Biografie eines Zeitzeugen, Teil1 - Heinz Hofmann - E-Book

Biografie eines Zeitzeugen, Teil1 E-Book

Heinz Hofmann

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Beschreibung

Im ersten Buchteil beschreibe ich wahrheitsgemäß die in Erinnerung gebliebenen Erlebnisse aus meiner frühen Kindheit, wobei sich mir besonders die miterlebten Bombenangriffe auf die Kunst- und Kulturstadt Dresden ins Hirn eingebrannt haben. Weiterhin wird die harte Nachkriegszeit als Vollwaise, in der ich fast verhungert wäre, wie auch die weitere Kindheit und Jugend bei Pflegeeltern im Rahmen des Neuaufbaus meiner Heimatstadt aus meiner Sicht abgebildet. Die Studienjahre mit Begebenheiten aus meinem Nebenjob bei den Dresdner Verkehrsbetrieben und der Einstieg in die Berufswelt einschließlich der familiären Entwicklung zeigen die Möglichkeiten einer persönlichen Entwicklung in der Zeit der 1960iger Jahre in der DDR auf. Die immer stärkere Wandlung dieses Staates in ein totalitäres System und zum Mangelverwalter, deren restriktive persönliche Auswirkungen immer deutlicher wurden, und viele Schicksalsschläge prägten mein Handeln in den 1970er bis Anfang der 1980er Jahre. Unser Ausreisebegehren im Jahr 1986, die Reaktionen des Staates und seiner Spitzel, unser unermüdliches Bestreben aus der Staatsbürgerschaft der DDR entlassen zu werden, wird im Zeitabschnitt 1986 bis 1989 dargelegt. Das erste Buch endet mit der Schilderung unserer Übersiedelung in die BRD am 15.09.1989. In der Hoffnung vor allem jüngere Leser und Leserinnen zu erreichen und ihnen anhand meiner in die Zeitabläufe eingebetteten Biografie zu berichten, wie sich Verhaltensregeln und zwischenmenschliche Beziehungen in unterschiedlichen Gesellschaftsordnungen gestalteten und welcher Geburtswehen sich die Wiedervereinigung Deutschlands zu stellen hatte, möchte ich zugleich auch ein Zeichen gegen die wieder in Mode gekommenen Neonazis setzen, die keine Ahnung vom lebensfeindlichen Wirken des sogenannten Nationalsozialismus haben, da schon dieser Begriff ein einziger Etikettenschwindel ist. Eine Verherrlichung des Führerkults ist für mich nicht nachvollziehbar, wenn man die gelebte Wirklichkeit kennt. Auf deutsche Tugenden wie Kreativität, Fleiß und Pünktlichkeit kann man stolz sein, darf aber Menschen aus anderen Ländern diese Eigenschaften nicht absprechen, da die jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnisse und natürlich auch die Traditionen hierbei eine große Rolle spielen. Am Beispiel der DDR wird deutlich, wie derartige Eigenschaften durch gesellschaftliche Demotivation teilweise verloren gehen können. Anhand meiner Ausführungen ist ersichtlich, welch negative Einflüsse Diktaturen jeglicher Couleur auf jeden einzelnen Bürger haben und wie verheerend Kriege waren und sind, wie die aktuellen Beispiele im Jahr 2016 von Syrien (Aleppo), Darfur im Tschad, der Ostukraine oder Afghanistan mit all ihren Grausamkeiten zeigen; wie Menschen zur Massenflucht aus ihrer Heimat gezwungen werden und welche Traumata sie anschließend zu verarbeiten haben.

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Seitenzahl: 416

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Table of Contents

Title Page

Einführung

Section 3

Kapitel 1: 1940 – 1946 Kindheit Teil 1

 

 

Autor: Heinz Hofmann

 

Zeitzeugnis und Biografie

Teil 1 - 1940 bis 1989

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Danksagung

Dieser erste Teil meines Buches ist der Familie meiner Tochter Annett gewidmet. Enkelin Melanie danke ich für ihre Teil-Rezensionen, die mir zum besseren heutigen Jugendverständnis verhalfen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Autor: Heinz Hofmann

 

Zeitzeugnis und Biografie

Teil 1 - 1940 bis 1989

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Inhaltsverzeichnis

Einführung

Kapitel 1: 1940 - 1946 Kindheit Teil 1

 

1.1 Erste Eindrücke aus der Erinnerung eines

Kindes

1.2 Der Bombenangriff auf Dresden

1.3 Bei Grossvater im Industriegelände

1.4 Im Heim für Schwererziehbare

Kapitel 2: 1947- 1959 Kindheit Teil 2 und Jugend

 

2.1 Aufnahme bei den Pflegeeltern in Dresden-Oberloschwitz

2.2 Grundschulzeiten

2.3 Oberschulzeiten

2.3 Studienzeiten an der TU Dresden

Kapitel 3: 1960 - 1989 Meine DDR-Jahre bis zur Übersiedelung

in die Bundesrepublik Deutschland vor dem Mauerfall

3.1 Berufsjahre, Familie, Umfeld bis 1986

3.2 Bearbeitungszeiträume unseres Ausreiseantrags 1986-89

3.3 Übersiedelung in die BRD im September 1989

 

Nachwort

Einführung

1940, als eine Luftschlacht in einem bisher noch nicht gekannten Ausmaß über England tobte, wurde in Dresden ein Kind geboren, das bereits 1943 seinen Vater an der Ostfront verlor. Im Jahr 1945 überlebte dieses Kind zwei Luftangriffe und verlor 1946 seine Mutter. Das dabei Erlebte wird in diesem Buch authentisch geschildert. Fast verhungert gelangte der Knabe 1947 mit seinem Bruder in ein Heim für Schwererziehbare.

Sein weiterer Lebensweg, eingebettet in die geschichtlichen Randbedingungen, wie es ihm gelingt einen Abitur- und Studienabschluss zu erreichen, erfolgreich in der Chemieanlagen – Forschung tätig zu sein und schließlich den totalitären DDR Staat zu verlassen, wird in diesem Buch Teil 1 geschildert.

 

 

Kapitel 1:1940 – 1946 Kindheit Teil 1

 

1.1 Erste Eindrücke aus der Erinnerung eines Kindes

1940 war der 2. Weltkrieg im vollen Gange. Über England tobte zu dieser Zeit der Luftkrieg mit riesigen Verlusten auf beiden Seiten. Der in Hitler-Deutschland zuständige Luftwaffengeneral Hermann Göring verstieg sich im Radio zu der Behauptung: „Wenn je ein feindliches Flugzeug die deutsche Grenze überfliegt, will ich Meier heißen“. Deshalb wurde er später manchmal im Volksmund auch Meier genannt.

In diese Zeitläufte hinein wurde ich am 17. Oktober 1940 in Dresden geboren. Mein Bruder war da schon dreieinhalb Jahre alt und Vater seit Frühjahr 1940 als Soldat an den Kriegsfronten.

Wir wohnten nahe dem Dresdener Hauptbahnhof auf der Ammonstrasse im 4. Stock eines Mehrfamilienhauses.

 

Eines Tages im Herbst 1943 erinnere ich mich als im Radio (wurde im Volksmund als Goebbels-Schnauze bezeichnet) ein Lied ertönte zu dem meine Mutter sang „Mamatschi schenk mir ein Pferdchen….“ und mich dabei auf den Arm nahm.

Da ich ein Foto besitze, auf dem mein Vater in Uniform mit meiner Mutter, meinem Bruder und mir zu sehen ist, muss mein Vater Mitte 1943 Front – Urlaub gehabt haben.

 

Heiligabend 1943 bleibt mir unvergessen. Zwei uniformierte Männer hatten geklingelt, meine Mutter öffnete die Tür und dann hörte ich einen markerschütternden Schrei, den ich nie vergessen werde!

Ihr wurde mitgeteilt, dass ihr Ehemann (und somit mein Vater) für Führer, Volk und Vaterland an der Ostfront den Heldentod erlitten hat. Ich kann mich noch erinnern, dass meine Mutter in ihrer großen Trauer und Verzweiflung einige Worte negativer Art über den Führer, zum Krieg und zu den sinnlosen Opfern sagte und dass die Männer schroff antworteten: “Das wollen wir nicht gehört haben und ist nur ihrer Trauer geschuldet, denn sonst müssten wir sie sofort mitnehmen, doch sie haben zwei Söhne, die sie großziehen sollen“. Das nachstehende Schreiben wurde übergeben:

 

Seitdem war meine Mutter nur noch niedergedrückt und traurig, doch Kinder sind sich in dem Alter der Tragweite des Geschehens im Alltag keineswegs voll bewusst.

