BIOTERROR - Tim Curran - E-Book

BIOTERROR E-Book

Tim Curran

5,0

Beschreibung

NKUDBKAH, IRAK – VOR SECHS JAHREN Eine Einheit der Republikanischen Garde in einem abgelegenen Dorf wird von der CIA für ein grauenhaftes Experiment auserkoren: den Test von Project BioGenesis, einem genetisch modifizierten Organismus, entworfen für den Einsatz als Biowaffe. Doch der Test erweist sich als furchtbarer Fehlschlag. Als ein Erkundungsteam vor Ort von den Parasiten angegriffen und sogar infiziert wird, gibt es nur einen Ausweg – die infizierten Organismen unter einem Teppich aus Napalm und Phosphor auszulöschen. Zumindest in der Theorie … CHICAGO, ILLINOIS – HEUTE Shawna Geddes, eine vom Pech verfolgte und arbeitslose Journalistin, wird durch Zufall Zeugin der Entführung eines Obdachlosen. Instinktiv stellt sie Nachforschungen an und stolpert dabei über ein entsetzliches Geheimnis. Immer mehr Todesfälle, die mit einem schleimigen Organismus in Verbindung zu stehen scheinen, breiten sich wie ein Lauffeuer über dem Planeten aus. Die wurmartige Monstrosität muss aufgehalten werden, bevor es zu spät ist …

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 923

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
5,0 (1 Bewertung)
1
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Bioterror

Tim Curran

This Translation is published by arrangement with Tim Curran Title: BIOTERROR. All rights reserved.

»In der Politik passiert nichts zufällig. Wenn es doch passiert, war es so geplant.«

Impressum

Deutsche Erstausgabe Originaltitel: BIOTERROR Copyright Gesamtausgabe © 2021 LUZIFER Verlag Cyprus Ltd. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Cover: Michael Schubert Übersetzung: Peter Mehler

Dieses Buch wurde nach Dudenempfehlung (Stand 2021) lektoriert.

ISBN E-Book: 978-3-95835-610-8

Sie lesen gern spannende Bücher? Dann folgen Sie dem LUZIFER Verlag aufFacebook | Twitter | Pinterest

Sollte es trotz sorgfältiger Erstellung bei diesem E-Book ein technisches Problem auf Ihrem Lesegerät geben, so freuen wir uns, wenn Sie uns dies per Mail an [email protected] melden und das Problem kurz schildern. Wir kümmern uns selbstverständlich umgehend um Ihr Anliegen.

Der LUZIFER Verlag verzichtet auf hartes DRM. Wir arbeiten mit einer modernen Wasserzeichen-Markierung in unseren digitalen Produkten, welche Ihnen keine technischen Hürden aufbürdet und ein bestmögliches Leseerlebnis erlaubt. Das illegale Kopieren dieses E-Books ist nicht erlaubt. Zuwiderhandlungen werden mithilfe der digitalen Signatur strafrechtlich verfolgt.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

Inhaltsverzeichnis

Bioterror
Impressum
12. Mai
13. Mai
16. August
17. August
18. August
20. August
21. August
23. August
25. August
26. August
27. August
28. August
29. August
Über den Autor

12. Mai

Washington, D.C. Nationales Militärzentrum Pentagon 14:10 Uhr

Sie waren nur eine kleine Gruppe, aber eine mächtige.

Charles VanderMissen, Direktor der National Intelligence, hatte sie kurzfristig einberufen, um eine lästige geheimdienstliche Angelegenheit zu besprechen.

»Worum geht es, Chuck?«, wollte General Mason wissen. »Was soll das ganze Theater?«

VanderMissen und Robert Pershing, der Direktor der Central Intelligence Agency, tauschten einen schnellen Blick aus. In seinem dreiteiligen Anzug und mit seiner Rolex sah Pershing ganz wie der Konzernchef aus, der er auch war. VanderMissen setzte sich und begrüßte die restlichen Anwesenden.

Lieutenant-General Walter Sleshing, Leiter der DIA. Konteradmiral Colin Paulus, Chef der Marineaufklärung. Brigadegeneral Francis K. Mason, Vorsitzender der Joint Chiefs. Arlene Rabin, die Außenministerin. Roger Thorogood, Verteidigungsminister. Und Gus Costello, der nationale Sicherheitsberater. Sie alle waren hochrangige Mitglieder des nationalen Sicherheitsrates. Jeder von ihnen repräsentierte die absolute Macht in seinem Bereich. Darüber hinaus waren keine weiteren Berater anwesend, keine Stellvertreter, nur Personen, die das Sagen hatten.

VanderMissen seufzte. »Nun, an diesem Punkt sollte jeder von Ihnen mit der Lage in Syrien vertraut sein, besonders in der östlichen Wüste und der Verbindung islamistischer Extremisten und unserem alten Freund, dem iranischen Präsidenten Ahmadineschād.«

Das waren sie. Es handelte sich um ein Thema, über das sie immer wieder berieten, jedoch aufgrund der heiklen politischen Lage nicht zu einer Lösung gekommen waren. Im Grunde genommen war der Irak seit dem Ende des Krieges von fortwährenden Auseinandersetzungen zwischen Sunniten und Schiiten destabilisiert worden, während der Rest der Bevölkerung den Kopf einzog und darauf wartete, von welcher Seite der nächste Angriff kommen würde. Tatsächlich wussten die Geheimdienste aber bereits sehr genau, von welcher Seite dieser zu erwarten war: Syrien. Während des Krieges war es kein Geheimnis gewesen, dass Syrien für die im Irak kämpfenden Mudschaheddin den wichtigsten Verbindungsweg darstellte, und als die Vereinten Streitkämpfe die Infrastruktur der al-Qaida dezimiert hatten, zogen sich die Mudschaheddin über die Grenze in die syrische Wüste zurück, ein seit jeher bekannter Zufluchtsort für Schmuggler, Gesetzlose und Staatsfeinde. Und genau hier sollte unter der Führung eines gewissen Sa’ad al Khalafari, einem ägyptischen Nationalisten und charismatischen Führer in dschihadistischen Kreisen, ein Schulterschluss mit dem Iran zementiert werden. Was genauso wenig überraschend kam. Die Iraner waren der Hauptexporteur staatlich gesponsorten Terrors in dieser Region. Sie hatten Geld, Waffen und ausländische Extremisten in den Irak-Konflikt geschleust. Seither war Scheich Sa’ad wiederholt Gast in den Trainingseinrichtungen der Pasdaran gewesen, der iranischen Revolutionsgarde, und von deren Quds, einer Spezialeinheit, welche die Hisbollah, die Hamas, den Islamischen Dschihad Palästinas und diverse militante schiitische Gruppierungen im Irak unterstützte und trainierte, logistische Unterstützung bekommen. Während der letzten acht Monate hatte Scheich Sa’ad die syrische Wüste in eine Art Sicherheitszone verwandelt und sein lückenhaftes al-Qaida-Netzwerk mit baathistischen Separatisten und Separatisten der Dschunūd asch-Schām zu einer schlagkräftigen Terrorarmee zusammengeschweißt, wieder mit Unterstützung aus dem Iran und dem ISIS-Kalifat. Es hatte mehrere Zusammenstöße zwischen den syrischen Sicherheitskräften und Scheich Sa’ads zusammengewürfelter Organisation gegeben, doch dank des Schutzes des Muchabarat, des syrischen Geheimdienstes, waren sie immer wieder davongekommen.

Niemand zweifelte daran, dass Scheichs Sa’ads großes Ziel nicht nur die Destabilisierung westlicher Einflüsse in der Region war, sondern der Sturz Israels – ein Vorhaben, das von vielen Syrern aktiv unterstützt wurde.

All das war VanderMissen und den anderen im Raum natürlich bekannt, aber nun hatte sich ein neues Problem aufgetan.

»In dieser Wüste geht etwas vor sich«, erklärte er. »Etwas, worin Scheich Sa’ad involviert sein könnte … möglicherweise zufällig, aber eine Situation, die er sich mit Unterstützung der islamischen Revolutionsgarde zunutze machen könnte.«

Gus Costello hob eine Augenbraue. »Und das wäre?«

»Wir kennen den Bastard gut. Wir wissen, wo sich seine Lager befinden«, sagte General Mason auf die für ihn typische ruppige Art. »Ich war vor sechs Monaten schon dafür, ihn auszuräuchern. Ein sauberer Luftangriff, und wir hätten einen verdammten Windelkopf weniger auf der Welt.«

»Der Präsident hält das nicht für besonders ratsam«, warf Arlene Rabin ein.

Mason starrte sie nur an, als wäre sie ein naives Gör.

Der Verteidigungsminister seufzte. »Das ist hoffentlich nicht der Grund, weshalb Sie uns einbestellt haben, oder, Chuck? Das haben wir doch schon alles durchgekaut.«

Admiral Paulus sah auf die Uhr. »Gott, und dafür habe ich mein Essen mit dem russischen Botschafter abgesagt. Alles, was ich über diese verdammten Idioten zu sagen habe, habe ich bereits gesagt.«

Pershing hob seine Hände. »Könnten wir uns wieder beruhigen?« Er wandte sich an VanderMissen. »Die Bühne gehört Ihnen, Chuck.«

Die anderen warteten.

»Womit wir es hier zu tun haben«, fuhr VanderMissen fort, »ist weitaus schlimmer als eine zusammengewürfelte Armee, die Autobomben in Bagdad hochgehen lässt. Das fragliche Gebiet wurde abgeriegelt und nicht einmal syrischen Zivilisten ist der Zutritt mehr gestattet.«

»Nicht schon wieder diese Flachwichser von der ISIS«, stöhnte Mason.

»Schlimmer.«

»Soll heißen?«, fragte Sleshing.

