bewerbungsgespräch: »Jansen ist ein riesiger bärtiger Sikh, der kleine Mädchen frisst.« Unsicher, ob das nun ein Scherz war oder nicht, postierte ich meinen kräftigen syrischen Freund an der Haustür.

Godfrey war natürlich kein großer, bärtiger Sikh, der kleine Mädchen fraß, ob morgens, mittags oder zum Nachmittagstee. Er war ein schmaler Mann mit klar indischen oder südasiatischen Gesichtszügen, einer Hornbrille, leicht gewelltem schwarzem Haar und einer etwas gebieterischen Art. »Gehen Sie mal in die Küche und machen uns zwei Whisky«, befahl er. Ich tat wie mir geheißen, kam wieder zurück, setzte mich in den Besucherstuhl und wir besprachen, wie man das Middle East Forum von einer sporadischen monatlichen Zeitschrift zu einem ernsthaften, viermal jährlich erscheinenden Journal machen könne.

Die Arbeit musste warten, bis sein Arzt entschied, ob Godfrey geheilt war oder noch eine riskante Operation benötigte. Ich wollte gern anfangen, weil ich das Geld brauchte, und so rief ich ihn ab und zu an, um mich nach seiner Genesung zu erkundigen. Schließlich ging er für irgendwelche Untersuchungen ins Krankenhaus. »Die haben mich auf einen Tisch geschnallt, mir Kontrastmittel in die Wirbelsäule injiziert, mich in einem dunklen Raum auf den Kopf gestellt und geröntgt. Ich war da ziemlich lange drin, bis Suhail irgendwann reinkam und gesagt hat: ›Die Bandscheibe ist verheilt, aber weil die Nerven noch gereizt sind, musst du Krankengymnastik machen.‹ Als ich fragte, welche Farbe das Kontrastmittel denn habe, zog er die Spritze raus und hielt sie hoch. ›Schau, farblos.‹ Der Tisch wurde wieder zurück gekippt, ich wurde befreit und durfte nach Hause.« Gegenüber der Sache mit dem Kontrastmittel hatte ich meine Zweifel, sagte aber nichts.

Godfrey war die ideale Person für die ehrenamtliche Herausgabe des Journals. Als indischer Presseattaché in Kairo, Beirut und Istanbul war er seit 1948 immer wieder durch den Nahen Osten gereist. Er verfügte über ein breites Netzwerk in der Region und ein tiefes Verständnis, wie sie wirtschaftlich und politisch funktionierte. Wenngleich er auf seinen Reisen Artikel in Auftrag geben wollte, schickte er bald mich nach Kairo auf die Suche nach Autoren.

Kairo, Ägypten, Sommer 1965

Von Godfrey mit einer Namensliste ausgerüstet, flog ich nach Ägypten und bezog eines der Chalets im Garten des Omar-Khayyam-Hotels. Als erstes traf ich den Herausgeber einer großen Tageszeitung, der mir gleich Muhammad Sid Ahmad zuteilte, einen blassen, eher schüchternen Mann mit Brille, der Termine für mich arrangieren sollte; Muhammad hatte gerade erst als Volontär bei der Zeitung angefangen. Besonders gern wollte Godfrey Kamal el-Din Rifaat als Autor gewinnen, einen ehemaligen General und damals in der Arabischen Sozialistischen Union für die Abteilung Information verantwortlich. Muhammad schlug vor, mich ägyptischen Intellektuellen und Journalisten vorzustellen und lud mich zum Abendessen ein.

Vorsichtig fuhr er durch den Kairoer Verkehr nach Gizeh, auf eine schmale unbefestigte Wüstenstraße und zu einem Restaurant mit einer großartigen Aussicht auf die Pyramiden. »Heute gehe ich zum ersten Mal seit meiner Ausgangssperre aus«, sagte er und erzählte, dass er ein paar Monate zuvor aus dem Gefängnis entlassen worden sei. Er war als Jugendlicher Kommunist gewesen, bekehrt durch Mitschüler und Lehrer an seinem Gymnasium, und hatte sich einer kommunistischen Geheimzelle angeschlossen, doch sein Vater hatte ihn ins Ausland geschickt, in der Erwartung, dass Muhammad die Vergnügungen von Paris den Verschwörungen von Kairo vorzöge.