Gern sind wir Buben zur nahegelegenen Falkenbrücke gelaufen und haben dort dem Eisenbahn- und Rangierbetrieb zugeschaut. Damals gab es jede Menge Dampfloks und die dampfenden Schnellzugloks hüllten uns auf der Brücke mit ihrem Nebel ein, was uns immer viel Freude bereitete, vor allem wenn im Tandembetrieb Güterzüge durchfuhren. Eine Rangierlok mit hohem Schornstein hatte es mir besonders angetan, weshalb ich sie Posemuckel nannte.

Da die Schule in der mein Bruder lernte als Lazarett genutzt werden musste, entschied sich Mutter meinen Bruder zu den Großeltern in das Industriegelände Dresdens zu geben. So freundete ich mich mit den Nachbarskindern an, wenngleich auch meine Mutter sich immer wieder liebevoll mir zuwandte.

Auch kann ich mich erinnern an der Hand meiner Mutter an einer Veranstaltung der Hitlerjugend vorbei gelaufen zu sein, was für mich sehr interessant aussah. Ich wollte unbedingt sehen was da geschah, aber meine Mutter ließ dies nicht zu, mit dem Nazipack wollte sie nichts zu tun haben meinte sie und dass ich das später wohl verstehen werde, was ich heute unbedingt bestätigen kann. Dass meine Mutter schon vor meiner Geburt nichts mit den Nazis zu tun haben wollte resultiert daraus, dass ihr älterer Stiefbruder mit Beginn der Pubertät recht renitent zu ihrem Vater wurde und oft den Familienfrieden störte. Dieser Stiefbruder schloss sich bald der NSDAP an und versuchte deren menschenfeindliche Ideologie der Familie schmackhaft zu machen, was nicht akzeptiert wurde und zum Zerwürfnis führte. Anschließend machte er Karriere als Wehrmachtsoffizier. Ihr Vater (mein Großvater) erkannte beizeiten, welch menschenverachtende Philosophie dem sogenannten Nationalsozialismus zu eigen ist.

Ab 1944 mussten wir immer häufiger nach dem Sirenengeheul, das vor nahenden Bombergeschwadern warnte, eiligst in den Luftschutzraum (LSR) in den Kellerbereich flüchten, obwohl Dresden wegen seiner östlichen Lage wenig direkten Luftangriffen ausgesetzt war.

1.2 Der Bombenangriff auf Dresden

Bevor ich aus meiner Erinnerung von den Geschehnissen der Bombennacht vom 13. Februar 1945 berichte, möchte ich meine Ansichten zu diesen furchtbaren und verbrecherischen Geschehnissen darlegen.

Angefangen hatte der Luftkrieg auf die Bevölkerung durch die deutsche Wehrmacht mit einer Bombardierung Londons. Die englische Luftwaffe revanchierte sich daraufhin mit einem Angriff auf Berlin.

In der Nacht vom 14. auf den 15. November 1940 waren Coventrys Motorenfabriken Ziel eines Angriffs der deutschen Luftwaffe, wobei durch Brandbomben als „Kollateralschaden“ auch drei Viertel der Wohngebiete getroffen wurden. Zynischerweise wurde dieses Vorgehen von den Nazis als „coventrieren“ bezeichnet.

Damit war der Grundstein dafür gelegt, dass Deutschlands Kriegsgegner nun mit gleicher Taktik antworteten und bewusst in Form eines Abnutzungskrieges die Zivilbevölkerung in die Bombardierung einbezogen und zwar in einem bisher noch nie gekannten Ausmaß. Im Jahr 2016 ist das Normalität, wie die Kriege in Syrien und der Ukraine zeigen. Im Februar 1943 nach der Niederlage und totalen Vernichtung der 6. Armee bei Stalingrad wurde von Hitler-Deutschland der totale Krieg ausgerufen, was nur noch zu mehr Opfern auch unter der Zivilbevölkerung führte, keinerlei Kriegsvorteile brachte, jedoch in gewisser Weise die grausamen Bombardements der Westmächte rechtfertigte. Hierbei darf nicht unerwähnt bleiben, dass mit dem Einsatz der V1- und V2-Raketen Nazi-Deutschland ebenfalls die Zivilbevölkerung bombardierte. Auch der U-Bootkrieg der deutschen Wehrmacht passt genau in dieses Schreckensbild.

Inzwischen hatte in den USA der Bau der Atombombe begonnen (auch die Nazis bastelten an einer Wunderwaffe, was vermutlich die Atombombe war) und erste Versuchsergebnisse in Amerika zeigten, dass dieser Bombe eine ungeheure Zerstörungskraft inhärent ist, ohne genau zu wissen welche Zeitwirkung und Ausmaße die Radioaktivität hat.

Für mich ist der Angriff auf die Kunst- und Kulturstadt Dresden im Februar 1945 nur so plausibel (da den Alliierten längst klar war, dass Deutschland diesen Krieg verliert; tatsächlich am 8. Mai 1945), in dem man in einer in einem Talkessel liegenden Großstadt mit konventionellen Mitteln so massiv wie es nur geht ein totales Bombardement ausführt, um im Vergleich mit den Atombomben, die später in Hiroshima und Nagasaki gezündet wurden, zu sehen, wie effektiv in der Massenvernichtung die neue Bombe ist. Hierbei ging es um den Einmaleffekt innerhalb von ca. 12 Stunden, denn Angriffe auf Hamburg und andere westdeutsche Städte hatten in der Summation erheblich größerer Bombenabwürfe zu verzeichnen als Dresden in dieser Nacht. Dass nicht etwa Stuttgart, sondern Dresden ausgewählt wurde, ist vermutlich der Tatsache geschuldet, dass Dresden nach der Konferenz von Jalta dem Einflussbereich der Russen zugefallen war.

Aus meiner Sicht ist dieser Angriff auf Dresden ein Kriegsverbrechen ohne wenn und aber, da dieses Massaker militärisch keinen Einfluss auf ein schnelleres Kriegsende hatte, wenn man bedenkt, dass beispielsweise der Dresdener Flughafen gar nicht angegriffen wurde! Die Behauptung, dass dieser Angriff auf Dresden mit dem Massenmörder Stalin abgestimmt war, erscheint mir äußerst fragwürdig aber nicht unmöglich, da die Russen etwa 120 km vor Dresden standen, als dieser Angriff begann. Die Behauptung, dass die sogenannte „Festung Dresden“ hochgerüstet war, um eine Entscheidungsschlacht vor Dresden gegen die Russen bestehen zu können, weil angeblich jede Menge Kriegsmaterial nach Dresden gebracht worden sei, halte ich für aberwitzig und eine Zwecklüge, um eine militärische Notwendigkeit dieses Angriffs zu belegen. Denn vor den Russen versuchten sich tausende, flüchtende Zivilisten in Sicherheit zu bringen, strömten nach Dresden herein und gerieten in diesen Bombenhagel. Das Leugnen des Einsatzes von Phosphor-Kanistern ist typisch, denn die Begründung, dass in den Alliierten-Bestandsunterlagen derartige Kanister nicht aufgeführt sind, ist überhaupt kein Beweis! Warum sollte man so etwas aktenkundig machen - mein eigenes Erleben und viele Randerscheinungen vom brennenden Bahnhof (eine Eisenkonstruktion, die eigentlich nicht brennbar ist) bis zu flammendem Straßenpflaster ist für mich Beweis genug. Auch scheint die jedes Jahr proklamierte Opferzahl von 25.000 (vermutlich ca. 100000) Menschen weit heruntergespielt, warum wohl?

Der Sieger schreibt die Geschichte - das war schon immer so!!

Bekanntlich gab es drei zeitlich nacheinander in Wellen ausgeführte Angriffe:

 

1. Das Abwerfen von Magnesiumfackeln (Im Volksmund als Christbäume bezeichnet) um die Zielgenauigkeit zu erhöhen mit anschliessender massiver Bombardierung mittels Luftminen, Spreng- und Brandbomben.

2. Nachdem die Stadt lichterloh brannte, der äusserst gezielte und massive Abwurf von Brandbomben, Luftminen und Sprengbomben.

