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Das Interesse an systemübergreifender Diagnostik in der Kinder- und Jugendhilfe wächst. Welche Hilfen, welche Interventionen unter welchen Umständen gut und richtig sind, muss in Hilfeplanungsprozessen beantwortet werden. Das Buch bündelt systematisch Beiträge zur biopsychosozialen Diagnostik, zeigt aktuelle und zukunftsweisende Konzepte sowie erprobte Diagnostikmodelle auf. Es gibt einen aktuellen Überblick und regt zu neuen fachlichen Perspektiven und Verfahrensweisen an.
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Seitenzahl: 403
Veröffentlichungsjahr: 2013
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Das Interesse an systemübergreifender Diagnostik in der Kinder- und Jugendhilfe wächst. Welche Hilfen, welche Interventionen unter welchen Umständen gut und richtig sind, muss in Hilfeplanungsprozessen beantwortet werden. Das Buch bündelt systematisch Beiträge zur biopsychosozialen Diagnostik, zeigt aktuelle und zukunftsweisende Konzepte sowie erprobte Diagnostikmodelle auf. Es gibt einen aktuellen Überblick und regt zu neuen fachlichen Perspektiven und Verfahrensweisen an.
Silke Birgitta Gahleitner, Professorin für Klinische Psychologie und Sozialarbeit mit dem Schwerpunkt Integrative Therapie- und Interventionskonzepte. Karl Wahlen, Dipl.-Psych., Psychologischer Psychotherapeut, langjährige Leitung eines Fachbereichs Psychosoziale Dienste. Oliver Bilke-Hentsch, Dr. med., MBA, Kinder- und Jugendpsychiater, Chefarzt Modellstation SOMOSA Winterthur. Dorothee Hillenbrand, Dipl.-Psych., Psychologische Psychotherapeutin, Supervisorin.
Silke Birgitta Gahleitner Karl Wahlen Oliver Bilke-Hentsch Dorothee Hillenbrand (Hrsg.)
Biopsychosoziale Diagnostik in der Kinder- und Jugendhilfe
Interprofessionelle und interdisziplinäre Perspektiven
Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikrofilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
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1. Auflage 2013 Alle Rechte vorbehalten © 2013 W. Kohlhammer GmbH Stuttgart Wissenschaftliche Redaktion: Ilona Oestreich Umschlag: Gestaltungskonzept Peter Horlacher Gesamtherstellung: W. Kohlhammer Druckerei GmbH + Co. KG, Stuttgart Printed in Germany
Print: 978-3-17-022487-2
E-Book-Formate
pdf:
978-3-17-023972-2
epub:
978-3-17-027612-3
mobi:
978-3-17-027613-0
Einleitung
Literatur
Interdisziplinäre und interprofessionelle Aspekte Biopsychosozialer Diagnostik
1 Biopsychosoziale Diagnostik aus Sicht der Sozialen ArbeitSilke Birgitta Gahleitner
1.1 Geschichte
1.2 Inhaltliche Ausgestaltung
Literatur
2 Diagnostik aus der Perspektive der PsychologieKarl Wahlen
2.1 Psychodiagnostik als soziale Praxis
2.2 Erwartungen an psychologische Diagnostik
2.3 Psychologische Diagnostik im Kontext
2.4 Erleben und Verhalten im Fokus
2.5 Subjektivierter und sozialisierter Sinn
2.6 Konsequenzen für die psychologische Methodik und Theoriebildung
2.7 Idiografie und Nomothetik
2.8 Der Untersuchungsbereich psychologischer Diagnostik
2.9 Psyche zwischen Soma und Umwelt: Anpassungsleistungen
2.10 Stressregulation
2.11 Psychodiagnostische Aufmerksamkeit: dreidimensional
2.12 Resümee
Literatur
3 Diagnostik aus der Perspektive der MedizinOliver Bilke-Hentsch
3.1 Diagnose als intersubjektiver Prozess
3.2 Leitliniengestützte Diagnostik und evidenzbasierte Medizin
3.3 Screening und Früherkennung
3.4 Multiaxiale Diagnostik
Literatur
4 Diagnostik aus der Perspektive des JugendamtesKarl Wahlen
4.1 Was ist Diagnostik? – Eine Begriffsklärung
4.2 Zwecke der Jugendhilfe und des Jugendamtes
4.3 Diagnosebedarf – in zweierlei Hinsicht
4.4 Diagnostik im Einzelfall
4.5 Schützende Instanzen
4.6 Risikoverantwortung
4.7 Optimierung der Hilfeplanung durch Optimierung der Diagnostik
4.8 Wozu Einzelhilfen?
4.9 Konsequenzen für Diagnostik und Hilfeplanung
4.10 Resümee
Literatur
5 Interprofessionelle Kooperation in Diagnostikprozessen der Kinder- und JugendhilfeHans Günther Homfeldt und Silke Birgitta Gahleitner
5.1 Diagnostik und Kooperation: eine schwierige Liaison
5.2 »Gelingende Kooperation« in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen: Geht das überhaupt?
