SKIN MEDICINE - Die letzte Grenze - Tim Curran - E-Book

SKIN MEDICINE - Die letzte Grenze E-Book

Tim Curran

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Beschreibung

Tim Curran ist ein Poet des Grauens. Seine Sprache strotzt vor gewaltigen Bildern, die sich mit Stacheln und Widerhaken in der Erinnerung festsetzen und nicht mehr verdrängen lassen. [Andreas Gruber, Autor] Inhalt: Etwas unaussprechlich Böses wandelt durch die Utah-Territorien im Jahre 1882. Bürgerkriegsveteran und Kopfgeldjäger Tyler Cabe, der seinen Lebensunterhalt mit der gnadenlosen Verfolgung von Straftätern bestreitet, muss nun etwas jagen, das die Vorstellungskraft eines lebendigen Menschen bei weitem übersteigt. ---------------------------------------------------------------------------- "Ich bin begeistert und kann nur jedem der Horrorstorys mag raten dieses Buch dringend zu lesen!" - [Lesermeinung] "Knallharter Mix aus Western, Horror und Mystery!" - [Lesermeinung] "Ausgezeichnet! Mehr als ein Geheimtipp!" - [Lesermeinung]

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Skin Medicine Die letzte Grenze

Tim Curran

This Translation is published by arrangement with SEVERED PRESS, www.severedpress.com Title: SKIN MEDICINE. All rights reserved. First Published by Severed Press, 2013. Severed Press Logo are trademarks or registered trademarks of Severed Press. All rights reserved.

Impressum

überarbeitete Ausgabe

Originaltitel: SKIN MEDICINE

Copyright Gesamtausgabe © 2024 LUZIFER-Verlag

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Cover: Michael Schubert

Übersetzung: Raimund Gerstäcker

ISBN E-Book: 978-3-95835-029-8

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Inhaltsverzeichnis

Skin Medicine Die letzte Grenze
Impressum
Erster Teil
1-1
1-2
1-3
1-4
1-5
Zweiter Teil
2-1
2-2
2-3
2-4
2-5
2-6
2-7
2-8
2-9
2-10
2-11
2-12
2-13
2-14
2-15
2-16
2-17
2-18
2-19
Dritter Teil
3-1
3-2
3-3
3-4
3-5
3-6
Vierter Teil
4-1
4-2
4-3
4-4
4-5
4-6
4-7
4-8
4-9
4-10
4-11
4-12
4-13
4-14
4-15
4-16
4-17
4-18
4-19
4-20
4-21
4-22
4-23
Epilog
Über den Autor

Erster Teil

1-1

Utah-Territorium, 1882

Der Mond ging auf.

Er kroch aus einem seidigen, windverwehten Grab.

Er stieg über die Berge empor wie ein großes, leuchtendes Auge, herabstarrend vom nebeligen Himmel. Sein fahles Licht suchte und berührte nackten, sägezahnförmigen Fels, blinzelte über Schneewehen und tauchte Fichten und Pinien in eine geisterhafte Stimmung. Der Wind wehte und die Bäume bogen sich, Schatten tropften von ihnen herab, wanden und krümmten sich in Schleifen, fanden zerklüfteten Boden und glitten über die Landschaft wie schmierige schwarze Würmer, die Spalten und Schluchten und dunkle, geheime Orte mit Nacht füllten.

Und hoch über allem wachte aufgedunsen der Mond.

Wagte nicht zu blinzeln.

1-2

Schlagend und stoßend kam der Wagen den harten, gefrorenen Weg herab, der die Camps der Silberminen in den San Francisco Mountains durchschnitt. Wie ein scharfes, gezacktes Messer schlitzte er den Unterbauch der Nacht auf, fühlte erst vor und schnitt dann hinein. Der Wagen sprang über die tief eingefahrenen Spuren der Erzloren, gezogen von einem Gespann schwarzer, dampfschnaubender Wallache. Ihre eisenbeschlagenen Hufe schallten wie Schüsse. Eine Peitsche knallte, das Gespann machte einen Satz, und der Wagen schlug, polterte und torkelte in rasender Fahrt.

»Verdammt noch mal«, rief Tom Hyden, der sich mit aller Kraft an den Sitz aus Holzbrettern klammerte. »Du bringst uns noch um, alter Mann. Wirst uns noch eine dieser Schluchten runterjagen. Wirst schon sehen.«

Jack Goode grinste, einen Zigarrenstummel zwischen seinen rissigen Lippen. »Jemand bezahlt mich, einen Job zu machen, Junge, und den Job mache ich«, sagte er und ließ die Peitsche wieder knallen. Sein langer weißer Bart umwehte sein Gesicht wie ein lockeres Halstuch. »Ich mache, was man mir sagt, und das so schnell wie möglich, kann nämlich besseres mit meiner Zeit anfangen.«

Hyden spürte, wie der Wagen fast barst unter ihm, das Holz ächzte, das Eisen quietschte. Seine Arschknochen wurden ihm geradewegs in den Hals gerammt. Mit einer Hand klammerte er sich an den Wagen, mit der anderen an seine Schrotflinte. Hinten auf der Ladefläche klapperte die Kiste wie ein Würfel in einem Becher.

»Verdammt«, rief er, »da hinten ist nur eine Leiche. Mir ist egal, ob wir früh oder spät dran sind.«

Goode lachte nur.

Der Weg führte steil hinunter, kletterte wieder hoch, durchschnitt dann schattiges Zedernunterholz und mäanderte schließlich über eine felsige Ebene. Der Mond überspülte alles mit ätherischem, ungleichmäßigem Licht.

»Dort«, sagte Goode. »Whisper Lake ist nicht mal mehr ein Fotzenhärchen weit weg, durch die Schlucht da unten. Wir können es etwas langsamer angehen lassen. Hier, Junge, nimm mal die Leine.« Er gab Hyden die Zügel, zündete ein Streichholz an seinem Stiefel an, schützte das Feuer mit den hohlen Händen und brachte seine Zigarre wieder zum Brennen. Er stieß den Rauch aus und hustete. »Wir liegen gut in der Zeit. Mit Glück bin ich gerade rechtzeitig in der Stadt für ein Schlückchen und ein Röckchen.«

Hyden sah den Schweiß auf den Flanken der Pferde, der wie Tau glitzerte. Vielleicht war einiges davon Blut. So wie der alte Bastard die Bullenpeitsche schwang, hatte er ihre Flanken wahrscheinlich einwandfrei offengelegt. Hyden seufzte, hielt die Augen auf die Landschaft gerichtet und hatte zum wiederholten Mal den Eindruck, sich schnell bewegende Schemen zu sehen – Schemen wie die kleiner Leute. Aber er war müde, seine Augen schlaftrunken. Wenn er nicht bald eine Mütze voll Schlaf bekam, und das verdammt noch mal schnell, er würde glatt aus dem Wagen fallen. Er kniff die Augen zusammen, dachte, er hätte etwas über den sich dahinschlängelnden Weg vor ihnen rennen sehen … etwas, das aufrecht rannte.

»Hast du das gesehen?«, fragte er Goode. Dichter Rauch quoll aus Goodes Nase wie Dampf von einem glühenden Eisenstück, das in kaltes Wasser getaucht wird. »Nope. Hab überhaupt nichts gesehen«, sagte er. »Und zwar hab ich nichts gesehen, weil ich nicht hinschaue. Wenn da draußen irgendwas ist, will ich das besser nicht sehen.«

»Es sah aus wie …« Hyden seufzte. »Nichts, schätze ich.«

»Na klar war das nichts. Diese verdammten Berge sind voll von nichts. Deshalb habe ich uns da hinten so vorangetrieben, ich wollte nichts davon sehen. Vor allem, wenn es aussieht wie kleine Leute, die keine Leute sind.«

»Du hast sie also doch gesehen?«

»Nope. Hab nichts gesehen, was ich nicht sehen sollte.« Goode streckte sich, sein Rücken knackte. »Hör mal, Junge. Schau einfach Richtung Whisper Lake. In einer Stunde oder so sind wir da. Denk einfach an die Weiber, die starken Drinks und die Sünden des Vaters.«

Hyden schüttelte nur den Kopf. Manchmal wurde er einfach nicht schlau aus Goode. Der Hurensohn hatte eine Art, über etwas zu reden, während er über etwas komplett anderes redete. Hyden blickte sich um und sah keine Schemen mehr. Einbildung, das war alles. Ermüdung. Er glaubte nicht an die Geschichten von den kleinen Leuten. Irgendeine Legende der Schoschonen war das. Grandpappy Joe, Hydens Großvater, hatte immer davon erzählt. Wenn er nicht gerade eine Flasche Whiskey am Hals hatte und von all den Goldfunden schwärmte, bei denen er dabei gewesen sein wollte. Hatte erzählt, die kleinen Leute gäbe es wirklich. Er hätte sie gesehen, in den Bergen. Und er würde einen Trapper oben auf der Needle Range kennen, der einen erschossen, ausgestopft und dann an einen Jahrmarkttypen aus Illinois für eine Kiste Kentucky-Bourbon und ein Sharps-Gewehr verkauft hätte.