3. Tages-Angriff von Bombern mit Einsatz von Jagdfliegern am 14. Februar 1945, von denen auch Menschen (Zivilisten), die sich aus dem Flammenmeer gerettet hatten, mittels Maschinengewehre niedergemäht und wie Hasen abgeschossen wurden.

 

Doch nun zu meinen persönlichen Erinnerungen als 4½-jähriger Bub, die sich in mir eingebrannt haben und für mich unvergessen bleiben:

 

Obwohl abends alle Fenster abzudunkeln waren (wir wohnten im 4. Stock), wurde meine Mutter am 13. Februar 1945 stutzig, weil draußen plötzlich eine ungewohnte Helligkeit durch die Verdunkelung festzustellen war. In wieweit es Sirenenalarm gegeben hatte ist mir nicht erinnerlich, zumal durch die häufigen Alarme die Menschen abgestumpft wurden, die ja teilweise nur gegeben wurden wenn feindliche Bomber die Stadt oder nähere Umgebung überflogen haben, vor allem wenn man jedes Mal vom 4. Stock in den Keller hasten musste. Meine Mutter eilte zum Fenster, rückte die Verdunkelung etwas zur Seite, und ich direkt hinter Mama herlaufend konnte auch sehen welch helles Licht diese Magnesiumfackeln bewirkten. Sofort ergriff mich meine Mutter, irgendwie raffte sie noch etwas wie einen Koffer an sich und eilte wie von Furien gejagt mit mir die Treppen hinunter in den Luftschutzraum (LSR). Schon vor der LSR – Tür rief der Luftschutzwart etwas in der Art, dass es höchste Zeit wäre, da die Tür geschlossen werden muss. Es ist immer wieder erstaunlich, an welche Details man sich noch erinnern kann…. Im Luftschutzraum saß ich bei meiner Mutter auf dem Schoß und beobachtete wie so oft die im Kerzenlicht betenden Menschen um mich herum, zumal jetzt durch massive Bombenexplosionen viel Staub aufgewirbelt wurde. Plötzlich wurde die Tür aufgerissen und ein Mann schrie: „Raus, sofort raus – Achtung brennender Phosphor!“ Und tatsächlich strömte brennender Phosphor auf einer Treppenseite in Richtung der LSR – Tür, was ich selbst gesehen habe, weil wir seitlich ausweichen mussten. Alle rannten durch die Tür nach außen und meine Mutter hielt auf der Straße kurz an, warf mir ein Tuch über den Kopf und setzte mich auf ihre Schultern, damit ich einerseits geschützt war und andererseits möglichst nichts sehen und sie schneller vorankommen konnte. Kaum auf ihrer Schulter angelangt habe ich das Tuch zur Seite gestreift und konnte sehen, dass alles ringsherum lichterloh brannte. Vom Hörensagen kann ich mich erinnern, dass über 36 Stabbrandbomben und 2 Kanister mit Phosphor in dieses Haus nahe dem Hauptbahnhof abgeworfen wurden. Am Anfang dieses Fußmarsches, den meine Mutter zielstrebig in Richtung Dresden – Neustadt lenkte, habe ich immer nach oben in die Flammen geschaut, denn in dieser Position hatte ich einen guten Überblick. Mir war gar nicht bewusst, wie gefährlich dieser Fußmarsch war, da ja von oben brennenden Teilen ständig nach unten fielen. Dabei habe ich gesehen wie eine Person von einem brennenden Dachteil getroffen wurde und sich brüllend nun selber brennend auf der Erde wälzte. Für mich war das alles wie ein Spuk und die Ereignisse konnten von mir gar nicht alle gleichzeitig so richtig wahr- und aufgenommen werden. Kurz vor Ende der Pause zwischen der 1. und der 2. Angriffswelle der angloamerikanischen Bomber erreichten wir die Augustusbrücke. Hier erinnere ich mich ganz genau, dass auf der Brücke ein Bombentrichter war und Wehrmachtsangehörige uns im Gänsemarsch über den noch bestehenden, begehbaren Teil der Brücke geleiteten. Als meine Mutter weiter in Richtung Neustädter Markt lief, sah ich linkerhand das Blockhaus lichterloh brennen. Und vor uns auf der Straße rechts brannten auch alle Häuser. In diesem Moment begann der 2. Angriff.

Meine Mutter hastete in das nächst gelegenem, brennendem Hause am Neustädter Markt auf der rechten Seite und rettete uns in den dortigen Luftschutzkeller. Kaum waren wir in diesem wieder mit Kerzen beleuchteten Raum angelangt, bebte die Erde fürchterlich – das Abwerfen von Luftminen und Bomben schwersten Kalibers hatte begonnen. Die Luft war kaum noch zu durchdringen so viel Staub war durch die Wucht der Explosionen im Raum. Die Menschen beteten herzzerreißend und warteten auf den fast sicheren Tod. Wie lange dieses Martyrium dauerte ist mir nicht mehr bewusst. Irgendwann lebten wir immer noch und mussten schleunigst dieses brennende Haus, das in sich zusammenfiel, fluchtartig verlassen. Wieder nahm mich meine Mutter auf die Schultern. Was ich nicht wusste – sie watete bis fast zu den Knien im Wasser, das durch die zerstörte Infrastruktur aus dem Boden ausgetreten war. In dieser Phase begannen Häuser in sich zusammenzufallen und das Laufen auf der Straße war noch gefährlicher geworden. Schreiende Menschen die durch Herabfallendes getroffen oder erschlagen wurden, habe ich gesehen. Meine Mutter lief an der Dreikönigskirche vorbei, eigenartigerweise ist mir dieses Bauwerk noch in Erinnerung, nur wusste ich damals nicht, dass es die Dreikönigskirche war. In deren Nähe war von der deutschen Wehrmacht eine Art Lazarett eingerichtet, in der meine Mutter mit mir Unterschlupf fand. Hier verbrachten wir den Rest der Nacht. Ich musste wohl eingeschlafen sein, denn es war plötzlich heller Morgen und meine Mutter hatte es irgendwie geschafft, mithilfe der Wehrmachtssoldaten eine Mitfahrgelegenheit auf einem Lkw zu ergattern, der in Richtung Industriegelände fuhr. Wir wurden mit vielen anderen auf die offene Ladefläche gehievt und dann ging die Fahrt los. Kurz vor Erreichen der Planitzstrasse wurde auf das Fahrerdach gehämmert, damit der Wagen anhalten solle. Er fuhr aber weiter und kam erst dann zum Stehen als wir die Brücke über die Eisenbahn am Schenkhübel schon längst passiert hatten. Nun konnten wir aussteigen und mussten die lange Strecke zu Fuß zurückgehen. Endlich kamen wir bei Großvater auf der Planitzstrasse 25 A an. Mir ist unvergessen, wie die Tür geöffnet wurde und meine Mutter sagte: “ Das ist alles was wir retten konnten“, wies dabei auf die wenigen Habseligkeiten, die sie in ihrer Hand hatte und sagte weiter – „aber wir leben noch!“

 

Die Geschehnisse des 3. Angriffes kenne ich nur aus Schilderungen Überlebender, die sich zum Beispiel im großen Garten aufgehalten hatten. Auch meine spätere Frau (Jahrgang 1931) berichtete aus eigener Erinnerung von Jagdfliegerangriffen mit Maschinengewehren auf Zivilisten und auch auf spielende Kinder. Da die Bomberpulks kaum deutsche Jagdflugzeugangriffe zu befürchten hatten, weil es an Treibstoff mangelte, waren diese Begleitjäger dazu da, andere Ziele am Boden zu bekämpfen. Da ist wohl bei vielen Jagdflugzeug – Besatzungen der Jagdtrieb entfacht worden… Natürlich wird das heutzutage von den Militärs der damaligen Allianz energisch geleugnet.

Kriegsverbrechen gab es auf beiden Seiten, aber der Holocaust und die systematische Vernichtung Andersdenkender in Konzentrationslagern waren und sind Verbrechen gegen die Menschlichkeit, begangen von Nazis, ihren Helfershelfern und Unterstützern!!!