5.3 Ausblick
Literatur
Kategoriale, biografie- und lebensweltorientierte Zugänge zur Diagnostik im Kinder- und Jugendbereich
6 Psychiatrische Diagnosen und deren Klassifikation nach der ICD-10Klaus Hennicke
6.1 Was ist die ICD-10?
6.2 Was bedeutet Klassifikation einer psychiatrischen Diagnose?
6.3 Wozu sind Klassifikationssysteme notwendig?
6.4 Was können Klassifikationssysteme nicht leisten? Womit können sie Schaden anrichten? Was kann man dagegen tun?
6.5 Zusammenfassung und Schlussfolgerungen
Literatur
7 Das multiaxiale Klassifikationsschema für psychische Störungen des Kindes- und Jugendalters (MAS)Klaus Hennicke
7.1 Multiaxiale Klassifikation nach dem MAS
7.2 MAS und multimodale therapeutische Interventionen
7.3 Fazit: Das MAS ist ein hilfreiches Klassifikationssystem
Literatur
8 Die Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit bei Kindern und Jugendlichen (ICF-CY) in der interdisziplinären DiagnostikUrsula Mohn-Kästle und Hedwig Amorosa
8.1 Zum Aufbau im Einzelnen
8.2 Zum Nutzen des Einschätzungsbogens
Literatur
9 Die operationalisierte psychodynamische Diagnostik im Kindes- und Jugendalter (OPD-KJ) als Instrument zur multimodalen TherapieplanungOliver Bilke-Hentsch, Agnes von Wyl und Ruth Weissensteiner
9.1 Grundstruktur des Manuals
9.2 Die Achsenstruktur des OPD-KJ
9.3 Kombination der OPD-KJ mit anderen Diagnosesystemen
9.4 Fallvignette
9.5 Anwendung der OPD-KJ in der Psychotherapieforschung
9.6 Fazit
Literatur
10 Diagnostik der Erziehungs- und Entwicklungssituation nach dem Multiaxialen Diagnosesystem Jugendhilfe (MAD-J)Karl Wahlen und André Jacob
10.1 Ausgangslage: Wirkungen und Nebenwirkungen von Erziehungshilfen
10.2 Korrekturbedarf bei der Ermittlung des Hilfebedarfs
10.3 Grundannahmen und Ausrichtung
10.4 Architektur des MAD-J
10.5 Diagnostische Bewertungen
10.6 Prozessaufwand und Ertrag
Literatur
11 Sozialpädagogische Diagnose – ein Meilenstein auf dem Weg zu einer wirkungsorientierten Prozessgestaltung in der EinzelfallhilfeHans Hillmeier und Harald Britze
11.1 Entwicklung der Sozialpädagogischen Diagnose-Tabellen
11.2 Konzeptioneller Hintergrund
11.3 Evaluation
11.4 Neufassung
11.5 Anwendung
11.6 Implementierung
Literatur
12 Biografieorientiertes Verstehen und Verständigen als ganzheitlich, lebensweltlich und dialogisch orientierte Fallarbeit – ein rekonstruktiver Zugang in der Kinder- und JugendhilfeBettina Völter
12.1 Biografieorientiertes Verstehen und Verständigen – eine Definition und grundlagentheoretische Einführung
12.2 Biografische Diagnostik oder Biografieorientiertes Verstehen und Verständigen
12.3 Methoden biografieorientierten Verstehens und Verständigens in der Kinder- und Jugendhilfe
Literatur
13 EQUALS – ein teilstandardisiertes Instrument zur interdisziplinären Zielvereinbarung und Unterstützung des Hilfeplanverfahrens in der Kinder- und JugendhilfeMartin Schröder, Nils Jenkel und Marc Schmid
13.1 Die Entstehung und Haltung von EQUALS
13.2 Die psychometrische Testbatterie
13.3 Das Zielerreichungsinstrument
13.4 Anwendung von EQUALS anhand eines Fallbeispiels
13.5 Fazit
Literatur
14 Lebenswelt und Lebensfeld – Diagnostik des Sozialen in der JugendhilfePeter Pantucˇek
14.1 Lebenswelt und Lebensfeld
14.2 »Dezentrierte« Formen der Diagnostik und Intervention
14.3 Riskante Entscheidungen
14.4 Resümee
Literatur
15 Systematische Diagnostik in der Jugendhilfe mit dem Störungsübergreifenden Diagnostik-System für die Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie (SDS-KJ)Michael Borg-Laufs
15.1 Multimodale Fallerfassung
15.2 Interventionsplanung mit dem SDS-KJ im Überblick
15.3 Datenerhebung: Vorgehensweise
15.4 Datenerhebung: Inhaltsbereiche
15.5 Interventionsrelevante Bedingungsdiagnosen
15.6 Interventionsplanung mit dem SDS-KJ
Literatur
16 Zugänge und Anwendungen systemischer DiagnostikSebastian Baumann und Hartmut Epple
16.1 Systemisch und Diagnostik – keine Liebeshochzeit, aber eine Vernunftehe mit Entwicklungspotenzial
16.2 Grundhaltungen systemischer Diagnostik
16.3 Systemische Diagnostik auf drei Ebenen
16.4 Schlussbemerkung
Literatur
17 Sonderpädagogische Diagnostik als Teil des Beratungsauftrags von Klinikschulen am Beispiel der Berliner Schule in der CharitéInka Vogler und Ronald Vierock
17.1 Die Schule in der Charité – eine Klinikschule und ihr Auftrag
17.2 Maßgebliche Tätigkeitsfelder für die Diagnostik der Klinikschule
17.3 Eingesetzte diagnostische Verfahren
Literatur
Vorschlag für ein biopsychosoziales Rahmenverbund-Modell
18 Zur Implementation biopsychosozialer Diagnostik in der Kinder- und Jugendhilfe – ein VorschlagSilke Birgitta Gahleitner und Hans Günther Homfeldt
18.1 Erster Schritt: erste Suchrichtung und interprofessionelle Verständigung
18.2 Zweiter und dritter Schritt: Fallverstehen und biografische Kontextualisierung – Erfassung der sozialen Komplexität des Falls
18.3 Vierter Schritt: Strukturierungsvorschläge für die Hilfeplanung
18.4 Weitere Argumente für eine alltagsnahe Umsetzung
18.5 Kritische Reflexionen zur Implementation und Ausblick
Literatur
Autorinnen und Autoren
Kinder, Heranwachsende und deren Familien geraten mitunter in schwierige Lebenslagen, in denen das Gelingen ihrer Entwicklung bzw. Erziehung gefährdet erscheint. Familien können dann zur Stärkung der Erziehungskompetenz der Eltern und zur Unterstützung des Entwicklungsprozesses ihrer Kinder besondere, an ihre Situation und deren Herausforderungen angepasste Hilfen in Anspruch nehmen. Nach dem Kinder- und Jugendhilfegesetz (SGB VIII) stehen ihnen »Hilfen zur Erziehung« (gem. §§ 27 ff. SGB VIII) und/oder »Eingliederungshilfen für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche« (gem. § 35a SGB VIII) zu, wenn entsprechende Voraussetzungen erfüllt sind. Aber welche Hilfe ist für wen und unter welchen Umständen tatsächlich hilfreich? Wie findet man die angemessene Intervention? Was gibt im Einzelfall den Ausschlag für eine ambulante oder (teil-) stationäre, für eine sozialpädagogische, psychologische, beraterische und/oder (psycho-)therapeutische Hilfe? Woran erkennt man, dass die Hilfeleistung im Sinne des § 36 SGB VIII jeweils »geeignet und notwendig« (gewesen) ist?