»Lassen Sie es mich Ihnen erklären.« VanderMissen erhob sich und lief zu dem Plasmabildschirm an der Wand. »Das ist, wie Sie sehen können, eine Karte des westlichen Iraks und des östlichen Syriens. Das Areal, welches uns Sorgen bereitet, befindet sich hier.« Er deutete auf einen Bereich kurz hinter der jordanischen Grenze. »Die Badia-Wüste. Dieses, mit einem blauen Rechteck markierte Gelände wurde vom Militär abgeriegelt. Niemand kommt dort hinein oder wieder hinaus. Alles, was wir aus Botschafter Khassim herausbekommen konnten, ist, dass es dort den Ausbruch einer viralen Krankheit gegeben hat.«

Sleshing leckte sich über die Lippen. »Welche Art von Krankheit?«

»Das sagte er nicht. Er behauptet, dass seine Regierung es als internes Problem ansieht und die Sache daher auch landesintern klären wird.«

»Was soll‘s?«, fragte General Mason. »So, wie die Leute dort leben, ist das kein Wunder. Sie befinden sich mitten in einem Bürgerkrieg, verflucht nochmal.«

»Bitte, General«, maßregelte ihn die Außenministerin.

»Irgendwelche Gerüchte?«, fragte Thorogood.

»Nichts.« VanderMissen tippte auf den Bildschirm und eine körnige Aufnahme erschien. »Aber wir haben ein paar Satellitenbilder. Nicht viel, aber genug, um sich Sorgen zu machen.«

Gus Costello, der nationale Sicherheitsberater und einzige Schwarze in dem ansonsten exklusiven weißen Klub, sah einfach nur zu und lauschte. Hin und wieder kaute er auf seiner Oberlippe, mehr aber auch nicht. Irgendetwas war faul an der Sache, das spürte er.

»Dieses Areal … von welcher Größe sprechen wir da?«, wollte Rabin wissen.

»Etwa fünfzig Quadratmeilen«, erklärte VanderMissen.

Sleshing zog seine Stirn noch mehr in Falten, sein Blick verfinsterte sich.

»Wenn ich mich recht entsinne, müsste das die gleiche Örtlichkeit wie Nkudbkah auf der irakischen Seite sein, oder täusche ich mich da?«

Admiral Paulus verstand, worauf er hinauswollte. »Oh bitte, die ganze Geschichte ist doch schon beschissene sechs Jahre her. Unmöglich, dass sie noch aktiv ist, oder, Chuck?«

VanderMissen antwortete nicht. »Nkudbkah liegt östlich dieses Areals.«

»BioGen«, sagte Thorogood und sah aus, als würde er kurz vor einem Weinkrampf stehen.

Costello und Außenministerin Rabin blickten einander nur an. Sie hatten keine Ahnung, wovon die beiden sprachen.

»BioGen?«, fragte Costello und schüttelte den Kopf. »Das sagt mir nichts.«

VanderMissen seufzte. »Nein, Gus, weder Sie noch Arlene waren damals im Amt. Der Rest von uns mehr oder weniger schon. Wir waren in BioGen involviert. Wir alle. Der Präsident wollte sie jetzt hinzuziehen.«

VanderMissen erklärte, was BioGen war und wofür es benutzt wurde, und es dauerte nicht lange, bis der Sicherheitsberater und die Außenministerin denselben gequälten Ausdruck im Gesicht trugen wie die anderen Anwesenden.

»Was in Gottes Namen haben Sie sich dabei gedacht?«, stellte Rabin sie zur Rede.

»Offenbar zu wenig«, räumte Paulus ein.

Danach herrschte Schweigen.

Die Männer blickten einander nicht an. Sie starrten auf ihre Hände, kauten Kaugummi, aber ihre Blicke trafen sich nicht. Hätte VanderMissen ihnen eben mitgeteilt, dass man den Präsidenten ermordet hatte, hätte das Schweigen nicht vollständiger, dichter, von Entsetzen durchtränkter sein können.

Thorogood musste seine Hände verschränken, um nicht zu zittern.

»Ich hatte mich die ganze Zeit über gefragt, welche Auswirkungen es haben würde. Heilige Mutter Gottes«, sagte der Verteidigungsminister.

»Jetzt reißen Sie sich mal zusammen«, murrte General Mason und zündete sich eine Zigarette an, obwohl das Rauchen in Regierungsgebäuden untersagt war. Niemand wagte es, ihn darauf hinzuweisen. »Wir sollten keine voreiligen Schlüsse ziehen … okay? Meine Güte, Sie sollten sich mal sehen. Sie sehen aus wie Jungfrauen beim Abschlussball, die kurz davor sind, ihr Ticket gelocht zu bekommen.« Er rauchte langsam, bedächtig. Als Veteran der letzten fünf Regierungen in verschiedenen Ämtern und mit der ganzen Scheiße und den politischen Mauscheleien vertraut, die diese so mit sich brachten, war er nicht so schnell aus der Fassung zu bringen. Für ihn war die Sache ganz einfach – wenn er in den letzten drei Kriegen und zahllosen kleineren Konflikten die Nerven behalten hatte und in acht Monaten als Kriegsgefangener in einem nordvietnamesischen Gefangenenlager nicht einmal ins Schwitzen geraten war, würde er sich wegen etwas, das vielleicht nur ein großes Fragezeichen war, jetzt ganz sicher nicht in die Hosen machen.

»Und … wieso wurde diese … Angelegenheit … dann nicht gestern vor dem Ausschuss zur Sprache gebracht?«

Nun ruhten alle Augen auf ihm.

»Also?«

»Uns fehlte eine Bestätigung«, erklärte VanderMissen. »Das sind streng geheime Informationen. Außer uns, dem Präsidenten und Section 5 weiß niemand etwas über Projekt BioGen. Einige Mitglieder des Ausschusses haben keine Ahnung davon, und der Präsident hätte es gern dabei belassen.«

»Ich wünschte bei Gott, ich wäre einer von ihnen«, gab Admiral Paulus zu.

»Dabei kehren Sie bequemerweise die CBT unter den Tisch«, sagte Thorogood.

VanderMissen seufzte. »Niemand lässt die Schuldhaftigkeit der CBT außer Acht. Elizabeth Toma wurde über die Lage in Kenntnis gesetzt.«

CBT stand für Congdon BioTech, eine multinationale Biotechnologiefirma, die in regelmäßigen Abständen für das Verteidigungsministerium und die Geheimdienste arbeitete. Sie kümmerten sich um die Forschung und Entwicklung des Projekts BioGenesis und waren entscheidend an seiner Implementierung beteiligt. Toma war die Geschäftsführerin und hatte ihre schmutzigen Finger in einer ganzen Reihe von Projekten.

Thorogood murmelte etwas, ließ es aber dabei bewenden.

VanderMissen räusperte sich. »In jedem Fall scheint sich diese mysteriöse Epidemie in der gleichen Gegend wie das Testgelände zuzutragen. Nkudbkah, direkt hinter der Grenze nach Syrien. Weniger als eine Meile. Und das ist es, was mir Sorgen bereitet. Was dem Präsidenten Sorge bereitet. Er bat darum, dass ich mich persönlich der Sache annehme.« VanderMissen deutete auf seine Fotos. »Die Satelliten zeigen vor Ort eine erhöhte militärische Aktivität. Wie man mir erklärte, sehen wir hier Lastwagen und gepanzerte Fahrzeuge, alle in unmittelbarer Umgebung eines Dorfes namens El Badji mit vielleicht einhundert Einwohnern. In der Hauptsache Bauern und ihre Familien. Ein paar beduinische Schafhirten. Keinerlei Industrie- oder Militäranlagen.«

»Nichts außer ein paar al-Qaida-Arschlöchern«, kommentierte Mason.

General Sleshing hob fragend eine Hand. Der Mittel- und Zeigefinger an ihr fehlten, das Andenken an eine Chicom-Landmine während der Tet-Offensive ‘68. »Besteht die Möglichkeit, dass es sich um etwas anderes handeln könnte, Chuck? Irgendeine zufällig aufgetretene ansteckende Krankheit?«

»Das ist durchaus möglich.«

»Klingt vernünftig«, stimmte ihm Admiral Paulus zu.

»Zu vernünftig«, sagte Rabin.

»Aber darauf dürfen wir uns nicht verlassen«, sagte Vorsitzender Mason. »Wieso gehen wir nicht wie sonst auch auf Nummer sicher, Jungs? Das Worst-Case-Szenario. Was, wenn es sich um eine Auswirkung von BioGen handelt? Was ist, wenn wir genau davon sprechen? Dann muss das Areal unverzüglich sterilisiert werden. Ich glaube, ich brauche niemandem in diesem Raum die Dringlichkeit klarzumachen.«

»Das Militäraufgebot dort gefällt mir ganz und gar nicht«, sagte Costello. »Sieht für mich nicht wie eine medizinische Krisenoperation aus. Es fühlt sich falsch an.«

»Ja, das tut es in der Tat«, stimmte ihm VanderMissen zu. »Wenn es sich hierbei um ein unkontrolliertes Wiederaufleben von BioGen handelt, fürchten wir, dass Scheich Sa’ad und seine iranischen Freunde vielleicht einen Vorteil aus der Situation ziehen und aus dem, was sie dort vorfinden, eine Waffe entwickeln wollen.«

»Und wenn sie es nicht tun«, sagte Mason, »werden es die syrische Armee und ihre russischen Berater ganz sicher tun.«

»Sofern sie herausfinden, um was es sich handelt«, warf der Verteidigungsminister ein.

»Oh, das werden sie. Mit den iranischen Quds-Beratern unter ihnen werden sie es herausfinden. Diese Kerle sind nicht dumm«, führte Pershing aus. »Damals wurden viele Fragen über Nkudbkah gestellt, wie Sie sich erinnern werden, und es gab viele Gerüchte unter den gegnerischen Geheimdiensten. Ich wäre nicht überrascht, wenn die Quds genau darauf gewartet hätten.«

Admiral Paulus seufzte. »So, wie ich es verstehe, war diese ganze BioGen-Sache vor sechs Jahren aus und vorbei. War es nicht das, was uns Ihre Leute versicherten, Chuck? Dass ein erneuter Ausbruch unmöglich sei?«

»Unwahrscheinlich, nicht unmöglich«, korrigierte ihn VanderMissen.