1.3 Bei Grossvater im Industriegelände

Nun waren wir Geschwister wieder vereint. Mein Bruder hatte da schon eine Menge Kontakte mit Gleichaltrigen geknüpft und ich gehörte nun auch mit dazu. Da gab es Kinder, die hatten tolles Spielzeug, wie beispielsweise Panzer zum Aufziehen, die während der Fahrt Funken aus der Kanone sprühen konnten und jede Menge Zinnsoldaten, Kanonen und Ähnliches. Aber auch einen großen Lkw sah ich, der Fahrtrichtungsanzeiger mit nach oben und unten beweglichen Fahrtrichtungsanzeigern hatte. Den Umständen entsprechend wurde eben Krieg gespielt. Da kamen auch imitierte Radiomeldungen vor, wie etwa: „Große Bomberverbände in Richtung Martha Heinrich (und eine Zahl fürs Planquadrat) sind zu erwarten!“ Sobald das Sirenengeheul ertönt, so geht es mir heute noch, ziehe ich den Kopf ein und ein gewisser Fluchtreflex stellt sich automatisch ein.

Einige Tage nach dem 13. Februar sind Großvater, meine Mama, mein Bruder und ich noch einmal zur Ruine des Hauses Ammonstrasse 22 gekommen, auf welche Weise ist mir nicht mehr erinnerlich. Noch immer gab es Rauchfahnen, ein Brandgeruch all überall und ein fürchterlich trostloses Bild der allgegenwärtigen Ruinen. Als Kind fiel mir sofort auf, dass immer die Schornsteine noch gestanden haben, während alles andere einem Schuttberg glich. Während Opa und Mama versuchten irgendwie in den Keller zu gelangen um eventuell noch vorhandenes Eigentum zu sichern, haben wir Kinder uns auf der Straße umgesehen und einen ausgebrannten kleinen Hechtwagen entdeckt. Natürlich sind wir dort sofort hingegangen. Mein Bruder hatte sich auf den ausgebrannten Fahrersitz niedergelassen und ich habe mit Steinen die ja zuhauf herumlagen die Glocke bedient. Und dann haben wir Straßenbahnfahren gespielt. Leider war der Trümmerhaufen so beschaffen, dass kein Eindringen in den Kellerbereich möglich war und wir mussten unverrichteter Dinge wieder ins Industriegelände zurückkehren.

Am 2. März 1945 hatte mein Großvater Geburtstag und wir Brüder spielten in der Nähe der Wohnung auf dem Fußweg. Es war ein schöner, sonniger Tag. Plötzlich gewahrten wir am Himmel von der Sonne angestrahlt einen größeren Bomberpulk. Mit offenem Mund starrten wir auf dieses Schauspiel und konnten sehen wie aus den Bombenschächten dieser Flugzeuge jede Menge Bomben herauskegelten. An Warnungs-Sirenen kann ich mich nicht erinnern, jedoch wurden wir Buben plötzlich energisch veranlasst (wahrscheinlich vom Luftschutzwart) in den Luftschutzkeller des Hauses Planitzstrasse 25 A zu rennen. Dort war auch der Rest der Familie im Keller (LSR) versammelt - und wieder saß man bei Kerzenschein ängstlich zusammen. Plötzlich erschütterte es das Haus bis in die Grundfesten, Staub wirbelte wieder auf und wir wussten, jetzt hat es ganz in der Nähe eingeschlagen. Nach langer Zeit der allen wie eine Ewigkeit vorkam wurde Entwarnung gegeben und der Keller durfte verlassen werden. Sofort strömten alle nach außen um zu sehen ob das Haus Schaden genommen hat. Dem war wohl nicht so. Dann wurde sogleich gefahndet, wo die Bombe eingeschlagen haben könnte. Und richtig – gar nicht weit hinter dem Haus befand sich eine Drehscheibe der Betriebsbahn gleich bei der Firma Karasalt-Edelputz, da hatte es eingeschlagen. Ein riesiger Bombentrichter war zu sehen und allen lief es kalt über den Rücken in dem Gedanken – wenn diese Bombe in unser Mietshaus eingeschlagen hätte….

Es wurde gemunkelt, dass im Flughafen Dresden-Klotzsche Jagdflugzeuge der Nazi-Wehrmacht am Boden lagen, unbetankt, da es keinen Treibstoff mehr gab….

Aufgrund der Windverhältnisse sind glücklicherweise die meisten dieser zahlreichen Bomben in die Dresdner Heide abgedriftet und haben somit im Industriegelände keine wesentlichen Schäden angerichtet.

Das Ende des Krieges nahte.

Das spürten auch die Nazis vor Ort. Plötzlich wurden wir Kinder eingeladen und durften im Speiseraum der Firma Mende eine Tasse Kakao trinken. Warum wohl?

In diesem Zusammenhang ist mir noch in Erinnerung, dass dort eigenartig lamellierte, sehr heiße, runde Heizkörper waren und die Luft unangenehm trocken und stickig war. Heute weiß ich, dass es sich hier um eine Dampfheizung gehandelt hat.

Kurz darauf kam es zur Plünderung der Militärvorräte im Arsenal durch die Zivilbevölkerung, denn die Meissten wussten und waren sich darüber im Klaren, dass dieser Krieg verloren war und wenn die Russen kommen, dies kein Zuckerschlecken würde. Hierbei ging es nicht darum sich Waffen zu beschaffen, sondern um Lebensmittel und Dinge des täglichen Bedarfs. Es war bekannt, dass allein schon der Waffenbesitz vom Sieger mit der sofortigen Todesstrafe geahndet wird. Auch Großvater und meine Mutter hatten etwas von diesen Vorräten abbekommen und die größte Köstlichkeit an die ich mich erinnere war die Fliegerschokolade aus einer runden Aluminiumdose, was für eine Köstlichkeit! Jedenfalls hatte bei dieser Plünderung jeder irgendetwas an sich gerissen und später wurde dann getauscht, sei es Schuhe in der richtigen Grösse oder Kaffee gegen Mehl, damit alles entsprechend passend wurde. Wäre dies nicht geschehen, wir hätten das Jahr 1946 nicht überlebt.

Opa besaß ganz im Süden des Industriegeländes noch hinter dem Ende der Werksbahn einen kleinen Schrebergarten. Dort gab es auch Kaninchenställe natürlich mit Kaninchen bestückt, die gefüttert und von Opa höchst selbst später geschlachtet wurden. Das Gemüse und Strauchobst, sowie das Fleisch der Kaninchen war die 2. Säule zum Überleben. Dass mein Bruder und ich sehr oft in die Dresdner Heide gehen mussten, mit Leiterwagen und Säcken darauf, um Grünfutter für die Kaninchen zu sammeln, ist mir deshalb so bewusst, weil wir das höchst widerwillig gemacht haben.

Einer der etwas größeren Jungen mit Namen Klaus hatte besonders viel tolles Kriegsspielzeug und sein Vater muss wohl ein großer Nazi gewesen sein, denn plötzlich war er nicht mehr da und es wurde gemunkelt, dass diese Familie nach Südamerika ausgewandert sei.

Mein Großvater war Bahnschirrmeister bei der Industriebahn im Industriegelände. Zwei Roots-Speicherloks waren vorhanden, mussten jedes Mal mit Dampf aufgeladen werden und konnten dann Rangierbewegungen mit Güterzuganhängern bewerkstelligen. Großvater oblag es diese so zusammenzustellen, dass die jeweiligen Betriebe in richtiger Reihenfolge mit entsprechenden Waren aus den Anhängern versorgt werden konnten. Natürlich hatte er auch den Lokführerschein und ab und an fuhr er auch selber die zusammengeschirrten Wagen mit der Lok zu den Abnehmern im Industriegelände. Eine meiner größten Freuden damals war es, wenn Opa als Lokführer mich mal mitgenommen hat. Er hob mich hoch, damit ich kurz durch eines der beiden ovalen Bullaugen in Fahrtrichtung etwas sehen konnte und das Größte war - ich durfte auch mal das Signalhorn bedienen.

Im Industriebahnhof, wo die Loks mit Dampf aufgeladen wurden, war auch mindestens ein Bad mit Badewanne und fließend Kalt- und Warmwasser vorhanden. Diesen unerhörten Luxus durften wir dank Großvater manchmal nutzen – heute eine Selbstverständlichkeit! Damals war es üblich in der sogenannten Volksbadewanne (Zinkwanne mit Aufstellstützen auf dem Fußboden) einmal höchstens in der Woche, oder eben aller 14 Tage, ein Familienbad zu nehmen, indem vorher heißgemachtes Wasser, gemischt mit Kaltwasser in die Wanne eingegossen wurde. Danach hatte einer nach dem anderen im gleichen Wasser das Bad absolviert. Wie reizvoll war das doch für den letzten Badnutzer, obwohl etwas Wasser nachgeschüttet wurde.