Auf diese Fragen müssen in den Hilfeplanungs- und Evaluationsprozessen der Kinder- und Jugendhilfe Antworten gefunden werden – in jedem Einzelfall, aber auch in grundsätzlicher Hinsicht. Begründete Antworten auf die Indikationsfrage setzen begründete diagnostische Beschreibungen und Bewertungen voraus. Den gesetzlichen Vorgaben der Kinder- und Jugendhilfe entsprechend sind deren diagnostische Einschätzungen stets auf die besondere Entwicklungssituation der Kinder bzw. Jugendlichen zu beziehen, zu deren Unterstützung eine Hilfe in Erwägung gezogen wird. Jugendhilfespezifische Diagnosen verstehen diese Situation im Kontext der jeweils gegebenen erzieherischen und sozialisatorischen Verhältnisse als vorläufiges Resultat eines individuellen Entwicklungsprozesses. Im Sinne des § 1 Abs. 1 SGB VIII bewerten sie die Entwicklungs- und Erziehungssituation am Maßstab des Rechtes junger Menschen auf eine Entwicklung zur autonomen und teilhabefähigen Persönlichkeit sowie auf eine Erziehung durch Elternpersonen, die sie in ihrer Entwicklung begleiten und in altersgerechter, entwicklungsfördernder Weise zur Mündigkeit führen.
Die diagnostische Aufmerksamkeit müsste demnach bifokal ausgerichtet sein. Zum einen wäre unter entwicklungspsychologischen Gesichtspunkten die Art und Weise zu fokussieren, wie das Kind bzw. die/der Jugendliche ihre/seine Entwicklungsaufgaben und -bedürfnisse realisiert. In sozial-systemischer Perspektive wären zum anderen die entwicklungsrelevanten Interaktionssysteme zu betrachten, an denen das Kind bzw. der/die Heranwachsende teilnimmt und die ihm/ihr entsprechende Erziehungs- und Sozialisationserfahrungen vermitteln. Primär ist das die Familie, sekundär sind es weitere soziale Systeme, die Einfluss auf die individuelle Entwicklung nehmen (Schule, Gleichaltrigengruppen, Medien usw.). Diagnostik, die für die Jugendhilfe und für deren Aufgabenerfüllung nutzbringend ist, sollte also im Wesentlichen psychosozial strukturiert sein. Gebraucht werden psychosoziale Diagnosen, die belastbare Aussagen über die Lebenslage junger Menschen machen, und zwar sowohl im Hinblick auf ihre Autonomie- und Partizipationsentwicklung als auch im Hinblick auf die sozialen Verhältnisse, in denen sie sich entwickeln.
Nimmt man hinzu, dass der Körper mit seinen Besonderheiten für alles, was einen Menschen, seine Subjektivität und seine Persönlichkeit ausmacht, die Grundlage bildet, so folgt daraus, dass Diagnostik im Rahmen der Jugendhilfe in angemessener Weise berücksichtigen muss, dass die jungen Menschen, denen ihre Aufmerksamkeit und Sorge gilt, biopsychosozial verfasst sind. Diagnostik kann Kinder und Jugendliche also nicht allein als soziale Wesen oder als Wesen mit »erzieherischem Bedarf« betrachten, wenn sie ihnen als ganze Menschen gerecht werden will. Das heißt nicht, dass die Jugendhilfe für die Behandlung körperlicher oder seelischer Erkrankungen finanziell aufkommen muss. Aber es heißt, dass sie Erkrankungen ebenso wenig wie andere Beeinträchtigungen und Gefährdungen eines jungen Menschen außer Acht lassen kann. Andernfalls steigt die Wahrscheinlichkeit fehlangepasster Indikationen, einseitig ausgerichteter Hilfeleistungen und scheiternder Hilfeverläufe (vgl. z.B. Schmid et al., 2006).
