DIE WIEDERERWECKTEN DES HERBERT WEST - Tim Curran - E-Book

DIE WIEDERERWECKTEN DES HERBERT WEST E-Book

Tim Curran

0,0

Beschreibung

In H.P. Lovecrafts Kurzgeschichte "Reanimator – Der Wiedererwecker" lernen wir Herbert West kennen – einen ebenso genialen wie irregeleiteten Forscher, der davon überzeugt ist, dass der menschliche Körper nichts weiter als eine organische Maschine sei, die man selbst nach dem Tod wieder "neu starten" könne. Als Sanitäter begibt sich West unter anderem an die Flandern-Front des Ersten Weltkrieges, denn dort gibt es genug menschliches Material für seine Experimente … Tim Currans Hommage "DIE WIEDERERWECKTEN DES HERBERT WEST" lässt uns tiefer in dieses dunkle Kapitel eintauchen. Wir erfahren von geheimen Laboren, Legionen wandelnder Toter und grausamen Experimenten, einer Monstrosität, die sich von den Toten ernährt, und einem unvorstellbaren Wesen jenseits von Leben und Tod, welches sich im Schutze der Nacht auf die Suche nach seinem wahnsinnigen Schöpfer begibt.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 201

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Die Wiedererweckten des Herbert West

This Translation is published by arrangement with SEVERED PRESS, www.severedpress.com Title: MORBID ANATOMY. All rights reserved. First Published by Severed Press, 2014. Severed Press Logo are trademarks or registered trademarks of Severed Press. All rights reserved.

Impressum

Deutsche Erstausgabe Originaltitel: MORBID ANATOMY Copyright Gesamtausgabe © 2018 LUZIFER-Verlag Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Cover: Michael Schubert Übersetzung: Andreas Schiffmann Lektorat: Johannes Laumann

Dieses Buch wurde nach Dudenempfehlung (Stand 2018) lektoriert.

ISBN E-Book: 978-3-95835-331-2

Du liest gern spannende Bücher? Dann folge dem LUZIFER Verlag aufFacebook | Twitter | Pinterest

Sollte es trotz sorgfältiger Erstellung bei diesem E-Book ein technisches Problem auf deinem Lesegerät geben, so freuen wir uns, wenn du uns dies per Mail an [email protected] meldest und das Problem kurz schilderst. Wir kümmern uns selbstverständlich umgehend um dein Anliegen und senden dir kostenlos einen korrigierten Titel.

Der LUZIFER Verlag verzichtet auf hartes DRM. Wir arbeiten mit einer modernen Wasserzeichen-Markierung in unseren digitalen Produkten, welche dir keine technischen Hürden aufbürdet und ein bestmögliches Leseerlebnis erlaubt. Das illegale Kopieren dieses E-Books ist nicht erlaubt. Zuwiderhandlungen werden mithilfe der digitalen Signatur strafrechtlich verfolgt.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Inhaltsverzeichnis

Die Wiedererweckten des Herbert West
Impressum
Zum Geleit … Schreckensbilder
Die wandelnden Toten
Memento Mori
Wo Leichen, da Ratten
Verluste
Beerdigungskommando
Räuberpistolen
Niemandsland
Dr. Herbert West
Der Friedhof
Graborchideen
Bestattungsrituale
Kampfmüdigkeit
Kriegstrauma
Schlaf der Vernunft
Die Werkstatt
Der Feind naht
Der Unterstand
Verschüttet
Das zerstörte Dorf
Die Leichenfabrik
Krankhafter Organismus
Katalysator
Was bleibt, sind Würmer
Durchatmen
Über den Autor

»Ich unterlasse es, Ihnen die Gräuel meines einsamen Schaffens zu schildern, wie ich im Unrat von Gräbern wühlte und lebende Wesen zu Tode quälte, um toten Staub zu beleben.«

Zum Geleit … Schreckensbilder

Über meine Erlebnisse im Weltkrieg mit Dr. Herbert West spreche ich nur mit allergrößtem Widerwillen, Ekel … und Entsetzen. In die Schützengräben, die voller Wasser und Leichen waren – dorthin verschlug es uns nämlich 1915.