Es muss im April 1945 gewesen sein, als es plötzlich hieß:

“ Die Russen kommen!!!“

Mein Bruder und ich sind daraufhin sofort in Richtung Königsbrückerstraße gelaufen. Und richtig – noch auf der Planitzstrasse, die heute Meschwitzstraße heißt, hörten wir den Lärm der Panzerketten und sahen einen Panzer nach dem anderen scheinbar endlos auf der Königsbrückerstraße fahren. Wir waren sehr verblüfft als wir dann am Straßenrand standen und sahen wie die russischen Soldaten aus ihren Panzern uns Kindern zuwinkten….

Doch das dicke Ende kam gleich danach. Begriffe wie „Zapzerap, Uhri, Uhri“ und „Jupdi twoja mat“ hat man schnell begriffen. Denn das Eine hieß stehlen, das Andere war die Jagd nach deutschen Uhren und das Letztere hieß Fick deine Mutter! Die Armbanduhr meiner Mutter und meiner Oma wechselten unfreiwillig schnell die Besitzer. Nachts wurden von polnischen, weiblichen Armeeangehörigen die Scheiben eingeschlagen und die Goebbelsschnauze (Radio) mitgenommen. Danach kam die Einquartierung von zwei russischen Offizieren. Das hieß Zusammenrücken in der kleinen Mietswohnung - aber ab da gab es hier keinerlei Plünderungen mehr. Zu uns Kindern waren die russischen Offiziere freundlich, wahrscheinlich hatten sie zu Hause auch Kinder und wussten, dass wir Buben am Krieg absolut unschuldig waren. Einmal hatten sie Fleisch, Kartoffeln und Gemüse mitgebracht. Oma und Mama hatten für alle ein ausreichendes Mittagessen bereitet. Auch wir durften mitessen.

Meine spätere Frau lebte zu dieser Zeit auf der Wöhlerstraße in Dresden und hatte den Einmarsch der Russen in weitaus unangenehmerer Erinnerung. Die russischen Soldaten drangen in die Häuser ein und suchten zum einen nach Schmuck, Uhren und ähnlichem und zum anderen nach mehr oder weniger jungen Frauen, um sie zu vergewaltigen. Da wurde auch nicht lange gefackelt und ein Schlag mit dem Gewehrkolben macht dann die Menschen gefügig. Natürlich hätte man in der späteren DDR diese Wahrheiten niemals laut sagen dürfen, wo doch die Russen unsere Befreier waren.

Befreit wurden wir von den Parteigenossen des sogenannten Nationalsozialismus und deren mörderischem, menschenfeindlichem System tatsächlich, doch das vom Massenmörder Stalin angeführte Regime brachte uns leider nur eine neue, etwas rot gefärbte Diktatur der Parteigenossen von Russlands Gnaden, die auch vor Mord nicht haltmachten, wenn man grundsätzlich anderer Meinung war, oder z. B. ihren Einflussbereich unerlaubt verlassen wollte!

Wir Kinder spielten immer irgendwie auf der Strasse und ich kann mich entsinnen wie auf dem Fussweg ein russischer Unteroffizier mit einer Schnapsflasche in der Hand angetorkelt kam, so sturzbetrunken, dass er in unserer unmittelbaren Nähe zu Boden ging und nicht mehr aufstehen konnte…

Das war für uns Buben ein tolles Schauspiel, weshalb wir natürlich stehen blieben. Es dauerte aber nicht lange, da kam ein Jeep der russischen Militärpolizei und wir staunten nicht schlecht, wie rabiat der Betrunkene angepackt und auf den Jeep geworfen wurde, wie ein Stück Vieh!

Es gab da auch eine Firma, die hiess „Göring und Sack“, da meinten die Russen, dass da der General Hermann Göring gemeint sei. Die grösseren Jungen haben den Russen dann klar gemacht, was Sache ist.

Bald haben wir aber gemerkt, dass die Russen ihre Mannschaft nicht mehr ausschwärmen liessen. Auch die Offizierseinquartierung wurde beendet.

Und wie nach Kriegen üblich lagen überall Waffen und Munition irgendwo frei herum. So kam es dann, dass die größeren Jungen sich dieser Dinge bemächtigten und damit herumhantierten. Dabei waren es ausschließlich Munitionsbestände an denen herum manipuliert wurde, um sich des Pulvers zu bemächtigen oder um Granatzünder heraus zu holen. Dabei wurde zum Beispiel aus Infanteriemunition das Geschoss herausgetrennt und dann konnte man das Pulver aus der Patrone herausschütten. Sogenannte Zündhütchen waren sehr begehrt bei den Jungen. Warum ist leicht zu erklären, denn inzwischen fuhr die Straßenbahn wieder. Es wurden also auf die Straßenbahnschienen hintereinander in gewissen Abständen eine Menge dieser Zündhütchen auf die Schienen gelegt. Dann ging die Meute in Deckung und harrte der Dinge die da kommen werden. Die Straßenbahn kam angefahren und dann ging ein mörderisches Knallen wie MG-Feuer von statten. Meist bremste der erschrockene Fahrer die Bahn abrupt ab und versuchte die Missetäter zu erwischen, was nie gelang.

Mir ist erinnerlich wie bei einer dieser Munitionsmanipulationen die Sache schief ging und laute Schreie der Getroffenen zu hören waren. Die Beine einiger in der Nähe stehenden Buben bluteten heftig, da jede Menge Splitter eingedrungen waren. Nur die Tatsache, dass ich als kleiner Bub weiter hinten stand, hat mich vor Schaden bewahrt.

Seitdem war Schluss damit, denn wie immer – erst wenn‘s richtig weh tut, dann hört der Mensch auf.

Irgendwann 1945 normalisierte sich einiges und mein Bruder musste wieder zur Schule gehen. Daher hatte er eine Monatskarte und nutzte diese weidlich aus. Er war schon ein Tausendsassa und machte dem Fahrpersonal das Leben schwer. Manchmal bin ich ja mit ihm mitgefahren und dann zeigte er mir stolz wie er heimlich im Anhänger die Handbremsen anzog oder im Zweirichtungstriebwagen hinten den Stromabnehmer mittels Schnur so weit nach unten zog, dass es laufend Funkenflug gab…. Keine Ahnung warum er das machte. Vermutlich die dunkle Seite in ihm.

Im Winter 1945 wurden die Verpflegungslage und auch der Gesundheitszustand meiner Mutter immer schlechter.

Opa war immer noch als Bahnschirrmeister tätig. Manchmal fuhren mit der Rootsdampflok auch große Reichsbahn-Personenzuganhänger ins Industriegebiet, vermutlich nur zwischengelagert um dann wieder neu zusammengestellt zu werden. In diesen Waggons befanden sich wie man heute weiß die Vertriebenen aus den Ostgebieten, um dann in Deutschland weiter verteilt zu werden. Für mich sind da zwei Erinnerungen haften geblieben. Einmal die Tatsache, dass diese Menschen Brötchen und Wurst in den Händen hielten, was für uns wie Paradies aussah, aber unerreichbar, da die Türen geschlossen blieben. Andererseits aber auch ein Mann der so fürchterlich laut weinte, weil er vermutlich seine Liebsten auf ewig verloren hatte. Wir Kinder hatten keinerlei Verständnis für die Hintergründe und machten uns noch über diesen weinerlichen Singsang lustig.

 

Da nun der Hunger zum Alltag gehörte und mein Bruder es geschafft hatte den kleinen Vorratsschrank zu knacken, in dem die Reste der Arsenal-Plünderung aufbewahrt wurden, gab es großen Ärger. Mutter war nun bettlägerisch geworden und auch Oma hatte inzwischen derart angeschwollene Beine, dass sie nur noch schwer laufen konnte. Aber sie hatte tapfer meine Mutter gepflegt. Ich kann mich noch erinnern, dass ich als kleiner Bub vor diesem Vorratsschrank Wache gehalten habe, um meinen Bruder daran zu hindern sich nochmals zu bedienen. Mein dreieinhalb Jahr älterer Bruder war natürlich kräftiger und hat mir Ohrfeigen gegeben. Was blieb mir anderes übrig als zu petzen, was wiederum Prügel von Opa für meinen Bruder bedeutete. Kein gutes Omen.