»Das gesamte Gebiet wurde aber doch sterilisiert«, sagte Sleshing. »Zumindest … hat man uns das erzählt.«

Aber niemand hatte wirklich daran geglaubt. Sie alle wussten nur zu gut, dass in der Welt der Geheimoperationen das, was man einem erzählte, und das, was wirklich geschah, zwei völlig verschiedene Dinge waren.

Thorogood schüttelte den Kopf. »Verdammt. Das könnte uns allen das Genick brechen. Das wissen Sie nur zu gut.«

»Ein Schritt nach dem anderen«, beschwichtigte Mason. »Zuerst einmal müssen wir herausfinden, was dort vor sich geht, bevor wir irgendetwas überstürzen. Außerdem war BioGen eine S5-Operation …«

»Womit es in den Schoß der CIA fällt«, erklärte Thorogood, der wie immer nur seine eigene politische Zukunft im Blick behielt.

Pershing kniff die Augen zusammen. »Das werde ich mir von Ihnen nicht anhängen lassen, um Himmels willen. Section Five hatte die Freigabe des Präsidenten, gewisse exotische Militärtechnologien zu testen. Dazu gehörten auch Biowaffen. Für deren Natur war ich nicht verantwortlich.«

»Und speziell dieses Riesenchaos haben Sie dem Präsidenten damals verheimlicht?«, fragte Thorogood spitz.

»Nicht … wirklich«, antwortete Pershing. »Es war ein Test. Eine Durchführbarkeitsstudie. Nicht mehr.«

Er musste die Sache nicht näher ausführen. Jeder in diesem Raum wusste, dass es eine Menge Dinge gab, von denen der amtierende Präsident der Vereinigten Staaten nie erfuhr, ganz egal, welcher Administration er auch angehörte. Es gab viele Grauzonen, die Grauzonen bleiben würden. Im Grunde genommen wurde alles, was geheimer als Top Secret eingestuft wurde, bewusst vor dem Oberbefehlshaber verborgen. Das Need-to-know-Prinzip. Es erlaubte dem Präsidenten eine gewisse Flexibilität, wenn es darum ging, die Kenntnis gewisser Vorgänge abzustreiten, und ermöglichte es, in Krisenzeiten die Glaubwürdigkeit der Regierung aufrechtzuerhalten. Wenn er oder sie nichts von gewissen Geheimoperationen wussten, konnte niemand sie beschuldigen, das Land angelogen zu haben. Auf diese Weise konnte der POTUS seinen oder ihren Arsch retten, und die verschiedenen Agencys weiterhin frei (und nicht selten rücksichtslos) agieren. Glaubhafte Abstreitbarkeit.

Wenn der Präsident auf der anderen Seite aber Informationen erbat und man ihm diese vorenthielt, sah man das als Verrat an. Aber nur sehr wenige wollten die Einzelheiten kennen. Es log sich leichter, wenn man nicht einmal wusste, dass man log.

»Okay, okay«, sagte General Mason schließlich. »Hören wir auf, mit dem Finger aufeinander zu zeigen. Jetzt atmen wir einmal alle durch.«

»Ganz genau«, pflichtete ihm Pershing bei.

»Richtig.« VanderMissen lenkte ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Bildschirm. »Dieses Foto zeigt offenbar Kipplaster. Kipplaster voller Leichen. Und das hier …«, dabei deutete er auf einen größeren dunklen Fleck, »sieht sehr nach einer Grube aus. Ein Massengrab, wie wir glauben. Dieser Lastwagen hier scheint gerade seine Ladung darin abzukippen.«

»Was immer dort vor sich geht«, sagte Thorogood, »muss verdammt schlimm sein.«

VanderMissen rief ein anderes Foto auf. »Das ist das Letzte von einigermaßen brauchbarer Qualität.«

»Was ist dieser Schmierfleck?«, fragte Rabin. »Ist das …?«

»Rauch«, antwortete ihr Pershing. »Sie verbrennen die Leichen.«

Wieder herrschte Stille.

Natürlich bestand immer noch die Chance, dass es sich dabei um den völlig harmlosen Ausbruch einer ansteckenden Krankheit handelte. So etwas passierte. Diese Hoffnung ging jedem von ihnen durch den Kopf. Und tatsächlich war es noch mehr als nur eine Hoffnung. Es war ein Mantra, an das sie sich klammerten und es immer wieder in ihren Köpfen wiederholten.

Aber da es sich so nah an dem ursprünglichen BioGen-Testgebiet zutrug …

Das bereitete jedem Einzelnen von ihnen Sorgen. Seit Nkudbkah BioGen ausgesetzt war, behielt der US-Geheimdienst diesen Landstrich ganz besonders im Auge.

Sechs Jahre lang nichts.

Und nun …

»Zumindest haben sie sich schnell um die Sache gekümmert«, sagte Admiral Paulus. »Vielleicht ist es die syrische Armee und nicht Scheich Sa’ad und seine iranischen Arschlöcher. Vielleicht.«

»Aber wenn doch«, entgegnete Sleshing mit einem unheilvollen Tonfall. »Wenn diese Windelköpfe über die nötige Technik verfügen, BioGen zu gewinnen, es zu vermehren und waffenfähig zu machen … guter Gott, dann ist unsere politische Zukunft das Letzte, worüber wir uns Gedanken machen müssen. Und ich glaube nicht, dass ich das näher ausführen muss.«

VanderMissen räusperte sich. »Diese Fotos wurden alle gestern von CommStar One aufgenommen. Nach seinem erneuten Überflug heute Nacht werden wir weitere haben … aber ich würde nicht auf das Beste hoffen. Der Präsident will, dass etwas unternommen wird. Er will eine Bestätigung oder eine Entwarnung. Und das Ganze am liebsten gestern.«

»Dafür brauchen wir Aufklärung vor Ort«, sagte Mason und sprach damit das aus, was alle dachten. »Ohne HUMINT, ohne jemanden am Boden …«

Costello schüttelte den Kopf. »Scheiße, Syrien ist ein heikles Ziel, gerade in diesen Tagen. Haben wir jemanden, dem wir vertrauen können?«

Alle Augen richteten sich auf Pershing, dem Meister der Spionage. Er schüttelte den Kopf. »Nein … wir verfügen über keine Informanten, denen ich etwas von dieser Tragweite anvertrauen würde. Seit wir unsere Truppen zurückzogen, herrscht dort das reinste Chaos.«

Mason zündete sich eine weitere Zigarette an. »Vergessen Sie’s. Die Sache ist zu heiß. Schicken Sie ein paar Drohnen rein.«

VanderMissen schüttelte den Kopf. »Wir haben bereits zwei bei dem Versuch verloren. Eine hatte eine Fehlfunktion, die andere wurde abgeschossen.«

»Okay, dann schicken wir die Delta Force oder ein paar SEALs da runter, um die Situation aus der Nähe auszukundschaften.«

Verteidigungsminister Thorogood schüttelte den Kopf. »Nein. Ich würde lieber keine konventionellen SpecOps-Einheiten bei dieser Sache einsetzen.«

»Diese Jungs sind alles andere als konventionell«, warf Mason ein.

»Nein, aber das Ganze ist … zu heikel.«

»Nun, dann schicken wir ein paar Agenten rein.«

VanderMissen lächelte und setzte sich. Wie so oft gefiel ihm Masons geradlinige Art zu denken. »Bob?«

Pershing stand auf und kehrte zu der Karte zurück. Er sah die Versammelten nacheinander an, langsam, gedankenvoll. »Heute Nacht werden wir genau das tun. Wir werden jemanden am Boden haben.«

Alle blickten ihn an.

»Während wir uns hier unterhalten, ist bereits ein SAC/SOG-Team auf dem Weg nach Zypern«, erklärte er und bezog sich dabei auf das geheime Special Activities Center der CIA und dessen paramilitärischen Flügel, die Eliteeinheit der Special Operations Group. »Heute Nacht wird das SOG-Team in Kuweit eintreffen. Und morgen Nacht – morgen Nachmittag für uns – werden sie mit Fallschirmen über der Wüste abspringen. So oder so werden wir an verwertbare Informationen gelangen.«

Richmond, Virginia Unternehmenszentrale der CBT 18:10 Uhr

Ah, dachte Elizabeth Toma einigermaßen amüsiert, die Welt dreht sich immer weiter, und die einzigen Konstanten sind Überleben und Tod. Und obwohl dieser Gedanke für viele eine beängstigende und hilflos machende Erkenntnis gewesen wäre, bedeutete sie für Elizabeth nur die Bestätigung ihres Glaubenssystems. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Durch die Fenster ihrer Chefetage sah sie über den VA Bio+Tech Park hinaus, eine weitläufige vertikale Stadt aus Glastürmen und -kästen, prismatischen Atrien und gläsernen Fassaden, die wie Gewächshäuser übereinandergestapelt waren. Sie blendeten das Auge des Betrachters und forderten seinen Verstand mit ihrer abstrakten Architektur heraus. Wirklich, wirklich schön. Modern und multifunktional, mit dem Campus des Virginia Commonwealth University im Hintergrund, war es ein brodelnder Kessel aus Forschern, Unternehmern, Finanziers und Geschäftsleuten. Ein schimmerndes Juwel im mittelatlantischen Biotech-Korridor.

»Und doch nichts weiter als ein Ameisenhaufen«, murmelte sie vor sich hin.

Und das würde in den kommenden Wochen überdeutlich werden, wenn alles, woran die Massen geglaubt und worin sie vertraut hatten, um sie herum zusammenstürzen würde. Vielleicht hatten sie die moderne Welt um sie herum nicht für ein bloßes Kartenhaus gehalten, welches bei dem kleinsten Windhauch zusammenfallen würde, aber genau das war sie.

Denn auch wenn CBT sich auf dem Papier mit modernsten Forschungen auf dem Gebiet von Arzneimitteln, Diagnosetechniken, Nanobiotechnologie und Molekularbiologie, Stammzellenforschung, der Weltgesundheit und Kunststoffen beschäftigte, war es gleichzeitig auch als wesentlicher wie geheimer biologischer Auftragnehmer des Verteidigungsministeriums tätig. In seinen Biosicherheitseinrichtungen der Stufe vier tief unter der Erde feilte CBT routiniert an DNS-Strängen tödlicher Biokampfstoffe, perfektionierte Trägersysteme für biologische Waffen und schuf genetisch veränderte Lebensformen, die es in dieser Form und unter natürlichen Bedingungen nicht gab – oder nie hätte geben dürfen.