Vielleicht trieb mich naiver Patriotismus oder Nationalismus an, zum Wohle der Menschheit zu handeln und die Leben Verwundeter zu retten – ein Eifer, der sich nicht wieder entfachen lässt, sobald die Wahrheit des Krieges offenbar wird –, doch bei Herbert West war das nie der Fall. Er schimpfte zwar freiweg auf den Hunnen, sah unseren Dienst beim Ersten Jägerbataillon der kanadischen Armee jedoch insgeheim als bloßes Mittel zum Zweck an. Mein Kollege verfolgte kaum eigennützige Beweggründe, verstehen Sie? Obwohl er ein außerordentlicher, ja nahezu übernatürlich begabter Chirurgus war, ein biomedizinischer Fachmann und ein Wunderkind der Wissenschaft, galt Wests Besessenheit von jeher nicht den Lebenden, sondern den Toten: der Wiederherstellung von abgestorbenem Gewebe, genauer gesagt der Reanimation menschlicher Gebeine. Im Krieg an sich, der wie eine riesige, rußende Fabrik Grässliches absonderte, fand er ein mustergültiges Umfeld für seine undurchsichtige Forschungsarbeit … ganz zu schweigen von unbegrenztem Zugriff auf Rohmaterial in Hülle und Fülle.

Ich zog als Wests Kollege in den Krieg, das stimmt, glaubte aber aus tiefster Überzeugung, dem leisen Ruf einer höheren Macht zu folgen, ein Werkzeug des Guten in jenem üblen Terz zu sein, eben dank meiner Fähigkeiten als Wundarzt. Ich kam mit hohen Idealen an, und verließ Flandern binnen eines Jahres als gebrochener, hohläugiger Mann, dessen Glaube an die Menschheit an einem Seidenfaden hing. Viele Monate lang haderte ich mit meinen Erinnerungen, schattenhaft verderbten Fehlgeburten – ein reges Gewimmel, das mir die Kehle zuschnürte, bis ich einstweilen weder schlucken noch einen einzigen Atemzug tun konnte.

Nichteingeweihte, die dies ein wenig zu melodramatisch finden, mögen sich Folgendes vorstellen:

Flandern, 1915.

Ein klaustrophobisch enges Geflecht aus unter Wasser stehenden Schützengräben, die sich durch zerbombtes Gelände ziehen wie tiefe Operationswunden; jeden diesigen Tag lang bis spät in die finsteren Nächte hinein knatternde Maschinengewehre und prasselnde Hochgeschwindigkeitsgeschosse, donnernde Mörser und Erstickungsschreie vergaster Soldaten, die sich in Stacheldrahtzäunen verfangen haben; der Gestank von Pulverdampf, Fäulnis durch Nässe und Exkremente; verwesende Leichen, die in schlammigen Sümpfen versinken, über Sandsäcke jagende Ratten; aufflammende Leuchtkugeln, niedergehende Granaten … und der Tod. Großer Gott, der Tod nahm überhand, säte und erntete, holte die abstoßende Frucht seines Samens im Übermaß ein, während der Leichenberg höher wurde und der Regen nicht nachließ.

Dieses Umfeld war der Nährboden, der jemanden mit Herbert Wests besonderen Talenten zum Aufblühen brauchte.

Anders als ich mit meinem Glauben an die Existenz einer menschlichen Seele und deren Himmelfahrt nach dem Tod bis zu Gottes Thron saß West keinen solchen Fehlvorstellungen auf, wie er es selbst nannte. Er war ein wissenschaftlicher Materialist und eingeschworener Darwinist, für den die Seele religiöse Schwärmerei widerspiegelte und die Kirche nur als politische Instanz zur Kontrolle der Massen beziehungsweise zum Durchsetzen der eigenen monetären Interessen existierte. Lebewesen seien, wie er behauptete, im Sinne eines mechanistischen Weltbildes zu verstehen, und darum organische Maschinen, die man nach Belieben formen könne … und hätte ich daran gezweifelt, wäre es mir wiederholt mit einem Reagenz bewiesen worden, das er dazu entwickelt hatte, den Toten Leben einzuhauchen … nicht selten mit Ergebnissen, die ich gar nicht zu beschreiben vermag.