Aber Grandpappy Joe gab es schon lange nicht mehr.

Hyden hatte eine Packung selbstgerollte Zigaretten dabei und steckte sich eine an. Seit gestern Nachmittag waren sie unterwegs. Brachten eine Kiste aus Pinienholz und ihren Bewohner vom Stammesland der Goshute in Skull Valley runter nach Whisper Lake in Beaver County. Fünfzig Dollar pro Nase zahlte ihnen irgend so eine Rothaut. Nur um eine Leiche nach Hause zu bringen.

Shit, aber man konnte davon leben.

»Hey, Junge, wie alt bist du eigentlich?«, fragte Goode.

»Dreiundzwanzig nächstes Frühjahr.«

»Dreiundzwanzig.« Goode lachte. »Als ich gottverdammte Dreiundzwanzig war, hatte ich eine Sioux zur Frau, dazu drei kleine Bälger, oben im Dakota-Territorium. Hab schön was von dem gelben Zeug gefunden, war fast hunderttausend wert.«

»Was zur Hölle machst du dann hier und schleifst für hundert Kröten irgendwelche steifen Körper durch dieses gottverlassene Land?«

»Habe es ausgegeben.« Goode wurde still, dachte nach. »Dreiundzwanzig, dreiundzwanzig. Hast du schon mal deine Nelke gemolken bekommen, Junge? Von einer Weißen, meine ich. Na, ich kenne da eine bei Flagstaff, die betreibt so einen Laden mit männerfressenden Miezen, die haben mehr Kurven als ein lockeres Seil. Jedenfalls, Madame Lorraine, so heißt sie, taucht dich in ein heißes Bad, reibt dich mit Öl und Louisiana-Parfüm ein, und dann saugt sie deinen Onkel Henry so gottverdammt hart, dass es deine Augen in den Schädel zurückzieht …«

»Still«, sagte Hyden. »Ich höre was.«

»Nur meinen Darm, der Dampf ablässt, Sohn.«

»Nein, verdammter Kerl, nicht das.«

Goode lauschte. Konnte nichts hören bis auf den Wind, der durch die Bäume fegte und leere Flächen durchpeitschte. Das Geräusch der Pferdehufe. Nichts verdammt anderes.

»Junge«, sagte er, »hör auf, dir Gedanken über kleine Leute zu machen. Hast dich selbst erschreckt. Du siehst vielleicht besser aus als ein blaugefleckter Waschbärenhund, viel schlauer bist du aber nicht.«

»Das ist es nicht. Da ist was anderes.« Hyden schaute zurück zur Ladefläche, auf die schmale Pinienkiste. Er konnte sehen, wie sich das Mondlicht in den Messingbändern und quadratischen Nagelköpfen spiegelte. »Da drin hat sich was bewegt.«

»Hör auf damit. Tote bewegen sich nicht, mein Wort darauf.«

Hyden saß einfach nur da, die Landschaft zu dunkel und von zu vielen Schatten durchzogen für seinen Geschmack. Er versuchte, an Whisper Lake zu denken. Ein weiches Bett. Etwas Warmes zu essen. Doch dann hörte er es wieder … ein pochendes Geräusch. Er war sich sicher, dass es aus dem Inneren des Sarges kam.

Goode hatte nicht vor, nach hinten zu blicken. Er nahm wieder die Zügel und steuerte den Wagen durch die frostige Nacht. Ein paar Schneeflocken leuchteten in der Luft wie Fliegen. Mit etwas Glück würde sich daraus nichts zusammenbrauen, bevor sie in Whisper Lake ankamen.

»Worüber machst du dir Sorgen, Junge?«, fragte er endlich.

»Über das in der Kiste, schätze ich.«

»Da ist nichts weiter als eine Leiche.«

»Ich weiß, dass da nur eine Leiche ist«, sagte Hyden. »Aber ich dachte …«

»Dann hör besser auf zu denken«, sagte Goode. »Wir sind zu weit weg von allem, um so was zu denken. Tote sind Tote. Sie können dir nicht mehr wehtun als ein Schaukelstuhl. Denk dran.«

Hyden kaute an seiner Lippe und umklammerte seine Schrotflinte fest. »Schätze, ich frage mich, was in der Kiste da drin ist. Ich habe kein gutes Gefühl.«

»Verdammt noch mal, Junge, und ich habe kein gutes Gefühl, wenn ich daran denke, was sich in deinem Schädel abspielt. Aber beschwere ich mich?«

Sie fuhren weiter. Der Mond schlüpfte hinter eine Wolke, die Nacht wurde dunkler, wurde schwarz in ihren Wurzeln und schien sich um sie herum zu sammeln in klammernden, unheimlichen Schatten.

»Junge, mach die Laterne an.«

Hyden griff über die Lehne nach hinten … und erstarrte, als er zu hören meinte, wie sich in der Kiste etwas bewegte … schnappte sich dann schnell die Öllampe und entzündete sie mit einem Streichholz. Die Schatten gingen zurück, aber die Nacht um sie herum verdichtete sich wie eine Faust, begierig, etwas zu greifen. In Leinentüchern und Decken aus Finsternis hing sie zu beiden Seiten des Wagens. Auf der Ladefläche krochen stygische Gestalten umher.

Goode sagte: »Du hörst was von hinten, das ist gar nicht so verrückt. Gar nicht. Auf dem schlechten Weg hier wirft es die Leiche genauso umher wie uns. Achte nicht darauf, mein Sohn.«

Aber Hyden hörte die Geräusche nach wie vor, und irgendetwas quirlte mit einem Weidenzweig durch seine Eingeweide. »Habe nur nachgedacht«, sagte er. Sein Atem gefror, sobald er seine Lippen verließ. »Habe nachgedacht über Skull Valley, wo wir die Kiste herhaben. Ganz schön gruselig da oben. Ziemlich verlassen und trostlos … das bringt einen ins Grübeln.«

»Worüber?«

»Skull Valley … das ist die Gegend von Spirit Moon.«

Der alte Mann leckte sich langsam und bedächtig die Lippen. »Habe gehört, Spirit Moon wäre tot.«

»Manche sagen, er wäre nicht wie normale Leute gestorben.«

Goode lachte. »Bullshit. Nebenbei, Spirit Moon gehört zu den Snake, Junge. Skull Valley ist Goshute-Land. Was sollte Spirit Moon hier wollen?«

»Die Snake jedenfalls gehören zu den Schoschonen. Mit denen sind die Goshute eng verbunden. Habe gehört, dass sein Stamm hier oben in den Bergen unterwegs ist und sie dort tun, was sie eben tun.«

»Kann schon sein, Junge, aber was du über Spirit Moon gehört hast … das sind nur Hexengeschichten. Die Rothäute glauben, er wäre so ein großer, böser Medizinmann, aber ein weißer Mann sollte das besser wissen. Er ist nur irgend so ein Snake-Hexer. Eine verdammte Rothaut, der macht mir keine Angst.«

Aber Hyden glaubte das nicht. Goode hatte Spirit Moons Namen nur flüsternd ausgesprochen … als ob er Angst hätte, die alte Rothaut könnte ihn in seinem Grab hören. Und vielleicht tat er das ja auch.

»Schon mal was von Walking Mist gehört, Junge?«

Hyden hatte. Noch ein Snake-Medizinmann, aber der hatte vor langer Zeit gelebt.