Auch wenn ihre offiziellen Aktivitäten absolut legal waren, blieb die sogenannte Black Biology so verboten wie nur irgendwas, und doch konnte sie unbehelligt unter den Augen der CDC und anderer Aufsichtsbehörden weitergeführt werden. Wo Milliarden auf dem Spiel standen, fand sich immer ein Weg.

Während sie auf Bob Pershings Anruf wartete, nippte Elizabeth Toma an einem Glas feinstem Madeira, der über einhundert Jahre alt war (und für mindestens 5000 Dollar die Flasche den Besitzer wechselte, sofern man eine ergattern konnte) – ein Geschenk eines russischen Kollegen, und sinnierte über das Ende der Welt.

Sie dachte an Geld.

Sie dachte an Macht.

Sie dachte an das ungeheure Maß, welches sie von beidem besaß, an die Menschen, die sie dafür gekauft und verraten, genötigt oder systematisch mit belastenden, peinlichen oder sozial schädlichen Informationen über sie oder ihre Familienangehörigen erpresst hatte. Für Außenstehende musste sie aufgrund ihrer verwerflichen Methoden wie eine machthungrige Schlange von Geschäftsfrau wirken, aber in der Welt der Politik stellte das nichts anderes als Darwinismus in Reinkultur dar. Business as usual im Beltway. Und jeder hier spielte das gleiche Spiel, auf die eine oder andere Weise.

Sie kontrollierte ein beeindruckendes Netzwerk aus Politikern, Lobbyisten und mächtigen Personen, von denen nicht wenige die Maßnahmen von ihr und ihresgleichen ablehnten, aber am Ende die bittere Pille schluckten, weil es besser war als öffentlich gedemütigt und aus dem Amt geworfen zu werden. Das war die Maschine, die sie kontrollierte, und die ihren Regeln folgte.

Sie musste an ihre Mom und ihren Dad denken, bescheidene Einwanderer aus Yokohama, die nichts weiter wollten, als dazuzugehören und Teil des amerikanischen Traums zu werden. Sie hatten ja keine Vorstellung davon, welcher Albtraum es in Wahrheit war, wenn man ihn erst einmal umkippte und seine weiche, weiße Unterseite näher studierte.

Es musste zu der Zeit gewesen sein, als sie Biophysik an der Rutgers University studierte, als sie das erste Mal diesen Traum anzuzweifeln und mit zunehmendem Zynismus zu bemerken begann, wie jene mit Macht glaubten, sie hätten das gottgegebene Recht, ihren Willen all jenen aufzudrücken, die diese Macht nicht besaßen. Denn so hatte auch die politische Struktur der Universität funktioniert, von den Verwaltungszweigen bis hin zu den Fachbereichen und Ausschüssen.

Ja, auf dem Papier gab es so etwas wie Demokratie, aber nicht in der Praxis. Nicht in der wirklichen Welt.

Es war ebenfalls während ihrer Zeit auf der Rutgers gewesen, als sie das erste Mal Huxleys Schöne neue Welt gelesen hatte, in dem die zukünftige Bevölkerung unter Drogen gesetzt wurde, um die eigene Knechtschaft geradezu dankbar anzunehmen. Es ließ sie über ihre Eltern, deren Freunde und tatsächlich über alle Erwachsenen nachdenken, die sie kannte. Sie alle waren nichts weiter als Arbeiterbienen, die sich immer wieder selbst Glauben machten, sie wären frei.

Diese Vorstellung war natürlich lächerlich. Zu dem Zeitpunkt, an dem der durchschnittliche Amerikaner die Highschool beendete, waren sein oder ihr Verstand bereits kontrolliert und kategorisiert. Nach der Schulbildung derart konditioniert, dass sie sich nahtlos in die Erwachsenenwelt einreihen konnten, in der ihre Ängste und Bedürfnisse von den Mächtigen meisterhaft ausgenutzt werden konnten. Durch psychologische Manipulation und behutsame, methodische Gehirnwäsche würden sie arbeiten und ihre Steuern zahlen, wählen und freiwillig ihre Söhne und Töchter in Kriegen opfern und dabei noch glauben, es wäre eine Ehre, für etwas zu sterben, was realistisch betrachtet nie eine Bedrohung gewesen war.

Gemeinhin nannte man das natürlich Konformismus. Aber in Wirklichkeit war es ein System, in dem die Arbeiterklasse an Regeln und Vorschriften gebunden war, von denen die Herrschenden ausgenommen waren.

So funktionierte diese Maschine.

Die einzige wahre Bedrohung, der sich die Maschine bislang ausgesetzt sah, hatte in der Gegenkultur der 1960er bestanden. Sie war zu mächtig geworden, zu einflussreich, und für eine Weile schien es so, als würden die alten, fest verwurzelten Machtstrukturen unter diesem weltweiten Erwachen zusammenbrechen. So etwas war jedoch inakzeptabel. Weshalb es nie wieder geschehen dufte. Kriege waren notwendig, für politische Manöver und unternehmerische Gewinne. Ohne sie würde die Maschine stehenbleiben. Und genau aus diesem Grund hatte der militärisch-industrielle Komplex nicht nur die Kontrolle der Regierung und der Kapitalgesellschaften, sondern auch der Medien übernommen, mit deren Hilfe sie die Massen lenkten, ohne dass diese auch nur ahnten, dass sie gelenkt wurden.

Das Internet war dabei ein Segen für alle Schönredner und Sozialingenieure gewesen. Hier hatte sich ein Weg aufgetan, sich auf Big-Brother-Art in einem Wahnsinnstempo in das Leben aller Menschen zu drängen und sie mit einer schieren Datenflut so zu überlasten und zu verwirren, bis sie schließlich Dinge akzeptierten, die vor wenigen Generationen noch als abscheulich galten. Es war das perfekte Werkzeug, um die Bevölkerung zu verdummen, die nun nichts weiter als eine breite Masse aus Denkfaulen und Schwachmaten war, darauf konditioniert, alles hinzunehmen und nichts mehr zu hinterfragen.

So wurde diese Maschine am Laufen gehalten – angetrieben von Steuergeldern, seine Zahnräder mit dem Blut der Söhne und Töchter gut geschmiert, die sie so bereitwillig geopfert hatten.

Elizabeth starrte auf ihr Handy. »Komm schon, Bob«, murmelte sie.

Sie kontrollierte viele Menschen, aber selbst sie musste sich vor jemandem verantworten, und das waren Personen, die sie besser nicht enttäuschte.

Das Telefon klingelte.

»Ja?«, fragte sie und verzichtete auf jegliche Form der Begrüßung.

»Sie reagierten genau so, wie wir es geplant haben«, meldete CIA-Chef Pershing. »Es hätte gar nicht besser laufen können. Sie haben Angst. Sie werden alles tun, um es unter Kontrolle zu bringen.«

»Gut, Bob, sehr gut. Halten Sie mich auf dem Laufenden.«

»Darauf können Sie wetten.«

Da. Es hatte begonnen. Es hatte wirklich begonnen. Elizabeth seufzte. Sie starrte aus den Fenstern, sah über den Bio+Tech-Park hinweg und auf das Land selbst hinaus. Das Grauen begann. Es hatte bereits Fuß gefasst und würde bald außer Kontrolle geraten, als überaus unangenehmer Organismus, der sich durch die Weltbevölkerung fressen würde. Sie dachte an all die Menschen, die leiden würden, wenn sich ein Albtraum jenseits ihrer Vorstellungskraft ihrer Welt bemächtigte.

Nach einem weiteren Schluck von ihrem Madeira besaß sie die nötige Kraft, um jene anzurufen, die im Dunkeln agierten. Denn wie Bon Dylan es schon besang – we all had to serve somebody.

Und während sie sich den Schweiß von der Stirn tupfte, tat sie genau das.

13. Mai

Der östliche Teil der syrischen Wüste: El Badji 00:41 Uhr Ortszeit

»Okay, Ladys«, zischte Colonel Loomis in die Dunkelheit, »jetzt nehmt endlich die Finger aus dem Arsch und verstaut die Ausrüstung, oder wir frühstücken in einem Gefängnis in Damaskus.«

Er sah zu, wie sein Team mit Schaufeln die harte, trockene Erde bearbeitete und immer tiefer und tiefer grub, bis man schließlich eine ansehnliche Grube ausgehoben hatte. Lautlos und vorsichtig wurden die Fallschirme, Rucksäcke und Schutzhelme darin deponiert. Nicht etwa geworfen, sondern so sanft hineingelegt wie Neugeborene in eine Krippe.

Genau so, dachte Loomis, schön eingraben. Fest zusammendrücken und dann eine Schicht aus Erde und Geröll darüber ausbreiten. Der Wind wird sein Übriges tun. Am Morgen wird niemand mehr die Stelle ausmachen können.

Nachdem sie fertig waren, versammelten sich die fünf Männer um Loomis in der Finsternis.

»Bevor wir losziehen, vergesst nicht: Das ist eine reine Aufklärungsmission. Es gilt Sprechverbot«, erklärte er ihnen, obwohl sie alle Profis waren und ohnehin wussten, was zu tun war. »Wir sehen uns die Sache an, schießen ein paar Fotos und Videos und begeben uns dann zurück zur Landezone. Irgendwelche Fragen? Gut. Pitts übernimmt die Führung. Ihr kennt den Weg.«

Die syrische Wüste entlang der irakischen Grenze erinnerte an die dunkle Seite des Mondes.