Doch stattdessen, so erzählte mir Muhammad beim Abendessen, im Hintergrund hallte und flackerte die Lichtershow, sei er in sein Heimatland zurückgekehrt und habe eine Weile im Untergrund gelebt, in einer Zelle unter der Führung einer Französin namens Odette Hazan, bis die Mitglieder seines Zweigs der geteilten Partei verhaftet worden seien. »Nach der Zeit im Untergrund unter Odettes Befehl war das Gefängnis eine Erleichterung.« Seine erste Haftzeit war vorbei, kurz nachdem das Komitee der Freien Offiziere 1952 den König gestürzt und 1954 Nasser an die Macht gebracht hatte. 1959 sei er in der Wüste zusammen mit einer Reihe von Kommunisten und anderen Dissidenten erneut verhaftet worden und 1964 entlassen. »Das Gefängnis war eine Universität. Dort gab es Intellektuelle, die zu allen möglichen Themen lehrten. Das war gut für uns.« Während dieser Zeit hätten Muhammad und seine Kameraden die Sicht der Partei auf die Revolution überdacht und allmählich Ägyptens neue Ordnung akzeptiert – bis deren allmählicher Verfall, wie er mir 2002 schrieb, darin kulminiert habe, dass Nassers Nachfolger Anwar Sadat 1978 Jerusalem besuchte.

Muhammad gehörte zur ottomanischen Oberschicht, die einst Ägypten beherrschte. Sein Vater, ein Pascha unter dem König, Gouverneur von Port Said und Suez sowie Parlamentsabgeordneter, habe die politische Berufung seines Sohnes nicht verstanden. Später schrieb Muhammad, sein Vater habe aus Angst um das Leben seines Sohns dafür gesorgt, dass dessen erster Gefängnisaufenthalt verlängert worden sei. Muhammads Vater starb 1955, verbittert durch den Verlust ausgedehnter Ländereien durch die Reformen der Regierung Nasser.

Muhammads Mutter, Schwester des ehemaligen Premierministers Sidki Pasha, war eine Grande Dame. Ich traf sie zum Tee in der Wohnung der Familie in der Ibn-Zanki-Straße in Zamalek. Das Wohnzimmer war voller eleganter französischer Möbel, über die André Philip, ehemaliger Minister und stellvertretender Parteivorsitzender der französischen Sozialisten, zu Muhammad gesagt hatte, sie gehörten in ein Museum. Muhammads Bücherregale voller kommunistischer Klassiker in ihren üblichen schlichten Einbänden zeigten, dass das Gefängnis seiner jugendlichen Leidenschaft nichts anhaben konnte.

Muhammad sagte, dass wir für das Treffen mit Rifaat nach Alexandria fahren sollten, wo der ehemalige General mit seiner Familie Urlaub mache. Etwa auf der Hälfte der Strecke übernahm ich das Steuer und ließ Muhammad erst wieder fahren, als wir die Küstenstadt erreichten. Ein paar Tage zuvor war seine Mutter für den Sommer dorthin in die Ferienwohnung der Familie umgesiedelt. Sie hatte für ein fantastisches Mittagessen gesorgt, kalten frischen Lachs mit Mayonnaise. Ich wohnte im Hotel Palästina, einer schönen Villa in einem palmbeschatteten Garten am Strand.

Rifaat empfing uns in seinem Strandhaus und willigte ein, einen zweiteiligen Artikel über die »Entwicklung sozialistischer Beziehungen« zu schreiben, durch die Ägypten in der wirtschaftlichen Entwicklung die »Startphase« erreichen solle. Letztlich lieferte er einen Artikel ab – über die Idee der ägyptischen Bemühungen –, jedoch nicht den zweiten, der die Praxis behandeln sollte.

Muhammad und ich fuhren übers Land, besuchten ein viel größeres und aufwendigeres Zentrum als jenes, das ich bei meiner ersten Kairoreise 1961 gesehen hatte. Wie auch bei späteren Besuchen in Kairo nahm mich Muhammad mit ins »Night and Day«, ein bei Intellektuellen beliebtes 24-Stunden-Café im Semiramis-Hotel. Dort traf ich Lakhdar Brahimi, damals algerischer Botschafter in Ägypten. Er versprach, einen Artikel über den algerischen Unabhängigkeitskampf zu schreiben.

