Bindungstheorie in der Praxis - Sue Johnson - E-Book

Bindungstheorie in der Praxis E-Book

Sue Johnson

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Beschreibung

Bindung und Emotionsfokussierte Therapie Das grundlegende Bedürfnis in zwischenmenschlichen Beziehungen ist die sichere emotionale Verbindung. Es verwundert daher nicht, dass Bowlbys Bindungstheorie und die Emotionsfokussierte Therapie (EFT) sich schon lange gegenseitig befruchten, um das soziale Gefüge von Klienten zu fördern. In diesem Buch stellt Sue Johnson, die Begründerin der Emotionsfokussierten Therapie, beide Konzepte erstmals explizit als sich ergänzende Ansätze vor. Die integrierte Umsetzung in verschiedenen Settings wird zudem anhand von Beispielen anschaulich erläutert. Indem Sue Johnson die Resultate der Bindungsforschung in die EFT einbezieht, können Praktizierende besser verstehen, was in Menschen und ihren Beziehungen tatsächlich geschieht – und somit ihren Klienten zielgenauer helfen.

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Seitenzahl: 619

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Susan M. JohnsonBindungstheorie in der PraxisEmotionsfokussierte Therapie mit Einzelnen, Paaren und Familien

Über dieses Buch

Emotionsfokussierte Therapie und Bindung 

Psychotherapie ist am effektivsten, wenn sie sich auf die Heilkraft emotionaler Verbindungen konzentriert. Susan M. Johnson stützt sich auf die neuesten Forschungsergebnisse zur Bindung von Erwachsenen und liefert eine innovative „Landkarte“ für die klinische Praxis: Dieses Buch zeigt, wie die Emotionsfokussierte Therapie (EFT) perfekt mit der Bindungstheorie übereinstimmt, da sie bewährte Techniken zur Behandlung von Beziehungsproblemen sowie von Angstzuständen und Depressionen bietet. Als Hauptentwicklerin der EFT für Paare erweitert Johnson ihren Ansatz nun auf Einzelpersonen und Familien. Für jedes Setting (Einzel-, Paar- und Familientherapie) werden jeweils Schlüsselkonzepte sowie ein ausführliches Fallbeispiel vorgestellt. Übungen und Reflexionsfragen finden sich am Ende jedes Kapitels, damit der Praxistransfer einfach gelingt.

Susan M. Johnson ist Professorin für Psychologie an der Ottawa University und Leiterin des Ottawa Couple and Family Institute. Sie hat die Emotionsfokussierte Paartherapie zusammen mit Leslie Greenberg begründet und um wichtige systemtheoretische Aspekte weiterentwickelt. Sue Johnson gilt als international anerkannte Expertin für Paartherapie sowie für Bindung bei Erwachsenen.

Copyright: © Junfermann Verlag, Paderborn 2020

Copyright der Originalausgabe: © 2019 The Guilford Press A Division of Guilford Publications, Inc.

Die Originalausgabe ist 2019 unter dem Titel Attachment Theory in Practice: Emotionally Focused Therapy (EFT) with Individuals, Couples, and Families bei Guilford Press erschienen.

All rights reserved. Authorised translation from the English language edition published by arrangement with The Guilford Press.

Übersetzung: Elisabeth Vorspohl

Fachberatung: Christine Weiß, Hendrik Weiß, Erika Kliever; EFT Community Deutschland e. V. – https://www.eftcd.de

Coverfoto: © Iseo Yang – istockphoto.com

Covergestaltung / Reihenentwurf: Junfermann Druck & Service GmbH & Co. KG, Paderborn

Satz, Layout & Digitalisierung: Junfermann Druck & Service GmbH & Co. KG, Paderborn

Alle Rechte vorbehalten.

Erscheinungsjahr dieser E-Book-Ausgabe: 2020

ISBN der Printausgabe: 978-3-95571-899-2

ISBN dieses E-Books: 978-3-7495-0087-1 (EPUB), 978-3-7495-0089-5 (PDF),  978-3-7495-0088-8 (MOBI).

Meinem Partner, John, dem größten Wunder in meinem Leben, der mich jeden Tag ein sicheres Abenteuer erleben lässt, das mein Herz und meine Seele erfreut und mich stark macht. 

Und meinen Kolleginnen und Kollegen – den Pionieren der Wissenschaft von der Bindung im erwachsenen Leben, Mario Mikulincer und Phil Shaver, sowie den herausragenden Therapeuten und Ausbildern, die Teil meiner EFT-Familie sind. Wir wachsen gemeinsam.

Vorwort

„O Körper, zur Musik gewiegt, o Blick und Glanz, Wo trennt man nur den Tänzer und den Tanz?“

– William Butler Yeats (Übers.: N. Hummelt)

Ich muss schreiben. Ich schreibe, um das chaotische Kaleidoskop unseres Lebens zu bändigen, damit es einen Moment lang stillsteht. Ich schreibe Notizen in meinen Therapiesitzungen. Ich schreibe, wenn ich mir etwas nicht erklären kann oder wenn ich etwas besonders wichtig oder schön finde. Ich muss aufschreiben, was meine Klienten1 mich in den Sitzungen lehren – und sie lehren mich immer etwas. Erstaunlicherweise sind nach wie vor jede Sitzung und jedes Nachdenken auf dem Papier ein Abenteuer, eine Chance, dieses Territorium, das Menschsein heißt, kennenzulernen. Was werde ich dort finden? Immer etwas, was ich noch nicht wirklich verstehe.

Als Psychologin bin ich auch ewige Studentin und habe die Chance, all den großen Namen der Psychologie und Psychotherapie zuzuhören, die ihre Einsichten und ihre Schlussfolgerungen darlegen und Vorschläge für die Weiterentwicklung unseres Feldes im 21. Jahrhundert formulieren. Ich bilde Therapeuten auf der ganzen Welt aus und höre zu, wenn sie ihre Sehnsüchte, ihre Enttäuschungen und ihre Schwierigkeiten schildern. Deshalb ist es nur natürlich, dass ich mir im Laufe des letzten Jahrzehnts eine eigene Vision des großen Abenteuers, das wir Psychotherapie nennen, erworben habe, von unseren Problemen und ihren Lösungen. Und ebenso natürlich ist es, dass ich über diese Vision schreiben muss.

Ich bin, was unsere Profession betrifft, voller Hoffnung. Wir haben so vieles in so kurzer Zeit gelernt – vor allem über enge Beziehungen und über den Einfluss, den sie im Guten wie im Schlechten auf uns und auf den Lauf unseres Lebens ausüben. Gleichzeitig erfüllt mich ein Entsetzen, dessen Gründe ich im 1. Kapitel erläutere.

Dringender als je zuvor braucht die Welt gute Therapeuten. Und gute Therapeuten brauchen ein klares Bild vom Menschen und seinen Schwierigkeiten, eine Landkarte gewissermaßen, die ihnen den Weg zeigt, auf dem sie ihre Klienten zu Ganzheit und Gesundheit geleiten können. Wenn wir uns sicher aufgehoben fühlen, zuversichtlich sind und klar, dann können wir auch unseren Klienten helfen, einen sicheren Ort zu finden, an dem sie zu Hause sind.

Dieses Buch enthält eine Synopse der Bindungstheorie als umfassende entwicklungsorientierte Perspektive auf die Persönlichkeit und die Affektregulation. Es zeigt zudem die Implikationen auf, die diese Theorie für die allgemeine psychotherapeutische Praxis besitzt, sowie die unverkennbaren Verbindungen zwischen der Bindungstheorie und einem erfahrungsorientierten humanistischen Interventionsmodell, nämlich der Emotionsfokussierten Therapie, EFT. Das Buch beschreibt außerdem einen integrativen Ansatz zum Assessment und illustriert, wie sich die Einsichten der Bindungstheorie in effektive Interventionen in der Einzel-, Paar- und Familientherapie übersetzen. Diesen verschiedenen Modalitäten sind jeweils spezielle Kapitel gewidmet, die um klinische Kapitel über die Interventionen in der Praxis ergänzt werden. Im ersten und – in kürzerer Form – im letzten Kapitel fasse ich das Versprechen der Bindungstheorie und -wissenschaft für die Praxis der Psychotherapie zusammen. Der Fokus der in diesem Buch beschriebenen Interventionen richtet sich auf Depression und Angst – auch als „emotionale Störungen“ bezeichnet.

Wer meine Veröffentlichungen kennt, wird von meinen Argumentationsgängen oder Schlussfolgerungen nicht überrascht sein. Der Weg nach vorn besteht darin, sowohl das Beziehungsherz der psychotherapeutischen Praxis und die Weisheit unserer Emotionen anzuerkennen als auch die Bindungswissenschaft als Orientierungshilfe bei der Ausübung unseres Handwerks zu nutzen. Die Bindungswissenschaft handelt von der Biologie, aber auch von all dem, was uns die Vernunft und unsere tiefsten Intuitionen seit jeher lehren. Vor allem aber handelt sie von dem, was uns zu Menschen macht – von unseren Beziehungen. Ein positives Verbundenheitsgefühl ist die beste, vielleicht sogar die einzige realistische Möglichkeit, Menschen zu helfen, einen sicheren Hafen und eine sichere Basis zu finden.

1  Im gesamten Text wird zwischen der männlichen und weiblichen Form gewechselt, um unschöne Formulierungen zu vermeiden und den Lesefluss nicht zu stören.

1. Bindung: ein unentbehrlicher Leitfaden für eine wissenschaftsgestützte Praxis

Die aufregendsten Durchbrüche des 21. Jahrhunderts werden nicht durch die Technologie erfolgen, sondern durch ein erweitertes Verständnis dessen, was Menschsein bedeutet.

– John Naisbitt

Die Nähe zu sozialen Ressourcen reduziert den Preis, den es kostet, sowohl die realen als auch die metaphorischen Berge zu erklimmen, weil das Gehirn soziale Ressourcen als bioenergetischeRessourcen, vergleichbar mit Sauerstoff oder Glukose, betrachtet.

– James A. Coan und David A. Sbarra (2015, S. 87)

Es gibt heute mehr als 1000 verschiedene Namen für psychotherapeutische Verfahren und 400 speziell beschriebene Interventionsmethoden (Garfield 2006; Corsini & Wedding 2008). Es gibt auch zahlreiche „Therapiestämme“ mit jeweils eigener Realitätssicht. Zwischen den Verfahren und Methoden bestehen erhebliche Unterschiede, was ihre Spezifizierung, die Tiefe ihrer zugrunde liegenden Theorie und den Grad an empirischer Validierung angeht. Darüber hinaus gibt es buchstäblich Hunderte spezifischer Interventionen für jedes Problem, über das Klienten klagen mögen. Diese Interventionen werden häufig als rasche Behandlungen für komplexe Störungen angepriesen. Ihr Fokus richtet sich auf die Symptomlinderung, nicht jedoch auf die ganze Person und den Kontext, in dem die Symptome entstanden sind. All diese Methoden und Techniken, die sich, so ist zu hoffen, zumindest auf ein Minimum an Stringenz stützen, sind für das Chaos in unserem Feld perfekte Voraussetzungen.