Hunderte trostlose Meilen kahlen, felsigen Nichts. Der Wind heulte und trug die hässliche bissige Kälte des Winters mit sich, der bald kommen würde. Die Wüste ähnelte der Antarktis: endlos, fremdartig, einsam. Heiß wie eine Bratpfanne im Sommer und kälter als ein Kühlhaus im Winter. Der Mai war in der Wüste die Übergangszeit: kalte Nächte und warme Tage. Sie war die Heimat der Beduinen und ihrer zottigen Herden aus Schafen und Ziegen. Echsen, giftige Schlangen, drahtige Gräser und dornige Büsche. Nicht viel mehr als Sand, Steine und die Zeit selbst. Es war ein Ort, an dem man sich in der Nacht als Fremder nur wenige Meter von seiner eigenen Haustür entfernt bereits verlaufen konnte. Wo Nacht, Sand und der wehende Wind eine albtraumhafte Landschaft der Verwirrung schufen.

Auf Karten waren die Routen und Orientierungspunkte leicht zu erkennen und nachzuverfolgen, doch am Boden – und besonders in der Wüste – verwischten die Unterschiede, bewegten sich oder verschwanden völlig. Aber Loomis machte sich keine Sorgen, sich zu verirren.

Er war hier schon viele Male gewesen.

Vielleicht nicht in genau diesem Landstrich, aber in sehr ähnlichen Gegenden im Irak und Iran, in Afghanistan und im Jemen. Er war ein Veteran der Special Operations, mit über zwanzigjähriger Erfahrung. Es gab nur wenige Höllenlöcher, durch die er in dieser Zeit nicht gewatet war. Dschungel, Wüsten, Sümpfe und vereiste Berggipfel waren seine Heimat. Er fand sich selbst in schwierigstem Terrain zurecht, und nicht selten nur dank seines Instinkts. Man beherrschte es nach einer Weile. Wenn man lange genug lebte.

Sein Team hatte Loomis selbst zusammengestellt.

Er reiste in guter Gesellschaft.

Dunn war der zweite Kommandant. Ein Veteran der Navy SEALs, achtzehn Jahre im Dienst, Navy-Kreuz-Träger und im wahrsten Sinne des Wortes nicht aufzuhalten: Nie ließ er jemanden zwischen sich und sein Zielobjekt kommen. Und wenn doch, endeten sie meistens mit einer Kugel im Kopf oder mit zerschnittenen Kehlen oder gebrochenem Genick. Creech war ein ehemaliger Sergeant Major der SAS. Seine tödlichen Fähigkeiten hatte er in Nordirland, im Oman und in Malaya erworben. Dann gab es da Childress. Der ehemalige Army Ranger und Green Beret lebte für Einsätze wie diesen. Das waren die einzigen Momente, in denen er sich lebendig fühlte. Pitts, der fünfzehn Jahre bei den Marine Corps Special Operations gedient hatte, und Horse, ein Delta-Force-Veteran, rundeten das Team ab. Horse war ein vollblütiger Cree-Indianer und der beste Späher und Scharfschütze, den Loomis je gesehen hatte. Seine Fähigkeiten als Fährtenleser waren beinahe übernatürlich.

Sie alle waren gut.

Bekleidet waren sie mit schwarzen Uniformen und schwarzen Rollmützen, die sie sich bis über die Ohren gezogen hatten, die Gesichter mit schwarzer Tarnfarbe beschmiert. Sie trugen fingerlose schwarze Neopren-Handschuhe und Nachtsichtgeräte. Und obwohl sie eine beträchtliche Menge an Ausrüstung mit sich schleppten – Funkgeräte, Maschinenpistolen, Messer, Kameras – bewegten sie sich jedoch absolut geräuschlos durch die Wüste. Sämtliche Gegenstände waren entweder festgezurrt oder festgeklebt worden. Und alles, was irgendwie glänzte, war mit mattschwarzer Farbe überpinselt worden.

Sie waren Schatten, nicht mehr.

Sie trugen neutrale Ausrüstung aus einem Dutzend Ländern bei sich und besaßen weder eitle Tätowierungen noch Piercings. Wenn sie hier draußen starben, würde niemand sagen können, aus welchem Land sie gekommen waren. Und lebend würde man keinen von ihnen zu fassen bekommen. Wenn sie sterben mussten, würden sie zuvor so viele Feinde wie nur möglich ausschalten, bevor sie sich selbst das Leben nahmen.

Dafür klebte am Handgelenk jedes Mannes eine Zyanid-Kapsel.

Biss man darauf, ließ der Tod nicht lange auf sich warten.

Loomis musterte im Vorbeigehen das Gelände – Hügel, aufragende Felszungen, kümmerliches Gestrüpp und festgetretene Plateaus. Obwohl die Landschaft überaus monoton erschien, speicherte Loomis sie im Kopf ab. Er war stets auf der Suche nach Verteidigungsstellungen und guten Angriffs- oder Todeszonen. Sein Nachtsichtgerät verlieh der gesamten Szenerie einen unwirklichen grünlichen Schein. Er war sicher, dass sie in der bestimmten Richtung unterwegs waren, und doch blieb er hin und wieder stehen und sah auf sein GPS-Gerät. Zehntausend Meilen über ihnen wies TACSAT den richtigen Weg, überwachte jeden ihrer Schritte und übermittelte alles in Echtzeit ans Pentagon.

Pitts, der den Trupp anführte, blieb stehen und hockte sich auf den Boden. Die anderen folgten seinem Beispiel.

»Was gibt‘s?«, flüsterte Loomis in sein Kehlkopfmikro.

»Drei Kamele … nein, vier, mit Reitern. Sie kommen über den Hügel«, meldete Pitts in seinem Kopfhörer.

»Zwischen die Felsen«, befahl Loomis.

Die sechs Männer verschwanden zwischen den schartigen Klüften aus vulkanischem Felsgestein. Wie versprochen erschienen daraufhin die Kamele. Sie und ihre Reiter blieben auf dem Bergkamm stehen. Beduinen, erkannte Loomis. Sie trugen staubige Roben und karierte Kopftücher und waren mit alten Repetierbüchsen aus dem Zweiten Weltkrieg bewaffnet. Sie schienen nach irgendetwas Ausschau zu halten. Ihr Anführer, ein alter Mann mit einem Bart, der ihm beinahe bis an den Bauch reichte, deutete nach Westen, dann ritten sie weiter. Beduinen waren Fremden gegenüber nicht feindlich gesinnt, aber weder vertrauten sie ihnen noch mochten sie sie besonders. Sie schlugen sich auf keine Seite. Sie konnten mit Armeen oder Regierungen, mit Terrorgruppen oder jenen Männern, die diese jagten, nichts anfangen. Ihre Kultur reichte sehr viel weiter als all diese Dinge zurück.

Die felsigen Senken und Erhebungen wichen endlosen Sanddünen. Im smaragdgrünen Leuchten der Nachtsichtgeräte erschienen sie wie Wellen eines ehrfurchtgebietenden urzeitlichen Ozeans, eingefroren in der Zeit. Pitts erklomm die Anhöhe, ließ sich auf eines seiner Knie sinken und sah sich um. Dann gab er seinem Team das Zeichen, ihm in das Meer aus Sand zu folgen.

Der Marsch schien tagelang anzudauern.

Aber in Wirklichkeit waren es nicht mehr als zwei Stunden. Wäre der Boden fest und eben gewesen, hätten sie ihren Bestimmungsort in fünfundvierzig Minuten oder weniger erreicht. Doch die Dünen, die Felsen, das ständige Überprüfen des GPS und Pitts Pausen, um den Horizont abzusuchen … kosteten Zeit.

Aber das war in Ordnung.

Sie waren Profis, und wenn geheime Kampfeinsätze sie etwas gelehrt hatten, dann Geduld. Loomis kannte so etwas nur zu gut. Stunden über Stunden damit zu verbringen, im Dschungelgras zu liegen und auf einen Hinterhalt zu warten. Wochenlange Wanderungen hinter feindlichen Linien auf Langstreckenaufklärungspatrouillen. Ganze Tage, die man versteckt zwischen Bäumen verbrachte, um auf den perfekten Moment für einen Todesschuss auf einen feindlichen Offizier zu warten. Tage um Tage, die man mit der quälenden Aufgabe verbrachte, feindliche Einheiten bis zu ihrem Basislager zu verfolgen. Während dieser Zeit sprach man so gut wie kein Wort, aß und schlief nur wenig. Manchmal schlich man sich so nah an den Feind heran, dass dieser auf einen urinierte, während man sich in den Büschen versteckte, und selbst dann bewegte man sich nicht.

Man lernte, geduldig zu sein. Oder man starb.

So wie Horse zum Beispiel, als sie in den Neunzigern in Kuweit waren, wie Loomis sich erinnerte, und Horse in den Nächten allein loszog. Wie er eine As-Sa’iqa-Einheit, die Republikanische Garde, verfolgte und einen nach dem anderen mit seinem schallgedämpften Gewehr ausschaltete. Er verbrachte Stunden um Stunden damit, auf den perfekten Winkel für einen Schuss zu warten. Und wenn es sich um jemand besonderen handelte, wie einen politischen Offizier oder einen extremistischen Einsatzleiter, lag und wartete er in der gleichen Position auch für Tage. Er pisste sich ein, kackte sich ein, wurde von den Insekten, die sein Gesicht zerstachen, beinahe wahnsinnig, aber er bewegte sich nicht. Solange nicht, bis er den Abzug gedrückt und sich der Schädel seines Opfers in einen Hamburger verwandelt hatte.

Geduld, das Wichtigste war Geduld.

Loomis wusste, dass die Dinge bislang gut verlaufen waren. Sie waren in einem Combat Talon Frachtflugzeug über die Grenze geflogen, von Piloten des 20th Special Operations Squadron der Air Force am Steuer. Die Talon war eine frisierte C-130 Hercules, vollgestopft mit hochentwickelter Navigations- und Radarumgehungstechnik. Sie konnte ein Team abwerfen und wieder verschwinden, ohne das irgendjemand etwas davon mitbekam. Die Absprungzone war eine karge Ebene vier Meilen südlich von El Badji gewesen. Sie waren als Eillieferung aus nur knapp zweihundert Metern abgesprungen. Das Beste dabei war, dass sich niemand verletzt hatte. Keine gebrochenen Knochen, nichts verstaucht. Und das war wirklich bemerkenswert, wenn man bedachte, dass die Landezone aus hartem, von der Sonne ausgedörrtem Lehmboden eines ehemaligen Flussbettes bestanden hatte.