Brahimi hatte zuvor die algerische Nationale Befreiungsfront in Tunis und andernorts repräsentiert. Neben seinem Botschafterposten war er Untergeneralsekretär der Arabischen Liga für kulturelle Angelegenheiten. Später wurde er Botschafter in London und arbeitete für die UNO-Friedenssicherung. Schließlich wurde er algerischer Außenminister und beendete seine Karriere mit dem Versuch, zwischen den syrischen Kriegsparteien Friedensgespräche zu etablieren. Im Laufe der Jahre wurden wir enge Freunde.

Ich lernte das Feshawi kennen, das berühmteste Tee- und Kaffeehaus in Chan el-Chalili, dem Suk in der Kairoer Altstadt. Das Feshawi, 1773 eröffnet, war ein Lieblingsort von Journalisten, Schriftstellern und Akademikern, die in ihren Wasserpfeifen Haschisch rauchten und bei Tee über Politik diskutierten.

Godfreys Freund Khaled Muhieddine holte mich in seinem schwarzen Fiat im Omar-Khayyam-Hotel ab; auf der Seite des Autos prangten zwei Sterne, ein Zeichen, dass er dem revolutionären Komitee der Freien Offiziere angehörte. Um sicherzugehen, dass wir nicht abgehört wurden, unterhielten wir uns bei einem Spaziergang auf dem Gelände des Gezira Clubs. Als ich später vor dem Hotel aus dem Auto stieg, salutierte der Portier.

Beirut, Libanon, 1965/66

Wenngleich Godfreys Rolle als Chefredakteur eigentlich eine ehrenamtliche sein sollte, kam er regelmäßig ins Büro des Middle East Forum, zwei Zimmerchen, nachträglich auf das Dach der Alumni-Vereinigung der American University of Beirut (AUB) gebaut, gleich neben dem Universitätsspital. Die Räume, im Sommer glühend heiß und im Winter eiskalt, teilten wir uns mit einer fröhlichen, kräftigen jungen Sekretärin namens Alice, die in ihrem Job ein ziemlich hoffnungsloser Fall war. Godfrey nannte mich in variierend gebieterischem Tonfall weiterhin »Miss F.«, am Telefon wie auch persönlich. Ich fand das etwas einschüchternd, bis ich merkte, dass er einfach so war; Er wollte gar nicht brüsk oder herrisch sein.

Als es Sommer wurde, tauchte Godfrey in einem kurzärmligen Safarihemd und goldfarben bestickten Schnabelschuhen aus Rajasthan auf. Alice kicherte. Als er zu einer Party auf meiner großen Terrasse kam, sprang mein Pudel Nana an ihm hoch und hinterließ auf seinem weißen Achkan staubige Pfotenabdrücke. Es schien ihm nichts auszumachen. Nana, anfangs eifersüchtig, mochte ihn irgendwann und blieb über Weihnachten bei ihm, als ich wieder nach Kairo fuhr, abermals auf Autorensuche.

Bis etwa um Ostern herum dachte keiner von uns beiden an die Möglichkeit einer Beziehung; danach konnten wir uns nicht mehr vorstellen, voneinander getrennt zu sein.

Araya, Libanon, Frühjahr 1966

Im Haus von Prue und Ian Seymour kam ihre Tochter Liza, zwei Jahre alt, hellblond, die Treppe heruntergesaust und schlang ihre Arme um Godfreys Knie. Mit ihrem »Goffey, Goffey!« schuf sie den liebevollen Spitznamen »Gof«. Godfrey mochte ihn lieber als seinen Geburtsnamen; in seinen Augen hatten seine Eltern bei allen fünf Kindern ein Faible für unpassende Namen gehabt: Albert, Eunice, Elaine und Daphne, genannt D, hießen seine vier Geschwister. Zwei waren hellhäutig – Eunice und Elaine –, drei der Kinder dunkel, wenngleich sie nur zu einem Viertel indischstämmig waren. Ihr Vater stammte aus einer der jahrhundertealten europäischen Familien des indischen Subkontinents, die als »ansässige Europäer« galten, während ihre Mutter anglo-indischer Herkunft war, der Gemeinschaft entstammte, der in Indien letztlich die gesamte Familie zugerechnet wurde. Elaine wanderte nach Großbritannien aus, wo sie als zurückgekehrte Engländerin durchging.