1.1 Vier Auswege aus dem Chaos

Angesichts der steigenden Zahl von „Störungen“ (die sich mit jeder Neuauflage der Klassifikationssysteme, etwa des DSM, vermehren), Modellen und Interventionen ist die Notwendigkeit, klare, generelle und ökonomische Wege der Ausbildung und Intervention zu finden, offensichtlich. Vier Wege erscheinen mir vielversprechend. Der erste ist der Pfad der gründlichen Empirie. Gewissenhafte Therapeuten sind gehalten, den Pfad der Wissenschaft einzuschlagen, sich über die empirische Forschung zu informieren und dann die beste Perspektive, das beste Modell und die beste Intervention für das Problem, das der Klientin zu einem bestimmten Zeitpunkt zu schaffen macht, auszuwählen. In der Realität ist dies selbst für den hingebungsvollsten Therapeuten eine furchteinflößende, unmöglich zu lösende Aufgabe, zumal die manualisierten Behandlungsprotokolle an Anzahl, Komplexität und Schwierigkeitsgrad zunehmen. Wenn Psychotherapeuten sich der Empirie vorbehaltlos ergeben, folgen sie vorgegebenen kognitiven Anleitungen und werden in erster Linie zu Technikern.

Der zweite Pfad hängt mit der Fokussierung auf den Veränderungsprozess in der Therapie zusammen. Der konkreteste Versuch, ökonomisch vorzugehen, ist meiner Ansicht nach der Vorschlag, sich lediglich auf die modellübergreifenden gemeinsamen Faktoren des therapeutischen Veränderungsprozesses zu konzentrieren, ganz gleich, was oder wen sie zu verändern versuchen. Begründet wird diese Sichtweise damit, dass alle Behandlungen sich in groß angelegten Ergebnisstudien als gleichermaßen effektiv erwiesen hätten und die spezifischen Modelle und Interventionen infolgedessen austauschbar seien. Diese Verallgemeinerung trifft in Wirklichkeit nicht zu. Sie kam zustande, indem man viele verschiedene Studien unterschiedlicher Qualität zu einer Suppe namens Metaanalyse zusammenrührte und Mittelwerte errechnete, die häufig bedeutungslos sind. Die gesamte Idee der austauschbaren Effekte verschiedener Therapieverfahren ist offensichtlich ein Artefakt der Evaluationsmethodik (Budd & Hughes 2009); unterschiedliche manualisierte Therapien haben oft eine große Anzahl aktiver Bestandteile gemeinsam. Zudem gibt es einige Bereiche, in denen spezifische Behandlungen sich für spezifische Störungen als besser geeignet und effektiver erwiesen haben (Chambless & Ollendick 2001; Johnson & Greenberg 1985), auch wenn nicht klar ist, ob solche Unterschiede bei Follow-up-Untersuchungen Bestand haben (Marcus, O’Connell, Norris & Sawaqdeh 2014).

Die Variablen, die von Studien über allgemeine Veränderungsfaktoren vielleicht am häufigsten untersucht wurden, sind die Qualität des Bündnisses mit dem Therapeuten und das Engagement des Klienten im Therapieprozess. Man hofft, dass sich die Aufgabe der Therapie – die Herbeiführung von Veränderung – ohne Weiteres lösen lässt, wenn wir nur diese allgemeinen Faktoren zufriedenstellend handhaben. Ein positives Bündnis und die sorgsame Beachtung der Qualität des Engagements unserer Klienten sind wahrscheinlich für jede Art der Veränderung unentbehrlich; sie sind zweifellos entscheidende Variablen, die dem Veränderungsprozess zugutekommen. Doch wenn wir die Intervention in den Blick nehmen, können wir es dabei nicht bewenden lassen. Man hat den Anteil an Ergebnisvarianz, der auf das therapeutische Bündnis zurückzuführen ist, auf rund 10 Prozent geschätzt (Horvath & Symonds 1991; Horvath & Bedi 2002). Darüber hinaus zeigt sich im Behandlungszimmer, dass vermeintlich gemeinsame Faktoren keineswegs von allen geteilt werden. Wird das Bündnis von einem erfahrungsorientierten humanistischen Therapeuten auf gleiche Weise operationalisiert wie von einem Verhaltenstherapeuten? Das Konzept des Klientenengagements scheint mehr zu versprechen. In der Depressionsstudie des National Institute of Mental Health (NIMH) fanden Castonguay und Kollegen, dass ein höherer Grad an emotionalem Engagement / Erleben der Klienten positive Behandlungsergebnisse vorhersagte, und zwar ungeachtet des jeweiligen Therapiemodells (Castonguay et al., 1996), während eine (zum Beispiel von der klassischen Kognitiven Verhaltenstherapie [KVT] praktizierte) Fokussierung auf verzerrte Gedanken und ihren Zusammenhang mit negativen Emotionen tatsächlich ein höheres Maß an depressiven Symptomen nach der Therapie voraussagte. Freilich wird der Grad des Engagements, der für Veränderung ausreicht, je nach den Zielen des jeweiligen Behandlungsmodells variieren.

Ein dritter Weg zur Klarheit und Effizienz in unserem Feld besteht vermeintlich darin, auf die Gemeinsamkeiten der Probleme abzuheben, mit denen unsere Klienten zu uns kommen. Man verspricht sich davon, Interventionsbereiche, die sich auf die sogenannte latente Struktur etwa der emotionalen Störungen (der Panikstörung, der Generalisierten Angststörung und der Depression) konzentrieren, integrieren und all diese Probleme als ein allgemeineres negatives Affektsyndrom betrachten zu können. Unter diesen Umständen hätten Therapeuten lediglich eine kleine Anzahl empirisch beschriebener Schlüsselsymptome einer solch allgemeinen Beeinträchtigung zu bearbeiten. So kann man zum Beispiel das Syndrom des negativen Affekts als eine hyperaktive Gefahrensensibilität definieren, als habituelles Vermeiden beängstigender Situationen und als automatisches negatives Reagieren oder Agieren (Barlow, Allen & Choate 2004). Veränderung bedeutet, Klienten dabei zu helfen, solche Bedrohungen neu zu beurteilen und ihr Katastrophendenken unter Kontrolle zu bringen. Dies ermöglicht es ihnen, ihr habituelles Vermeiden gefürchteter Situationen (das ihre Angst paradoxerweise aufrechterhält und sie daran hindert, Neues zu lernen) zu modifizieren. Dann sollte es auch möglich sein, sie dahin zu bewegen, auf die Konfrontation mit einem negativen Trigger anders als gewohnt zu reagieren. Wie die besten Wege zum „Dahinbewegen“ und „Neubeurteilen“ aussehen, ist freilich weiterhin unklar.

Ein vierter Pfad besteht darin, auf zugrunde liegende Prozesse zu fokussieren, und zwar nicht nur bezüglich der Entwicklung einer Störung, sondern auch der Art, wie Menschen funktionieren, wenn es ihnen gut geht bzw. wenn sie leiden. Im Grunde geht es um die Frage, wie Menschen ihr Selbstgefühl fortlaufend konstruieren, wie sie Entscheidungen treffen und wie sie ihren Umgang mit anderen gestalten. Unter diesem Blickwinkel betrachtet verstehen wir, warum sich die Psychotherapie nicht nur in Form spezialisierter evidenzbasierter Interventionen entwickelt hat, die allgemeine, gemeinsame Elemente der Therapie erfassen und Beschreibungen der Probleme unserer Klienten katalogisieren – was durchaus nützlich ist –, sondern weshalb sie sich auf allgemeine Modelle des menschlichen Funktionierens stützt, das heißt auf Versuche, zu identifizieren und zu beschreiben, welche Art von Geschöpf der Mensch ist. Solche Modelle geben Therapeuten allgemeine Definitionen der Gesundheit, des positiven Funktionierens, der Dysfunktionen und Beeinträchtigungen an die Hand, die weit über die in formalen Klassifikationssystemen (zum Beispiel im DSM oder in der ICD) beschriebenen Störungen hinausgehen. Die gebräuchlichsten und robustesten dieser Modelle verlangen, dass die Therapie den ganzen Menschen in seinem Lebenskontext in den Blick nimmt. Sie fordern, die therapeutische Agenda zu erweitern, das Werden der Persönlichkeit und ihre optimale Entwicklung miteinzubeziehen, statt sich lediglich auf die Linderung spezifischer Symptome zu konzentrieren. Ein breites konzeptuelles Modell ermöglicht es uns, Beschreibungen von Störungen und zentralen, verändernd wirkenden Elementen in einen integrierten Erklärungsrahmen einzufügen, mit dessen Hilfe wir beurteilen können, wo die Stärken und Schwächen unserer Klienten liegen und wie wir mit ihnen arbeiten können. Unter diesen Umständen können wir auch beurteilen, welche Veränderungen wirklich wichtig sind und wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass sie von Dauer sein werden. Alle Therapiemodelle beruhen auf irgendeinem impliziten Modell des menschlichen Funktionierens, das aber häufig vage bleibt und nicht hinterfragt wird. Zum Beispiel stützt sich die Kognitive Verhaltenstherapie für Paare auf ein rationales ökonomisches Beziehungsmodell, dem zufolge kompetentes Verhandeln Zufriedenheit in der Beziehung voraussagt. Die Emotionsfokussierte Therapie für Paare beruht hingegen auf einem Beziehungsmodell, dass der Emotion und den Bindungsprozessen Priorität einräumt und die emotionale Responsivität als entscheidenden Faktor der Zufriedenheit und Stabilität betrachtet.

Keine Perspektive und kein Modell sind imstande, für sich genommen den Reichtum und die Komplexität eines menschlichen Lebens zu erfassen. Wie schon Einstein sagte: „Alas, our theory is too poor for experience!“ [„Ach, unsere Theorie kann doch mit dem Erleben nicht mithalten!“] Trotzdem benötigen wir als Therapeuten, um möglichst effizient und effektiv arbeiten zu können, eine schlüssige, wissenschaftlich fundierte Theorie über die wesentlichen Aspekte des menschlichen Funktionierens – eine Theorie, die emotionale, kognitive, behaviorale und interpersonale Dysfunktionen zu erklären vermag. Diese Theorie muss ungeachtet der Behandlungsmodalitäten – Einzel-, Paar- und Familientherapie – anwendbar sein und die drei Grundmerkmale wissenschaftlichen Arbeitens aufweisen: Systematische, auf Beobachtung beruhende Beschreibung und Darlegung von Mustern; Vorhersagen, die Faktoren miteinander verknüpfen; und schließlich einen allgemeinen, durch eine große Anzahl von Forschungsarbeiten erhärteten Erklärungsrahmen. Dieser muss, was die Darstellung des optimalen Funktionierens, der Resilienz, der Entwicklung und des Wachstums eines Menschen, seiner Dysfunktion und der sie aufrechterhaltenden Faktoren sowie der notwendigen und hinreichenden Bedingungen für bedeutungshaltige, langfristige Veränderung angeht, überzeugend und falsifizierbar sein.