Ein anderes für mich sehr peinliches Ereignis aus dieser Zeit ist auch unvergessen geblieben. Eines Nachts träumte ich, dass ich vor einem Pollerstein stehen würde, an dem ich manchmal tagsüber pinkelte. Als ich morgens wach wurde - war das Bett nass - das war das erste und letzte Mal in meinem Leben das mir so etwas passierte.

Ein anderes ähnlich gelagertes Beispiel war mir auch peinlich. Als ich nahe dem Haus auf dem Fußweg lief und Dampflok spielte, sahen mich zwei Mädchen kommen, ließen ihre Schlüpfer herunter, nahmen die Röcke hoch, begaben sich in Positur, um mir zu zeigen, dass auch sie eine Parabel pinkeln können.

Auch eine Form der Emanzipation, die ich damals nicht verstand.

 

Leider sind in Kriegs- und Nachkriegszeiten die Sitten teilweise entgleist und verroht. Wie immer wurde in der Clique agiert und eines Tages näherte ich mich einem großen Stück eines Steinabflussrohres, welches so groß war, dass ein kleiner Bub darinstehen konnte. Ich hörte darin Stimmen und war natürlich neugierig was da wohl vor sich ging. Zu meinem großen Erstaunen sah ich ein etwa 9 oder 10 Jahre altes Mädchen nackt auf dem Rücken liegen und Jungens machten sich an ihr zu schaffen. Nach einer gewissen Zeit wurde ich aufgefordert es doch auch mal zu probieren – was natürlich absolut unmöglich war. Nach vielen Jahrzehnten habe ich mal meinen Bruder gefragt, ob er sich an diese Szene erinnern kann und er bejahte dies. Sogar den Vornamen des Mädchens wusste er noch. Wahrscheinlich hatte man sie in dieser Zeit des Hungers mit Lebensmitteln gefügig gemacht, denn nach brachialem Zwang sah das nicht aus, anders ist dies kaum zu erklären.

An einem anderen Tag im Herbst 1945 spielte ich auf der so genannten „Atlasruhe“, einem riesigen Sandberg den es heutzutage nicht mehr gibt. Plötzlich tauchten zwei etwa 14 Jahre alte Mädchen auf. Die waren auf Randale aus, denn sie zerstörten sofort meine Sand-Bauwerke und attackierten mich mit bösen Worten. Als Junge meint man ja sich gegen das Weibsvolk wehren zu können…. Da beide aber wesentlich älter und stärker waren, verabreichten sie mir eine gehörige Tracht Prügel. Dass ich danach bitterlich vor Schmerz, Wut und Scham weinte ist nur allzu verständlich.

Bei einer weiteren Begebenheit in der Nähe der Atlasruhe unter der Unterführung der Betriebsbahn war ich Augenzeuge. Im Rahmen der Reparationsleistungen die das besiegte Deutschland an Russland zu erbringen hatte wurden Industrieanlagen, lange Gleisanlagen der Reichsbahn und andere nützliche, dem Sieger dienende Werte, wie etwa auch komplette Chemieanlagen, nach Russland gebracht. Wie ich später erfuhr, wurde teilweise dieses Beutegut nicht einmal genutzt. So demontierten die Russen auch die Turbinenfabrik im Industriegelände. Ich sah wie auf einem Pferdewagen sehr schweres Industriegerät transportiert wurde. Zwei Gäule waren von den Russen vorgespannt worden. Auf der abschüssigen Strecke unter die Unterführung hatten wohl die Bremsen wegen der großen Last nicht ausreichend wirken können und das schwere Gefährt raste in die Gäule hinein, die diese Geschwindigkeit nicht mithalten konnten. Aufmerksam wurde ich durch die qualvollen und lauten Schreie der Pferde deren Hinterteile zerschmettert waren. Ziemlich ungerührt zückte einer der Russen seine Pistole und erschoss beide Pferde. Für mich war das damals derart erschütternd zu sehen, dass ich es lange nicht vergessen konnte. Das Erschießen war jedoch ein schnelles Ende der Qual für die Pferde, was ich damals nicht verstand.

Das Jahr 1945 neigte sich dem Ende zu und die Lebensmittelrationen pro Tag wurden immer kleiner. Hunger wurde nun unser ständiger Begleiter. Was auch immer häufiger vorkam waren unvermittelte Stromabschaltungen. Plötzlich saß die Familie im Finstern und bei einer derartigen Gelegenheit, der Hunger war allgegenwärtig, meinte Großvater, dass wir noch eine Keksdose aus den Arsenalvorräten hätten und wir doch diese Kekse jetzt als Abendbrot essen könnten. Gesagt getan und die Kekse wurden im Dunklen verteilt, denn inzwischen waren auch die Wachskerzen ausgegangen. Ach war das köstlich - ein leichter Geschmack nach Mohn war diesen Keksen eigen. Plötzlich ging das Licht wieder an und oh Schreck was wir da sahen war äußerst lebendig, denn die Kekse hatten ein madiges Innenleben. Es waren nur noch 2 Kekse übrig, die aus Ekel nicht verzehrt worden sind. Eine gewisse Eiweißportion hatte nun ein jeder doch hinuntergeschluckt.

So hat auch ein Stromausfall sein Gutes.

 

Das Jahr 1946 begann gar nicht gut. Meiner Mutter ging es immer schlechter und im Februar 1946 wurde sie ins Krankenhaus gebracht. Am 27.02.46 ist sie dort verstorben. Nun waren wir Geschwister Vollwaisen. An das Begräbnis auf dem Garnisonsfriedhof kann ich mich noch erinnern und auch daran, dass ich bitterlich weinte und mich gar nicht mehr beruhigte. Nächtelang träumte ich von meiner Mama, aber es waren leider nur Träume. Doch das Leben ging unerbittlich weiter und so richtig bewusst ist einem 5-jährigen Jungen die volle Tragweite dieses Verlustes noch nicht.

Einer aus der Clique hieß Horst und sein Vater muss schon etwas vermögend gewesen sein, denn er hatte ein Haus mit einem großen Garten dran. In diesem Garten waren Gleise einer Märklinbahn größeren Ausmaßes verlegt und die Lok sowie Anhänger waren so groß, dass ich mich auf einen dieser Waggons hätte setzen können. Alles aus gediegenem Blech naturgetreu dargestellt, das war schon etwas Besonderes. Und im Haus auf dem Boden hatte er eine riesige Modellplatte, auf der eine H0 – Märklinbahn - Anlage aufgebaut war. Sowas hatte ich noch nie gesehen, da die Lokomotiven elektrisch angetrieben waren und ohne Aufzugsfeder fuhren. Doch plötzlich ließ Horst B. lautstark einen Wind wehen, der so intensiv war, dass es nicht zum aushalten war, als wäre Giftgas abgelassen worden. Fluchtartig verließen alle Jungs den Dachboden.

Da mein Großvater arbeiten musste, meine Großmutter auch erkrankt war und kaum laufen konnte, mein Bruder zur Schule zu gehen hatte und auch nicht sehr vertrauenswürdig war, musste ich als kleiner Bub im bitterkalten Winter jedes Mal zum Einkauf der spärlichen Naturalien wie etwa Magermilch oder Brot einen langen Weg zu Fuß bis auf den Nordplatz zur Heerstraße laufen, da es im Industriegelände keinerlei Geschäfte gab. Für die Milch musste eine leere Henkelkanne mitgenommen werden, die in einem Beutel im leeren Zustand getragen wurde. Gegen die Kälte und zum Schutz der Hände bekam ich einen Muff. Der war mit Fell gefüttert und von beiden Seiten führte man die Hände hinein, damit diese nicht erfroren. Am Arm baumelte dann der Beutel. Der Hinweg ging einigermaßen, aber wenn man dann Milch in der Kanne hatte, musste diese am Henkel getragen werden und da konnte die Tragehand leider nicht in den Muff gesteckt werden. Nach ganz kurzer Zeit musste man ständig wechseln und so richtig warm wurde auch die im Muff steckende Hand nicht, weil ja eine Seite offen war. Was habe ich vor Kälte geheult, immer wieder anhalten müssen, um die Hände zu massieren, damit wieder Blut in den Adern fließt, was jedes Mal schmerzhaft war, wenn man dies geschafft hatte, aber notwendig, damit die Hand nicht erfriert.