»Nun, lass mich dir von ihm erzählen. Walking Mist war ein Medizinmann wie Spirit Moon. Genauer gesagt, war er sogar sein Großvater. Nun, damals in den Dreißigern, so hat man mir erzählt, oben in den Wasatch Mountains, geriet Walking Mist mit ein paar Trappern aus Fort Crockett aneinander. Die drei waren schön blau, hatten Lust auf eine Schlägerei und trafen auf Walking Mist, der, so sagt man, ihre Angebote ausschlug, seine Schwestern zu heiraten. Sie haben Walking Mist abgeknallt, seinen Kopf abgehackt und in einer Schachtel begraben. Seinen Körper haben sie irgendwo verscharrt.« Goodes Gesicht wirkte ernst und bestimmt im Licht der Lampe. »Nun hatte sich der gute alte Walking Mist ein Mulatten-Mädchen zur Frau genommen, so eine Niggerin von einer Plantage in Baton Rouge. Sie soll eine Hexerin gewesen sein, Liebeszauber und Heilmittel für die Kranken und so. Hat kleine Puppen aus Ton und Leinen gemacht, mit Haaren und Nägeln von Leuten, die sie nicht mochte, und hat sie dann verhext. Die Leute haben sie dafür bezahlt … mit Pferden, Fellen, Gewehren und was nicht allem.«

»Nun, das Mulatten-Mädchen begibt sich in eine ihrer Voodoo-Trances, und es kommt, wie es kommen muss, findet mit einem Eschenzweig den Kopf vom alten Walking Mist. Sie öffnet die Schachtel, und der Kopf vom alten Walking Mist, dem mächtigen Medizinmann, ist noch lebendig. Die Augen sind geöffnet. Er erzählt ihr, wo sein Körper begraben ist. Kurz darauf sieht man Walking Mist umherziehen, den Kopf wieder angenäht, mit einem komischen Licht in den Augen.«

»Und was ist mit den Trappern?«

Goode grinste wie ein Bärenschädel. »Die haben sie eines Tages gefunden. Jemand hatte ihnen zwanzig Fuß lange Stangen direkt in den Arsch geschoben. Hoch in den Arsch, geradewegs durch den Hals. Die Stangen waren fest in den Boden gerammt und die Körper schaukelten einfach da oben im Wind. Die Sache war nur, niemand hat je ihre Köpfe gefunden.« Goode spuckte seinen Zigarrenstummel in die Nacht. »Hat mir alles ein alter Ute-Indianer erzählt, mit dem ich ab und zu gesoffen habe.«

»Ich dachte, du magst keine Indianer?«

»Mit dem war es was anderes.«

Hyden nickte ein paar Mal mit dem Kopf. »Ich glaube, die Geschichte haut hin. Mein Grandpappy Joe hat gesagt, Spirit Moon wäre halb Dämon, halb Mensch, und könnte alles tun, was er wollte. Grandpappy hat mal erzählt, wie ein Arbeiter in einer Kupfermine seine Hand bei einem Einsturz verloren hatte, und Spirit Moon hat was draufgeschmiert, irgendwelche Mächte angerufen und einen Monat später war die Hand wieder nachgewachsen. Alles wahr, hat Grandpappy Joe gesagt. Spirit Moon hätte Augen wie Kohlen gehabt, hat er gesagt. Wenn diese Augen dich anblickten, warst du nie wieder derselbe.«

»Das Land ist voller Bullshit, Sohn.«

»Manches davon ist wahr.«

»Möglich.«

»Es gab mal einen Paiute von den Cedar-Indianern, der hatte zwei Köpfe«, sagte Hyden. »Einmal habe ich ihn gesehen. Wirklich wahr.«

Goode lachte. »Als Nächstes erzählst du mir, dass du mit deinem Schwanz einen Bronco einfangen kannst und dann immer noch genug Kraft hast, um ein Tanzhallenmädchen im Dunkeln zu vernaschen.«

Hyden spürte seine Ohren glühen, als ob sie jemand gebrandmarkt hätte. »Wenn du das nicht glaubst, warum erzählst du dann von Walking Mist?«

»Zum Zeitvertreib, Junge, nur zum Zeitvertreib. Und um zu sehen, wie leichtgläubig du bist. Und verdammt noch mal, du bist leichtgläubig. Dieser Ute-Indianer hat geglaubt, was er mir erzählt hat, aber von dir als Weißem hätte ich mehr erwartet. Hätte ich gewusst, dass du an Gespenster glaubst, hätte ich mir einen anderen Jungen als Begleitschutz gesucht.«

»Mein Grandpappy Joe …«

»Dein Grandpappy Joe war voller mit Scheiße als eine Jauchegrube«, sagte Goode. »Und nimm’s mir nicht übel, Sohn. Aber er hat einfach viel erzählt, wenn der Tag lang war, das ist alles. Jetzt aber Schluss, genug rumgesponnen.«

Und es war genug.

Hyden dachte an Skull Valley. Tags zuvor waren sie in ein kleines Goshute-Lager am Rand eines mit Höhlen durchlöcherten Berges gekommen. Ein junger Bursche im Armeehemd und mit Melone auf dem Kopf hatte auf sie am Wegesrand mit der Pinienkiste gewartet. Ein paar alte Männer, in Wolldecken mit indianischen Mustern gehüllt, hatten lose herumgestanden und sinnloses Zeug gemurmelt. Der Bursche – wie ein Medizinmann sah er nicht aus – hatte Goode wortlos bezahlt, er schien fast erleichtert zu sein. Die Leiche war die eines Weißen, der Verwandte in Whisper Lake hatte. Was die Goshute damit zu tun hatten, erfuhren sie nicht, und sie stellten keine Fragen. Aber wenn er jetzt darüber nachdachte, fragte sich Hyden, was es mit diesen alten Männern auf sich hatte und ob der junge Bursche irgendwie mit Spirit Moon verwandt oder befreundet gewesen war.

Schwer zu sagen.

Hyden hatte keine Ahnung, ob es Goshute oder Snake gewesen waren. Einmal nur hatte er Spirit Moon gesehen. Drüben in dem Laden in Ophir im Toole County. Spirit Moon war mit seinen Söhnen da gewesen. Sie hatten seinen Wagen beladen. Der alte Mann war in eine Kutte aus Büffelfell gewickelt und in seine Haare waren Glasperlen und Federn geflochten. Sein Gesicht war ein Labyrinth feiner Narben, das sich wie windende Maden zu bewegen schien. Hyden hatte sich daraufhin weggedreht, bevor der alte Mann ihn ansehen konnte. Bevor …

In der Kiste bewegte sich etwas, und diesmal hörten es beide.

Sie blickten sich im unheimlichen Licht der flackernden Laterne an, so etwas wie Furcht in ihren Gesichtern. Schnell drehten sie sich weg. Hyden leckte seine Lippen, aber er hatte keinen Speichel mehr.

Irgendetwas ging hier vor sich.

Er könnte jetzt so tun, als wäre nichts, aber um sie herum braute sich etwas zusammen wie ein Hitzegewitter, und beide konnten es spüren. Doch sie waren Männer. Erwachsene Männer, die einen Job zu erledigen hatten.

Aus der Kiste kam ein Stoß, dann ein Knirschen.

»Junge«, sagte Goode, der sich Mühe geben musste zu atmen, »wirf mal einen Blick nach hinten, um Himmels willen … was zur Hölle höre ich da?«

Hyden fühlte weiß-heißes Grauen im Bauch, fühlte, wie es nach oben in seine Brust kroch. Er beugte sich über den Sitz nach hinten, Schrotflinte in der einen, Laterne in der anderen Hand. Über seine Haut jagten kribbelnde Wellen. Er fror bis auf die Knochen … und das lag nicht an der klammen Aprilnacht. Er schaute auf die Kiste, über deren Deckel das Licht der Laterne züngelte. Die Messingbänder waren alle noch an ihrem Platz. Alle Nägel – Himmel, das mussten an die hundert sein – waren nach wie vor in den Deckel geschlagen. Aber … aber sah es nicht fast so aus, als würden fünf oder sechs jetzt ein wenig überstehen? Vielleicht so, als ob etwas sie von innen herausdrücken würde? Hyden spürte, wie sich ein grausiges Gewicht auf ihn legte, ihn zermalmte wie eine Grabplatte aus Granit. Er fühlte sich schwach, geradezu paralysiert. Die Atmosphäre um ihn herum war gebleicht, gesäuert, gefüllt mit etwas, das ihm geradewegs das Herz aus der Brust riss.

Er beobachtete, wie zwei Nägel mit einem Knarzen aus dem Deckel glitten. Sie sprangen heraus und klackerten in die Ladeluke.

»Was war das, beim Allmächtigen?«, fragte Goode. Seine Stimme klang abgewürgt und trocken. Der Mond kam wieder hervor und seine Oberfläche sah verfärbt und kränklich aus. »Antworte, Junge! Was war das?«

»Nägel …«, versuchte Hyden zu sagen, aber in seiner Lunge war keine Luft mehr. Nur etwas Pfeifendes und Verwehtes, wie Sand in der Wüste. »Die Nägel … sie fangen an, herauszuspringen …«

»Die Scheiße bildest du dir ein!«, rief Goode. »Oder … oder die Leiche bläht sich auf. Habe schon erlebt, wie sie eine Kiste glatt aufsprengen … passiert manchmal.«

Aber Hyden schüttelte den Kopf. So etwas geschah nicht, wenn es kalt war.

Dann hörten sie es beide. Laute Geräusche aus dem Inneren der Kiste – ein Schaben und Kratzen von Fingernägeln auf Holz. Entsetzen spiegelte sich in den Augen beider Männer. Ein ungeheures, unbarmherziges Entsetzen, das sich wie Tränen ergoss und in die Nacht herausströmte, sie umgab, sie einschloss, sie eng in ein Leichentuch wickelte. Die Dunkelheit glitt heran und flüsterte. Dann: bamm, bamm, bamm. Hämmernde Fäuste.