Spätestens seit 2005 mit der Einfügung des § 8 a (»Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung«) in das SGB VIII die grundsätzliche und keineswegs neue Aufgabe der Kinder- und Jugendhilfe unterstrichen wurde, Kinder und Jugendliche davor zu bewahren, dass sie in ihrer Entwicklung Schaden erleiden, konnte die Notwendigkeit diagnostischer Verfahren zur sorgfältigen Abklärung vermuteter Gefährdungslagen der Entwicklung von Kindern und Jugendlichen ebenfalls nicht mehr ignoriert werden. Dass Hilfeplanungen und -entscheidungen in der Kinder- und Jugendhilfe generell diagnostische Erkenntnisse benötigen, die den Hilfezwecken entsprechen, hat schon der 11. Kinder- und Jugendbericht (2002) betont. Zugleich hat er das Fehlen eines ausgearbeiteten, konsensuell anerkannten und praktizierten Begriffs von Diagnostik in der Jugendhilfe beklagt.1 Es gebe keine »in der Profession« für allgemein verbindlich gehaltene Diagnoseverfahren und Diagnosekriterien, die einen erkennbaren Unterschied »zu anderen Diagnosekonzepten (z. B. aus der klinischen oder therapeutischen Diagnostik)« (S. 254) machen würden. Seitdem haben die Auseinandersetzungen um und das Interesse an Diagnostik in der Kinder- und Jugendhilfe deutlich zugenommen. Von einer Übersichtlichkeit oder gar Einheitlichkeit im Vorgehen und von umfassenden wissenschaftlich fundierten Konzepten ist die Jugendhilfe jedoch noch weit entfernt.
Inzwischen hat sich jedoch an vielen Stellen die Erkenntnis durchgesetzt, dass der Bedarf an biopsychosozialen Hilfen für vulnerable Kinder, Jugendliche und deren Familien sich nur in interprofessioneller Kooperation fachgerecht abklären lässt. Diese Einsicht ist freilich noch keine Lösung. Sie wirft vielmehr eine Reihe von praktischen und theoretischen Fragen auf. Im Hinblick auf die psychotherapeutische Versorgung im Schnittfeld von Jugendhilfe und Gesundheitswesen werden solche Fragen seit vielen Jahren von der Kammer für Psychologische Psychotherapeuten und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten im Land Berlin diskutiert. Eine interdisziplinär zusammengesetzte »KJHG-Kommission« beispielsweise hat Fragen der Indikation, der Besonderheit und der Qualitätsanforderungen an Psychotherapie im Rahmen der Jugendhilfe bearbeitet und die Ergebnisse der Fachöffentlichkeit zur Verfügung gestellt.2 Eine als »Interdisziplinäres Colloquium« organisierte Veranstaltungsreihe hat die angemessene psychotherapeutische Versorgung insbesondere der als »hard to reach« bezeichneten Gruppe von Jugendlichen thematisiert. Zuletzt stand den Fachkräften verschiedenster Professionen in Berlin von 2009 bis 2011 ein Forum zur Verfügung, das den Blick über psychotherapeutische Hilfen hinaus auf die gesamte Palette der Hilfeleistungen im Kinder- und Jugendhilfebereich erweitert und zugleich den Akzent der Betrachtung auf Probleme der Diagnostik gelegt hat. In zweimonatlichem Rhythmus haben die Alice-Salomon-Hochschule, das Vivantes Klinikum Berlin-Hellersdorf und die Psychotherapeutenkammer Berlin zu einem »Jour Fixe Psychosoziale Diagnostik im Kinder- und Jugendhilfebereich« eingeladen, der von der Hochschule fachlich organisiert wurde. Die TeilnehmerInnen kamen aus den Berufsfeldern der Sozialarbeit und Sozialpädagogik, der Psychologie und Psychotherapie sowie der Kinder- und Jugendpsychiatrie.
Der kollegiale Austausch über Disziplingrenzen hinweg galt folgenden Fragen: Welche Konzepte, Instrumente und Vorgehensweisen sind wann und wo in der Fallabklärung nützlich und sinnvoll? Welche Einrichtungen und Disziplinen sind daran beteiligt? Welche Begrifflichkeiten und fachlichen Perspektiven bestimmen den diagnostischen Prozess insgesamt und in seinen Teilen? Welche Ziele werden dabei verfolgt? Wer, welche Person, welche Disziplin, welche Institution übernimmt in diesem Prozess welche Verantwortung? Wie unterscheiden sich die diagnostischen Beiträge der beteiligten Professionen? Wie lassen sie sich aufeinander beziehen? Wie können sie im diagnostischen Prozess integriert werden? Wie lässt sich zur Erarbeitung psychosozialer Diagnosen in der Jugendhilfe die Kooperation der Disziplinen, Professionen und Institutionen organisieren und verstetigen? Kann die Kommunikation transdisziplinär optimiert werden? Ist in den Hilfeplanungsprozessen eine Vereinheitlichung des Sprachgebrauchs und ein gemeinsames Fallverständnis möglich? Müssten nicht die Begrifflichkeiten und die diagnostischen Praktiken im Sinne der Zwecke der Jugendhilfe koordiniert sein?
Insgesamt bewerteten die teilnehmenden Fachkräfte die Möglichkeit, eine Reihe von diagnostischen Herangehensweisen kennenzulernen und interprofessionell besser nachvollziehen zu können, als fruchtbar. Als Vorteile von Diagnostik im interprofessionellen Diskurs betrachteten sie die reichhaltigeren Erklärungsmodelle für komplexe und »unverständliche« Verhaltensweisen von Kindern und Jugendlichen, die dadurch zustande kommen, und den Abbau von Kooperationshemmnissen zwischen den Berufsständen, auch zwischen erkenntnistheoretisch unterschiedlichen »Herkünften«. Viele Fragen und Anliegen hat der Jour Fixe freilich offengelassen. Aber er hat zu weiterer Ausarbeitung und Umsetzung angeregt. Und er hat der interprofessionellen Diagnose- und Indikationspraxis der Kinder- und Jugendhilfe bei den TeilnehmerInnen zu ein wenig mehr Sicherheit im Feld verholfen. Die Erfahrungen aus den Präsentationen und Diskussionen einer Reihe bereits erprobter Diagnostikmodelle aus allen Disziplinen und Professionen und Ideen für neue, noch zu entwickelnde Verfahrensweisen haben die Konzeption des vorliegenden Bandes angeregt.