Selbst jetzt, so viele Jahre später, kann ich West sehen – dürr und bleich mit Brille vor blauen Augen, die überirdische Stärke ausstrahlten –, wie er sich durch haufenweise Leichen wühlte, mir gegenüber geschmacklose Bemerkungen fallenließ und mit seiner dunklen, kalten Stimme kicherte: taxierend wie ein Fleischer, der nur die erlesensten Stücke auswählt … ein Knäuel Gedärm, ein ausnahmsweise unbeschädigtes Organ, ein ausgesprochen wohlproportioniertes Glied oder einen selten intakten Kadaver; auch sehe ich Leiber in gefluteten Einschlagkratern treiben sowie schwarze Wolken schwirrender Schmeißfliegen … und die verstörten Blicke junger Männer, die sich Hals über Kopf in ihre eigenen Gräber stürzten.

Flandern sehe ich ebenfalls.

Ich sehe Wests Werkstatt – eine umgebaute Scheune, die teils Operationstheater, teils Teufelshand entsprungenes Labor war; ich sehe konservierte Präparate und Gläser, worin Blutserum brodelte … Teile, die sich nicht mehr hätten rühren dürfen, es aber dennoch taten, schauderhaft wie in einem Anflug von dämonischem Leben. Zuletzt sehe ich den enthaupteten Major Sir Eric Moreland Clapham-Lee, den West wiederbelebt hatte, und höre den Kopf aus einem Gefäß voller dampfender Reptilgewebe schreien, kurz bevor das Gebäude bei einer Bombardierung durch die Deutschen lichterloh in Flammen aufging.

Schlimmer aber – viel schlimmer – sind jene Träume, die mich in den schwärzesten Abgründen der Nacht heimsuchen. Darin begegnet mir Michele: gewandt, gespenstisch … kommt sie zu mir wie eine verstoßene Geliebte zu später Stunde. Sie trägt ein weißes Hochzeitskleid, das jedoch einem wabernden Totenschleier gleicht. Es ist mit Schlamm und rötlichem Schmutzwasser bespritzt, befallen von Schimmel und Insekten; diese höre ich summen und knacken. Michele riecht nach ihnen und Moder, zu gleichen Teilen schimmlig, dreckig und wie Graberde. Sie nähert sich mir mit ausgestreckten Armen, und ich eile ihr genauso schnell entgegen. Ihre Brautschleppe ist verfärbt, verschlissen und von fetten Friedhofsratten angefressen worden, weshalb sie stinkt wie die Untiefen der zusammenfallenden Gräben Flanderns. Als sie mich umschlingt, zittre ich, weil ich ihr grabkaltes Fleisch und Holzwürmer spüre, die sich in ihrer Kleidung winden. Ihre Ausdünstungen sind so übel, dass ich würgen muss.

Sie küsst mich nicht.

Denn sie hat keinen Kopf.

Die wandelnden Toten

Creel war seit vier Monaten Korrespondent beim Zwölften Bataillon Middlesex in Flandern, als man ihn zur Begleitung eines kleinen Stoßtrupps einlud, der gerade mehr schlecht als recht zusammengestellt wurde. Die Sergeants baten nicht um Freiwillige; indem sie durch den vorderen Graben zogen, pickten sie wahllos Männer heraus, als seien es Äpfel in einem Fass, die sich alle nur schwerlich für dieses Unterfangen erwärmen konnten.

Irgendwie war er davon ausgegangen, man lege bei so etwas ein wenig mehr Wert auf militärische Akkuratesse, doch es verhielt sich damit nicht anders als sonst im Krieg. Ich und du, Müllers Kuh … Als Creel in die Gesichter der Ausgesuchten schaute, fragte er Sergeant Burke, was geschehen würde, so sich jemand mitzugehen weigere.

Da schnitt der Angesprochene jene gequälte Miene, die ihm sein Kamerad sehr oft abzufordern schien. Er war Creels Aufpasser. Seine Aufgabe bestand darin, ihm zur Seite zu stehen, um nach Möglichkeit zu gewährleisten, dass er keinen Ärger bekam und unversehrt blieb … falls sich so etwas überhaupt realistisch verlangen ließ.

»Tja, sie würden sich einen anderen greifen, was denken Sie denn?«, erwiderte Burke. »Den Jemand dürften sie dann abführen und erschießen.«

Das notierte sich Creel, belustigt von seiner eigenen Frage.