Die Psychotherapie bedarf insbesondere einer Theorie (oder eines Wegweisers oder einer Landkarte), die uns aufzeigt, wie wir Menschen dabei helfen können, Veränderungen auf der Ebene zentraler organisierender Variablen herbeizuführen. Dies betrifft beispielsweise ihre habituelle Emotionsregulation, die Strukturierung und Verarbeitung zentraler, das Selbst und andere betreffender Kognitionen sowie die Gestaltung maßgeblicher Verhaltensweisen und zwischenmenschlicher Beziehungen. Diese Theorie muss über das Intrapsychische hinausreichen; sie muss Selbst und System, intrapsychische individuelle Realitäten und Interaktionsmuster auf ökonomische und systematische Weise miteinander verbinden. Sie muss mit der neuen, führenden neurowissenschaftlichen Forschung im Einklang stehen und der Tatsache, dass wir mehr als alles andere soziale Wesen und als solche auf unsere Verbundenheit mit anderen fixiert sind, Genüge tun.

1.2 Bindungstheorie: wer wir sind und wie wir leben

Ich vertrete die These, dass es lediglich einen einzigen Kandidaten gibt, der die oben aufgeführten Kriterien zu erfüllen vermag, nämlich jene Entwicklungstheorie der Persönlichkeit, die von John Bowlby (1969, 1988) konzipiert wurde und uns unter der Bezeichnung Bindungstheorie bekannt ist. Ursprünglich als Theorie der frühen Kinderentwicklung beschrieben, wurde sie vor allem in den letzten Jahren auf Erwachsene und deren Beziehungen erweitert. So schreiben Rholes und Simpson (2015): „Nur wenige Theorien und Forschungsgebiete waren im vergangenen Jahrzehnt erfolgreicher als das Feld der Bindungstheorie. […] Die Flut an Studien, die die Kernsätze der Bindungstheorie bestätigen, zählen zu den wichtigsten Beiträgen der modernen psychologischen Wissenschaften“ (S. 1). Darüber hinaus ist die Bindungswissenschaft vereinbar mit der modernen Forschung auf den Gebieten der Neurowissenschaften, der Sozialpsychologie, der Gesundheitspsychologie und der klinischen Psychologie, deren zentrale Botschaft lautet, dass wir in allererster Linie eine soziale, in Beziehungen lebende, auf Bindung angewiesene Spezies sind. Lebenslang prägt das Bedürfnis, sich anderen verbunden zu fühlen, unsere neurale Architektur, unsere Reaktionen auf Stress, unser Gefühlsleben im Alltag sowie die interpersonalen Dramen und Dilemmata, die das Leben ausmachen.

Vor einigen Jahren wurde die Bindungstheorie von Magnavita und Anchin (2014) explizit als Grundlage eines vereinheitlichten Psychotherapieverständnisses postuliert. Die Autoren vertreten die Ansicht, dass diese Theorie den seit Langem gesuchten „heiligen Gral“ repräsentiere, der eine schlüssige Konzipierung mannigfaltiger psychischer Störungen ermögliche und charakterliche Veränderung sowie dauerhafte Symptomlinderung erkläre. Andere Forscher machten geltend, dass die Bindungstheorie als solide Basis für eine ganze Reihe von Therapiemodalitäten dienen könne, zum Beispiel für die Psychotherapie individueller Klienten (Costello 2013; Fosha 2000; Wallin 2007), für die Paartherapie (Johnson & Whiffen 2003; Johnson 2002, 2004) und für die Familientherapie (Johnson 2004; Furrow, Palmer, Johnson, Faller & Palmer-Olson, im Druck; Hughes 2007). All diese Autoren betonen den von Grund auf integrativen Charakter der Bindungswissenschaft und -theorie und weisen darauf hin, dass diese Perspektive uns ermöglicht, Kompartmentalisierung und Fragmentierung zu überwinden, um zu einer Einheit des Wissens – zur Konsilienz, um mit E. O. Wilson (1998) zu sprechen – zu gelangen. Der Begriff „Konsilienz“ ist griechischen Ursprungs und leitet sich von der Überzeugung her, dass der Kosmos geordnet sei und dass diese Ordnung entdeckt und in einer Reihe interagierender Regeln und Prozesse systematisch dargelegt werden könne. Diese Regeln ergeben sich aus der Konvergenz der empirischen Beobachtungen unterschiedlichster Phänomene und können uns als realistische Blaupausen unserer Welt und unserer selbst dienen.

1.3 Grundsätze der Bindungstheorie

Wie lauten die basalen Lehrsätze der modernen Bindungstheorie, die sich von dem ersten Modell, das John Bowlby (1969, 1973, 1980, 1988) auf so brillante Weise formulierte, und von dessen Weiterentwicklungen durch die Sozialpsychologen Cassidy, Mikulincer und Shaver herleiten (vgl. Cassidy & Shaver 2008; Mikulincer & Shaver 2016)? Ich werde zehn Grundsätze formulieren. Zunächst aber sind drei generelle Punkte zu beachten. Die Bindungstheorie ist eine von Grund auf interpersonale Theorie, die das Individuum im Kontext seiner engsten, intimsten Beziehungen zu anderen Menschen sieht; sie nimmt an, dass der Mensch nicht nur von Natur aus sozial ist, sondern betrachtet ihn als Homo vinculum – als denjenigen, der sich bindet. Die Bindung an andere gilt demnach als alles entscheidende, bedeutendste menschliche Überlebensstrategie. Zweitens handelt diese Theorie von Emotionen und ihrer Regulation und gibt der Angst einen besonders hohen Stellenwert. Unter Angst werden hier nicht nur unsere alltäglichen Ängste verstanden; vielmehr geht es auch um existenzielle Erfahrungen wie Hilflosigkeit und Vulnerabilität. Das heißt, in der Angst spiegeln sich überlebenswichtige Erfahrungen wie Tod, Isolation, Einsamkeit und Verlust wider. Von zentraler Bedeutung für unser psychisches Wohlergehen ist die Frage, ob wir mit diesen Faktoren auf eine Weise umgehen können, die unserer Lebendigkeit und Resilienz zuträglich ist. Drittens ist die Bindungstheorie eine Entwicklungstheorie, das heißt, sie handelt von der Entwicklung und flexiblen Anpassungsfähigkeit sowie von den Faktoren, die sich dieser Anpassungsfähigkeit entgegenstellen oder sie verbessern. Die Bindungstheorie beschreibt die enge Verbundenheit mit anderen, denen wir vertrauen, als die ökologische Nische, in der das menschliche Gehirn, das Nervensystem und die maßgeblichen Verhaltensmuster sich entwickelt haben, und als den Kontext, in dem sich unser Selbst optimal entfalten kann.

Die zehn Grundsätze der Bindungstheorie und -wissenschaft lauten, einfach formuliert, wie folgt:

Von der Wiege bis zur Bahre sind Menschen biologisch programmiert, nicht nur sozialen Kontakt zu suchen, sondern auch die körperliche und soziale Nähe zu besonderen anderen, die als unersetzbar empfunden werden. Die Sehnsucht nach einer „gefühlten Wahrnehmung“

(felt sense

)

zwischenmenschlicher Verbundenheit steht in der Hierarchie unserer Ziele und Bedürfnisse an oberster Stelle. Dieses angeborene Bedürfnis, sich einem vertrauten Mitmenschen nahe zu fühlen, ist vor allem bei Gefahr, Schmerz oder Ungewissheit spürbar. Gefahren, die das Bindungssystem triggern, können äußere oder innere Quellen haben, das heißt zum Beispiel aus der subjektiven Wahrnehmung resultieren, von einem Menschen, den man liebt, abgelehnt zu werden; sie können auch mit negativen Bildern zusammenhängen oder mit realen Erfahrungen, die an die eigene Sterblichkeit erinnern (Mikulincer et al. 2000; Mukulincer & Florian 2000). In Beziehungen wird die Bindung gestärkt, wenn Partner ihre Vulnerabilität / Verletzlichkeit miteinander teilen, denn so rücken die Bindungsbedürfnisse nach Verbundenheit und Trost in den Vordergrund und ermutigen dazu, auf andere zuzugehen.

Die zuverlässige körperliche und / oder emotionale Nähe zu einer Bindungsperson, häufig einem Elternteil, einem Bruder, einer Schwester, einem langjährigen Freund, Gefährten oder einer spirituellen Gestalt besänftigt das Nervensystem und prägt das körperliche und mentale Gefühl eines

sicheren Hafens

,

in dem Trost und Stärkung zu finden sind und das emotionale Gleichgewicht wiederhergestellt oder verbessert werden kann. Die Responsivität anderer bewirkt vor allem in jungen Jahren, dass das Nervensystem weniger sensibel auf Gefahren reagiert, und erzeugt die Erwartung einer relativ sicheren, handhabbaren Welt.

Diese emotionale Balance fördert die Entwicklung eines geerdeten, positiven, integrierten Selbstgefühls und die Fähigkeit, das innere Erleben zu einem kohärenten Ganzen zu organisieren. Ein solches geerdetes Selbstgefühl kommt auch dem stimmigen Ausdruck von Bedürfnissen gegenüber Bindungspersonen zugute. Entsprechende Äußerungen führen mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erfolgreicheren Appellen um Verbundenheit und fördern in der Folge den Aufbau positiver Modelle eng vertrauter anderer Menschen als verfügbare Hilfsquellen.

Die gefühlte Wahrnehmung der Fähigkeit, sich auf einen geliebten Menschen verlassen zu können, erzeugt eine

sichere Basis

– eine Plattform, von der aus man in die Welt hinausgehen, Risiken wagen, Erkundungen anstellen und das Gefühl von Kompetenz und Autonomie entwickeln kann. Diese

effektive Abhängigkeit

ist eine Quelle der Kraft und Resilienz, während eine Verleugnung von Bindungsbedürfnissen und vermeintliche Selbstgenügsamkeit zur Belastung werden. Die Fähigkeit, auf verlässliche andere zuzugehen, sich auf sie zu stützen und eine „gefühlte Wahrnehmung“ sicherer Verbundenheit zu verinnerlichen, ist die entscheidende Ressource, die es unserer Spezies ermöglicht, in einer unsicheren Welt zu überleben und zu gedeihen.

Die zentralen Faktoren, die über die Qualität und die Sicherheit einer Bindungsbeziehung entscheiden, sind die wahrgenommene

Ansprechbarkeit,

die

Responsivität

und das

emotionale

Engagement von Bindungspersonen. Für diese Faktoren steht das Akronym A.R.E. (In der therapeutischen Arbeit benutze ich A.R.E. als Kürzel für die maßgebliche Bindungsfrage, die bei Paarkonflikten auftaucht: „Are you there for me?“ – „Bist du für mich da?“)

Trennungsschmerz entsteht, wenn eine Bindung gefährdet ist oder eine sichere Verbindung verloren geht. Es gibt andere Arten der emotionalen Bindung, die auf gemeinsamen Aktivitäten und gegenseitigem Respekt beruhen und deren Zerbrechen ebenfalls Verzweiflung auslöst. Doch dieser Schmerz hat nicht dieselbe Intensität oder Signifikanz wie das Zerbrechen einer Bindungsbeziehung. Die emotionale und körperliche Unerreichbarkeit von Bindungspersonen ist für Menschen inhärent traumatisierend. Sie verstärkt nicht nur das Gefühl, verletzlich und in Gefahr zu sein, sondern auch die Hilflosigkeit (Mikulincer, Shaver & Pereg 2003).