Tabarja und Antelias, Libanon, 13. April 1975

Ich weiß nicht mehr, warum John und Peggy Carswell ihr Ostermahl in diesem Jahr laut orthodoxem Kalender eine Woche zu früh veranstalteten. Wir kamen in Tabarja unter einem schiefergrauen Himmel zusammen. Das alte libanesische Haus mit seinen hohen Decken war recht karg, außer dem alten, ausgestopften Babyelefanten im Salon. Es gab Lammbraten mit Reis, der blau, rosa und gelb gefärbt war, nach einem mittelalterlichen Rezept, das John in einem uralten Buch im British Museum gefunden hatte. »Ich habe das Schaf aus Aleppo geholt. Beim Gottesdienst habe ich mich in die erste Reihe gesetzt«, witzelte John und sein borstiger Schnurrbart zuckte über seinem feinen Lächeln. Zum Abschluss des Mahls gab es reichlich Gorgonzola, Birnen und Rotwein. Ein feiner Regen setzte ein.

Als es dämmerte, fuhren wir auf der Küstenstraße in Richtung Süden nach Beirut. Hinter Antelias mussten wir immer wieder anhalten. Kontrollpunkte. Soldaten. Raue bewaffnete Männer in Zivil. Godfrey schaltete das Autoradio ein und wir hörten gerade noch das Ende einer Nachrichtenmeldung. »Dreißig Palästinenser und mindestens vier Christen wurden getötet, in Ain-el-Remmaneh sind Unruhen ausgebrochen …« Der Moderator zählte die betroffenen Viertel auf, als handele es sich um den Wetterbericht.

Das Massaker von Ain-el-Remmaneh war der Höhepunkt monatelanger Spannungen und gewaltsamer Zwischenfälle, die mit Streiks einhergingen. Im Dezember 1974 hatte das Fischereiunternehmen des ehemaligen Präsidenten Camille Chamoun versucht, vor der Küste von Sidon ein Monopol zu errichten, was zu Fischerprotesten im Süden von Beirut geführt hatte, die sich bis in den Norden ausbreiteten. Am 26. Februar 1975 organisierte der charismatische Abgeordnete Marouf Saad in Sidon Massenproteste. Als Saad in der ersten Reihe der Demonstration mitmarschierte, wurde er angeschossen – es hieß, von einem Armeescharfschützen – und starb eine knappe Woche später. Seine Beisetzung am 7. März brachte das sunnitisch geprägte Sidon und Saads Verbündete in den nahegelegenen palästinensischen Flüchtlingslagern gegen die maronitisch dominierte Oberschicht auf.

Am Tag, als Maryas Schule geschlossen wurde, schickte Godfrey seinen ersten Bürgerkriegsbericht an den Economist.

Beirut, Libanon, Februar 1976

»Lass uns bei Brahim vorbeischauen, wenn wir in der Stadt sind«, sagte Godfrey, als wir auf der Schnellstraße nach Beirut fuhren. Wir stellten das Auto vor dem Farid-el-Atrache-Nachtclub in Raouché ab und gingen in die Lobby des schäbigen Wohnblocks. Bevor wir die Treppe zu Brahims Wohnung hätten hinaufgehen können, hielt uns der Concierge an. »Ustad* Brahim ist im Universitätsspital.« Seit wann? »Seit drei Tagen.«

Auf dem Fußboden vor seinem Krankenzimmer stand ein großer Blumenstrauß. Im Bett saß ein Mann mit verbranntem, verquollenem Gesicht, die Hände verbunden, den Körper mit einem leichten Tuch bedeckt. Er krächzte eine Begrüßung. »Das wussten wir nicht«, sagte Godfrey. Marya wich entsetzt zurück, ich sagte nichts. Er war nicht wiederzuerkennen.

Jemand, ich weiß nicht mehr, wer, erzählte uns, Brahim sei in die Zeitungsredaktion der irakischen Baath-Partei gegangen, eben in jener Nacht, als die Syrer zuschlugen. Als der Chefredakteur an seinem Schreibtisch umgebracht wurde, war Brahim schon in den Keller gegangen, um sich die arbeitenden Druckerpressen anzusehen. Er liebte den Geruch der Druckertinte, das Zischen und Klappern der Pressen. »Die Syrer haben über eine Rampe Benzinfässer in den Keller gerollt. Jeder, der fliehen wollte, wurde erschossen. Brahim hat sich auf dem Boden zusammengekauert, unter dem Rauch, bis er sich wieder hinaustraute. Die Blumen sind vom syrischen Informationsminister.«