Als Journalist blieb er vom geteilten Leid des Generalstabs und der befehlshabenden Offiziere unbescholten. Die Briten verfügten bereits über ihre eigenen sorgfältig beobachteten Kriegsberichterstatter, weshalb sie keinen dahergelaufenen Yankee vom Kansas City Star brauchten, der ihnen zungenfertig und anmaßend ins Gehege kam, doch Präsident Roosevelt war nicht von seinem Standpunkt abgerückt und hatte behauptet, amerikanische Reporter nicht über britische und kanadische Einheiten berichten zu lassen schade den Kriegsanstrengungen … mit anderen Worten: Wenn es der amerikanischen Öffentlichkeit nicht von Amerikanern schöngeredet wurde, konnte er dem Volk niemals weismachen, man müsse Soldaten und Dollars bereitstellen.

So kam es, dass das Britische Expeditionskorps nachgab – was es gemeinhin nur ungern tat, egal worum es ging.

Der Stoßtrupp bestand aus vier Mann: Sergeant Kirk, Corporal Smallhoouse sowie den Privates Jacobs und Cupperly. Neben seiner Enfield-Büchse mit aufgesetztem Bajonett trug Jacobs 50 Schuss Munition bei sich. Kirk fungierte als Mann fürs Grobe; er hatte einen Tornister voller Mills-Granaten. Smallhouse zählte ebenfalls zu den Grenadieren, und Cupperly schließlich war der zweite Schütze mit einem 50er-Patronengurt.

Zudem führten zwei andere Sergeants jeweils einen weiteren Stoßtrupp an.

»Wir gehen jetzt da raus und spielen ein paar böse Bubenstreiche«, sagte Kirk grinsend. »Denen die Laune verhageln, in die Suppe spucken, den Kopf verdrehen – das ist unser Job; Furunkel am Arsch des Hunnen sollen wir sein. Das wird ein Heidenspaß.«

Creel wunderte sich darüber, wie gerne Kirk, der dem Vernehmen nach ein recht anständiger Kerl sein musste, solche Überfälle mochte. Seine Augen funkelten arglistig, während er verschlagen grinste, als sei die auferlegte Pflicht tatsächlich eine knabenhafte Teufelei: Toilettenhäuschen umwerfen oder wurmstichige Äpfel aufs Lehrerpult legen.

Nach Einbruch der Dunkelheit wagten sie sich aus dem Graben – Burke dackelte mit Creel hinterher – ins aufgeweichte und mit Leichen gespickte Niemandsland. Mit schwarz beschmierten Gesichtern blieben sie so gut wie unkenntlich, entweder tief geduckt oder durch den Schlamm robbend, derweil sich aasfressende Ratten ringsum tummelten, ganze Legionen gleich einem dunklen Strom. Nachdem sich Kirk auf den Bauch gelegt und ein Loch in den Zaun geschnitten hatte, dauerte es nur wenige Minuten, bis sie auf zwei vorgezogene deutsche Wachen stießen. Jacobs und Cupperly nahmen sich ihrer leise an: hochfahrende Schatten, die ihnen hinterrücks die Gewehrgriffe überzogen und ihre Bajonette in die Hälse rammten. Sie brauchten nicht lange, und abgesehen von dem Gegurgel, während das Blut aus den offenen Kehlen der Männer strömte, belief sich der Geräuschpegel auf den Knall, als die Kolben jeweils gegen die Helme schlugen.

Sachte ließen sich die Angreifer in die ersten Gräben fallen, die deutlich vor den eigentlichen Stellungen der Deutschen lagen. Sie schlichen hindurch, indem sie von einer Scharte zur nächsten vorrückten und Granaten lupften, wenn sie Bewegungen hörten. Auf diese Weise töteten sie ein halbes Dutzend Hunnen – eine ziemlich wirkungsvolle Methode, wie Creel fand, nicht zuletzt wegen des Überraschungsmoments. Weniger als eine Stunde zuvor hatte Artilleriefeuer die Deutschen aus den Löchern in ihre höher gelegenen Sandsackburgen getrieben. Zurückgeblieben waren lediglich Wachen, und die mussten alle dran glauben, da die drei Stoßtrupps nichts anbrennen ließen, sondern die Gräben zügig räumten, Rüstzeug stahlen und alles zerstörten, was sie nicht mitnehmen konnten.