Goode zog scharf die Luft ein: »Los geht's, los geht's!«, schrie er die Pferde an. Seine Peitsche krachte wie Donner. »Los geht's, ihr Hurenböcke, los geht's!«

Hyden beobachtete weiter die Kiste und fragte sich, ob vielleicht seine Schrotflinte etwas ausrichten würde gegen das, was da herauszuklettern versuchte. Was auch immer da drin vor sich ging: Es war nichts Gutes. War nicht von dieser Welt. Obskure Mysterien gärten dort, ein Gebräu dunkler Alchemien, spektrale Wahrheiten, die mit den Zähnen fletschten. In der schwarzen, übel riechenden Dunkelheit atmete etwas, war wach. Und dieses Etwas war furchtbarer als alles, was Hyden sich vorzustellen vermochte.

Jetzt kam der Wagen richtig ins Rollen, raste eine lang gezogene Kurve entlang, die die Berge durchschnitt. Sie führte über eine knackende hölzerne Brücke, die einen reißenden, eisigen Fluss überspannte.

»Nur noch ein paar Meilen!«, schrie Goode, während der Wagen seinem Ziel entgegen donnerte, die Pferde vorwärts stürmend, als sei der Teufel persönlich hinter ihnen her … und möglicherweise war er das. Goode blickte besorgt zu Hyden hinüber, dann zurück zu der Kiste. »Halt durch! Ich kann schon … yeah, da unten kann ich die Lichter sehen!«

Hyden nahm ihn beim Wort.

Er drehte sich nicht um, sah nicht nach.

Er konnte sich nicht umdrehen und nachsehen.

Seine weit aufgerissenen Augen blickten starr, der eisige Wind versetzte ihm unbarmherzige Stöße. Aber er spürte es nicht. Spürte nicht seine tauben Finger um den hölzernen Gewehrschaft. Spürte nicht die eisige Leichenhauskälte, die in seine Knochen kroch und sie wie tiefgefroren eisenhart erstarren ließ. Die Kiste war das Einzige, was er wahrnahm. Sie war der Mittelpunkt seines Universums. Sie war ein dunkler Stern, und er war ein Staubkorn, gefangen in ihrem bösartigen Orbit. Alles, was er tun konnte, war zu beobachten, wie sich die Nägel lockerten und heraussprangen, einer nach dem anderen.

In der Kiste war ein hektisches Kratzen, Scharren und dumpfes Dröhnen.

Etwas in Hyden rastete plötzlich aus. Ein wilder, kreischender Terror durchzuckte ihn, und er fing an zu schreien: »Ich hau ab! Ich springe runter! Das ist Wahnsinn …«

Aber Goode zwang ihn wieder nach unten und sagte, er solle das Maul halten, einfach das Maul halten, verdammt noch mal, das wäre alles in seinem Kopf, nur in seinem Kopf. Doch die Vorstellung, mit der Kiste im Wagen allein zu sein und mit dem, was darin war … Goode wusste, dass er es nicht alleine schaffen würde. Es einfach nicht schaffen konnte. Whisper Lake lag nun geradewegs vor ihnen. Auf beiden Seiten waren die Lastkräne und Gerätschaften und die gebeugten Hütten der abseits gelegenen Minencamps. Etwas von hinten machte ein lautes, schnappendes Geräusch, und Goode musste sich nicht umdrehen, um zu sehen, dass eines der Messingbänder aufgebrochen war und das andere bald folgen würde … und dann … und dann …

Hyden keuchte in scharfen, schmerzenden Atemzügen. Er zitterte so sehr, dass er die Schrotflinte nicht mehr halten konnte. Klirrend fiel sie herunter und lag nutzlos zu seinen Füßen. Dann waren sie in der Stadt, und was auch immer in der Kiste war, schien das zu spüren, denn es zog sich zurück in seine kalte Schlafstatt und wartete, wie die Dinge sich entwickeln würden. Goode und Hyden seufzten gemeinschaftlich, entspannten sich aber erst, als sie den Leichenbestatter gefunden hatten und das abscheuliche Ding losgeworden waren.

1-3

Hiram Callister war der, den sie aufsuchten.

Der rundliche, schmierige Hiram Callister, Bestatter und Tischler. Er bereitete die Toten vor und fertigte die Särge, in die sie vorsichtig hineingepackt wurden. Meist verarbeitete er billiges Pinienholz, manchmal auch importiertes schwarzes Mahagoni, das mit dem Zug für reiche Minenarbeiter oder Eisenbahner herangeschafft wurde. Hiram arbeitete bevorzugt bei Lampenschein, während sein jüngerer Bruder Caleb – Mitbesitzer der Bestattungsfirma der Callister-Brüder – lieber bei Tageslicht arbeitete. Und wenn Hiram nicht gerade mit Holz und Totholz zu tun hatte, zog er sich in seine oben liegenden Gemächer zurück und machte sich über seine Sammlung pornografischer Bilder her, von denen die meisten ein Freund aus New Orleans geschickt hatte. Dort konnte ein Kenner solche Dinge leicht bekommen … für den entsprechenden Preis.

Hiram war nie gut im Umgang mit Frauen gewesen.

Mit Leuten im Allgemeinen.

Zumindest nicht mit Lebenden. Ein dickliches und streberhaftes Kind war er gewesen, aus dem ein übergewichtiger und unansehnlicher Mann geworden war. Ein Mann mit scheinbar mehreren schwabbelnden Kinnen, die wie eine Herde auf seinem Unterkiefer umherzogen, und mit einem Nacken wie rosa Schweinchen am Trog. Er liebte Kuchen und Süßigkeiten. Eine Fehlfunktion seiner Talgdrüsen sorgte dafür, dass er ausgiebig schwitzte. Seine Hände waren merkwürdig kühl und in der Gegenwart anderer stotterte er. Oft zeigten die Kinder auf der Straße mit dem Finger auf ihn. Nachts konnte man ihn finden, wie er Sahnekaramel, Schokolade und französische Cremes neben den umhüllten Körpern in der Leichenhalle verspeiste, wobei er immer wieder sein feuchtes Gesicht und die nasse Stirn mit einem Taschentuch abtupfte. Das war seine Welt, die Welt der Särge und Chemikalien, der Leichen und silberglänzenden Instrumente. Eine Welt, die abgeschlossen und trübe war und die nach Jod, Alkohol und weniger angenehmen Dingen roch.

Aber es war Hirams Welt, und es verlangte ihn nach ihr.

Sollte Caleb das Tageslicht haben. Denn Caleb war ein Gewächs, das ans Tageslicht gehörte – gut aussehend, charmant und selbstsicher. Seine Tage verbrachte er damit, Witwen zu trösten, und in den Nächten war er in Spielhöllen und Bordellen, wo er anrüchige Geschichten von den Toten zum Besten gab. Die Menschen nannten ihn Freund und Liebster, so wie sie Hiram Leichenschänder und Perversling nannten. Hässliche Geschichten erzählten sie über ihn.

Hiram war es egal.

Letzten Endes – ob Mann, Frau oder Kind – gehörten sie stets ihm.

Er bevorzugte die Frauen. Ganz besonders die jungen. Nicht die rechtschaffenen Ehefrauen und Schwestern – wenn es so etwas in einer brodelnden Minenstadt wie Whisper Lake gab – sondern die Huren. In ihrem Leben waren sie ständig berührt und begrapscht worden, und so schien es Hiram keine Sünde zu sein, dasselbe mit ihnen im Tod zu tun. Aber das galt nur für Huren. Für niemanden sonst. Egal was die Leute über ihn flüsterten, er hatte seine Standards, seine Berufsehre.

Als die zwei Männer mit dem Sarg auftauchten, hatte Hiram gerade die Leiche einer jungen Hure vor ihm liegen. Sie war starr wie ein Zedernbrett und sie hatte sich die Pulsadern aufgeschnitten. Hiram berührte sie, heftig schwitzend und atmend … in diesem Moment hatten die beiden an die Tür gehämmert. Der eine war eine alte, grauhaarige Wüstenratte, der andere ein junger Kerl mit Sommersprossen auf den Wangen. Aber beide hatten weit aufgerissene, starre Augen, und ihre Hände zitterten. Sie sahen aus, als ob sie ihre eigenen Geister gesehen hätten, die im Dunkeln hinter ihnen her waren.

Hiram hatte noch nie zwei Männer gesehen, die so … voller Angst waren.

Sie brachten den Sarg herein, stellten ihn auf einen leeren Tisch und machten, dass sie so schnell wie möglich wieder draußen waren, wobei sie geradezu darum kämpften, wer zuerst durch die Tür war. Aber manche Leute, das war Hiram klar, fühlten sich beklommen in der Gegenwart von Toten. Egal.

Zu diesem Sarg hatte er ein Telegramm erhalten.