Sichere Verbundenheit resultiert aus wichtigen Interaktionen in Bindungsbeziehungen und aus der Art und Weise, wie Menschen ihre

Interaktionsmuster

zu mentalen Modelle

n oder Protokollen des Reagierens enkodieren.

Das Gefühl einer grundsätzlichen Bindungssicherheit ist kein fester Charakterzug. Es verändert sich mit neuen Erfahrungen, die zur Revision kognitiver Arbeitsmodelle der Bindung und der damit einhergehenden Strategien zur Emotionsregulation führen (Davila, Karney & Bradbury 1999). Infolgedessen ist es möglich, in einer bestimmten Beziehung sicher, in einer anderen jedoch unsicher gebunden zu sein. Arbeitsmodelle betreffen in erster Linie die Vertrauenswürdigkeit anderer Menschen und das eigene Anrecht auf Fürsorge – das heißt die Akzeptierbarkeit des Selbst. Sie fragen: „Kann ich auf dich zählen?“ und „Bin ich deiner Liebe würdig?“ Sie enthalten Erwartungen, automatische, Emotionen aktivierende Wahrnehmungsverzerrungen, episodische Erinnerungen, Überzeugungen und Einstellungen, aber auch implizites prozedurales Wissen darüber, wie man sich in engen Beziehungen verhält (Collins & Read 1994). In ihrer groben, automatischen Form können diese Modelle Wahrnehmungen im Kontext von Interaktionen verzerren und unangemessenen Reaktionen Vorschub leisten. Sie werden nicht als Konstrukte erlebt, sondern als reale Gegebenheiten – „so, wie die Dinge nun einmal sind“.

Sicher gebundene Menschen empfinden die Nähe anderer und ihr Bedürfnis danach als etwas Natürliches. Ihre primäre Bindungsstrategie besteht deshalb darin, ihre Bindungsbedürfnisse anzuerkennen, auf Bindungspersonen zuzugehen und auf stimmige Weise (indem sie verbale und nonverbale Signale zu einem klar verständlichen Ganzen kombinieren) an sie zu appellieren, Kontakt herzustellen oder aufrechtzuerhalten. Wenn dieser andere Mensch antwortet, wird seiner Reaktion vertraut. Sie beruhigt das Nervensystem dessen, der um sie gebeten hat. Weil sie eine solch effektive Strategie darstellt, trägt die Bindungssicherheit lebenslang dazu bei, Stress abzupuffern und positive Bewältigungsmechanismen zu stärken.

Wenn andere in Momenten der Bedürftigkeit als nicht ansprechbar oder unresponsiv oder gar als bedrohlich erlebt werden, kommen sekundäre Modelle und Strategien zum Einsatz. Diese sekundären, unsicheren Modelle können einem hyperwachsamen, hyperaktivierten oder ängstlichen Beziehungsstil und ebensolchen Strategien zur Regulation der Bindungsemotionen entsprechen oder aber vermeidenden, distanzierten und deaktivierten Strategien. Das erste dieser sekundären Modelle, die ängstliche Bindung, ist durch eine erhöhte Sensibilität für negative Botschaften wichtiger anderer und durch „Kampfreaktionen“ charakterisiert. Sie sind ein Protest gegen Distanz und sollen die Bindungsfigur zu größerer Aufmerksamkeit bewegen und zu beruhigender Unterstützung veranlassen. Hingegen sind die deaktivierten vermeidenden Reaktionen, das zweite Modell, „Fluchtreaktionen“, die Frustration und seelischen Schmerz durch die Distanzierung von geliebten anderen, die als feindselig, gefährlich oder gleichgültig erlebt werden, dämpfen sollen. Bindungsbedürfnisse werden bagatellisiert, und zwanghafte Selbstgenügsamkeit ist an der Tagesordnung. Unter diesen Umständen triggert die eigene Vulnerabilität oder die Verletzlichkeit anderer Menschen distanzierende Verhaltensweisen. Alle Menschen setzen in Beziehungen hin und wieder Kampf-oder-Flucht-Strategien ein, die nicht per se dysfunktional sind. Sie können aber generalisiert und zur Gewohnheit werden und eine solche Rigidität annehmen, dass sie den Wahrnehmungs- und Entscheidungshorizont der Betroffenen eingrenzen und sie in ihrer Fähigkeit behindern, sich konstruktiv auf andere einzulassen.

Eine dritte Form des sekundären Modells hängt mit der Traumatisierung durch eine Bindungsperson zusammen. Der Betroffene befindet sich dann in der paradoxen Situation, dass sein Liebesobjekt zur Quelle seiner Angst wird und er zugleich Trost bei ihm sucht. Unter diesen Umständen kommt es oft zu einem ständigen Schwanken zwischen Sehnsucht und Furcht, einem Verlangen nach Verbundenheit und einer darauffolgenden Distanzierung oder gar eines Angriffs. Diese Art der Reaktion wird bei Kindern als desorganisierte Bindung bezeichnet, bei Erwachsenen aber als ängstlich-vermeidende Bindung (Bartholomew & Horowitz 1991). In Beziehungen Erwachsener verursacht sie erhebliches Leid.

Die psychodynamischen Konzepte der inneren Ambivalenz, des Konflikts und der defensiven Blockaden sind für das Verständnis der oben beschriebenen sekundären Modelle (und unsicheren Strategien) von zentraler Bedeutung. Vermeidend gebundene Kleinkinder können ruhig und gefasst wirken, entwickeln aber in Reaktion auf Trennungen von ihrer Mutter einen hohen Grad an Erregung. In ähnlicher Weise geben erwachsene Partner emotionalen Stress oder ein Bedürfnis nach anderen kaum direkt zu erkennen; aber auf einer tieferen oder weniger bewussten Ebene empfinden sie bei drohendem Bindungsverlust nachweislich erhebliches Leid (Shaver & Mukulincer 2002). Menschen mit vermeidendem Bindungsstil haben Schwierigkeiten, anderen zu vertrauen und von der reichsten Ressource zu profitieren, die uns zur Verfügung steht, um mit unserer Anfälligkeit für Stress und Gefahr fertig zu werden: die sichere Verbundenheit mit besonderen anderen (Selchuk et al. 2012).

10. Verglichen mit der Mutter-Kind-Beziehung sind die Bindungen zwischen Erwachsenen in höherem Maß wechselseitig und weniger auf körperliche Nähe angewiesen; Erwachsene können sich ihre kognitiven Repräsentationen einer Bindungsfigur erfolgreich vergegenwärtigen, um eine symbolische Nähe herzustellen. Neben der Bindung identifizierte Bowlby überdies zwei weitere Verhaltenssysteme in intimen Beziehungen (speziell in Beziehungen zwischen Erwachsenen), nämlich Fürsorge und Sexualität. Er beschrieb sie als separate Systeme, die aber mit der Bindung, die er als primär betrachtete, interagieren. Das heißt, Bindungsprozesse bereiten diesen beiden anderen Systemen die Bühne und organisieren ihre Schlüsselmerkmale. Eine sichere Bindung und die aus dieser Sicherheit hervorgehende emotionale Balance sind mit einer besser eingestimmten Aufmerksamkeit für einen anderen Erwachsenen und einer besonders responsiven Fürsorglichkeit assoziiert. Freilich ist diese Sicherheit kein fixer Zustand, sondern variiert auf einem Kontinuum in spezifischen Beziehungen und Situationen.

Sicherheit hängt auch mit höheren Graden des Arousals, der Intimität und Lust und mit höherer sexueller Befriedigung in Beziehungen zusammen (Birnbaum 2007). Sex, eine menschliche Bindungsaktivität, hat eine emotionale Signatur, die je nach Bindungsstil und abhängig von den entsprechenden Strategien variiert, die zur Verarbeitung von Emotionen und im Umgang mit anderen eingesetzt werden. Menschen mit eher vermeidendem Bindungsstil neigen dazu, Sex und Liebe voneinander zu trennen. Sie legen vor allem Wert auf körperliches Empfinden bei sexuellen Kontakten und auf sexuelle Leistungsfähigkeit, während eher ängstlich Gebundene Zärtlichkeit und Sex als einen Liebesbeweis verstehen und nicht als erotische Aspekte der Sexualität (Mikulincer & Shaver 2016; Johnson 2017a).

1.4 Der Einfluss sicherer Verbundenheit auf die psychische Gesundheit

Der sichere Bindungsstil wurde in systematischen wissenschaftlichen Untersuchungen mit beinahe jedem der in den Sozialwissenschaften beschriebenen Indizes psychischer Gesundheit und allgemeinen Wohlbefindens in Verbindung gebracht (Mikulincer & Shaver 2016). Auf einer individuellen Ebene führen diese Indizes Resilienz angesichts von Stress auf sowie Optimismus, stabiles Selbstwertgefühl, Zuversicht und Neugierde, Toleranz für menschliche Verschiedenheit, ein Zugehörigkeitsgefühl, die Fähigkeit, sich jemandem zu offenbaren und anzuvertrauen, die Fähigkeit zur Selbstbehauptung, die Toleranz von Mehrdeutigkeit sowie die Fähigkeiten der Emotionsregulation, der reflexiven Metakognition und des Perspektivenwechsels (Jurist & Meehan 2009). Die wesentlichen Elemente dieses Bildes sind die Fähigkeit, Affekte effektiv so zu regulieren, dass das emotionale Gleichgewicht erhalten bleibt, eine Fähigkeit, Informationen zu einem kohärenten, integrierten Ganzen zu verarbeiten, und eine Fähigkeit, sich ein Gefühl der Zuversicht zu bewahren, das einem entschiedenen Handeln zugutekommt. Selbst angesichts von Traumata wie den Ereignissen des 11. Septembers scheint eine sichere Bindung nicht nur die Auswirkungen einer solchen Erfahrung zu lindern, sondern auch das posttraumatische Wachstum zu fördern (Fraley et al. 2006).