Burke meinte später zu Creel, es sei ein fast perfekter Überfall gewesen, denn normalerweise würden die Deutschen hören, wenn sie den Draht durchschnitten, und das Feuer mit Maschinengewehren eröffnen.

Gemeinsam sicherten die drei Trupps einen über 400 Fuß langen Grabenabschnitt, ehe sie bemerkten, dass die deutsche Verteidigung einen Gegenangriff lancierte.

Sie kletterten mit drei Gefangenen hinaus und kehrten eher stolpernd als laufend hinter ihre eigene Frontlinie zurück. Alles in allem war es eine halsbrecherische, nervenaufreibende Zerstreuung für ein paar Stunden Zeit gewesen.

Einer der geschnappten Deutschen, ein alter, weißhaariger Sergeant mit nur noch zwei Zähnen im Mund, hatte sofort aufgegeben, die Hände hochgehoben und »Kamerad!« gerufen.

»Viele von ihnen schmeißen die Brocken einfach so hin«, bemerkte Burke. »Sind nur froh, diesen verdammten Krieg hinter sich bringen zu können.«

Die drei wurden zu einem der britischen Unterstände gebracht, wo ein Nachrichtenoffizier sie verhörte. Creel, Burke und ein paar andere warteten mit ihnen dort. Ersterer gab dem alten Sergeant eine Zigarette, woraufhin dieser grinsend sein praktisch nicht mehr vorhandenes Gebiss zeigte. Während er rauchte, brummelte er immer wieder »Kamerad«, wie um dem Nachdruck zu verleihen. Nach einer Weile aber begann er, sehr grimmig dreinzuschauen, ohne sein anhaltendes Gebrabbel zu unterlassen, und zeigte hinaus ins Nichts. »Die Toten … die Toten!«, rief er dann mit Augen so schwarz wie ausgebrannte Kohlen. »Die Toten … sie sind wieder unter uns! Die Toten sind auferstanden!«

»Lass das Geplapper bleiben«, verlangte Burke.

Falls es aber nichts weiter als das war, so doch das ungewöhnlichste Geplapper, das Creel in diesem Krieg gehört hatte. Sein Deutsch mochte zu wünschen übriglassen, doch was der Sergeant meinte, verstand er allzu deutlich, und die Furcht, die dabei mitschwang, ließ sich nicht leugnen.

Die Toten, wiederholte der Reporter für sich. Die wandelnden Toten.

Dies war der Moment, da ihm das eine oder andere Licht aufging und er Blut leckte.

Memento Mori

Die Gegenwehr der Deutschen blieb überschaubar und ohne Konsequenzen – eine halbherzige Offensive, in deren Zuge die Gefallenen verstreut herumlagen wie Reis nach einer Hochzeit. Regen schwemmte die Leichen zu arg unansehnlichen weißen Wülsten auf: Zeugnisse der Zersetzung, auf welchen absonderliche Pilze wuchsen. Obgleich sie nicht übler stanken als die Schlachtfelder Flanderns allgemein, wurde der Geruch so streng, dass sich die Offiziere beschwerten, woraufhin Taten folgten: Eine kleine Gruppe wurde ausgesandt, um sie in einem Massengrab zu verscharren.

Creel begleitete sie, wobei er seine kleine Kastenkamera mitnahm – eine Kodak Brownie –, um ein paar gute Fotos von den Leichen zu machen. Mittlerweile hatte er schon eine beachtliche Sammlung: In Bäume hochgeschleuderte, im Stacheldraht verstrickte, umringt von Ratten im Schlamm versinkende, und – sein Lieblingsmotiv – einen hunnischen Offizier, den ein MG getroffen und gegen einen spitzen Eichenast geworfen hatte, sodass er rücklings durchbohrt in lässiger Haltung aufgerichtet geblieben war. Als Creel diesen Schnappschuss Monate nach der ersten Flandernschlacht gemacht hatte, war fast das ganze Fleisch des Mannes von heimischen Raben und Bussarden gefressen – Spatzen hatten in seinem Brustkorb genistet –, weshalb er ausgesehen hatte wie ein Skelett bei einem vergnüglichen Nachmittagsspaziergang, auch wegen seines schnittig schiefsitzenden Stahlhelms.