Zum Einstieg wurden dafür im ersten Abschnitt des Buches – »Interdisziplinäre und interprofessionelle Aspekte Biopsychosozialer Diagnostik« – alle Disziplinen aufgefordert, ihre jeweilige Perspektive auf Diagnostik darzustellen. Silke Birgitta Gahleitner, Karl Wahlen und Oliver Bilke-Hentsch stellen in den ersten drei Beiträgen Diagnostik aus der Perspektive der jeweiligen Disziplinen Soziale Arbeit, Psychologie und Medizin vor. Soziale Diagnostik, psychologische Diagnostik und medizinische Diagnostik – so wird in allen drei Beiträgen deutlich – kann ohne den kooperativen Bezug auf die jeweils anderen disziplinären Wissensbestände keine tragfähigen diagnostischen Realitätsbeschreibungen, Befunde und Interpretationen hervorbringen. Psychologische, medizinische und soziale Diagnostik sind nicht bereits an und für sich, jeweils von sich aus schon biopsychosoziale Diagnostik. Alle drei diagnostischen Perspektiven müssen dafür von der Struktur ihres eigenen Untersuchungsbereiches her biopsychosozial dimensioniert gedacht werden. Individuelles, psychisches Erleben und Verhalten ist somit stets somatisch verankert und zugleich an sozial validiertem, in sozialen Systemen zur Geltung gebrachtem Sinn orientiert. »Das Psychische« – so wird in den Beiträgen deutlich – entsteht als individueller erlebens- und verhaltensförmiger Anpassungsprozess an der Grenze zwischen dem menschlichen Organismus und seiner sozialen Umwelt stets neu. Um diesen Prozess diagnostisch angemessen erfassen zu können, muss er jeweils in einem biopsychosozialen Rahmen begriffen werden. In diesem Sinne integrierte diagnostische Prozesse befinden sich an vielen Stellen noch in den Kinderschuhen.
In dem darauf folgenden Artikel »Diagnostik aus der Perspektive des Jugendamtes« stellt Karl Wahlen die Verbindung der eingangs erarbeiteten Einsichten zur Praxis der Kinder- und Jugendhilfe im Arbeitsbereich des Jugendamtes her. Jugendhilfespezifische Diagnostik als biopsychosoziale Diagnostik – im Unterschied zur »rein« psychologischen und medizinischen, aber auch zur sog. sozialpädagogischen Diagnose – ist nach wie vor eher ein Desiderat als eine gängige Praxis. Der Beitrag untersucht zunächst die Barrieren in der praktischen Umsetzung qualitativ anspruchsvoller Diagnostik, sodann wird ein Vorschlag skizziert, wie fallzuständige Fachleute im Jugendamt den diagnostischen Prozess adäquat organisieren können. Im Zentrum einer solchen Diagnostik steht die stets am Kindeswohl orientierte Abwägung von erkennbaren Chancen und Risiken, die sowohl mit dem Unterlassen als auch mit dem Gewähren von Hilfen verknüpft sind.
Im abschließenden Artikel des ersten Buchabschnitts »Interprofessionelle Kooperation in Diagnostikprozessen der Kinder- und Jugendhilfe« widmen sich Hans Günther Homfeldt und Silke Birgitta Gahleitner dem Thema Kooperation. Die Zunahme von »Hochrisikogruppen« in der Kinder- und Jugendhilfe stellt die derzeitigen Versorgungssysteme vor die Aufgabe der Spezialisierung. Aus dieser Entwicklung ergeben sich weitreichende Folgen für die Tätigkeitsmerkmale der Fachkräfte der Sozialen Dienste sowie im Hinblick auf organisatorische Ausdifferenzierungen. Die daraus entstehende wechselseitige Verwiesenheit der sozialen Dienste kann nur durch die Integration bzw. Kooperation sozialarbeiterischer, sozialpädagogischer, therapeutischer und medizinischer Hilfen gelöst werden. In der Alltagsrealität der Fachkräfte jedoch fehlen für gelingende Kooperationen zwischen den Professionellen der Kinder- und Jugendhilfe des Gesundheitsbereiches bislang zumeist die Voraussetzungen – methodisch wie strukturell. In dem vorliegenden Artikel werden auf Basis der Hintergründe und Traditionen interprofessioneller Zusammenarbeit Kooperationsverhältnisse charakterisiert, konkrete Erfahrungen aus dem bereits in der Einleitung benannten Jour Fixe eingebracht und konstruktive Anregungen für gelingende Kooperationen gegeben.
Das Kapitel »Kategoriale, biografie- und lebensweltorientierte Zugänge zur Diagnostik im Kinder- und Jugendbereich« wird eingeleitet durch zwei Artikel von Klaus Hennicke. Nach einer allgemeinen Einführung in die Problematik von psychiatrischer Diagnostik und Klassifikation im Artikel »Psychiatrische Diagnosen und deren Klassifikation nach der ICD-10« wird in einem weiteren Artikel – »Das multiaxiale Klassifikationsschema für psychische Störungen des Kindes- und Jugendalters (MAS)« – ausführlich auf die Struktur und Methodik der ICD-10 am Beispiel des MAS (Multiaxiales Klassifikationsschema für psychische Störungen des Kindes- und Jugendalters nach ICD-10 der WHO) eingegangen. Die ICD kann auf diese Weise in der Kinder- und Jugendhilfe ein praktikables Instrument darstellen, menschliche Äußerungsformen, die von einer gedachten Normalität signifikant abweichen, möglichst objektiv, d. h. mit mehr oder weniger eindeutig operationalisierten Kriterien zu erkennen und zu einem Störungsbild zusammenzufassen – mit dem Ziel, multimodale therapeutische Interventionen auf allen Ebenen zu begründen. Die Möglichkeiten der multiaxialen Klassifikation und das Prinzip der Komorbidität erlauben dann – bei aller Kritik – eine hinreichende dimensionale Abbildung menschlicher Problemlagen und psychischer Leidensformen zur Begründung von Hilfekonzepten.