Wir fuhren mindestens jeden zweiten Tag nach Beirut. Brahim erholte sich allmählich, sein entzündetes Gesicht nahm wieder seine normale Größe und Form an; den verbrannten Körper wuschen wir ihm mit kaltem Wasser. Christianne, seine Frau, kam aus Kairo, ebenso Jacqueline, seine zweite Ehefrau. Seine Lebensgeister kehrten zurück, aber das Krankenhausessen konnte er nicht ausstehen. Ich kochte Rahmspinat und machte Götterspeise aus frischgepresstem Orangensaft, weiche Speisen, die nach etwas schmeckten. Brahim wurde stärker und machte wieder Witze. Er redete mit Godfrey über den Krieg. Gerade, als er zu genesen schien, fanden wir ihn eines Tages auf der Intensivstation, an Maschinen angeschlossen; er atmete röchelnd. Godfrey setzte sich zu ihm und hielt seine Hand, bis er starb. Der Arzt sagte, wenn er kein Raucher gewesen wäre, hätte er vielleicht überlebt.

Brahim war einer von Godfreys ältesten und engsten Freunden. Sie hatten sich in Kairo kennengelernt, während Godfreys erster Entsendung als Presseattaché in der ersten ägyptischen Vertretung des unabhängigen Indiens. Wie Muhammad Sid Ahmad – und so viele andere junge Ägypter damals – war auch Brahim Kommunist gewesen. Er war ein erstaunlicher Mann, hatte in der Koranschule Arabisch lesen und schreiben gelernt, sich aus den Hintergassen Alexandrias emporgekämpft und im Hafen gearbeitet. Dort hatte er sich selbst nach und nach mit einem Wörterbuch Englisch beigebracht. Als er in einer Razzia gegen Linke der vorrevolutionären ägyptischen Polizei festgenommen werden sollte, setzte Godfrey, damals indischer Presseattaché in Kairo, ihn in ein Flugzeug nach Indien, mit der Aussicht auf einen Job beim arabischsprachigen Programm von All India Radio. Als den Ägyptern klar wurde, dass Brahim an Bord war, befahl der Fluglotse dem Kapitän, zurückzukehren. Der weigerte sich, da er den ägyptischen Luftraum bereits verlassen hatte. In Indien lernte Brahim Christianne kennen, und sie heirateten. Unter Nassers republikanischem Regime saß er sieben Jahre im Gefängnis, arbeitete dann für verschiedene Medien und verließ Ägypten schließlich, um als Korrespondent für eine jugoslawische Zeitung zu arbeiten.

Godfrey floh trauernd aus Beirut nach Jerusalem. Ich schnitt Zweige vom Mandelbaum in unserem Garten in Schemlan und legte sie, auf einer Moscheetreppe in Südbeirut, auf Brahims Sarg. Dann brachte Christianne ihn zur Beisetzung nach Hause nach Kairo, in die Stadt, die er einst verlassen hatte.

Beirut, Libanon, März 1976

Wir fuhren nach Beirut, damit Marya für ein paar Tage ins Collège Louise Wegmann gehen konnte; den Campus in Bchamoun bei Schemlan hatte das Collège geschlossen. Wir zogen in eine enge Wohnung beim alten Leuchtturm am Ende der Hamrastraße. Die Wohnung gehörte den Eltern unserer Nachbarin Penny und lag nah bei der Schule. Im Smith’s-Supermarkt kauften wir Lebensmittel und Kerzen, bezogen die Betten mit mitgebrachter Wäsche und stellten uns auf Stromausfälle ein, die es in Schemlan nicht gab. Nachts hörten wir, wie Plünderer die Metallgitter der Geschäfte aufrissen, eines nach dem anderen, und die Straße heraufkamen, bis sie unter unserer Wohnung waren. Marya schlief weiter, aber Godfrey und ich lagen wach und machten uns Sorgen, sie könnte aufwachen und Angst bekommen.

Eines Abends saßen wir auf dem Balkon und sahen auf dem Fernsehgerät der Nachbarsfamilie die Nachrichten, als ein Offizier das Fernsehstudio betrat, sich auf einen Stuhl an Nicole Maillards Tisch setzte und seine Pistole auf den Tisch legte. Nicole war sprachlos. Sie war eine enge Freundin, arbeitete damals als Fernsehmoderatorin und sprach die Frühnachrichten im Radio.