Fotografien von Toten zu sammeln wurde für Creel in solchem Maße zur Besessenheit, wie es in seiner Arbeit als Kriegsberichterstatter bis dato nicht der Fall gewesen war. Die Tommys missachteten ihn entweder höflich oder empörten sich offen über sein Verhalten.

»Wieso?«, hatte Burke eines Tages wissen wollen. »Weshalb möchten Sie Bilder davon haben? Ihre Zeitung wird so etwas nicht abdrucken.«

Creels Reaktion war heiter wie immer angesichts dieser Frage gewesen: ein hartherziges, hämisches Lachen. »Ich tue das, weil ich den Tod nicht verstehe; ich begreife nicht, wie das Leben einfach so aufhören kann.«

»Da gibt es nichts zu begreifen, mein Freund. Man findet sich eben damit ab. Was ist daran so schwierig? Meine Mum meinte immer, es falle in Gottes Zuständigkeitsbereich.«

»Klar, Gott ist zuständig, der Mensch jedoch Herr über sein eigenes Schicksal.«

Einen Tag nach der Aushebung des Massengrabs für die Hunnen konterte das britische Expeditionskorps wiederum mit einer Attacke im kleinen Rahmen, die ähnliche Ergebnisse erzielte. Im Grabenkampf gab es schon seit Monaten kein Vor oder Zurück mehr, und das Einzige, was sich überhaupt veränderte, war die Zahl der Leichen, die in der Sonne schmorend zurückblieben beziehungsweise im flandrischen Schlamm verschwanden wie schmelzende Wachsfiguren.

Hinterher beobachtete Creel, wie Verwundete eintrafen, die ihre Beine noch gebrauchen konnten – verlottert und erschöpft, beklebt mit getrockneter Erde sowie Blut – und die Arme in Schlingen oder auch anderswo am Körper Verbände tragend. Keiner von ihnen sprach, als habe ihnen der Krieg die Stimmen geraubt, sie stumm gemacht. Sie trotteten einher, hinkend oder humpelnd auf geschwollenen Füßen, eine Prozession der Verstümmelten, wobei sich Creel gut vorstellen konnte, sie hätten es sich anders vorgestellt, als sie bei ihrer Einberufung vor Dein-Land-braucht-dich-Plakaten mit dem gestrengen Konterfei des Ministers Kitchener unterschrieben hatten. Ihrer aller Augen sahen gleich aus, leer und grau wie Grabsteine oder Regenpfützen. Der einzige Unterschied zwischen ihnen und den Leichen auf dem Schlachtfeld bestand darin, dass sie noch laufen konnten.

Wandelten die Toten wieder unter ihnen?

Zweifelsohne.

Die Träger brachten diejenigen, um die es richtig schlimm bestellt war, auf Bahren zu den Rettungswagen hinüber, die sie wiederum zum Sanitätszelt oder Feldlazarett fahren sollten. Die meisten würden wohl sterben, bevor sie dort ankamen. Creel blieb gern vor Ort, um möglichst viel von den Unterhaltungen nach einem Einsatz aufzuschnappen. Diesmal hörte er drei Männern zu – sie waren blind vom Gas und hatten Mull auf den Augen –, die ihre Erlebnisse dort draußen rekapitulierten, aber nichts Neues berichteten. Der Kampfstoff habe sich rasch als wabernd grüne Wolke über ihnen ausgebreitet und gelb geleuchtet, als sie im Zuge des Ostwindes auf sie hinabgesunken war. Dann soll der Hunne sie heftig mit Granatfeuer und Nebelkerzen beschossen haben, die das Feld in beißenden, hellen Dunst so dicht wie in London gehüllt hatten. Mancher habe sich verirrt, sei in die falsche Richtung gestürmt, in geflutete Bombentrichter gefallen und ertrunken. Einige waren angeblich im gelbbraunen Schlick versunken, ohne eine Spur zu hinterlassen. Einer der Männer schwor Stein und Bein, Gas und Qualm im Verbund hätten gestunken wie Schwefel; nein, eher wie Äther – doch, definitiv wie Äther, beharrte der zweite, wohingegen der dritte den Geruch mit Harz verglich. Diesbezüglich kamen sie auf keinen gemeinsamen Nenner, waren sich aber einig, dass Hunderte gestorben seien, sowohl Hunnen als auch kampferfahrene Mitglieder des britischen Expeditionskorps: Hustend und würgend im Gewölk, erstickt an gelbem Schaum, der aus ihren Mündern gesprudelt sei, während sich ihre Lungen aufgelöst und sie noch geschrien hätten.