In ihrem Artikel »Die operationalisierte psychodynamische Diagnostik im Kindes- und Jugendalter (OPD-KJ) als Instrument zur multimodalen Therapieplanung« veranschaulichen Oliver Bilke-Hentsch, Agnes von Wyl und Ruth Weissensteiner eine Herangehensweise an Diagnostik aus einer ganz anderen Perspektive. Das tiefenpsychologisch-psychodynamisch orientierte Instrument hat eine beachtliche Historie in den diagnostischen Bemühungen einer langen Reihe psychoanalytischer AutorInnen. Gleichwohl hat es sich als Klassifikations- und Diagnosesystem aufgrund seiner Komplexität bisher praktisch nicht recht durchsetzen können. Ab Anfang der 1990er Jahre hat eine Gruppe von psychodynamisch orientierten PsychotherapeutInnen versucht, das Problem der mit jeder Operationalisierung einhergehenden Reduktion der Komplexität von klinischen Einzelfällen zu lösen und sich damit den Kriterien der Nachvollziehbarkeit, einer gewissen Objektivität sowie der Reliabilität zu stellen. Die AutorInnen veranschaulichen das Instrument an einem Einzelfallbeispiel.
In ihrem Artikel »Diagnostik der Erziehungs- und Entwicklungssituation nach dem Multiaxialen Diagnosesystem Jugendhilfe (MAD-J)« stellen Karl Wahlen und André Jacob ein weiteres spezifisches Diagnoseinstrument vor, welches sich auf den komplexen Themenbereich der elterlichen Erziehung und kindlichen Entwicklung bezieht. Es schlägt eine mehrdimensionale Systematik vor, die wesentliche Aspekte des Erziehungshandelns von Eltern, der Entwicklung ihrer Kinder und der Bedingungen beschreibt, unter denen sich in Familien Erziehungs- und Entwicklungsprozesse vollziehen und miteinander verschränken. Die MAD-J-Dimensionen spannen einen Merkmalsraum auf, der die diagnostische Aufmerksamkeit differenziert und wichtige Wirkfaktoren hervorhebt, die auf das familiäre Erziehungs- und Entwicklungsgeschehen Einfluss nehmen. Auf diese Weise lassen sich jugendhilferelevante familiäre Störungen, die die Entwicklung eines Kindes beeinträchtigen, leichter erkennen, beschreiben, verstehen/erklären und bewerten und passende, bedarfsgerechte Hilfeformen finden.
In ihrem Artikel »Sozialpädagogische Diagnose – ein Meilenstein auf dem Weg zu einer wirkungsorientierten Prozessgestaltung in der Einzelfallhilfe« bringen Hans Hillmeier und Harald Britze ein weiteres, bereits zahlreich bewährtes Diagnostikinstrument ein. Mit den Sozialpädagogischen Diagnose-Tabellen hat das Bayerische Landesjugendamt bereits seit vielen Jahren eine Handreichung zur Diagnostik in der Kinder- und Jugendhilfe geboten, die Fachkräfte in der Alltagspraxis der Gefährdungseinschätzung, der Feststellung der Leistungsvoraussetzungen für eine Hilfe zur Erziehung und in der Hilfeplanung unterstützt. Im vorliegenden Beitrag werden die Grundzüge der vor kurzem evaluierten und aktualisierten Sozialpädagogischen Diagnose-Tabellen beschrieben und verfahrensstrukturell in das Hilfeplanverfahren eingeordnet. Auf dem Weg zu einer wirkungsorientierten Steuerung und im Dialog mit Kooperationspartnern in der Gesundheitshilfe, Schule, Verwaltung und Justiz wird zudem versucht, sozialpädagogische Fachlichkeit als rechtsstaatliches Verwaltungshandeln nachvollziehbar auf den Punkt und zur Geltung zu bringen.
In ihrem Artikel »Biografieorientiertes Verstehen und Verständigen als ganzheitlich, lebensweltlich und dialogisch orientierte Fallarbeit. Ein rekonstruktiver Zugang in der Kinder- und Jugendhilfe« stellt Bettina Völter einen ganzheitlichen und damit klassisch sozialarbeiterischen Zugang zur Diagnostik vor, der die Grundprinzipien eines lebenswelt- und subjektorientierten, transperspektivischen und transdimensionellen, professions- und institutionenkritischen, auch i.S. von Macht dekonstruierenden, selbst- und fremdreflexiven sowie ethnografisch und qualitativ-rekonstruktiv fundierten Fallverstehens vertritt. Der Alltags- und Lebensweltbezug ist in diesem Ansatz ebenso enthalten wie gesundheitliche, soziale oder psychische Aspekte. Die Methoden der Biografiearbeit sind für dieses Verfahren ebenso geeignet wie Formen narrativer und narrativ-biografischer Gesprächsführung. Darüber hinaus werden im Aufsatz zwei Varianten der professionellen und diagnostischen Aufarbeitung einer dialogisch und/oder spielerisch erhobenen Wissensbasis vorgestellt. Das Verfahren schließt damit an die aktuellen Diskussionen in der sozialpädagogischen Einzelfallhilfe sowie an partizipative sowie dialogische Ansätze in der Kinder- und Jugendhilfe an.