Er enthielt den Körper von James Lee Cobb. Cobb war so etwas wie ein Auftragskiller gewesen, ein Gesetzloser, bekannt dafür, ein sadistischer, übler Mann zu sein. Die Welt war besser dran ohne ihn. Sein einziger Verwandter war ein Mormone, ein Siedler drüben im nahen Deliverance, eine der Mormonenstädte. Ein Halbbruder namens Eustice Harmony, der sich bereit erklärt hatte, ihn zu vergraben … sofern Cobbs Rothautfreunde die Rechnung übernahmen. Und das hatten sie getan.

Als Hiram den Sarg betrachtete, sah er, dass viele der Nägel, mit denen er verschlossen worden war, fehlten. Eines der Messingbänder war gebrochen. Grobe Behandlung auf dem Transport. Aber das war etwas, das Cobb verdient hatte.

Hiram ließ den Sarg stehen.

Er hatte Dringenderes zu tun, als sich um tote Banditen zu kümmern.

1-4

Weit nach Mitternacht begann sich ein Gefühl des Grauens in ihm auszubreiten.

Er konnte es nicht erklären. Versuchte es nicht.

Nachdem er mit der bemalten Dame fertig war und sie in einen billigen, von ihrer Zuhälterin bezahlten Sarg aus Zedernholz gepackt hatte, begann er mit den Byrd-Brüdern, Thomas und Heck. Er zog die Tücher zurück und studierte ihre ergrauenden Gesichter. Eine Schande. Beide hatten ein Geschäft geführt – Thomas einen Reitstall und Heck eine Metzgerei. Und nun, so war das eben, waren sie selbst nichts anderes mehr als Fleisch. Es war kein Geheimnis, dass beide mit derselben Frau geschlafen hatten … Hecks Ehefrau … und es war nur eine Frage der Zeit gewesen, bis so eine schamlose Unzucht sie hierher bringen würde.

Hiram kannte nur wenige Einzelheiten.

Sie hatten sich betrunken im Cider-House-Saloon geprügelt, Heck hatte seinen Army-Colt gezogen und Thomas angeschossen, und Thomas hatte, bevor der Blutverlust zu groß geworden war, ein Jagdmesser in die Kehle seines Bruders gestoßen. In einer gemeinschaftlichen Pfütze ihres eigenen Blutes waren sie gestorben, ineinander im Kampf verschränkt wie bei einer Umarmung. So hatten sie noch ausgesehen, als man sie hergebracht hatte. Hiram und sein Bruder mussten beide mit anpacken, um die erstarrten Glieder voneinander zu trennen. Hecks Ehefrau Clarissa bezahlte für das Begräbnis. Sie wollte gute Särge für beide, und sie sollten gut darin aussehen, damit sie Seite an Seite fotografiert werden konnten, für die Verwandten daheim in Missouri. Sie konnte sich das leisten – als einzige lebende Angehörige gehörten ihr nun ein Reitstall und eine Metzgerei.

Mit grauen, wässrigen Augen, die an nasses Blech erinnerten, machte sich Hiram an die Arbeit.

Seine Finger waren flink und fleißig, tasteten sich voran, stachen zu, schnitten und zupften. Er heftete und nähte, gummierte und klebte. Messer blitzten auf und Sägen bissen zu, Wachs sammelte sich in Vertiefungen, und Fäden hielten Geheimnisvolles im Inneren der Leichen an ihrem Platz. Er balsamierte die Brüder mit einer Arsenlösung ein und bedeckte sie mit Tüchern, bis die Särge fertig waren.

Hiram pumpte Wasser in ein Becken, zog die Gummihandschuhe aus und wusch sich sorgfältig die Hände.

Der Wind draußen nahm zu, ein Ast kratzte über das Dach. Aus einem Grund, den Hiram nicht nachvollziehen konnte, ließ ihn etwas in Mark und Bein erschauern. Wieder spürte er dieses Gefühl des Grauens. Einige Stunden hatte es nun schon an ihm genagt … aber weshalb? Er ertappte sich dabei, wie er an die zwei Männer dachte, die den Sarg gebracht hatten.

Weiß wie die Wand waren sie gewesen vor Angst.

Aber warum? Warum nur? Erschöpfung, vielleicht. Sie waren zwei Tage in der Wildnis unterwegs gewesen vom Toole County nach Whisper Lake. Und es waren kalte, unwirtliche Tage. Solche Entbehrungen und Belastungen konnten merkwürdige Dinge mit Männern anstellen. Hiram säuberte seine Instrumente und entschied sich dagegen, heute Nacht noch an Cobb zu arbeiten. Der Ölheizofen in der Ecke blubberte vor sich hin, und doch war ihm kalt. Schlimmer noch, über seine Haut schienen an- und abschwellende Wellen zu kriechen. Er wollte unbedingt aus der Leichenhalle heraus, und er wusste nicht warum.

Er hielt inne und ein Schweißtropfen floss den Berg herab, der seine Wange war.

Da war etwas, irgendetwas.

Zu hören war nichts, aber … er drehte sich um, starrte den Sarg an. Hiram stand da, beobachtete ihn, während sich sein Hirn mit kryptischen Gedanken füllte. Es war lächerlich … aber er hatte das irritierende Gefühl, beobachtet zu werden, studiert, angestarrt.

Kinder, die versuchten, einen Blick zu erhaschen?

Nein, es war zu spät, und die Vorhänge waren zugezogen. Vorsichtig, langsam, ging er zum Fenster, spähte an den Vorhängen vorbei. Die unbefestigte Straße draußen war leer. Er konnte sehen, wie sich die Stadt in die Ferne ausstreckte, dicht gedrängte Dächer, die die Hügel hinaufkletterten und in Senken eintauchten. Er konnte hören, wie der Wind die einsamen leeren Flächen durchstrich. Hörte irgendwo in der Ferne einen Wagen. Stimmengewirr aus der Ecke der Stadt, in der sich die Saloons befanden. Das allgegenwärtige Poltern der Maschinen aus den Minen.

Aber niemand, der hereinblickte, ihn beobachtete.

Die Schatten in der Leichenhalle schienen länger zu werden. Sie flossen aus Spalten und Rissen und Ritzen, wanden sich über den Boden wie sich paarende Schlangen. Die Laternen brannten immer noch hell und doch wirkte alles auf sonderbare Weise trübe.

Augen, die mich beobachten.

Einbildung?

Hiram konnte mit Aberglauben nichts anfangen. Damit wollte er nichts zu tun haben. Und dennoch, etwas in ihm war lebendig und elektrisiert und beunruhigt, vielleicht sogar verängstigt. Er ging durch den Raum, zum Sarg hinüber. Sich die Lippen leckend strich er mit der Hand über das grob beschlagene Zedernholz, ertastete Nagellöcher und zersplitterte Astknoten.

Augen, die mich anstarren.

Der Körper da drin … James Lee Cobb … Hiram fing an, sich darüber Gedanken zu machen, als etwas Unerklärliches nach ihm zu greifen begann, jedoch so sanft, dass er sich dessen nicht einmal bewusst wurde. Er vermochte nur noch an die Leiche in der Kiste zu denken, Leiche in der Kiste. Cobb war oben in Skull Valley gestorben, hatten sie gesagt. Seine Rothautfreunde hatten ihm einen Sarg gekauft und dafür bezahlt, dass er nach Whisper Lake gebracht wurde.

Warum aber sollten Rothäute das für einen weißen Mann tun?

Hiram wischte den Schweiß von seiner Stirn. Er wusste, es gab einen Grund, aber offenbar konnte er sich nicht daran erinnern. Cobb war heimgekehrt, zu dem einzigen Verwandten, den er hatte. Genau. Er hatte einen Halbbruder drüben in Deliverance, der Mormonenstadt gleich westlich von Whisper Lake. Deswegen war Cobb hergebracht worden. Der Halbbruder würde den Sarg übermorgen abholen, hatte er gesagt.

Hirams Hände zitterten nun.

Er wischte mehr Schweiß von seiner Stirn, dachte: Was zur Hölle stimmt nicht mit mir?

Es schien ihm, als könne er nicht mehr klar denken. Sein Hirn war mit wilden, sprunghaften Gedanken gefüllt, die er nicht zu etwas Sinnvollem verknüpfen konnte. Die Muskeln hinter seinen Augen waren angespannt. Der Schweiß kroch über sein Gesicht, sammelte sich unter den Augen, strömte seine Wangen herab. Ein paar Tröpfchen trafen die Oberfläche des Sarges. Plop, plop.

Einen irrationalen Moment lang dachte Hiram, es wäre Blut.

Ja, wie bei einem Opfer. Ein Blutopfer, dargeboten einer boshaften heidnischen Gottheit. Blut. Ein Brandopfer. Ein Tribut aus Blut und Fleisch und verbrannten Eingeweiden. Buße. Sühne. Manche Götter verlangten diese Dinge, sie …

Hiram fing an zu wimmern, Tränen mischten sich mit Schweiß.

Augen, die sich nicht schließen, nicht sterben, nicht aufhören zu starren.

Er stolperte über die Werkzeugbank, fand eine kleine Brechstange.