Langsam kam das Frühjahr, der Hunger wurde immer unerträglicher und irgendwann erlaubte man mir mit der Straßenbahn fahren zu dürfen. Alle Gedanken von früh bis spät drehten sich nur um das eine: Wo gibt‘s was zu essen, denn Hunger tut weh. Die Natur erwachte und brachte Brennnesseln hervor. Wochenlang gab es dann als Mahlzeit Brennnesselsuppe. Eine „Rotzfädelsuppe“ war damals etwas besonders Leckeres, da wurde maximal eine Kartoffel fein gerieben mit Schale und allem drum und dran als Suppe gekocht. Das war aber die Ausnahme, die Regel war Brennnesselsuppe. Fleisch, Speck oder so etwas waren Fremdworte und unerreichbar. Eines Tages musste ich wieder ein rationiertes Brot einkaufen und hielt dies während der Straßenbahnfahrt wie eine Trophäe dicht mit beiden Händen an meinem Körper, damit ja nichts verloren geht, das hatte mir Großmutter eingeschärft. Denn dieses Brot musste lange reichen für alle. Ein freundlicher Herr Müller begann ein Gespräch mit mir und stellte sich als Onkel vor, der jetzt eben Großvater besuchen will und machte sich erbötig, mir doch das schwere Brot abzunehmen da ich noch so klein sei. Durch geschicktes Aushorchen und Argumentieren erschlich er sich mein Vertrauen und ich dummer Junge gab ihm das Brot. Wir stiegen gemeinsam an der Haltestelle Meschwitzstraße aus und gingen nebeneinander in Richtung meines Zuhauses. Auf der rechten Seite am Anfang der Straße war eine Gaststätte. Onkel Müller meinte, ich soll mal immer schon vorausgehen, da er noch Getränke kaufen möchte um sie Opa mitzubringen. Schnell bin ich nach Haus gelaufen und schon an der Tür bemerkte man, dass ich kein Brot bei mir hatte. Ei wo ist das Brot wurde gefragt und ich antwortete wahrheitsgemäß, dass der Onkel Müller gleich mit Getränken und dem Brot zu Besuch kommen werde. Entsetzen machte sich breit, denn es war den Erwachsenen sofort klar, was hier gespielt wurde und dass meine Unerfahrenheit und Jugend voll ausgenutzt wurden. Das hat aber den Nachbar derart in Rage gebracht, dass er mich sofort an die Hand nahm und schnurstracks mit mir zu dieser Gaststätte eilte. Wir hatten Glück, der sogenannte Onkel Müller war noch anwesend und hatte sich am Brot schon kräftig gütlich getan- leider! Dann geschah etwas, was ich nicht für möglich hielt. Der Nachbar machte lautstark alle Gäste mit der Situation vertraut, zeigte auf den Übeltäter und machte deutlich, wie schäbig es ist einem Kind das bisschen Brot zum Überleben wegzunehmen. Dem Mann wurde das Brot entrissen und mir sofort gegeben. Anschließend hagelte es eine Tracht Prügel, die der „liebe“ Onkel Müller sicher lange nicht vergessen sollte. So lernte ich sehr schnell Niemandem mehr zu vertrauen.

Sehr oft ist Opa mit uns Buben in den Wald gegangen und hat uns gelehrt welche Pilze essbar und welche nicht essbar sind. Von diesem Wissen profitiere ich heute noch. Damals war es existenziell wichtig, damit man wenigstens eine kleine Pilzmahlzeit zur Abwechslung bereiten konnte. Nur ohne Fett und Butter ist die Zubereitung auch ein kleines Problem. Je weiter das Jahr fortgeschritten war umso besser wurde es, da wir ja den Garten hatten. Aber rachitisch war ich durch die Ernährungssituation inzwischen geworden und dass ich beizeiten die Zähne verlor ist dieser Zeit geschuldet. Auf dem Höhepunkt des Hungerns ist mir noch in Erinnerung geblieben, dass ich aus lauter Verzweiflung an einer Wachskerze genagt habe, nur um etwas in den Bauch zu bekommen. Aber Wachs ist bekanntlich unverdaulich… Inzwischen begann im Garten erstes Gemüse erntereif zu werden und die Hoffnung auf Besserung bei der kargen Rationierung gedieh auch und wurde erfüllt – denn wir haben ja überlebt.

In dieser Zeit sind viele Stadtmenschen auf die Dörfer zu den Bauern geströmt und haben dort ihr Hab und Gut so gut es ging gegen Lebensmittel eingetauscht, meist arg unter Wert. Die allererste Reaktion der Bauern lautete: „Mir han a selber Nix!“ Leider konnten wir nicht „Fechten gehen“ (so hieß dies im Volksmund), Opa ging Arbeiten, Mutter war tot, Oma konnte nicht mehr laufen und wir Kinder waren noch zu klein.

Zu dieser Zeit gab es in der „Krachwitz“ (so hieß ein großes, nahe gelegenes Mehrfamilienhaus, in dem es laufend Streit gab) eine Rattenplage. Bei dieser Gelegenheit wurde eine Ratte gefangen und in einen Käfig gesperrt. Anschließend füllte man ein Behältnis mit Wasser und ersäufte die Ratte langsam. Das Tier schrie wie ein kleines Kind äußerst laut, was beabsichtigt war, damit sich die Ratten woanders hinbegeben sollten, da dies ein Warnsignal für die Rattenbrut war. Für mich als kleiner Bub war dies äußerst widerwärtig und nur schwer auszuhalten.

Das Interesse meines Bruders an der Straßenbahn war ungebrochen und so nahm er mich öfters an die Haltestelle Industriegelände mit. Erstens gab es dort Maulbeersträucher deren Früchte zur Erntezeit köstlich schmeckten. Zweitens war dort öfters Rangierbetrieb, der sehr interessant war. Zur damaligen Zeit war auf jedem Triebwagen und Anhänger ein Schaffner. Zur Änderung der Fahrtrichtung wurde der Triebwagen abgehangen, wobei vorher der Beiwagen gründlich angebremst sein musste und außerdem noch zur Sicherheit ein Hemmschuh vorgelegt wurde, da es relativ bergab ging. Der Zweirichtungstriebwagen fuhr ein Stück bergauf. Auf der Fahrerstandsgegenseite stand ein Schaffner, der die Handbremse vom Triebwagen anzog. Danach kam der Fahrer mit der Handkurbel zum anderen Fahrerstand, steckte diese auf, löste die Handbremse und umfuhr auf dem Nachbargleis den Anhänger und bog wieder auf das vorher befahrene Gleis ein. In der Zwischenzeit hatte der Beiwagenschaffner das Bremskabel die Schutzkette und die Kuppelstange auf die andere Seite des Anhängers zu transportieren und durfte nicht vergessen den Bremsstöpsel hinten einzustecken, was wichtig war, weil sonst der Anhänger nicht mit Bremsstrom versorgt würde. Hatte der Schaffner die Kuppelstange mit Bolzen und das Bremskabel eingesetzt, die Bremskette eingehängt, wurde der Hemmschuh entfernt und der Schaffner stellte sich an die Handbremse. Stand der Triebwagen abfahrtsbereit in der richtigen Richtung wurde die Handbremse vorsichtig gelöst und langsam rollte der Anhänger auf den Triebwagen zu und musste so abgebremst werden, dass ganz gefühlvoll Kuppelstange und Trompetenkupplung wieder zusammenpassten und gesichert waren. Danach wurden die entsprechenden Verbindungen zum Triebwagen hergestellt, die Fahrtrichtung-Schilder umgetauscht und der Zug war wieder abwärts fahrbereit.

Und da kam dann mein Bruder ins Spiel. Er half beim Tragen von Kabel und Kette am Beiwagen, was für den Schaffner eine gewisse Erleichterung war und es deshalb häufig geduldet wurde. Auch das Entfernen des Hemmschuhs hat er manchmal wahrgenommen. Mal eine nützliche und nicht nur schädigende Tätigkeit die er da fürs Bahnpersonal vollführte.