Auf einer interpersonalen Ebene beinhalten diese Indizes die Fähigkeit, sich feinfühlig auf andere einzustimmen, die empathische Responsivität, Mitgefühl, Offenheit für Menschen, die als „anders als man selbst“ wahrgenommen werden, und eine Tendenz zu altruistischem Handeln. Wenn wir unser emotionales Gleichgewicht wahren können, gelingt es uns nachweislich besser, die Signale anderer Menschen und ihre Hilfsbedürftigkeit sensibel wahrzunehmen und auf eine fürsorgliche, für sie akzeptable Weise zu reagieren. Wenn wir sicher gebunden sind, können wir aufmerksamer auf andere fokussieren und sind besser in der Lage, ihnen zu helfen. Ängstlich gebundene Menschen hingegen sind vor allem mit ihrem eigenen Leid beschäftigt oder stimmen ihre Hilfsbereitschaft und Fürsorge nicht auf die tatsächlichen Bedürfnisse anderer ab. Vermeidend gebundene Menschen wiederum setzen sich über ihre eigenen und die Bedürfnisse anderer hinweg und bringen weniger Empathie sowie wechselseitige Unterstützung zum Ausdruck. Sie wenden sich von der eigenen Verletzlichkeit und der anderer Menschen ab.

Wenn wir in unseren Liebesbeziehungen einen sicheren Hafen und eine sichere Basis haben, können wir mit Schwierigkeiten und Konflikten besser umgehen. Menschen mit sicherer Bindung sind ausgeglichen und realitätsangepasst, und sie haben bessere Beziehungen zu geliebten Mitmenschen und Freunden. Diese Beziehungen wiederum fördern ihre psychische Gesundheit und Anpassung sowie ihre sozialen Fähigkeiten.

In diesem Buch gilt es, dem Einfluss der sicheren Bindung auf die Emotionsregulation, die soziale Anpassung und die psychische Gesundheit besondere Aufmerksamkeit zu widmen. Ihnen maß Bowlby vorrangige Bedeutung bei. Was die psychische Gesundheit betrifft, so ist klar, dass unsichere Bindungen die Anfälligkeit für die beiden Probleme erhöht, mit denen unsere Klienten uns am häufigsten aufsuchen, nämlich Depression und Angst. Wie sich dieser Prozess entwickelt, hängt natürlich vom individuellen Klienten ab, doch für Bindungswissenschaftler beginnt er in der Regel mit der Emotionsregulation. Sicher gebundene Menschen können schmerzvolle Gefühle besser tolerieren und damit verbunden bleiben, ohne zu fürchten, die Kontrolle zu verlieren oder überwältigt zu werden. Sie müssen diese Gefühle nicht verändern, blockieren oder verleugnen, sondern können sie adaptiv nutzen, um sich in ihrer Welt zu orientieren, ihre Bedürfnisse zu befriedigen und ihre Ziele zu erreichen. Sie erholen sich auch rascher von negativen Gefühlen wie Traurigkeit und Wut (Sbarra 2006). Ich stelle mir die erfolgreiche Affektregulation gern als einen Prozess vor, in dem man sich mit einer Emotion und durch sie hindurch bewegt, um sie als Richtungsweiser für das eigene Leben zu nutzen, und nicht als reaktives Intensivieren bzw. Unterdrücken des Gefühls.

Andererseits steht außer Frage, dass Bindungsunsicherheit das Risiko der Fehlanpassung signifikant erhöht. Insbesondere die ängstliche und die desorganisierte Bindung sind mit einer Anfälligkeit für Depressionen sowie verschiedenen Formen der Belastungs- und Angststörungen assoziiert, einschließlich der Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS), der Zwangsstörung und der Generalisierten Angststörung (Ein-Dor & Doron 2015). Der Schweregrad depressiver Symptome wurde in mehr als 100 Studien mit einer unsicheren Bindung in Verbindung gebracht. Wenn wir die verschiedenen Formen der Depression betrachten, so hängt die ängstliche Bindung mit eher interpersonalen Formen zusammen, die durch Verlust- und Einsamkeitsgefühle, Verlassenheit und Hilflosigkeit charakterisiert sind, während die vermeidende Bindung mit den leistungsorientierten Depressionsformen assoziiert ist, die sich durch Perfektionismus, Selbstkritik und zwanghafte Selbstgenügsamkeit zu erkennen geben (Mikulincer & Shaver 2016, S. 407–415). Bindungsunsicherheit geht auch mit zahlreichen Persönlichkeitsstörungen einer: Die Borderline-Persönlichkeitsstörung ist insbesondere mit einem extrem ängstlichen Bindungstyp assoziiert, die schizoiden und vermeidenden Persönlichkeitsstörungen eher mit der vermeidenden und desorganisierten Bindung. Unsichere Bindungen wurden auch mit externalisierenden Störungen in Verbindung gebracht, etwa mit Verhaltensstörungen in der Adoleszenz und mit antisozialen Tendenzen sowie Suchterkrankungen im Erwachsenenalter (Krueger & Markon 2011; Landau-North, Johnson & Dalgleish 2011).

Die Literatur, die Bindungsprozesse und PTBS korreliert, ist besonders faszinierend. Der Schweregrad von PTBS-Symptomen bei Patienten nach Herzoperation (Parmigiani et al. 2013), bei israelischen Kriegsveteranen und Kriegsgefangenen (Dekel et al. 2004; Mukulincer et al. 2011) und bei Menschen, die als Kinder sexuell missbraucht und / oder körperlich misshandelt wurden (Ortigo et al. 2013), wurde mit einer hohen Bindungsunsicherheit in Verbindung gebracht. Eine prospektive Studie wies vor etlichen Jahren einen klaren Kausalzusammenhang zwischen Bindungsprozessen und der Entwicklung einer Posttraumatischen Belastungsstörung nach (Mikulincer, Shaver & Horesh 2006). Im Anschluss an den Irak-Krieg der USA 2003 wurde gezeigt, dass der Schweregrad der für die PTBS typischen Intrusions- und Vermeidungssymptome von der vor Ausbruch der Feindseligkeiten gemessenen Bindungssicherheit entscheidend beeinflusst wurde. Ängstlich gebundene Menschen wiesen mehr intrusive Symptome auf, vermeidend gebundene hingegen mehr kriegsbedingte Vermeidungssymptome. Es gibt Anhaltspunkte dafür, dass eine bindungsorientierte Paartherapie Traumaüberlebenden – und zwar auch solchen, die als Kinder von Bindungspersonen missbraucht wurden – helfen kann, befriedigende Beziehungen aufzubauen (Dalton et al. 2013). Dieser therapeutische Zugang hilft nachweislich, die Traumasymptome zu lindern (Naaman 2008; MacIntosh & Johnson 2008). Drachen, denen man gemeinsam gegenübertritt, unterscheiden sich von Grund auf von Drachen, denen man ganz allein gegenübersteht!

Sowohl John Bowlby (1969) als auch Carl Rogers (1961) – eine zentrale Persönlichkeit in der Geschichte der Psychotherapie und der Entwicklung des humanistischen Interventionsmodells – waren von einem inneren Streben ihrer Klienten in Richtung Gesundheit überzeugt. Das Gesundheitsverständnis, das sich aus der Bindungswissenschaft ergibt, stimmt besonders gut mit dem von Rogers sogenannten existenziellen Leben überein, das heißt, mit der Offenheit für den Erfahrungsstrom und mit dem vollen Ausschöpfen eines jeden Moments im Leben. Die wichtigsten Eigenschaften einer voll funktionierenden Persönlichkeit sind laut Rogers das organismische Vertrauen, das unter anderem bedeutet, die Validität des eigenen inneren Erlebens als gerechtfertigt anzuerkennen und es als Orientierungshilfe beim Handeln zu benutzen; die Freiheit der Erfahrung, das heißt die Fähigkeit, aktiv zwischen unterschiedlichen Handlungsweisen zu wählen und Verantwortung für die eigene Entscheidung zu übernehmen; und schließlich die Kreativität, das heißt die Flexibilität und Offenheit für neue Entwicklungen. Rogers zog den Schluss, dass einem „voll funktionierenden Menschen“ die Erfahrung größerer Vielfalt und größeren Reichtums im Leben zuteilwird, weil er „dieses grundlegende Vertrauen in sich selbst als verlässliches Instrument, um dem Leben entgegenzutreten, besitzt“ (S. 195). Dieses Vertrauen ist das Geschenk, das wir der sicheren Verbundenheit mit anderen verdanken. Deren weitreichende positive Auswirkungen sind ebenso überzeugend belegt wie die Gefahren chronischer Unverbundenheit.

Ich bin daher mitnichten überrascht, als ich eine drastische Veränderung bei Adam, meinem Klienten in einer Familientherapie, beobachte. Nur drei Sitzungen zuvor wirkte Adam auf mich wie die Verkörperung eines feindseligen, vermeidenden, delinquenten Jugendlichen. Doch einen Augenblick, nachdem Steve, sein Vater, einen Schritt auf ihn zugetan und über sein Verlustgefühl und seine tiefe Sorge, als Vater gescheitert zu sein, geweint hat, wendet Adam sich mit folgenden Worten an ihn:

„Na ja, ich war ständig wahnsinnig wütend. Ich habe mich nutzlos gefühlt, als mitleiderregenden Loser, und ich habe geglaubt, dass du mich genauso siehst. Deshalb war mir alles egal. Was kümmert’s mich? Aber wenn wir so wie jetzt miteinander sein können, einander vielleicht noch näherkommen, dann kann ich mir vorstellen, dass ich der Sohn bin, den du dir wünschest. Das hilft mir irgendwie, mit meinen Gefühlen umzugehen und nicht völlig überwältigt zu werden. Dann muss ich nicht ständig wütend sein. Es verändert einfach alles. So, als ob ich dir wichtig wäre. Gestern habe ich zu Mama gesagt, dass ich jetzt vielleicht die Kurve kriege. Vielleicht kann ich lernen und die Person sein, die ich sein möchte.“

1.5 Häufige Missverständnisse die Bindung betreffend

Dass es so häufig zu Missverständnissen kommt, wenn Psychotherapeuten, Psychologen usw. über Bindungsbeziehungen im Erwachsenenleben sprechen, ist möglicherweise darauf zurückzuführen, dass die Bindungstheorie im Laufe von Jahrzehnten entwickelt und immer wieder verbessert wurde und die ersten Studien die Mutter-Kind-Bindung betrafen. Die Missverständnisse betreffen vier allgemeine Bereiche.

Abhängigkeit: konstruktiv oder destruktiv?

Als Merkmale des Übergangs zum Erwachsenenalter hat die Entwicklungspsychologie viele Jahre lang die Überwindung des Bedürfnisses nach anderen Menschen und die Fähigkeit beschrieben, das Selbst eigenständig zu definieren und eigenständig zu handeln. In therapeutischen Kreisen hat man Abhängigkeit bedauerlicherweise mit zahlreichen dysfunktionalen Verhaltensweisen assoziiert, die von Bindungstheoretikern als extreme Formen der ängstlichen Bindung charakterisiert und auf einen Entstehungskontext zurückgeführt wurden, in dem fortwährend Ängste vor Bindungsverlust geweckt werden. Bezeichnungen wie Verstrickung, Ko-Abhängigkeit und fehlende Individuation wurden und werden in der klinischen Praxis benutzt, um alle erdenklichen Verhaltensweisen zu beschreiben. In Wirklichkeit postuliert die Bindungstheorie, dass Menschen sich mit anderen anstatt in Abgrenzung von anderen definieren, und dass die Verleugnung des Bedürfnisses nach hilfreicher Verbundenheit keine Stärke ist, sondern vielmehr Wachstum und Anpassung behindert.