Beim Umhergehen zwischen den Verletzten erfuhr Creel, dass sie nach der letzten Kampagne teilweise tagelang dort draußen gewesen waren. Sie hatten im steten Regen ohne zu essen oder zu trinken in Kratern gelegen und dabei Ratten verscheuchen müssen, die vom Geruch ihrer hässlichen Fleischwunden angelockt worden waren. Viele von ihnen hatten komplett den Verstand verloren, doch es gab auch nicht wenige, die Zuversicht hervorkehrten, obwohl ihre Wunden von Maden zerfressen wurden.

Die Träger und Rettungswagen waren längst verschwunden, da stand der Journalist noch immer im Nieselregen, der an diesem grauen Nachmittag fiel, und lauschte dem Donner von Artilleriegeschützen in der Ferne, der gleichwohl nicht übertönte, wie die Laken auf den Leichen ringsum im Wind flatterten. Er fotografierte sie, wobei er besonders darauf achtete, dass sein eigener dunkler Schatten auf sie fiel wie jener des Schnitters, der gekommen war, um seine Ansprüche geltend zu machen.

Er stand mit einer Zigarette in ihrer Mitte, murmelte leise vor sich hin, ohne sich dessen bewusst zu sein, und sog jenes kühle, kupferartige Odeur ein, das zerschmetterte Körper, heißer Wundbrand und unreine Bandagen mit Leichengas ergaben.

Ihm kam es nicht so vor, als sei er allein.

Bedrückende, kriechend alte Furcht ergriff ihn, ohne dass er sie hätte beschreiben können. Dennoch umgab sie ihn, wohin er sich auch wenden mochte, eine Glocke aus emporsteigendem Pesthauch – oder eine bösartige, gemarterte Intelligenz nicht von dieser Welt, die dicht hinter ihm zu verharren schien und klamme Grabluft in seinen Nacken blies; er hatte das Gefühl, darin zu schwimmen. Als es vorbei war, kniete er zitternd da und keuchte, weil er gegen den starken, irrsinnigen Drang ankämpfte, sich zu den Toten zu legen und die Augen zu schließen, um herauszufinden, was sie wussten. In seinem Kopf indes – aber und abermals – klang die Stimme jenes Deutschen nach: »Die Toten sind auferstanden.«

Wo Leichen, da Ratten

Für gewöhnlich kamen sie des Nachts.

Es war, als habe eine Unheil fördernde Leitung leck geschlagen, so quollen sie scharenweise aus Schlupfwinkeln und Tunneln oder verdreckten Nestern am Stacheldraht draußen im Niemandsland und Kriechwegen unter den Schutzwällen aus Sandsäcken. Einige Tommys munkelten, sie würden in den Leichen draußen im Niemandsland leben, nachdem sie Löcher in deren Bäuche gefressen hätten, um im fauligen Dunkel Junge zu werfen.

Wie dem auch sei, sie drängten heraus: Ein überbordendes Gewimmel, das sich von den Toten ernährte, auf der Suche nach Essensresten Abfallhaufen durchstöberte und die Lebenden biss, ja nicht einmal vor dem Leder von Stiefeln und Gürteln zurückschreckte … während irgendein armer Teufel selbige noch trug. Als Vielzahl, die in die Millionen ging, kannten die Ratten keine Angst. Derweil sie die Gräben in großen Gruppen durchstreiften, krabbelten sie über schlafende wie wache Soldaten. Gewaltige, graue Geschöpfe waren sie – fett vom Aasfleisch mit Augen schwarz wie vor Tollwut, von Schleim und Abwasser schmierigem Fell sowie ewig knabbernden, kauenden, zwickenden Zähnen.