In ihrem Artikel »EQUALS – ein teilstandardisiertes Instrument zur interdisziplinären Zielvereinbarung und Unterstützung des Hilfeplanverfahrens in der Kinder- und Jugendhilfe« vertreten Martin Schröder, Nils Jenkel und Marc Schmid eine vermittelnde Position zwischen den bisher vorgestellten Ansätzen. Der Beitrag der Autoren zielt darauf ab, den Bedarf eines interdisziplinären und teilstandardisierten Instruments zur Bestimmung der gesellschaftlichen Teilhabe von jungen Menschen in der Kinder- und Jugendhilfe deutlich zu machen. Auf der Grundlage einer gemeinsam erarbeiteten Diagnostik wird ein umfassendes Fallverständnis produziert, welches die Basis für die Hilfeplangespräche im Einzelnen und somit für die gesamte Erziehungshilfe im Allgemeinen legt. Anhand eines Praxisbeispiels mit dem Computerprogramm EQUALS wird ein idealtypischer Verlauf zur Strukturierung und Erstellung eines Hilfeplangesprächs verdeutlicht. Damit wird der Nutzen eines strukturierten Hilfeplangesprächs unter Verwendung von EQUALS für alle Beteiligten deutlich und führt nach Ansicht der AutorInnen zu einer Professionalisierung des Hilfeplanverfahrens.
In seinem Artikel »Lebenswelt und Lebensfeld – Diagnostik des Sozialen in der Jugendhilfe« beschäftigt sich Peter Pantuček mit diagnostischen Verfahren, die verschiedene Aspekte der sozialen Einbindung von Personen abbilden. Diese sind geeignet, Ressourcen und Hindernisse für wünschenswerte Änderungen in der Lebenssituation der AdressatInnen aufzuspüren. Im Fokus stehen die Beziehungen im Umfeld, Aspekte der Inklusion, aber auch biografische Fakten. Besonders interessant, so der Autor, sind dabei Instrumente, die eine strukturierte kooperative Diagnostik, also die Beteiligung der KlientInnen am Prozess der Datenproduktion und Interpretation ermöglichen. Gerahmt wird der Beitrag durch grundsätzliche Überlegungen zu Fragen der Sozialen Diagnostik im Kontext der Jugendhilfe, insbesondere zum Verhältnis von Diagnose und Intervention und zu Problemen der Einschätzung von Risiken.
In seinem Artikel »Systematische Diagnostik in der Jugendhilfe mit dem Störungsübergreifenden Diagnostik-System für die Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie (SDS-KJ)« stellt Michael Borg-Laufs ein Verfahren vor, das eine systematische Diagnostik ermöglicht, die – so der Autor – im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe gut nutzbar ist. Exemplarisch wird dazu in das Diagnostik-System eingeführt. Auf den Ebenen Verhaltensanalyse, Beziehungsanalyse, Motivationsanalyse, Störungsbildanalyse, Ressourcenanalyse und Systemanalyse werden interventionsorientierte Einschätzungen generiert, die wichtige Aspekte der Kinder- und Jugendhilfe abdecken.
In ihrem Artikel »Zugänge und Anwendungen systemischer Diagnostik« reflektieren Sebastian Baumann und Hartmut Epple die Entwicklungen im systemischen Bereich zum vorliegenden Thema. Die Zeiten, in denen systemische Therapeuten auf diagnostische Verfahren einzig mit Stirnrunzeln reagierten, sind ihrer Ansicht nach vorbei, geblieben ist jedoch, so die Autoren, ein spezifisches Verständnis von Diagnostik. Der vorliegende Beitrag schafft einen Zugang dazu, wozu systemische Diagnostik in der Jugendhilfe nützlich sein kann und worin sie sich im Vergleich zu anderen diagnostischen Sichtweisen und Selbstverständnissen unterscheidet. Im zweiten Teil des Artikels werden systemisch orientierte diagnostische Perspektiven auf drei miteinander verbundenen Ebenen vorgestellt: Der Ebene der Klienten, der des Helfersystems sowie einer Selbstdiagnostik. Die einzelnen Zugänge und Anwendungen sind durch Fallbeispiele erläutert.
In ihrem Artikel »Sonderpädagogische Diagnostik als Teil des Beratungsauftrags von Klinikschulen am Beispiel der Berliner Schule in der Charité« zeigen Inka Vogler und Ronald Vierock, dass Klinikschulen über den Bildungs- und Erziehungsauftrag hinaus auch weitere Aufgaben haben. Ein wesentlicher Auftrag ist die Schullaufbahnberatung für Kliniken, Schüler und Eltern, aber auch für Heimatschulen und andere beteiligte Institutionen. Dazu ist es erforderlich, wesentliche Informationen zur schulischen Entwicklung, zum Lern- und Entwicklungsstand und zum Sozialverhalten zu ermitteln und in die klinische Diagnostik einzubringen. Auf dieser Grundlage wird eine fundierte schulische Empfehlung formuliert, die sich auf die Kompetenzen der Schülerin bzw. des Schülers bezieht und an sonderpädagogischen Kriterien sowie an inklusiven schulischen Voraussetzungen orientiert ist. Hierzu wurden in den letzten Jahren zahlreich Verfahren entwickelt. Der Artikel gibt einen Überblick.