Ein maßgeblicher Beitrag zur Bindungstheorie ist das Konzept, dass eine sichere Basis mit anderen ein starkes Selbstgefühl, die Selbstwirksamkeit und die Widerstandsfähigkeit gegen Stress stärkt. Sichere Verbundenheit ermöglicht die Entwicklung einer effektiven, konstruktiven Abhängigkeit; das heißt, andere werden als Ressource wertgeschätzt, die ein positives, klares und kohärentes Selbstgefühl fördert. Zahllose Studien zu Mutter-Kind-Bindungen und Bindungsbeziehungen im Erwachsenenalter bestätigen die Zusammenhänge zwischen der Verbundenheit mit verlässlichen anderen und der Fähigkeit, das Selbst in diesem Sinn zu definieren (zum Beispiel Mikulincer 1995). Sowohl ängstlich als auch vermeidend gebundene Menschen verhalten sich anderen gegenüber häufig kontrollierend. Die Ängstlichen haben unter Umständen Schwierigkeiten, sich auf direkte Weise zu behaupten, und neigen deshalb zu scharfer Kritik oder zu Beschwerden. Die Vermeidenden wiederum vertreten zumeist eine direktere dominante Haltung (siehe Mikulincer & Shaver 2016, S. 273 f., für eine Zusammenfassung der Studien über Bindung im Erwachsenenalter).

Mikulincer und Shaver (2016) schreiben in ihrem wegweisenden Buch über die Bindung Erwachsener:

„Wenn man leidet oder Sorgen hat, ist es hilfreich, Trost bei anderen zu suchen; wird das Leiden gelindert, kann man anderen Aktivitäten nachgehen und andere Prioritäten setzen. Wenn Bindungsbeziehungen zufriedenstellend funktionieren, macht man die Erfahrung, dass sich Distanz und Autonomie hervorragend mit dem Verlass auf andere und der Nähe zu ihnen vereinbaren lassen.“

Entscheidend ist hier, dass zwischen Autonomie und Bezogenheit keine Spannung besteht.

Sichere Verbundenheit fördert die Fähigkeit, dem Unbekannten zuversichtlich gegenüberzutreten. Das Modell der sicheren Basis gleicht einem Drehbuch, das spezifische „Wenn-dies-dann-das“-Erwartungen vorschreibt, die der Exploration Auftrieb geben (Feeney 2007). Ich illustriere dies gern mit einem persönlichen Beispiel. Wie half meine sichere Bindung an meinen Vater mir, als junge, 22-jährige Frau, zu entscheiden, England den Rücken zu kehren und den Atlantik zu überqueren, um mich in Kanada, wo ich niemanden kannte, anzusiedeln, obwohl ich nur eine vage Vorstellung davon hatte, wie ich überleben würde? Erstens hatten die Ansprechbarkeit und Responsivität meines Vaters dafür gesorgt, dass ich andere Menschen als vertrauenswürdig wahrnahm und die Welt als einen im Grunde sicheren Ort erlebte, weil ich überzeugt war, mich bei Bedarf auf andere verlassen zu können. Zudem hatten die Verbundenheit mit ihm und die Wertschätzung und Bestätigung, die er mir all die Jahre entgegengebracht hatte, mein Kompetenzgefühl und meine Zuversicht gestärkt. Er hatte meine Fehler und Schwierigkeiten stets akzeptiert und auf meine Unsicherheiten reagiert, indem er mir Mut und Trost zusprach. Auf diese Weise hatte er mich gelehrt, dass ich Ungewissheit und Scheitern überleben würde – mehr noch, er versicherte mir, dass er das Geld für meine Heimreise auftreiben würde, sollte ich dem Leben in Nordamerika nicht gewachsen sein. Er lehrte mich, dass man Risiken meistern kann.

Auf einer allgemeineren Ebene verleiht diese Fokussierung auf die durch die Bindung vermittelte sichere Basis der Bindungstheorie eine entscheidende Relevanz über die traditionellen, speziell mit der Mutter-Kind-Bindung assoziierten Bereiche hinaus. Manche Therapeuten haben die Bindung bagatellisiert und die Ansicht vertreten, ihre einzige Funktion bestünde darin, in bedrohlichen Situationen Schutz zu bieten und Angst zu lindern. Deshalb zogen sie den Schluss, dass die Bindungstheorie für Erwachsene nicht relevant sei. Das Konzept der sicheren Basis besagt, dass das durch die Beziehung zu unersetzlichen anderen erzeugte fortdauernde Gefühl der Sicherheit lebenslang als Plattform für optimale Entwicklung, Wachstum und Resilienz dient und der Fähigkeit zugrunde liegt, das emotionale Gleichgewicht zu wahren und mit den unvermeidlichen Krisen und Übergängen des Lebens kompetent umzugehen. Darauf vertrauend, bei Bedarf Unterstützung zu finden, können sicher gebundene Menschen abgewogene Risiken eingehen und die Herausforderungen auf dem Weg zur Selbstverwirklichung meistern. Sie besitzen im buchstäblichen Sinn mehr Ressourcen, sodass sie ihre Aufmerksamkeit und Energie nicht in den Dienst von Schutz- und Abwehrmanövern stellen müssen, sondern ihrer persönlichen Weiterentwicklung widmen können.

Modelle: unveränderbar oder flexibel?

Ein zweites häufiges Missverständnis bezüglich der Bindungstheorie liegt dem Vorurteil zugrunde, dass sie deterministisch sei, praktisch ausschließlich darauf fokussiere, wie die Vergangenheit – insbesondere die Erfahrungen in der Herkunftsfamilie – die Persönlichkeit determiniere und somit die Zukunft des Individuums vorhersage. Bowlby wird häufig mit der analytischen und objektbeziehungstheoretischen Sichtweise in Verbindung gebracht, die der Art und Weise, wie die frühen Beziehungen unbewusste, im weiteren Leben agierte Modelle strukturieren, besonderes Gewicht beilegt. Allerdings sprach Bowlby in diesem Zusammenhang von Arbeitsmodellen (working models), die seiner Ansicht nach in spezifischen Kontexten allesamt adaptiv sein können, solange sie fluide bleiben und sich bei Bedarf revidieren lassen. Im Laufe der Jahre hat sich herausgestellt, dass diese Modelle tatsächlich flexibler sind, als zuvor angenommen, und dass sie sich vor allem infolge neuer Erfahrungen verändern. In einer Studie änderten 22 Prozent der Partner ihre Bindungsorientierung in dem Zeitraum von drei Monaten vor der Hochzeit bis zu 18 Monaten nach der Hochzeit (Crowell et al. 2002). Im Großen und Ganzen ist die Wahrscheinlichkeit einer solchen Veränderung bei Menschen mit ängstlicher Bindung am höchsten. Es scheint, als ob vermeidende Personen, die für neue Erfahrungen und Informationen weniger aufgeschlossen sind, an ihrem Bindungsstil eher festhalten, obwohl eine Studie über eine bindungsorientierte Paartherapie vor einigen Jahren ergab, dass vermeidende Partner ihr Bindungsmodell nach jeder Sitzung ein klein wenig änderten. Belegt ist auch, dass die Arbeitsmodelle der Bindung sich in der Einzeltherapie verändern können (Diamond et al. 2003). Kurz, Kindheitserfahrungen üben Einfluss auf die Entwicklung aus, doch deren Verlauf ist veränderbar, sofern die Modelle nicht dermaßen erstarren, dass neue Erfahrungen gemieden oder verworfen werden oder negative Interaktionsmuster mit geliebten anderen die negativsten Elemente dieser Modelle bestätigen.

Wichtig ist auch, wie interpersonale Erfahrungen die Gegenwart prägen. Die Bindungswissenschaft lässt vermuten, dass frühe Erfahrungen das Repertoire an Reaktionen auf andere Menschen, die Strategien der Affektregulation und die Modelle vom Selbst und von anderen organisieren. Diese Modelle können sich weiterentwickeln und verändern oder sie können wie sich selbst erfüllende Prophezeiungen fungieren. So berichtet mir Adam: „Ich habe nie erwartet, geliebt zu werden, verstehen Sie? Ich kam mir wie ein Betrüger vor. Dass meine Süße mich geheiratet hat, war ein Irrtum. Deshalb habe ich mich die ganze Zeit versteckt und sie nicht an mich rangelassen. Und eines Tages war sie dann weg, klar!“ Die Aufrechterhaltung der Unverbundenheit ist auch damit zu erklären, dass es zwar natürlich ist, sich nach liebevoller Verbundenheit zu sehnen (denn diese Sehnsucht ist im Gehirn der Säugetiere angelegt); gleichzeitig aber ist es schwierig zu wissen, was möglich ist, und beharrlich an der Schaffung einer positiven Verbindung zu arbeiten, wenn man dergleichen in seinem Leben nie erfahren hat. Adam sagt dazu: „Ich habe gar nicht gewusst, dass man so, wie wir es hier tun, miteinander sprechen kann. Ich habe nicht gewusst, dass man seine eigene Wut mit einem gewissen Abstand betrachten kann und dass es hilfreich ist, über die eigenen Gefühle zu sprechen. In meiner Familie gab es so etwas nicht. Aber hier kann ich es lernen.“

Sexualität: getrennt von oder antithetisch zu sicherer Bindung?

Einige zeitgenössische Autoren sind der Ansicht, dass die Bindungswissenschaft zu sexuellen Liebesbeziehungen, die in der heutigen Gesellschaft den wichtigsten Kontext für signifikante Bindungsbeziehungen im Erwachsenenalter bilden, nichts zu sagen wisse. Begründet wird dies mit der Behauptung, dass die Bindungstheorie von der Vertrautheit handele, die für die sogenannte kameradschaftliche Liebe charakteristisch ist, nicht aber von den erotischen Aspekten der Liebe. Weil Neuheit und Risiko die unverzichtbare Voraussetzung für eine wirklich befriedigende sexuelle Erfahrung seien, könne die sichere Bindung der optimalen Befriedigung sexueller Bedürfnisse sogar entgegenstehen.