Sie stellten eine Konstante im Krieg dar. Als Flaute im Gefecht herrschte und den Tommys beim Entlausen ihrer Waffenröcke langweilig wurde, schossen sie Ratten von den Sandsäcken oder köderten sie mit Schinkenspeck, den sie an den Läufen ihrer Gewehre festmachten. Fanden sie ein Nest, traten sie die Nager mit ihren schweren Stiefeln nieder und zertrampelten den Wurf … aber nicht, dass dies ihrer Überzahl irgendeinen Abbruch getan hätte. Bisweilen sicherten emsige Jungoffiziere die Unterstände mit Drahtnetz gegen die Ratten ab, was stundenlang dauerte und letztlich doch nicht verhinderte, dass man beim Abendessen vier oder fünf auf der Suche nach Krümeln unterm Tisch entdeckte.

Der Krieg verursachte Abfall und Schaden am Menschen – die Gründe dafür, dass die Ratten kamen. Es war ein Teufelskreis, wofür es nur eine Lösung gab: Frieden.

Verluste

Die Deutschen zerschlugen einen erbitterten Überfall des Zwölften im Morgengrauen mit chemischen Kampfstoffen, einer Kombination aus Senfgas und Chlor. Ein nicht unerheblicher Teil der Männer war in tödlichen gelben Wolken verschwunden, bevor sie ihre Masken aufsetzen konnten. Creel bot sich in jener Nacht an, mit einem kleinen Verband loszuziehen, um die Toten im Mondlicht beizusetzen. Der Feind tat bestimmt das Gleiche, weshalb es wohl zu einem inoffiziellen Waffenstillstand kam, bis man eingesammelt hatte, was es noch einzusammeln gab.

»Das darf doch nicht wahr sein«, fluchte Sergeant Burke, als er Wind von der Aktion bekam. »Was um alles in der Welt haben Sie uns diesmal eingebrockt – ein verdammtes Beerdigungskommando?«

»Ach kommen Sie, Burke«, entgegnete Creel. »Nur ein kurzer Abstecher auf den Gottesacker.«

»Dort bin ich schon häufiger gewesen, als mir lieb ist.«

»Diesmal wird niemand auf Sie schießen.«

Burke prustete. »Behaupten Sie.«

Am Nachmittag ließen sie sich von einem Rettungswagen mitnehmen, der die letzten Überlebenden des Gasangriffs zu Ruhelager 4 fuhr. Zahllose Verwundete lagen in den Spitzdachzelten des Lazaretts, die ordentlich in Reihen aufgespannt waren, doch die meisten Soldaten wirkten recht rüstig, wie Creel fand. Die Tommys arbeiteten gruppenweise auf den Feldern, hoben Gräber aus und schwitzten wie die Schweine, während ein Sergeant-Major herumstapfte und sie beschimpfte, wobei er sich mit einer Gerte gegen ein Bein schlug.

»Was ist hier los?«, fragte Creel.

Burke lachte. »Herrje, stellen Sie sich nicht dumm, Sportsfreund; wonach sieht es denn bitteschön aus? Diese Burschen haben die Franzosenkrankheit.«

»Die Franzosenkrankheit?«

»Mensch, den Schanker, die Lues, die gute alte Syph – die Lustseuche.«

Da verstand Creel, was gemeint war: Syphilis. Auf ihrer Tour durchs Lager hatten sie Stück für Stück mitbekommen, dass so etwas wie eine ansteckende Geschlechtskrankheit umging, die eine Einheit nach der anderen lahmlegte. Das Kriegsministerium verlor allmählich die Geduld betreffs der Situation, und Lord Kitchener persönlich hatte einen O-Ton herausgegeben, demzufolge in Zukunft jeden Mann, den ein venerisches Leiden außer Gefecht setzte, ein herbes Los blühte: Man würde die Ehefrau, Eltern oder anderen Angehörigen schriftlich über die Art und Ursache der Erkrankung des Verwandten in Kenntnis setzen.

Die Betroffenen waren im Lager, um sich mit einem neuen Medikament der Deutschen, dem Präparat 606 behandeln und Quecksilber spritzen zu lassen.

Creel hielt das alles in seinem Notizbuch fest.