»Bewegungen voraus«, meldete Pitts in Loomis‘ Ohr.

Alle lagen bereits auf den Bäuchen und krochen wie Eidechsen die Sanddüne hinauf, um sich ihm anzuschließen.

Sie konnten da draußen nicht viel entdecken.

Nur die Nacht, die von allen Seiten herandrängte, und die triste graue syrische Landschaft. Aber in der Ferne … Lichter. Flackernd, blinkend. Ein kleines Anzeichen von Leben.

Loomis wusste, dass sie ihr Ziel erreicht hatten, aber er überprüfte trotzdem noch einmal sein GPS.

Ja, kein Zweifel. Das war El Badji.

»Pitts, Horse … bringt uns rein. Der Rest von euch verteilt sich. Lassen wir es hübsch langsam angehen.«

Große, gezackte Platten aus Vulkangestein ragten aus dem trockenen Boden. Ansammlungen von Felsbrocken und ausgedörrten Wüstensträuchern. Genügend Deckung. Als sie näher kamen, konnten sie Schüsse hören. Die Stakkato-Salven aus schweren Maschinengewehren und das leere Ploppen von Sturmgewehren. Es hörte sich an wie am vierten Juli.

03:03 Uhr

El Badji war von flachen, mit Bewässerungsgräben durchzogenen Gerstenfeldern umgeben. Das Dorf selbst war eine Ansammlung aus tristen, zusammenfallenden Ziegelhäusern, Lehmhütten und heruntergekommenen Wohnanhängern. Eine Reihe von Zelten spross am Rande der Ortschaft aus dem Boden wie Pilze nach einem starken Regen.

Überall waren Lastwagen, Bagger, gepanzerte Mannschaftswagen und Aufklärungsfahrzeuge zu sehen. Das gesamte Gelände wurde von Laternen und Suchscheinwerfern beleuchtet, die über das deprimierend wirkende kleine Dorf hinwegstrichen. Männer riefen etwas, Motoren heulten auf, Frauen schrien und Waffen wurden abgefeuert.

»Was zum Geier geht da vor sich?«, wunderte sich Childress, der das Spektakel durch sein Fernglas beobachtete.

Loomis konnte es nicht sagen. Er wusste nicht mehr als die anderen. Er musterte die Fahrzeuge – die meisten aus alten sowjetischen Armeebeständen – und die Männer, bestenfalls eine wild zusammengewürfelte Auswahl: Syrische Soldaten in Wüstenuniformen mischten sich unter Bauern, die Kalaschnikows trugen, wahrscheinlich muslimische Extremisten, und einigen Gruppen aus Männern in amerikanisch anmutender Tarnkleidung, offenbar Mitglieder der islamischen Revolutionsgarde aus dem Iran.

Er wählte sich in das verschlüsselte Netzwerk ein und berichtete, was er sah.

Dunn ließ die Männer sich auf einem felsigen Kamm, von dem aus sich das Dorf überblicken ließ, zu einer Verteidigungsstellung formieren.

Creech und Loomis reckten ihnen ihre Daumen entgegen und rutschten mit ihren Videokameras den Hang hinab. Es handelte sich um Handkameras, die nach demselben Prinzip wie die Nachtsichtgeräte arbeiteten und das wenige Licht maximal verstärkten.

Ihre Maschinenpistolen ließen sie beim Team zurück. Alles, was sie mit sich nahmen, waren russische 9mm-Makarov-Pistolen mit Schalldämpfern, ein paar Betäubungsgranaten und jeweils ein Kampfmesser. Wenn es brenzlig werden sollte, konnten sie damit ein paar Gegner erledigen. Lange würden sie aber nicht durchhalten können. Wenn das eintrat, würden sie sich das Leben nehmen. Dunn würde das Team abziehen und auf dem schnellsten Weg zur Landezone fliehen.

Sie näherten sich El Badji nicht auf geradem Weg, sondern in einem Bogen.

In immer enger werdenden konzentrischen Kreisen schlichen sie näher. Auf diese Weise konnten sie erkunden, welche Art von Verteidigungsanlagen es gab – wenn überhaupt – oder wo die Syrer Wachen postiert hatten. Loomis rechnet mit nur wenig Sicherheitsvorkehrungen und wurde nicht enttäuscht. Nach allem, was er aus der Einsatzbesprechung wusste, schien es unwahrscheinlich, dass die Syrer mit irgendeiner Art von Intervention rechneten.

Wie es im Inneren der Ortschaft aussah … nun, das war eine andere Frage.

Als sie näher an die äußeren Lastwagen heranschlichen, konnten sie Soldaten bewaffnet mit sowjetischen Karabinern und Sturmgewehren erkennen. Sie hielten sich von dem Dorf fern, standen in kleineren Gruppen etwa alle dreißig Meter voneinander entfernt, murmelten miteinander und hielten ihre Waffen in Anschlag. Aber sie blickten in Richtung Dorf.

Loomis folgerte, dass es sich bei ihnen um einen äußeren Sicherheitsring handeln musste. Ihr Job, so schien es, war es offenbar, dafür zu sorgen, dass niemand diese Ortschaft verließ.

Die meisten Lastwagen, die er sah, waren Truppentransporter. Dazwischen und in unregelmäßigen Abständen fanden sich aber immer wieder russische BRDM-2-Aufklärungsfahrzeuge. Diese waren mit 14.5 und 7.62mm Maschinengewehren bewaffnet, wie er sehr wohl wusste. Das beeindruckendste Kriegsgerät, das er sah, waren aber zwei alte sowjetische ZSU 23-4 Flugabwehrgeschütze. Die ZSUs waren im Prinzip Panzerwagen, deren Kanonen von vier 23mm Miniguns ersetzt wurden. Sie ließen sich sowohl gegen Flugzeuge als auch Bodenziele einsetzen. Die Miniguns konnten sechstausend Projektile in der Minute mit genügend Kraft abfeuern, um selbst Betonwände zu durchschlagen.

Die ZSUs umrundeten das Dorf und ließen auf ihrem Weg Suchscheinwerfer herumreisen.

Creech nickte.

Es war Zeit, sich aufzuteilen.

Er übernahm den westlichen Teil des Dorfes, Loomis den östlichen.

Als Loomis sich langsam und lautlos näherte, änderte der Wind seine Richtung. Zuvor war er von hinten gekommen, aus dem Süden. Nun kam er von Norden und trug einen ekelerregenden Gestank von brennendem Müll und verkohltem menschlichem Fleisch heran. Er hatte so etwas schon oft gerochen, da gab es keinen Zweifel.

Während er sich die Lippen leckte, kroch er an den Rand einer schmalen, holperigen Schlammstraße, die um das Dorf herumführte. Er kauerte sich hinter einen Erdhügel und wartete darauf, dass der ZSU vorbeifuhr. Danach huschte er über die Straße und glitt in die Senke auf der anderen Seite. Obwohl sie trocken war, stank sie nach Pisse, Scheiße und überfahrenen Tieren. Die Dorfbewohner mussten sie benutzt haben, um ihre Abfälle loszuwerden, sowohl körperliche als auch tierische. Direkt vor ihm befand sich eine Gruppe Soldaten. Der einzige Weg, um an ihnen vorbeizukommen, bestand darin, unter zwei Lastwagen hindurchzukriechen, die nebeneinander parkten. Auf der anderen Seite würde er in Sicherheit sein. Wenn er sehr viel Glück hatte.

Wir sind für unser Glück selbst verantwortlich, ermahnte er sich.

Bei all dem Tumult in dem Dorf … den Schreien, Schüssen und lauten Stimmen – war es ein Leichtes, durch die Dunkelheit zu den Lastwagen zu huschen. Die Soldaten blickten sich nicht um. Offenbar hatten sie den Befehl, die Vorgänge in dem Dorf nicht aus den Augen zu lassen.

Loomis schlüpfte unter den ersten Lastwagen. Der Motor kühlte noch ab und gab dabei klickende Geräusche von sich. Aus einem undichten Krümmer tropfte ihm heißes Öl ins Gesicht. Es roch nach Gülle hier unten, und dann bemerkte er, dass er durch Kuhscheiße kroch. Unwichtig. Wie eine Viper schlängelte er sich unter den nächsten Laster und spähte hinter einem der Vorderräder hervor.

Das Geschehen lag nun direkt vor ihm.

Auf allen vieren kroch er zu zwei Gebäuden. Eingehüllt von der Dunkelheit hatte er eine gute Sicht auf das, was dort vor sich ging. Soldaten in weißen ABC-Schutzanzügen zerrten sich windende und um sich tretende Leiber aus Hütten und klapprigen Wohnwagen. Die Schutzanzüge – die entwickelt worden waren, um eingeschränkten Schutz vor nuklearer Strahlung, chemischem Kampfstoffen wie Nerven- und Senfgas und biologischen Waffen wie Viren, Bakterien und Pilzen zu bieten – gehörten noch nicht einmal zu den guten Modellen. Es waren alte Anzüge. Ohne Sauerstoffzufuhr, nur mit Filtermasken. Ein typischer Einsatz im Mittleren Osten.

Loomis hielt alles auf Video fest.

Männer, von denen er annahm, dass es sich um Offiziere handelte, standen etwas abseits und schrien Befehle. Soldaten schleppten Körper ins Freie und blieben gelegentlich stehen, um auf sie zu schießen. Was ungeheuerlich schien, war, dass die Menschen, die sie aus den Behausungen zerrten – Männer, Frauen und Kinder – sich wehrten und wie ein Sack voller Kobras wandten, obwohl sie bereits stark aus unzähligen Schusswunden bluteten.

Zwanzig oder dreißig von ihnen waren auf dem Dorfplatz aufeinandergetürmt worden. Die Offiziere riefen den Soldaten etwas zu. Loomis‘ Arabisch war gut genug, um zu verstehen, dass sie den Befehl erhalten hatten, sich zurückzuziehen. Und das taten sie auch. Sobald sie sich von den aufgeschichteten, ineinander verschlungenen Bergen aus Leibern entfernt hatten, rückten Männer mit Flammenwerfern an.