Über dem Sarg stehend schaute er nach oben, sah nur die fleckigen Kacheln an der Decke, hoffte vielleicht auf göttlichen Beistand. Durch den Herrn Jesus Christus, obwohl Hiram weder an ihn noch an irgendetwas anderes glaubte. Inzwischen hatte etwas von Hiram Besitz ergriffen, seine Gedanken waren ein Wirrwarr und sein Hirn ein summendes Wespennest. Seine Augen waren weit geöffnet, ohne Blinzeln, und die Tränen flossen wie Blut beim Aderlass und nahmen seinen Verstand mit sich. Seine Lippen bewegten sich, aber es war kein Laut zu hören.

Blutopfer.

Sie beobachten mich.

Fieberhaft begann er damit, die Nägel aus dem Sarg zu ziehen, sie geradezu aus den billigen Holzbrettern zu reißen. Einen nach dem anderen, bis er keuchte und schnaufte und sein Herz klopfte und seine Schläfen pochten. Er brach das verbliebene Messingband auf, das zusammen mit der Brechstange auf den Boden rasselte.

Diese Augen beobachten mich.

Er riss den Deckel herunter und ließ ihn fallen. Dann schaute er hinein. Im Sarg sah er etwas, von dem er nicht wusste, was es war. Ja, da war ein schwarzes Totengewand, aber es war falsch, völlig falsch. Zu viele Schatten, kriechende, schleichende, sich verschiebende Schatten, die möglicherweise keine Schatten, sondern die Leiche selbst waren.

Hirams Herz schlug dumpf, sein Atem blieb in seiner Lunge eingeschlossen.

Etwas in ihm zerbrach wie weißes Eis, als er das Auge sah. Ein einzelnes grünes Auge, weit geöffnet, starrend. Es glänzte und flimmerte wie eine Silbermünze und reflektierte ein brennendes Licht, das in Hirams Kopf eindrang.

Dann tauchte plötzlich ein Skalpell in seiner Hand auf und er hielt sein linkes Handgelenk nach vorn.

Blutopfer. Sühne.

Er schnitt sich die Pulsadern auf und dunkles Blut strömte in Bögen und Spiralen in den Sarg. Im Inneren bewegte sich etwas und raschelte.

»Gott steh mir bei …« Das Echo von Hirams Stimme kam aus einem anderen Zimmer zurück.

Und eine einzelne, bis auf die Knochen fleischlose Hand schnellte wie eine Schlange aus der Grube sich verschwörender Schatten und packte ihn an der Kehle.

Es war die Hand Gottes.

1-5

Früh am nächsten Morgen fand Caleb Callister die Leiche seines Bruders.

Sie war in den Sarg gestopft worden, weiß und blutleer und eingefallen. Caleb schrie nicht laut auf oder wurde theatralisch. Er bestellte recht ruhigen Gemüts den Gerichtsmediziner, denn er war ein Mann, dem der Tod in allen seinen unerfreulichen Formen vertraut war.

Der Gerichtsmediziner kam und stellte Selbstmord fest.

Ein merkwürdiger Selbstmord, um genau zu sein. Aus unbekannten Gründen hatte Hiram erst sein linkes Handgelenk aufgeschlitzt, dann sein rechtes. Dann war er in den Sarg gestiegen. Seine Faust umklammerte noch das Skalpell. Im Sarg war die Leiche von James Lee Cobb gewesen. Aber niemand hatte eine Ahnung, wohin diese Leiche verschwunden war.

Dann also Selbstmord.

Das Einzige, was dem Gerichtsmediziner auffiel, waren die blauen Flecken an der Kehle und die zerquetschte Luftröhre. Aber er war bereit, darüber hinwegzusehen, da er keine brauchbare Erklärung hatte und Caleb kein Interesse zeigte, der Sache nachzugehen.

Die Toten sollen ruhen, hatte Caleb gesagt.

Zweiter Teil

2-1

Sieben Monate später …

Der schwarze Himmel entblätterte sich wie aus einem Korsett und schüttete eiskalten Regen wie aus Eimern herab. Der Regen fand den Wind und verband sich mit ihm zu einem tobenden, zornigen Etwas, das auf die Landschaft einprügelte, peitschte, um sich schlug und alles mit Blut in den Adern zwang, Schutz zu suchen. Staubiger, von der Sonne rissiger Boden wurde zu Schlamm. Schlamm wurde zu Sumpf. Sumpf wurde zu Flüssen und Bächen, die über ihre Ufer traten und die Welt versinken ließen.

Zwei Stunden nach Sonnenuntergang begann das Wasser zu gefrieren, der Regen wurde zu Schnee, und Eis überzog die San Francisco Mountains. Durch den Malstrom kam ein einsamer Reiter, der durch Schlamm, Schnee und eiskalten Regen trabte.

Sein Name war Tyler Cabe, und er war Kopfgeldjäger.

Gehüllt in einen gelben Regenmantel, der ihn wie eine nasse, flatternde Haut umgab, ritt Cabe in Whisper Lake ein. Viel von der Stadt konnte er durch den dichten Schneefall nicht ausmachen, der zu prasselndem Regen und dann wieder zu dichtem Schneetreiben wurde. Aber er war einfach froh, irgendwo anzukommen. Irgendwo, wo er Wärme und etwas Heißes zu essen finden konnte.

Er setzte seinen Rotschimmel in Galopp und brachte ihn im ersten Reitstall unter, den er finden konnte, und verstaute seine Satteltaschen und Gewehre. Dann lief er durch die schlammigen, die Stiefel ansaugenden Straßen und fiel durch die Tür eines mit Zeltplane überspannten Saloons namens Oase. Der Boden war mit Sägespänen bedeckt. Es gab eine Bar und Tische, an die Bänke aus Pinienholz gestellt waren. Ein Holzofen in der Ecke spie schmierige Rußwolken aus, die sich mit Tabakrauch, billigem Parfüm und Körpergerüchen mengten. Ein Dutzend abgerissen und geschlagen aussehender Männer waren über Bier und Whiskey gebeugt. Ein einsamer Glücksritter spielte in der Ecke Solitär.

Whisper Lake war eine Stadt, die praktisch den Minengesellschaften gehörte, soviel Cabe wusste. Diese Männer und alles um sie herum waren entweder Eigentum einer Minengesellschaft oder existierten mit ihrer Erlaubnis.

Cabe schüttelte den Regen von seinem Stetson mit dem Hutband aus Klapperschlangenleder, zog seinen Regenmantel aus und hängte beides an einen Haken in der Nähe des Holzofens. Gekleidet in gestreifte Hosen, hohe Stiefel und einen schwarzen Gehrock, setzte er sich auf einen Hocker an der Bar und studierte das darüber hängende Ölgemälde, auf dem ein fleischiges Flittchen seinen Charme spielen ließ. Er betrachtete sich im Spiegel – die Narben, die sich quer über sein knochiges Gesicht zogen, die scharf blickenden grünen Augen, die aus schmalen Schlitzen spähten.

»Durstig, Freund?«

Cabe blickte hinüber zum Bartender, einem schwergewichtigen Mann mit einem Hals, der so dick war wie der Stumpf einer Schwarzpappel. Seine Nase war platt und die Augen schauten aus verquollenen Fleischpolstern. Er machte den Eindruck eines Faustkämpfers.

»Yeah«, sagte Cabe. »Will verdammt sein, wenn nicht.«

»Bier? Whiskey? Hab Roggenwhiskey da, wenn das deinen Geschmack trifft.«

Cabe schüttelte den Kopf. »Nein, nichts in der Richtung. Ich brauche etwas, das mich aufwärmt. Bin mir nicht sicher, ob das da zwischen meinen Beinen ein Schwanz ist oder ein Eiszapfen.«

Der Barmann lachte. »Frank Carny«, stellte er sich vor.

Cabe nannte seinen Namen. »Kämpfst du?«, fragte er.

»Früher mal«, sagte Carny. »Vor vielen Jahren.«

»Hat’s was gebracht?«

»Ich konnte ganz gut mithalten. Mit meinem linken Auge kann ich nichts mehr sehen, zu viele Treffer. Ein kluger Mann macht was anderes mit seinem Kopf und nimmt ihn nicht als Sandsack.«

Cabe nickte, das ergab durchaus Sinn.

Einer der Minenarbeiter an der Bar lachte. »Wo kommst du her?«

»Bin den ganzen Tag geritten«, sagte Cabe. »Aus Nevada. Hab schon gedacht, ich würde es nicht mehr schaffen.«

»Ein beschissener Tag für so eine Tour«, sagte der Minenarbeiter. Er drehte sich zum Barmann um. »Mach ihm was Besonderes, Frank.«

Carny grinste. »Jemals einen Brigham Young getrunken?«

Cabe blickte ihn nur an. »Einen was?«

»Brigham Young«, sagte der Minenarbeiter. »Einer davon, und du wirst ein eingeschworener Freund der Vielweiberei.«

Cabe grinste.