Das abschließende Kapitel »Vorschlag für ein biopsychosoziales Rahmen-Verbundmodell« versucht, über alle vorhergehenden Artikel hinweg einen Bogen zu spannen. Es wird ein Modell vorgestellt, in dem konzeptionell die vorherigen Ideen, Instrumente und Vorgehensweisen Platz finden. Dieses Rahmen-Verbundmodell wird skizzenhaft an einem Fallbeispiel verdeutlicht. Unter dem Titel »Zur Implementation biopsychosozialer Diagnostik in der Kinder- und Jugendhilfe: ein Vorschlag« reflektieren Silke Birgitta Gahleitner und Hans Günther Homfeldt jedoch zugleich, ob und inwiefern die Implementation biopsychosozialer Diagnostik in der Kinder- und Jugendhilfe gelingen kann und welche Aspekte dabei zu berücksichtigen sind. Dabei wird deutlich: Das Projekt »biopsychosozial« stellt an die beteiligten Professionen und an die zugrundeliegenden Disziplinen hohe Ansprüche. Für deren Einlösung hat die Kinder- und Jugendhilfe noch eine Reihe von Aufgaben vor sich.
Die Kinder- und Jugendhilfe steht in einem prekären Spannungsfeld von gesellschaftlichen und professionellen Veränderungsprozessen. Lebens- und Arbeitswelten verlangen – besonders von Heranwachsenden –, sich flexibel zu verhalten, Risiken einzugehen und selbstbestimmt zu leben. Die Auflösung sozialer Milieus, Individualisierungsschübe und die Entgrenzung der Lebensalter beschleunigen sich wechselseitig und treffen Kinder und Jugendliche aus sozioökonomisch und -kulturell benachteiligten Bevölkerungsteilen besonders hart. Ihre Teilhabechancen am gesellschaftlichen Leben sind so eingeschränkt, dass sie einen »besonderen Versorgungsbedarf« aufweisen. Vor diesem Hintergrund ist ein spezifischer psychosozialer Hilfebedarf entstanden (Keupp, 2012), der beteiligte Fachkräfte wie Institutionen vor beachtliche Herausforderungen stellt. Insbesondere der Diagnostikbereich stellt hier einen sensiblen Abschnitt in der Hilfeplanung dar, der besonderes Augenmerk verlangt. Wir hoffen, das vorliegende Buch trägt dazu bei, im Prozess der Hilfeplanung und -durchführung noch etwas genauer hinzuschauen, Kooperationen besser gelingen zu lassen und Entscheidungen über die Gewährung und Gestaltung von Hilfen noch fundierter zu treffen.
Berlin, Dezember 2012
Silke Birgitta Gahleitner, Karl Wahlen,
Oliver Bilke-Hentsch und
Dorothee Hillenbrand
Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2002). Elfter Kinder- und Jugendbericht. Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland. Berlin: BMFSFJ.
(www.bmfsfj.de/doku/Publikationen/kjb/data/download/11_Jugendbericht_gesamt.pdf), Zugriff am 02. 08. 2012
Schmid, M., Nützel, J., Fegert, J. M. & Goldbeck, L. (2006). Wie unterscheiden sich Kinder aus Tagesgruppen von Kindern aus der stationären Jugendhilfe? Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie 55 (7), 544 – 558.
Verein für Kommunalwissenschaften (VfK) e. V. (2005). Diagnostik in der Kinder- und Jugendhilfe. Vom Fallverstehen zur richtigen Hilfe. Dokumentation der Fachtagung vom 21.–22. April 2005 (Reihe: Aktuelle Beiträge zur Kinder- und Jugendhilfe, Bd. 51). Berlin: Verein für Kommunalwissenschaften e. V. (edoc.difu.de/edoc.php?iU31 045WG), Zugriff am 25. 10. 2012
1 Der Bericht benutzt den Ausdruck »sozialpädagogische Diagnose«, um das Besondere von Diagnostik in der Jugendhilfe hervorzuheben (ebd.). Die Verengung jugendhilfespezifischer Diagnostik auf sozialpädagogische Diagnostik ist üblich; siehe z. B. den VfK-Tagungsbericht zum Thema »Diagnostik in der Kinder- und Jugendhilfe« (2005). Fast ausnahmslos sind es Vertreter der sozialpädagogischen Profession, die sich in der Kontroverse um das Für und Wider diagnostischer Urteilsbildungen in der Jugendhilfe befinden: Gibt es eine sozialpädagogische Diagnostik? Sollte es sie überhaupt geben? Wenn ja, wie sollte sie gestaltet sein? Andere Professionen (Medizin, Psychologie, Psychotherapie) werden in dieser Kontroverse nur erwähnt, wenn es um Schnittstellen-, Abgrenzungs- und Kooperationsfragen geht, die sich im Verhältnis der Jugendhilfe zu anderen Versorgungssystemen, insbesondere zum Gesundheitswesen, stellen.
2 Siehe: http://www.psychotherapeutenkammer-berlin.de (Suchwort: KJHG)
Silke Birgitta Gahleitner
Die Soziale Diagnose hat eine lange und wechselvolle Geschichte. Vertieft man sich in Klassiker wie z. B. Alice Salomons historisches Werk (1926/2004), stellt man fest, dass viele ihrer Forderungen bis heute uneingelöst geblieben sind. Insbesondere Salomons Anspruch an wissenschaftliche Fundierung und Theorieorientierung einerseits und Praxiszugewandtheit andererseits erinnert stark an aktuelle Fachdebatten. Tatsächlich hat sich – nach einem nachhaltigen Bruch im Nationalsozialismus – erst wieder in den vergangenen beiden Jahrzehnten ein breiterer wissenschaftlicher Diskurs zum Thema Diagnostik in der Sozialen Arbeit etabliert. Gerade in Kinder- und Jugendhilfezusammenhängen distanzieren sich soziale und pädagogische Berufsgruppen z. T. bis heute – enttäuscht von machtträchtigen Entmündigungsprozessen aus den dominanten medizinischen und psychologischen Professionsbereichen – nicht selten von Diagnostikprozessen insgesamt.
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