Loomis sah mit offenem Mund zu und filmte.

Was zur Hölle ging hier vor? Was für eine verdammte Infektion konnte so gefährlich sein, dass man seine eigenen Leute erschießen ließ und sie verbrannte, während sie sich noch bewegten?

Ein Zischen war zu hören und die Flammen hüllten die Zivilisten ein. Aber bevor sie das taten, sah Loomis etwas … Merkwürdiges. Ein Junge, vielleicht sieben oder acht, erhob sich aus dem Berg aus menschlichen Körpern. Seine schwarzen Augen funkelten. Sein Gesicht bestand nur noch aus Muskeln und Knochen. Er öffnete den Mund und …

Loomis war nicht sicher, was er sah.

Ein Trugbild aus Licht und Schatten.

Grundgütiger, dieses Kind müsste bereits tot sein, und das weißt du. Sein Gesicht war verbrannt. Und doch stand er auf, und du hast es gesehen. Du hast dieses Ding gesehen, das aus seinem Mund kam …

Loomis kroch aus seinem Versteck und huschte an den im Dunkeln liegenden Ziegelhäusern entlang. Schlich vorwärts, suchte nach einem anderen guten Aussichtspunkt.

Da war nichts in dem Mund des Jungen, du Arschloch. Hör auf, dir solchen verrückten Scheiß auszudenken. Konzentriere dich auf deine Aufgabe. Erledige deinen Job, verschwinde und überlass die Einzelheiten den Agenten in D.C.

Das ließ ihn sich ein wenig besser fühlen.

Er verbrachte weitere zwanzig Minuten damit, nach einem anderen Platz zu suchen, von dem aus er filmen konnte. Aber nirgendwo sonst war es sicher. Zu viel Aktivität. Zu viele Lichter. Er zog sich auf dem gleichen Weg zurück, auf dem er gekommen war. Hoffte, dass Creech etwas eingefangen hatte.

Als er über die Straße hastete, weg von den Soldaten, sah er Creech geduckt durch die Schatten auf sich zurennen.

»Alles okay?«, hörte er Dunns Stimme in seinem Ohr.

Er erschrak, hatte sein Team bei den Felsen beinahe vergessen.

»Soweit«, antwortete er durch sein Kehlkopfmikro.

Creech ließ sich neben ihm auf den Boden fallen. Er atmete schwer. Dann zog er sich sein Nachtsichtgerät vom Kopf. Seine Augen waren weit aufgerissen und schimmerten in der Nacht.

»Alles in Ordnung?«, fragte Loomis.

Creech nickte. »Ja, Sir. Es ist nur … ich habe noch nie so etwas gesehen. Sie erschießen hier einfach jeden … verbrennen sie. Und dann kommt dieser verdammte Bagger angefahren und kippt die Überreste in einen Lastwagen.«

»Wohin ist der Lastwagen gefahren?«

»Nach Westen. Nicht weit, glaube ich. Ich sehe ein paar Lichter da draußen.«

Loomis konnte die Lichter ebenfalls sehen.

Er sah auf die Uhr. Sie lagen gut in der Zeit. »Hast du alles auf Video?«

»Aye«, antwortete Creech. »Dürfte eine ziemliche Show abgeben.«

»Ich werde da rausgehen und sehen, wohin diese Lastwagen fahren«, flüsterte Loomis in sein Ohr. »Du kannst dich zu den Felsen zurückziehen, wenn du willst.«

»Nein, Sir, ich komme mit.«

»Bist du sicher?«

Creech nickte. »Bin ich je von deiner Seite gewichen?«

Loomis lächelte und klopfte ihm auf den Rücken. Darauf bedurfte es keiner Antwort. Creech hatte in South Armagh in Nordirland einmal seinen blutigen Körper aus einem brennenden Hubschrauber gezerrt. Dann hatte er Loomis drei Meilen durch den Regen getragen, mit der halben IRA auf den Fersen.

Gemeinsam brachen sie auf.

Abseits des Dorfes konnten sie sich leichter fortbewegen. Sie folgten der Straße, die sich nach Westen wand. Es war ziemlich einfach. Hin und wieder mussten sie hinter einem Felsen in Deckung gehen, wenn ein Lastwagen vorbeifuhr. Je näher sie kamen, umso deutlicher konnten sie erkennen, dass es kein künstliches Licht war, das für das Leuchten in der Wüste sorgte. Es war Feuer. Hoch auflodernde Flammen, wie von Lagerfeuern. Doch der beißende Gestank in der Luft verriet, dass es sich nicht nur um Lagerfeuer handelte.

Sie schlichen so nahe wie möglich heran und filmten mithilfe der Zoom-Objektive.

Natürlich gab es auch hier Soldaten. Und weitere Lastwagen und Männer in ABC-Schutzanzügen, die das Ganze überwachten. Außerdem gab es Bulldozer und Bagger mit Löschkränen und so großen Baggerschaufeln, das ein ganzes Auto hineinpasste. Der Gestank war überwältigend. Selbst die normalen Einheiten trugen Gasmasken.

Loomis und Creech beobachteten eine Szenerie wie aus Nazi-Deutschland.

Müllfahrzeuge kippten ganze Wagenladungen von Leibern ab. Obgleich verkohlt, bewegten sie sich noch. Weinten. Stöhnten. Schrien. Die herunterfallende Masse schien sich in Schlangenlinien zu bewegen, als würde sich etwas in ihr befinden – langsam, kriechend, wogend. Bulldozer schoben die schwelende Fracht in ein kraterartiges Massengrab. Dann zielten Männer mit Flammenwerfern auf den lebenden Teppich aus Leibern.

»Sie können unmöglich noch am Leben sein«, keuchte Creech atemlos. »Sie können nicht … sie können sich nicht mehr so bewegen … so kriechen … als hätten sie keine Knochen mehr, wie etwas …«

»Lass uns verdammt nochmal von hier verschwinden«, sagte Loomis.

Ein letztes Mal sah er hin. Dicke, ölige Rauchwolken stiegen aus der Grube in die Nacht auf. Der Gestank war widerwärtig. Er redete sich ein, die Schreie der Kinder nicht zu hören.

Sie zogen sich in die Nacht zurück, nun wieder schweigend. Ihnen war nicht nach Reden zumute, und das nicht aus Angst, belauscht zu werden, sondern vor dem, was sie vielleicht sagen würden.

Das Team gab ihnen nach der Rückkehr ihre Waffen zurück und reichte ihnen Feldflaschen, aus denen sie gierig tranken.

Loomis wollte keine Zeit verlieren. Er wollte sein Team so schnell wie möglich am Abholpunkt haben.

»Horse«, sagte er. »Du übernimmst die Führung.«

Sie bewegten sich nach Westen zu der von Loomis ausgewählten Landezone. Als sie El Badji und den Schrecken, den der Ort beherbergte, gute zwei Meilen hinter sich gelassen hatten, hielten sie an. Loomis überprüfte sein GPS und schaltete das SATCOM-Funkgerät an. Es verfügte über eine eingebaute Verschlüsselungseinrichtung. Er setzte seinen Ruf ab und wartete auf den MH-53 Pave Low Hubschrauber, der sie abholen sollte.

Sie setzten sich wieder in Bewegung, in Richtung Landezone.

Dunn tauchte hinter ihm auf, legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Was hast du dort gesehen, Skipper? Was hat euch so durcheinandergebracht?«

Loomis starrte in die Schwärze.

»Ich weiß es nicht«, presste er unter Mühen hervor. »Aber ich will es kein zweites Mal sehen.«

16. August

Bethesda, Maryland Bethesda Naval Hospital 09:15 Uhr

Als der alte Mann eintraf, warteten sie bereits auf ihn. Dr. Rosin und Dr. MacClure. Beide waren Captains der Navy. Beide hatten Zeit beim NIS und dem ONI verbracht. Und beide besaßen Verbindungen zum S5. Hände wurden geschüttelt, ein paar Begrüßungsformeln ausgetauscht. Dann führten sie den alten Mann hastig in die Leichenhalle.

Im Büro des Chefpathologen begannen sie.

»Weihen Sie mich ein«, sagte der alte Mann.

MacClure öffnete eine Akte. »Lister, John Terry. Sergeant, First Marines. Herbst 2016. Lister und sein Aufklärungs-Platoon waren in Einsätze in der westlichen Wüste südlich von ar-Rutba involviert.« MacClure machte eine Pause und rückte die Brille auf seiner Hakennase zurecht. »In den letzten Monaten befand er sich immer wieder im Veteranenkrankenhaus und klagte über Bauchschmerzen. Vor vier Tagen wurde er hierher verlegt. Vor zwei Tagen verstarb er an plötzlichen inneren Blutungen. Am Morgen vor seinem Tod entdeckte man bei einer MRT-Untersuchung Folgendes.«

Er klemmte die Scans an einen Leuchtkasten.