»Oder vielleicht einen Wild Bill Hickok? Zwei Schluck und du wirst ein reizbarer Revolverheld. Du ziehst gegen jeden sofort deine Knarren.«

Cabe gestattete sich ein Lachen.

Der Bartender schüttelte mit dem Kopf. »Nope, ich denke, unser Freund hier braucht einen Crazy Horse. Du kippst einen hinter und nimmst es dann mit der Siebenten US-Kavallerie auf.«

Carny begann zu schütten und zu mixen und der Geruch von Alkohol war so stark, dass sich Cabes Nackenhaare kräuselten. Ein Glas wurde vor ihn hingestellt. Er fragte nicht einmal, was drin war. Als er es zu seinen Lippen führte, spürte er, wie sich die Dämpfe nach oben durch seine Nase brannten, geradewegs ins Gehirn. Er setzte das Glas an und stürzte es mit einem Schluck herunter.

Ach du lieber Gott.

Das Getränk landete in seinem Magen wie flüssiges Metall, ließ Eis schmelzen und trockenen Zunder auflodern zur Mutter aller Feuerstürme. Cabe begann zu husten und zu würgen und zu spucken, und für einen göttlichen Moment sah er das Gesicht des Herrn … und dann streckten sich Finger voller Wärme in ihm aus, entzündeten ihn an Orten, von denen er nicht wusste, dass sie brennen konnten.

»Verdammt«, sagte er. »Gottverdammt.«

Ein paar der Minenarbeiter lachten. Carny schmunzelte.

Cabe fand seinen Sitzplatz wieder, bestellte noch einen. Er drehte sich eine Zigarette und steckte sie an. Alles in ihm loderte nun sehr angenehm, und ganz ehrlich, nichts auf der Welt kümmerte ihn. Seit nun schon sechs Wochen folgte er einem Mann, einem Killer, aber in diesem Moment hätte er zusammen mit ihm Whiskey trinken können. Der Crazy Horse war ein verdammt feiner Drink.

Vorsichtig schlürfte er den zweiten. »Ich glaube, seit dem Krieg hat man mir den Arsch nicht mehr so gründlich versohlt, Gentlemen.«

Carny nickte, wischte ein paar Gläser aus. »Auf welcher Seite hast du gekämpft?«

»Für die Konföderierten«, sagte Cabe lediglich. Jeden Tag dachte er an den Krieg, aber er sprach nicht davon. Manche Dinge blieben besser in der Vergangenheit. »Und du?«

Carny schüttelte den Kopf. »Ich war nicht dabei. Mein Bruder ist in der Schlacht bei Shiloh gefallen, für die Union, Achte Illinois-Infanterie.«

»Tut mir leid«, sagte Cabe und meinte es ernst. »Tut mir wirklich leid. Eine Menge guter Jungs sind auf beiden Seiten gestorben, und je älter ich werde, desto mehr frage ich mich, worum zur Hölle es eigentlich ging.«

»Amen«, sagte der Minenarbeiter.

Jemand hustete, würgte daraufhin und murmelte etwas. Am anderen Ende der Bar hob ein Mann in einem dreckigen Mantel aus Schaffell den Kopf. Er kippte den Rest seines Whiskeys hinunter, würgte und spuckte das Meiste davon auf den Boden. Er hatte einen zotteligen schwarzen Bart, der ihm bis auf die Brust reichte, und Augen wie untergehende Sonnen.

»Krieg, sagst du?«, brachte er gerade so heraus. Ein Gewirr von Speichelfäden hing von seinen Lippen herab wie schmutzige Bänder. Er wischte es mit einer schmierigen Faust weg. »Krieg zwischen Nord und Süd. Nein … Angriffskrieg des Nordens. Jawoll, Sir. Ich habe gekämpft. Oh ja, das habe ich. Gottverdammte Blaubäuche, gottverdammte Yankees. Hurensöhne.«

Der Minenarbeiter zuckte zusammen, als er den Bärtigen herüber wanken sah. Vielleicht weil er Ärger erkannte, wenn er ihn sah, vielleicht war es auch der Geruch des Mannes, der stank wie ein Haufen verrottender Ochsenhäute.

Cabe begutachtete ihn, und was er sah, gefiel ihm nicht. Dieses lange, strähnige Haar, dieser schwere, ganz und gar verknotete Bart, der so vergammelt aussah, als würde er damit Spucknäpfe auswischen. Seine Triefaugen waren rot umrandet, aber unter diesem Dunst von Alkohol … war der Mann genauso finster wie ein offenes Grab. Irgendein besoffener, ignoranter Hillbilly.

Carny hörte auf, die Bar zu wischen. »Setz deinen Arsch hin, Orv. Setz dich einfach hin. Du kriegst noch einen Whiskey aufs Haus. Andernfalls kannst du dich einfach verpissen.«

»Fick dich«, sagte der Hillbilly und kratzte sich an der Fußmatte, die sein Bart sein sollte. Er kam näher und mit ihm der Gestank von Urin. Die Flecken in seinem Schritt sagten, dass er eingepisst hatte, nicht zum ersten Mal. »Gottverdammter Krieg, jawoll Sir. Ich war dabei. Jawoll. Habe zwei Brüder in diesem gottverdammten Krieg verloren.« Er starrte Cabe an und mochte nicht, was er sah. »Bist ein Yankee, stimmt’s?«

Cabe seufzte. »Nein, Konföderierter. Zweites Arkansas-Infanterieregiment. Hab meine Unschuld in der Schlacht am Wilson's Creek verloren und meine Seele in der Schlacht am Pea Ridge.«

Der Hillbilly konnte oder wollte das nicht hören. »Du auf unserer Seite? Zur Hölle damit. Warst wahrscheinlich als verdammter Guerilla da draußen, Babys kaltmachen und Farmer plündern. Bist wahrscheinlich mit Bloody Bill und seinen mordenden, vergewaltigenden Feiglingen geritten, was? Nicht wie ich. Nein Sir, nicht wie ich. Du bist kein richtiger Soldat.«

Der Minenarbeiter tippte sich mit dem Finger an den Kopf, um deutlich zu machen, dass der Hillbilly durchgeknallter war als tanzende Katzen. Aber so viel hatte Cabe schon mitbekommen. Dazu brauchte es keinen Baum voller Eulen.

»Komm schon, Orv«, sagte Carny und sagte es so ruhig, als würde er zu seinem Beagle sprechen, der gerade auf den Teppich geschissen hatte. »Der Kumpel hier genehmigt sich nur einen Drink. Er will keinen Ärger. Er ist kein Yankee wie ich oder Bob hier. Er ist ein Südstaatenjunge wie du, und er war regulärer Soldat. Also lass ihn einfach in Ruhe, hörst du?«

Der Hillbilly hustete einen Klumpen Rotze aus und spuckte ihn zu seinen Füßen. »Jetzt fick dich, du Hurensohn.«

Cabe nahm an, dass der alte Orv einen Fehler machte. So wie Carny aussah, konnte er mit bloßen Fäusten kalten Stahl zu Zeltpflöcken schlagen. Und man mochte einfach nicht darüber nachdenken, wie viele Gesichter er entstellt und wie viele Schädel er eingeschlagen hatte. Bei so jemandem machte man sich besser nicht unbeliebt. So was war verdammt gefährlich. Dachte Cabe … bis der Schaffellmantel des Hillbillys aufging und er den großen, bösen 1851er Navy-Colt, Kaliber 44, an der Seite hängen sah.

Cabe hörte auf, sich über das Gesicht vom alten Orv Gedanken zu machen, und fing an zu überlegen, wie rasch das Blut aus dem Loch von einer 44er in seinem Bauch fließen würde. Man durfte annehmen, dass es verdammt noch mal ziemlich schnell fließen würde.

Er leckte sich die Lippen, die trockener waren als Sand in der Wüste, und ließ die Finger seiner rechten Hand beiläufig nach unten wandern, zum Griff seines Starr-Revolvers, konvertiert auf Kaliber 44, Double-Action. Die Waffe war kleiner als Orvs Colt. Ohne Zweifel konnte er schneller ziehen … aber, zur Hölle, das Letzte, was er wollte, war Mord und Totschlag. Deswegen war er nicht hier.

Der Hillbilly kam immer näher, ganz langsam, wie ein tollwütiger Hund, der noch nach einer Stelle sucht, um seine schaumbedeckten Zähne zu versenken.

Cabe sagte: »Ich geb‘ dir einen Drink aus, Freund. Wir trinken auf die gute alte Armee der Konföderierten Staaten von Amerika und die ganzen guten Jungs, die wir verloren haben. Was meinst du?«

Orvs Hand glitt nach unten zum Gürtel, strich über den Griff des im Holster wartenden Männermörders … und glitt weiter hinunter zum Schritt. Dort kratzte Orv sich ausgiebig.

Cabe entspannte sich ein wenig.