Diese Bedenken bezüglich Sexualität und Bindung werden im 6. Kapitel, das der Paartherapie gewidmet ist, detaillierter untersucht. Eindeutig belegt ist jedoch, dass die Bindung im Kindesalter und die Liebesbeziehungen erwachsener Menschen „Varianten ein und desselben Kernprozesses“ (Mikulincer & Shaver 2016, S. 18) bilden. Die Parallelen liegen auf der Hand: Frühe wie auch spätere Bindungsbeziehungen stützen sich auf das gleiche Verhaltensrepertoire wie Blickkontakt, Halten, Berührungen, Liebkosungen, Lächeln und Weinen. Beide gehen mit intensiven Gefühlen einher, mit Schmerz und Angst bei Trennungen, Freude beim Wiedersehen und Wut und Leid, wenn die Bindung bedroht ist oder zerbricht. In beiden Fällen gibt es die Sehnsucht nach Kontakt, und in beiden Fällen wird der Kontakt als tröstend empfunden. Die Qualität der Mutter-Kind-Bindung und der Bindung erwachsener Partner ist durch Feinfühligkeit, Ansprechbarkeit und Responsivität für den geliebten anderen Menschen charakterisiert; wenn die Bitte um Kontakt erfüllt wird, entwickeln sich Gefühle der Zuversicht, der Sicherheit und Expansivität und empathische Reaktionen auf andere. Der Bindungsverlust hingegen weckt Angst, Wut und Protestverhalten, gefolgt von Depression und Distanzierung. Angsterfülltes Anklammern und defensive Distanzierung sind bei Kindern und bei Erwachsenen zu beobachten, beide Verhaltensweisen können sich zu habituellen Reaktionen entwickeln.

Wenn man begreift, dass Bindungsbeziehungen eine sichere Basis vermitteln, besteht zwischen der Erotik in Liebesbeziehungen und der sicheren Bindung kein Konflikt. In wissenschaftlichen Untersuchungen berichten sicher gebundene Liebespartner einen höheren Grad an Zufriedenheit mit ihrem Sexualleben; insgesamt gesehen scheint eine sichere Bindung auch einem reicheren, entspannteren Sexualleben zugutezukommen. Negativ hingegen wird die Sexualität durch Unverbundenheit, vor allem durch einen vermeidenden Bindungsstil, beeinflusst. Vermeidende Partner sind beim Sex eher auf Leistungsfähigkeit und Körpersensationen fokussiert. Sie haben seltener Sex und erleben die Sexualität als weniger befriedigend (Johnson & Zuccarini 2010). Wenn die Leidenschaft als Bindungssehnsucht definiert ist, die mit erotischem Erkunden und Spielen einhergeht, erweist sich die sichere Bindung als zentrales positives Element optimalen sexuellen Erlebens. Sicherheit maximiert die Risikobereitschaft, die Spielfreude und die Fähigkeit, loszulassen und in eine lustvolle Erfahrung einzutauchen. Es gibt Belege dafür, dass die sichere Verbindung für Frauen besonders relevant ist, denn sie sind in sexuellen Situationen körperlich vulnerabler und nehmen den Beziehungskontext bei sexuellen Begegnungen deshalb von Natur aus sensibler wahr.

Die Sexualität kann von der Bindung getrennt ausgelebt werden und der Fortpflanzung dienen, ist aber gewöhnlich in Bindungsszenarien eingebettet. Schließlich bezeichnen viele Menschen den Geschlechtsverkehr als „Liebe machen“. Dies spiegelt die Tatsache wider, dass sexuelle Interaktionen für Säugetierpartner, die in ihre Verbindung investieren und als Team kooperieren, um gemeinsam ihre Jungen aufzuziehen, auch Bindungserfahrungen sind. Beim Orgasmus wird das Bindungshormon Oxytocin ausgeschüttet, und nie sind die körperliche Synchronizität und die spiegelnden Verhaltensweisen, die für Mutter-Baby-Interaktionen charakteristisch sind, im Erwachsenenalter so unverkennbar wie beim Geschlechtsverkehr.

Bindungstheorie: von Grund auf psychoanalytisch oder systemisch?

Ein weiteres Missverständnis, das besonders häufig bei Paar- und Familientherapeuten anzutreffen ist, geht davon aus, die Bindungstheorie aufgrund ihrer Ursprünge in psychoanalytischen Objektbeziehungstheorien, wie sie von Koryphäen wie Fairbairn (1952) und Winnicott (1965) formuliert wurden, ein von Grund auf analytisches Modell sei. Als solche, so die Annahme, kann sie nicht systemisch oder genuin transaktional sein. In Wirklichkeit aber wurde John Bowlby während vieler Jahre seines Lebens als Häretiker, der die traditionelle analytische Theorie infrage stellte, geächtet. Klar ist auch, dass neue Verbindungen zwischen modernen analytischen Sichtweisen und der Bindungstheorie entstanden sind, weil die Psychoanalyse von der klassischen Triebtheorie und ihrer Orientierung auf Sexualität und Aggression abgerückt ist. In der Psychoanalyse gab es eine „relationale Wende“ (Mitchell 2000), das heißt, sie wurde interaktiver und lenkte die Aufmerksamkeit auf eine authentische Begegnung zwischen Therapeut und Klient, in der eine „Interpenetration beider Psychen“ (Stern 2005 [2004], S. 38) stattfindet. Heute benutzt man in analytischen wie auch anderen Therapiemodellen den Begriff „Intersubjektivität“, um diese Begegnung, in der es zu einer Passung der Affektzustände des Klienten und des Therapeuten kommt, ausdrücklich mit der Bindungsperspektive zu verbinden (Hughes 2007). Gleichwohl ist das Erkennungsmerkmal der Psychoanalyse ihre Betonung innerer subjektiver Zustände, während Bowlby (1980) intime Beziehungen als das Zentrum verstand, „um das sich das Leben des Menschen von Geburt an bis hinein ins hohe Alter dreht“ (S. 442). Er war fasziniert von dem Drama, das sich auf der Verhaltensebene zwischen Menschen abspielt, und richtete das Augenmerk genauso wie Darwin auf das, was Tiere tun, um ihre Überlebenschancen zu verbessern. Vor allem interessierte ihn dabei, wie sie mit ihrer Verletzlichkeit umgehen.

So gesehen ist verständlich, dass Bowlby sich vornahm, einen systemtheoretischen Ansatz, der interpersonale Interaktionsmuster und zirkuläre Feedbackschleifen betont – von ihm als „äußerer Ring“ bezeichnet –, mit inneren kognitiven und emotionalen Verarbeitungsprozessen – dem „inneren Ring“ der Reaktionen – zu integrieren. Wie ich ebenso wie andere Autoren gezeigt habe (Johnson & Best 2003; Kobak 1999), besteht einer der großen Vorteile seiner Perspektive in der Breite, mit der sie die entscheidenden Muster der reziproken Feedbackschleifen erklärt, die durch die habituellen Reaktionen des Selbst und wichtiger anderer erzeugt werden. Systemisch arbeitende Therapeuten wurden wegen ihrer Konzentration auf eingeschränkte und einengend wirkende Interaktions- oder Tanzmuster zwischen Partnern kritisiert; man wirft ihnen vor, die gelebte Erfahrung der Tänzer auszuschließen. Die Bindungstheorie bringt beides auf elegante Weise zusammen. Interaktionsmuster und ihre emotionalen Folgen bestätigen und erhalten die jeweilige subjektive Beziehungskonstruktion der beiden Tänzer und ihr Selbstgefühl in ihrer Beziehung. Diese Konstruktionen bestimmen die interpersonalen Reaktionen, die den gemeinsamen Tanz organisieren. Die Haltung des Forderns, die mein Klient Andrew gegenüber Sarah, seiner Frau, einnimmt, erweist sich unter diesem Blickwinkel als seine habituelle Strategie, mit seiner emotionalen Panik umzugehen, wenn er sich von Sarah abgelehnt fühlt. Leider veranlasst sie Sarah zu ihrem gleichermaßen habituellen Rückzugsverhalten. Das Forderung-Rückzug-Muster, das sich daraufhin entwickelt, bestätigt Andrews schlimmste Verlust- und Verlassenheitsängste und sein Unzulänglichkeitsgefühl. Unter diesen Umständen kann er nicht anders, als seine Partnerin weiter zu verfolgen.

Sowohl die Bindungs- als auch die klassische Systemtheorie (Bertalanffy 1968) verstehen Dysfunktionen als Einschränkung, das heißt als einen Verlust der Offenheit und Flexibilität, aus dem dann eine Unfähigkeit resultiert, Reaktionen auf neue Signale zu aktualisieren und zu revidieren. Starre, eingeschränkte Sichtweisen und unflexible Reaktionen sind problematisch. Bindungs- und Systemtheorie beschäftigen sich mit Prozessen – mit dem evolvierenden „Wie“ der Dinge, nicht mit statischen, linearen Kausalitätsmodellen, und beide sind nichtpathologisierend. In dieser Sichtweise sind Klienten in verengten Wahrnehmungs- und Reaktionsweisen gefangen, aber sie sind nicht per se gestört. Die Bindungswissenschaft erweitert die systemische Perspektive, die dazu neigt, das innere Erleben zu ignorieren, um das Postulat der emotionalen Verarbeitung als das Organisationselement festgefahrener Muster der Interaktion mit anderen Menschen.

1.6 Die Entwicklung einer Forschungsbasis

Im Laufe der vergangenen 50 Jahre haben Hunderte von Studien über lebenslange Bindungsprozesse von Eltern, Kindern, erwachsenen Partnern und sogar Gott eine gewaltige, kohärente Datensammlung entstehen lassen, die erstmals das Grundelement unserer menschlichen Natur anerkennt und beschreibt: Wir sind soziale, bindungssuchende Wesen. Die erste Phase dieser Informationssammlung setzte ein, als die Entwicklungspsychologen begannen, Mütter und ihre Kleinkinder bei kurzzeitigen Trennungen in einer den Kindern unbekannten Umgebung und bei der anschließenden Wiedervereinigung zu beobachten. Dabei zeigten sich wiederkehrende Reaktionsmuster der Kinder. Dieses als „Fremde Situation“ bezeichnete Paradigma ist vermutlich das wichtigste jemals entworfene Forschungsprotokoll, selbst wenn man die frühen Konditionierungsstudien über Ratten miteinbezieht. Was diese Psychologen in Untersuchungen über die Mutter-Kind-Bindung entdeckten, hat nicht nur unsere Erziehungsmethoden ein für alle Mal verändert, sondern auch unser Verständnis der Natur des Menschenkindes.