Der alte Mann setzte sich langsam seine Brille auf und studierte die Aufnahmen eingehend. Sie zeigten die Bauchhöhle. Vom unteren Dickdarm bis hinauf in den Magen war eine dunkle, verschlungene Masse zu sehen. Er nickte ernst. »Kein Zweifel.« Er wandte sich Rosin zu. »Was geschah in der Zeit zwischen diesen Scans und seinem Tod?«

Rosin räusperte sich. »Er war für eine Magenspiegelung vorgesehen. Seine Symptomatik war gelinde gesagt verwirrend. Und dann hat diese Masse …«

»Ja, ja, natürlich.«

Rosin wich seinem Blick aus und zog es vor, auf seinen Ring der Naval Academy zu starren. »Doktor Lattiker nahm die Autopsie vor … und dann …«

»Haben Sie Lister einäschern lassen?«

»Ja. Eine ziemliche Sauerei, wie Sie sich vorstellen können.« Rosin schüttelte den Kopf. Ein Schweißtropfen erschien auf seiner Stirn. »Als die Dinge unter Kontrolle waren, wurde die Leiche sofort vernichtet.«

»Und?«

»Oh ja«, sagte Rosin und tupfte sich die Stirn mit einem Tuch ab. »Ja, der Parasit wurde ebenfalls eingeäschert. Zusammen mit Listers Kleidung, Blut- und Urinproben und so weiter. Alles, womit er in Kontakt gewesen war, wurde vernichtet.«

Der alte Mann dachte darüber nach. Dachte lange und intensiv darüber nach, während die Stille beinahe bleiern in der Luft hing. »Was ist mit Lattiker? Wurde ihm assistiert?«

MacClure nickte. »Ja. Lattiker starb beinahe sofort an seinen Wunden. Seine Leiche wurde vernichtet. Sein Assistent war ein Labortechniker namens Cortz. Er überlebte … steht jedoch unter Schock. Wir haben ihn wie befohlen unter Quarantäne stellen lassen.«

»Gut. Behalten Sie ihn dort. Merken Sie sich – ich möchte zweimal am Tag Tests sehen – Blutbild, Urin, Exkremente … das volle Programm.«

»Wie lange sollen wir ihn dort belassen?«, fragte Rosin.

»Auf unbestimmte Zeit.«

»Aber seine Familie … sie werden wissen wollen, was los ist.«

»Das ist Ihr Problem. Denken Sie sich etwas aus.« Der alte Mann bedachte die beiden mit einem eisernen Blick. »Was ist mit dem anderen?«

»Jameson. Er ist noch hier.«

Der alte Mann folgte ihnen durch eine schwere Tür, die sich beim Berühren kalt anfühlte, dann durch ein Labyrinth aus Autopsieräumen. Die Wände bestanden aus Edelstahlfächern, die vom Boden bis an die Decke reichten. Sie durchquerten mehrere Räume, bis sie den letzten erreichten.

Die Luft war kalt. MacClure rieb sich die Hände. »Wir haben alle anderen aus dieser Sektion verlegt, wie von ihnen angeordnet.«

Rosin entriegelte eines der Fächer. »Hier haben wir die Temperatur auf Minus vier Grad Celsius heruntergeregelt.«

»Ich hoffe, das genügt«, sagte der alte Mann. »In der Wüste kann es ebenfalls kalt werden, wissen Sie? Und das konnte ihm nichts anhaben.«

MacClure sah krank aus. Er trat zurück, als der Schlitten herausgezogen wurde.

»Heilige Mutter Gottes«, entfuhr es Rosin.

Und dann sahen sie es.

Das Tuch, welches ursprünglich die Leiche bedeckt hatte, war blutbefleckt und hatte sich an den Beinen des Kadavers verheddert.

Ein tiefer, schartiger Riss führte von der Kehle bis zwischen seine Beine. Der Körper war aufgebrochen worden.

Der alte Mann verlor die Beherrschung, aber nur für einen Moment. Doch in diesem Moment wirbelte er herum und sah panisch an die Decke und auf den Boden. Suchte nach etwas. »Ich dachte, man hätte die Leiche observiert?«

»Das hat man«, murmelte MacClure. »Ich habe sie selbst überprüft.«

»Auch heute Morgen?«

»Nein«, gab er zu. »Ich wartete darauf, dass …«

Der alte Mann nickte. »Beschaffen Sie die Namen aller Personen, die letzte Nacht hier Zutritt hatten. Ich brauche sie so schnell wie möglich.«

Rosin eilte davon, froh darüber, den Raum verlassen zu können.

Der alte Mann starrte auf die Leiche hinab. Auf den verstümmelten Schlund und wo sich einst die Brust und der Bauch befunden hatten. Er überlegte, was zu so etwas fähig wäre. Dann untersuchte er die Ränder der aufgebrochenen Wunde. Sie waren zerfetzt und zerfasert. Brust und Bauchhöhle waren von innen aufgeplatzt. Muskeln und Gewebe waren zertrennt worden, der Brustkorb aufgebrochen. Das Brustbein machte den Eindruck, als hätte etwas daran … genagt.

MacClure sah aus, als müsste er sich jeden Moment übergeben.

Der alte Mann bohrte ihm einen Finger in die Brust. »Haben Sie eigentlich eine Ahnung, was Sie hier angerichtet haben?«, fragte er mit weit aufgerissenen, vorwurfsvollen Augen. »Haben Sie irgendeine Vorstellung davon, was Sie hier freigelassen haben?«

MacClures schreckensgeweiteter Blick war Antwort genug.

Unterwegs Washington D. C. 11:51 Uhr

Der schwarze Lincoln kämpfte sich durch den morgendlichen Verkehr auf der Wisconsin Avenue. Auf seinem Rücksitz saß der alte Mann.

Er war nie ein Mann großer Gefühle gewesen.

Er hatte schon vor Jahren gelernt, dass in seinem Metier dafür kein Platz war. Je menschlicher man war, umso verletzlicher wurde man. In all seinen Jahren im Dienst war er noch nie zusammengebrochen. Er hatte seine Eltern begraben, seinen Bruder, seine Frau und seine Geliebte. Und nie geweint. Hatte es sich nie gestattet. In seiner Position war Contenance das Allerwichtigste.

Dann ist es also geschehen, dachte er und versuchte sich zu wappnen. Das Worst-Case-Szenario ist schließlich eingetreten. Trotz aller Vorarbeit und aller Vorkehrungen ist das Schlimmste eingetreten. Und nun? Was willst du jetzt tun?

Aber er wusste es.

Schon vor Wochen waren Vorkehrungen für genau diesen Fall getroffen worden, nach dem Vorfall in El Badji, der mittlerweile als der »Syrien-Zwischenfall« bezeichnet wurde. Ja, nur ein Telefonanruf würde alles in Bewegung setzen. Die Teams standen bereit, das Land vor seinen eigenen Dämonen zu beschützen.

Und manchmal fragte sich der alte Mann, ob es die Mühen wert war.

Wenn das Problem nicht unter Kontrolle gebracht und ausgemerzt werden konnte, würden bald schon die Medien Wind davon bekommen, und dann würden alle davon erfahren. Die Auswirkungen dessen würden unvorstellbar sein. Die Steuerzahler würden das grauenerregende Resultat einer illegalen, mit Schwarzgeld finanzierten Operation präsentiert bekommen. Das würde genügen, um alles zu zerstören, was dieses Land zusammenhielt. Zumindest würde es das Ende dieser Regierung und aller beteiligten Geheimdienste bedeuten. Es würde einem Fegefeuer gleichen.

Und dann?

Dann würden andere Männer, genauso korrupt und finster wie jene, die sie ersetzten, an die Macht kommen. Und so würde es immer weitergehen.

Der alte Mann wusste, dass es so kommen würde, denn er war einer von ihnen.

Er griff nach seinem abhörsicheren Handy und tippte den Code für die verschlüsselte Verbindung ein.

Wartete.

»Ja?«, meldete sich eine Stimme, beinahe beiläufig. »Wie kann ich Ihnen helfen?«

»Core Seven«, sagte er.

»Jawohl, Sir«, antwortete die Stimme. »Mit wem darf ich Sie verbinden?«

»VanderMissen.«

Ein Augenblick verging. Zwei. Eine Reihe von Pieptönen und Klickgeräuschen waren zu hören, während der Anruf durch das labyrinthartige Netzwerk weitergeleitet wurde.

Schließlich: »VanderMissen.« Die Stimme klang müde, niedergeschlagen.

»Ich bin es«, begann der alte Mann. »Ich komme gerade aus dem Bethesda.«

»Und?«

»Wie wir dachten. Es hat begonnen.«

17. August

Brooklyn, New York Das Red Hook 13:10 Uhr

In der schummrigen Enge des Foursquare Saloons auf der Conover Street and Beard wusch Bernie Shivel in Seelenruhe ein weiteres Bierglas aus. Die Mittagsgäste waren gegangen und so waren nur er und Lance Makowksi anwesend. Manchmal war Lance schweigsam – das war gut – und manchmal wollte er einfach nicht die Klappe halten – das war dann nicht so gut.

»Entspann dich, Lance. Ich hab nur ‘ne Frage gestellt«, sagte Bernie.

Lance seufzte. »Ja, okay, okay. Ich bin einfach sauer. Kann man es mir verübeln?«

»Niemand macht dir irgendwelche Vorwürfe, Lance.«

»Klar.« Er trank von seinem Bier und wischte sich den Schaum von seinem Schnurrbart. »Egal, um deine Frage zu beantworten, ja, ich war in dem verdammten Veteranenkrankenhaus. Weißt du, was sie zu mir gesagt haben? Ich sollte diese ganzen verfluchten Formulare ausfüllen. Diese Formulare würde man dann prüfen. Dann würde ich einen Termin bekommen. Ist das jetzt nun ein riesiger Bockmist, oder was?«

»Hört sich für mich ganz danach an.«

»Ja, da sagst du was. Ich fülle also diese Formulare aus. Das war vor drei Wochen. Sie haben nicht angerufen oder einen Brief geschickt. Nichts. Das ist eine Verschwörung. Die vertuschen was. Denn weißt du, genau so läuft das bei diesen Wichsern in Washington. Die Medien sorgen für einen Aufschrei und machen Stunk, weshalb die fetten Wichser schlechte Publicity wittern. Also kommen sie aus ihren Löchern gekrochen und sagen ja, das Golfkriegssyndrom, das gab es schon beim ersten Mal, und nun eben wieder. Vielleicht. Aber sieh sie dir doch an. Die interessieren sich doch einen Scheiß dafür, Bernie. Die tun nur so, um ihre Karrieren nicht zu gefährden. Um die Wähler nicht zu vergrätzen. Verdammt, du weißt doch, wie es läuft, hab ich recht? Du warst schließlich in Vietnam.«

Bernie lehnte sich gegen die Bar. »Für euch Irak-Veteranen geht der ganze Spuk erst los. Vertrau mir. Ich war dabei. Weißt du, wie lange es gedauert hat, bis Uncle Sam die Sauerei um Agent Orange endlich zugegeben hatte?«