Natürlich war 1946 weiterhin jeden Tag Hunger angesagt, eines der schlimmsten Hungerjahre das Deutschland erlebt hat, und der viele alte und schwache Menschen zum Opfer fielen. Wir waren ungefähr in der Clique 8-10 Jungen im Alter von fünfeinhalb bis ca. dreizehn Jahren. Einer der Rädelsführer meinte, dass wir unser Glück mal in einer Schrebergartenkolonie versuchen sollten, denn da ist immer etwas Essbares zu holen. Gesagt getan, hurtig über Zäune geklettert und wir hatten Glück, da waren schon einige Tomaten reif, deren man sofort habhaft wurde.

Aber da hatten wir nicht mit dem Flurschutz gerechnet, der natürlich sofort Jagd auf uns machte. Die großen Jungs und auch mein Bruder entkamen, nur ich kleiner Matz kam nicht so schnell über die Zäune und wurde gefasst. Wie ein Schwerverbrecher wurde ich behandelt und mir wurde ganz bewusst Angst gemacht, damit sich das einprägt und mir klar wird, dass Diebstahl ein Verbrechen ist. Bei Opa lieferte man mich ab und ich hörte mir dort noch einmal ein Donnerwetter an. Sicher haben sich die Erwachsenen zugezwinkert, denn dass es sich hier um Mundraub handelte war ja klar. Ich habe mir das sehr zu Herzen genommen und seitdem nie wieder etwas gestohlen.

Es war Sommer geworden und da gab es im Industriegelände einen Feuerlöschteich. Die Clique marschierte natürlich mit Badehosen ausgerüstet zu diesem Teich, der auch eine ausreichende Tiefe hatte. Die größeren Jungs konnten ja schwimmen und ich saß am Rand als Nichtschwimmer und ließ an diesem heißen Tag die Beine im Wasser baumeln. Aber wie das so ist, irgendein Rowdy konnte es nicht lassen und schubste mich unvermittelt ins Wasser hinein, ohne sich darüber im Klaren zu sein, dass ich ja nicht schwimmen konnte...

Mit aufgerissenem Mund fällt man erschrocken ins Wasser, gerät sofort unter Wasser und schluckt Wasser was das Zeug hält. Man taucht auf, heftig strampelnd und kann kaum schreien, da man ja auch in die Luftröhre Wasser bekommen hat. Das klingt dann wohl eher wie eine Art Krächzen und ist nicht sehr laut zu hören. Aber einige Jungens hatten es doch bemerkt und sahen wie ich um mein Leben kämpfte. Schließlich ergriff mich ein Schwimmer und zog mich an den Rand des Beckens, wo mich dann einer der Jungen heraus hievte. Auch das war für mich wieder eine Lehre. Sei immer auf der Hut und begebe dich nicht leichtfertig in Gefahr, denn die Bosheit deiner Mitmenschen ist grenzenlos!

Im Sommer 1946 kann ich mich noch an den Garten erinnern, insbesondere an das köstliche Beerenobst, Tomaten und Gemüse, was uns über die Runden half. Auch Kaninchen waren wieder in den Ställen und fleißig mussten wir wieder in der Heide mit dem Leiterwagen fahrend Futter besorgen, was auch mein Bruder und ich höchst ungern gemacht haben. Mein Bruder war oft mit der Clique unterwegs und hatte dabei offensichtlich viele, viele Dummheiten gemacht. Ich habe mich mehr und mehr von diesen Rowdys ferngehalten, denn oft hat‘s auch Prügel gegeben, ohne dass ich wusste wie ich dazu kam.

Einer der Größeren in unserer Clique, Achim, machte den Vorschlag, ob wir nicht Lust hätten mal mit einem Lkw spazieren zu fahren. Natürlich wollten wir das, nur ahnten wir nicht zu welchem Zweck. Es dauerte nicht lange kam sein Vater tatsächlich mit einem knatternden Lkw angefahren und wir wurden auf die Ladefläche gehievt. Dann ging‘s los und schon auf dem Heller endete jäh die Fahrt. Hier mussten wir absteigen und sollten dann ein Grundstückteil von Unkraut und Unrat befreien. Sein Vater hatte plötzlich eine Reitpeitsche in der Hand und machte unmissverständlich klar, dass wir jetzt Arbeitssklaven sind und uns gefälligst sofort an die Arbeit zu machen hätten, sonst gäbe es Prügel! Aber mit einer Jungenschar ist es wie mit dem Flöhe hüten – einer kann nicht alle zugleich in Schach halten. So gelang es meinem Bruder und mir, die am weitesten von diesem Peitschenschwinger entfernt waren, zu fliehen. Wäre er uns nachgegangen, hätten die anderen Reißaus genommen. Die ganze Strecke durften wir dann zurücklaufen und waren wieder um eine Erfahrung reicher geworden. Es gibt nichts umsonst!

Soweit mir erinnerlich ist, begann 1947 staatlicher Aufbau und Organisation eine gewisse Wirkung zu zeigen und die Lebensmittelrationen in Größenordnungen zu gelangen, die zumindest ein Überleben ermöglichten. Großmutter ging es immer schlechter und ich war dann ständig bei ihr und habe sie versorgt, soweit ich das als kleiner Bub konnte. Mein Bruder war immer auswärts, entweder in der Schule oder mit der Clique unterwegs. Ich entsinne mich noch an einen Steinzeugunterschieber, den ich Oma immer zur Verrichtung ihrer Notdurft untergeschoben und dann weggebracht hatte, denn die Toiletten waren weit hinten im Flur angeordnet. Übrigens Toilettenpapierrollen gab‘s damals noch nicht, sondern ein Kästchen indem zurechtgeschnittenes Zeitungspapier lag, das man vor Gebrauch gründlich zerknüllte. Ein Manko war immer die Druckerschwärze! Des Lesens Kundige lasen meist auf der Toilette in diesen Zeitungsresten. In diesem Zusammenhang erinnere ich mich an eine Zeichnung, in der zwei Galgen dargestellt waren. An einem hing ein kleiner strangulierter Mann, am anderen stand ein großer Mann mit lockerer Schlinge. Oma zeigte ich diesen Zeitungsaus-schnitt und sie nannte mir die Bildunterschrift „Die Kleinen hängt man und die Großen lässt man laufen“.

Auf dem Flur gegenüber unserer Wohnung lebte ein jüngeres Ehepaar mit Kind, ein Mädchen namens Christine. Dieses Mädchen hatte eine Besonderheit, die mir sofort auffiel, denn sie bewegte den Oberkörper vor und zurück und schlug jedes Mal mit dem Hinterkopf an die Sofalehne. Es hat nicht lange gedauert bis ich erfuhr, dass dieses Kind verstorben ist. Welche Krankheit sie hatte und woran sie starb weiss ich nicht, aber es beeindruckte mich schon.

Da ich im September 1947 eingeschult werden sollte, musste ich zusammen mit meinem Bruder, der ja schon zur Schule ging, zu einem Vorstellungsgespräch kommen. Kurz vor der Schule trafen wir einen seiner Klassenkameraden. Nach kurzem Gespräch zwischen den beiden trat dieser Kamerad auf mich zu und haute mir links und rechts eine kräftige Ohrfeige in die Wangen. Der Junge amüsierte sich und lachte, mein Bruder schaute etwas verlegen drein und ich heulte vor Schmerz. Wieder einmal hatte die Bosheit zugeschlagen, denn einen Grund für diese Behandlung gab es nicht. Warum mich mein Bruder nicht verteidigte ist mir bis heute ein Rätsel, wahrscheinlich war es Feigheit. Natürlich hatte ich das Zuhause Opa erzählt.

Dann hat es gar nicht mehr lange gedauert und eine Frau May vom Jugendamt stellte sich vor und sagte, dass wir unsere wenigen Habseligkeiten packen sollten und sie uns mitnehmen würde. Im Nachherein ist mir klar geworden, dass der arbeitende Großvater nicht mehr in der Lage war, sowohl seine kranke Frau zu versorgen als auch noch die Verantwortung für die Erziehung von zwei Enkeln zu übernehmen. Was ich auch nicht wusste und erst nach Jahrzehnten von meinem Bruder erfuhr ist die Tatsache, dass sein Maß wohl nun voll war mit Untaten und Opa es einfach auch nicht mehr verantworten konnte, die weitere Erziehung wahrzunehmen. Dem Jugendamt hatte er leider vorgegeben, dass die Brüder nicht getrennt werden sollten, was aus meiner persönlichen Sicht eine grandiose Fehlentscheidung war, da unser Bruder-verhältnis alles andere als herzlich war.

1.4 Im Heim für Schwererziehbare