Die zweite Forschungsphase setzte Ende der 1980er-Jahre ein, als Sozialpsychologen begannen, mithilfe von Fragebögen die Liebesbeziehungen Erwachsener zu erkunden. Sie identifizierten dieselben Muster der Reaktion auf Trennungen und Wiedervereinigungen, die man in den frühen Mutter-Kind-Studien entdeckt hatte, und beschrieben einen Entwicklungsverlauf, in dem die Eltern als wichtigste Bindungspersonen nach und nach durch Peers ersetzt werden (Hazan & Zeifman 1994; Allen & Land 1999). Nun entwarf man Beobachtungsstudien und begann zu kodieren, wie erwachsene Liebespartner aufeinander eingehen und einander trösten, wenn einer der beiden in eine von Angst und Ungewissheit beherrschte Situation versetzt wird (Simpson, Rholes & Nelligan 1992). Auch diese Studien identifizierten eindeutig die drei Grundstrategien „sicher“, „ängstlich“ und „vermeidend“, die in den ursprünglichen Bindungsstudien beobachtet worden waren. Die Forscher fanden auch klare Belege dafür, dass der kindlichen desorganisierten Bindung die ängstlich-vermeidende Bindung im Erwachsenenalter entspricht. Diese vermeidend gebundenen Personen schwankten zwischen hochgradig ängstlichen und hochgradig vermeidenden Trieben hin und her (Bartholomew & Horowitz 1991). Es zeigte sich, dass sicher gebundene Erwachsene in der Lage waren, über ihre Ängste zu sprechen, auf den Partner / die Partnerin zuzugehen und Trost zu suchen, um sich zu beruhigen; umgekehrt waren sie auch fähig, ihre Partnerin / ihren Partner zu unterstützen und zu trösten, wenn dies nötig war. Vermeidend gebundene Erwachsene hingegen stießen ihre Partner weg, wenn ihre Angst getriggert wurde, und ignorierten ihrerseits das Trost- und Fürsorgebedürfnis des anderen. Sodann begannen Psychologen, Trennungsverhalten, zum Beispiel auf Flughäfen, zu beobachten (Fraley & Shaver 1998) und den allgemeinen Einfluss der Bindungsstile zu untersuchen. So entdeckte Mikulincer (1998), dass eine höhere Sicherheit mit weniger aggressiver Feindseligkeit assoziiert war und überdies damit einherging, dass dem Partner weniger böse Absichten unterstellt wurden. Er beobachtete auch, dass sicher gebundene Partner neugieriger waren, sich für neue Informationen aufgeschlossener zeigten und weniger Probleme mit Mehrdeutigkeit hatten (Mikulincer 1997). Weitere Studien über die Auswirkungen des Bindungsstils im Erwachsenenalter zeigten, dass dieser zum Beispiel die Resilienz in Kriegssituationen vorhersagte (Mikulincer, Florian & Weller 1993) sowie die Zuversicht und Kompetenz auf beruflichem Gebiet (Feeney 2007).

Diese letzte Welle der Bindungsforschung hat das Verständnis der Bindung im Erwachsenenalter und ihrer Auswirkungen enorm erweitert. Es ist schwierig, einen Eindruck von der Bandbreite zu vermitteln, die diese Forschung im vergangenen Jahrzehnt abgedeckt hat. Wir können hier lediglich auf einige der interessantesten Entdeckungen eingehen. Prospektive Langzeitstudien zeigen Zusammenhänge auf zwischen der in der Kindheit gemessenen Bindungsklassifizierung einerseits und den Verhaltensweisen und der Beziehungsqualität im Erwachsenenalter andererseits. In einer der zahlreichen Langzeitstudien eines Forschungsprojekts der University of Minnesota wiesen Simpson und seine Mitarbeiter nach, dass die Klassifizierungen der kindlichen Reaktionen auf die Mutter in der Fremden Situation mit hoher Zuverlässigkeit die spätere soziale Kompetenz dieser Kinder in der Grundschule vorhersagten, den Vertrautheitsgrad ihrer Freundschaften in der Adoleszenz und die Qualität ihrer Liebesbeziehungen im Alter von 25 Jahren (Simpson et al. 2007). Freilich ist nicht zu vergessen, dass noch ältere Studien die Möglichkeit belegen, die Folgen von Kindheitserfahrungen und ihre transgenerationellen Auswirkungen zu verändern. Mütter mit ängstlicher Bindung können, wenn sie mit responsiven Männern verheiratet sind, bei denen sie eine sichere Verbundenheit finden, ihre Kinder liebevoll umsorgen, sodass diese sichere Reaktionen auf die Trennung von ihnen und die Wiedervereinigung zeigen (Cohen et al. 1992).

Die Bedeutsamkeit der Bindungsforschung reicht mittlerweile über die Grenzen intimer Beziehungen hinaus. In meinem Buch Halt mich fest (2019 [2008a]) habe ich liebevolle Familien als die Basis einer humanen Gesellschaft beschrieben. Responsivität gegenüber anderen ist die Essenz einer solchen Gesellschaft. Aus sicherer Bindung gehen Empathie, eine altruistische Orientierung und eine Bereitschaft hervor, sich für andere einzusetzen. Zahlreiche Studien von Mikulincer und seinen Mitarbeitern (zusammengefasst in Mikulincer & Shaver 2016, Kapitel 11) belegen den Zusammenhang zwischen Altruismus und Empathie für andere. Diese Studien zeigen zum Beispiel, dass die Aktivierung des Bindungssystems durch einen so einfachen Vorgang wie das Zurückdenken an Situationen, in denen man von einem Mitmenschen umsorgt wurde, augenblicklich die Feindseligkeit gegenüber Menschen, die man als „anders“ wahrnimmt, reduziert – und sei es nur sehr kurzfristig. Sämtliche Daten legen die Vermutung nahe, dass aktives Mitgefühl und die Bereitschaft, anderen selbst dann zu helfen, wenn man sich dabei nicht wohlfühlt, mit einer sicheren Bindung zusammenhängen (Mikulincer et al. 2005). Eher vermeidende Personen hingegen berichten weniger empathische Anteilnahme und weniger Bereitschaft, sich für das Wohlergehen anderer verantwortlich zu fühlen oder anderen zu helfen (Drach-Zahaby 2004). Ängstlich gebundene Menschen wiederum können Empathie empfinden, verstricken sich aber in ihren eigenen Leiden und können sich deshalb nicht auf fremde Bedürfnisse einstimmen.

Eine sichere Bindung übt Einfluss auf ganz unterschiedliche Bereiche aus, zum Beispiel auf das persönliche Gottesverständnis oder die Beziehung zu Gott (Kirkpatrick 2005; Granquist et al. 2012), aber auch auf die eigene sexuelle Orientierung und Erfahrung (Johnson & Zuccarini 2010). Nachweislich wird die Art zu beten vom Bindungsstil beeinflusst (Byrd & Bewa 2001). Sicher gebundene Christen pflegen einen eher meditativen Gesprächsstil, wenn sie sich an ihren Gott wenden, während die ängstlich gebundenen um Gunst und Gnade bitten. Sicher gebundene Liebende haben Sex aus durchaus unterschiedlichen Motiven, betonen aber das Bedürfnis nach Intimität. Sie haben mehr Freude an der Sexualität, können sexuelle Bedürfnisse aufgeschlossener erforschen und unbefangener und offener über Sexualität sprechen.

1.7 Veränderung der Bindung in der Psychotherapie

Auch die Forschung über Veränderungen der Bindungsklassifizierung in der Psychotherapie sollte hier Erwähnung finden. Was bedeutet es, Bindungsveränderungen zu messen und zu untersuchen, die eine solche Vielzahl an Elementen – Emotionen und die Art, mit ihnen umzugehen, Denkmuster, Erwartungen und spezifische Reaktionen – umfassen? Das bekannteste validierte Instrument zur Messung der Bindung im Erwachsenenalter ist die Experiences in Close Relationships Scale – Revised (ECR-R; Fraley, Waller & Brennan 2000). Ein Blick auf die Items vermittelt einen Eindruck von den spezifischen Aussagen und Fragen, mit denen Therapeuten und Forscher arbeiten, um ängstliche und vermeidende Bindungen zu beurteilen. Eine sichere Bindung ist in diesem Fragebogen durch niedrige Werte für Angst und Vermeidung repräsentiert. Die abgefragten Items betreffen Aussagen wie „Ich befürchte, dass ich nicht an andere Leute heranreiche oder im Vergleich mit ihnen schlecht abschneide“ oder „Es fällt mir schwer, mich auf meinen Partner / meine Partnerin zu verlassen“.

Als Leser möchten Sie diesen Fragebogen vielleicht benutzen, um den eigenen Bindungsstil zu ermitteln und zu sehen, wie Bindungen kodiert werden. Die deutsche Version kann online eingesehen werden unter https://d-nb.info/1191691225/34 (Ehrenthal, Dinger & Schauenburg 2005, zuletzt aufgerufen am 03.03.2020). Forscher messen überdies die Veränderungen spezifischer Verhaltensweisen in Interaktionen mit anderen, etwa in Diskussionen über Konflikte, und kodieren solche Verhaltensmessungen zum Beispiel anhand des Secure Base Scoring System (Crowell et al. 2002). Dieses Instrument ermittelt beispielsweise, ob Menschen Verzweiflung und Bedürftigkeit klar signalisieren können, aber auch, ob sie in der Lage sind, Trost anzunehmen. Ermittelt wird auch, ob sie Leid in anderen erkennen und entsprechend darauf reagieren. Wir können auch Veränderungen der Einstellung zur Bindung messen und abklären, wie bindungsrelevante Informationen verarbeitet werden, indem wir Menschen nach Bindungen in der Kindheit und Verlusten in der jüngeren Vergangenheit befragen und die Antworten mit dem Adult Attachment Interview (AAI; Hesse 2008) kodieren. Der Interviewer fragt zum Beispiel: „Können Sie mir fünf Adjektive nennen, die Ihre Beziehung zu Ihrer Mutter beschreiben?“ Bei sicherer Bindung sind die Antworten und Narrative flexibel und kohärent organisiert, und die Befragten kooperieren mit dem Interviewer. Im Allgemeinen kann man die im AAI ermittelte Sicherheit auch als Messung der Integration der Persönlichkeit betrachten. Unsichere Narrative sind durch vage, widersprüchliche Antworten charakterisiert, durch Abschweifungen oder Schweigen. So sagt Sam zur Interviewerin: „Meine Mutter war hinreißend und liebevoll. Aber natürlich war sie eh nie da – immer beschäftigt (er lacht), aber es war okay so. Ich möchte jetzt nicht mit Ihnen darüber sprechen.“ Die Antworten im AAI sagen nachweislich ganz unterschiedliche Verhaltensweisen voraus, zum Beispiel die Bewältigung der Grundausbildung in der israelischen Armee (Scharf, Mayseless & Kivenson-Baron 2004), den Umgang mit negativer Stimmung oder mit Konflikten in Liebesbeziehungen (Creasey & Ladd 2005) sowie depressive Symptome und die Wahrnehmung und Akzeptanz von Emotionen bei benachteiligten adoleszenten Müttern (DeOliveira, Moran & Pederson 2005).

Wie Dozier, Stovall-McClough und Albus (2008) erläutern, ist die große Mehrheit der Psychotherapieklienten bei Behandlungsbeginn unsicher gebunden. Zur Diskussion steht, ob bestimmte Therapiemodelle besser als andere für bestimmte Bindungsstile geeignet sind (Daniel 2006). Eine sichere Bindung kommt nachweislich einem positiven therapeutischen Bündnis zugute, doch manche Autoren vertreten die Ansicht, dass eine deaktivierende Therapie wie die CBT für ängstlich gebundene Klienten besser geeignet sei, während intensivere, emotional hyperaktivierende psychodynamische Behandlungen den vermeidenden Klienten, die ihre Emotionen verleugnen, besser helfen könne. Andere Autoren behaupten das Gegenteil, nämlich dass vermeidende Klienten von Behandlungen profitieren, die ihrem eigenen Stil nicht zuwiderlaufen, sondern ihm entsprechen (Simpson & Overall 2014).



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