Ein paar der Minenarbeiter, die an den Tischen saßen, verzogen sich leise, schlüpften aus der Tür mit einer Böe nasser, schwarzer Nacht. Die verbliebenen Männer hielten großzügig Abstand. Cabe hatte kein gutes Gefühl. Die Sache sah so aus: Wenn die Leute sich davon machten, war das hier nicht nur irgendein verrückter Besoffener. Sondern ein verrückter Besoffener, der gerne anderen das Licht ausblies.

Carny versuchte, nach etwas hinter der Bar zu greifen, und der Hillbilly, der vielleicht nicht so betrunken war, wie er aussah, drehte sich um und holte leicht und behände seinen Colt hervor.

Aber Cabe war schon aufgesprungen, den Starr in der Hand. Es gab einen Moment schmerzhafter, quälender Stille, die Atmosphäre war so dicht, dass man sie auf einen Stock hätte aufspießen können.

Der Hillbilly lachte, in seinen Augen standen Tränen. »Hast dir einen Starr besorgt, Junge? Hab welche im Krieg gesehen. Ein Perkussionsrevolver, richtig?«

»Konvertiert«, hörte Cabe sich sagen, völlig perplex über die absurde Situation, in der zwei Männer, die gerade dabei waren, sich umzubringen, über Waffen diskutierten. »Habe ihn auf Metallpatronen umrüsten lassen. Ist einfacher so.«

Der Hillbilly lachte, er gluckste geradezu. Speichel rann aus seinen zuckenden Mundwinkeln. »Ich mag meine 1851er, jawoll, Sir. Vorderlader, zum Selberdrehen, nicht wahr? Habe damit bei Fort Donelson eine ordentliche Zahl Yankees kaltgemacht, stimmt’s? Die Blaubäuche haben um ihr Leben gebettelt und ich hab ihre Gehirne in der Gegend verteilt, oder etwa nicht?« Er gackerte jetzt wie ein Wahnsinniger, der Revolver bebte in seiner Faust, hungrig nach Fleisch. »Zehnte Tennessee, jawoll Sir. Die blutige Zehnte, so nannten sie uns. Weißt du warum? Weil wir so viele getötet haben und so viele Verluste hatten. Blut … oh ja … so viel Blut. Es lief überall. Vor dem Blut gab es kein Entkommen, nicht wahr? Bekomme es immer noch nicht runter von meinen Händen. Die Yankees haben uns gefangen genommen, so war’s doch? Meine Brüder waren alle tot, alle tot, sagst du? Jawoll Sir, ich glaube, das waren sie. Sie haben mich nach Camp Douglas gebracht, in das Kriegsgefangenenlager da oben bei Chicago. Junge, Junge, hatten diese Yankees aber auch einen Spaß mit uns! Nachts haben sie durch die Barackenwände geschossen, haben drauf gewettet, wie viele Südstaatler sie mit einer einzigen Kugel töten konnten. Hoho, kannst du dich daran erinnern?«

Cabe räusperte sich, um den Staub aus der Kehle zu bekommen. »Mich haben sie auch gefangen genommen, Orv. Nach Pea Ridge. Auch ich war in Douglas. Später haben sie uns ausgetauscht … wir haben uns wieder aufstellen lassen und weitergekämpft.«

»Lügner! Lügner! Lügner! Gottverdammter Yankee-Lügner!«, stammelte der Hillbilly. Speichelfäden flogen um seinen Mund und seine gelben und braunen Zähne schnappten wie Bärenfallen. »Du bist ein Yankee! Ich kann das an deinem Gestank erkennen! Dreckige Mörderbande, ihr habt Roy und Jesse getötet! Verfickte Blaubäuche! Ich mach' sie auf der Stelle kalt, ich mach' sie auf der Stelle kalt!«

Er hob den Revolver.

Cabe begann, Druck auf den Abzug des Starr auszuüben.

»Wenn du sie auf der Stelle kalt machst«, sagte Carny, »dann machst du dich jetzt besser bereit, denn hier kommt gerade einer.«

Durch die aufschwingenden Türflügel trat ein großer Mann herein.

Er trug einen knielangen Mantel, die Manschetten und der Kragen waren aus Pelz gearbeitet. Auf seinem Kopf saß ein runder Hut aus Büffelfell. Sein Gesicht war schmal und kantig, der unter seiner scharf geschnittenen Nase reitende Schnurrbart war perfekt gestutzt. Er war ein gut aussehender Mann und seine fahlblauen Augen strahlten Autorität und Haltung aus. Ein Abzeichen war an seine Brust geheftet. Darauf stand: SHERIFF BEAVER COUNTY UTAH.

Der Hillbilly stierte ihn geradezu an, aber das galt ebenso für Cabe.

Cabe war sprachlos. Etwas Heißes und Flüssiges war in ihm übergelaufen, machte ihn zittern, machte ihn wütend, sorgte dafür, dass er innerlich kochte. Aber er sagte nichts, noch nicht.

»Orv«, sagte der Sheriff mit leiser Stimme. »Gib mir deine Waffe. Wenn du das nicht tust, und ich schwöre zu Gott, dann erschieße ich dich an Ort und Stelle.«

Der Sheriff hatte noch nicht einmal seinen Mantel geöffnet, um seine Schießeisen zu zeigen … wenn er überhaupt welche trug. Aber diese Augen … Cabe erinnerte sich an diese Augen … sie waren erbarmungslos. Und wenn sie dich an- und in dich hineinblickten, dann schmolz dein Inneres wie Butter auf einer heißen Ofenklappe.

Der Hillbilly schaute beinahe verzweifelt zu Cabe. Sein Kopf schwankte leicht von einer Seite zur anderen.

Der Sheriff kam herüber. »Die Waffe«, sagte er. »Jetzt sofort.«

Der alte Orv sah aus wie kurz vor dem Hosenschiss, außer dass der Gestank eher darauf hindeutete, dass er das bereits getan hatte. Seine Finger klammerten sich fester an den großen, Leben fressenden 1851er Colt. Seine Knöchel waren weiß wie Perlenknöpfe. Er blickte von Cabe zu Carny, warf einen Seitenblick auf die Minenarbeiter. Merkwürdig hilflos sah er aus.

Der Sheriff knöpfte seinen Mantel auf und achtete höllisch darauf, dass der Hillbilly sah, wie ruhig und gelassen er das tat. Und er gab acht, dass er einen guten Blick auf den Griff des kurzläufigen 45er Peacemaker bekam, der in seinem Holster wartete.

Er streckte seine linke Hand aus. »Die Waffe«, sagte er, und die Wörter waren scharf genug, um Stahl zu schneiden.

Der alte Orv war dabei, seinen Revolver auszuhändigen … bis vielleicht die Spannung des Moments, vielleicht aber auch nur blanker Größenwahn ihn überkam, denn er brachte die Waffe zurück nach oben, seine Augen verhärtet und wild. Aber der Sheriff war zu schnell, zu sicher. Mit der Rechten griff er nach dem Handgelenk des Hillbillys, gab diesem eine hässliche Drehung, und der große Revolver fiel in seine linke Hand. Er nahm ihn beim Lauf und, ohne länger nachzudenken, als beim Töten einer Fliege, prügelte er dem alten Orv fünf-, sechsmal den Griff quer durch das Gesicht, bis er zu Boden ging. Orv umklammerte sein blutendes Gesicht mit seinen schmutzigen Fingern, stöhnend und sabbernd.

Ein kräftiger Kerl, der einen Blechstern an seinem Regenmantel trug, trat durch die Tür und blickte zuerst zum Hinterwäldler, dann zum Sheriff.

»Sperr diesen Mistkerl weg«, sagte der Sheriff. Dann wandte er sich Cabe zu. »Sir, wenn Sie die Pistole bitte zurück ins Holster stecken würden.«

Cabe merkte, wie er der Bitte nachkam, ohne auch nur einmal nachzudenken. Diese Stimme, diese Augen … auf gewisse Weise waren sie beinahe hypnotisch. Aber dann kam er wieder zu sich, als der Deputy den Hillbilly nicht allzu sanft durch die Tür nach draußen beförderte. In seinem Gesicht leuchtete dieses freche, schiefe Grinsen auf. »Well, well, well, Jackson Dirker«, sagte er. »So wahr ich hier stehe.«

Der Sheriff hob eine Augenbraue, aber zeigte keine Anzeichen des Wiedererkennens. »Kennen wir uns, Sir?«

Cabe lächelte, und dieses Lächeln brannte vor Hass. »Das will ich meinen.« Er berührte die alten Narben, die sich über den Nasenrücken von einer Wange zur anderen zogen. »Diese Narben …«

»Was ist damit?«

»Die habe ich dir zu verdanken«, sagte Cabe.

2-2

Das Büro des Sheriffs von Beaver County. Es war ein schmutziger, einstöckiger Backsteinbau, der zwischen dem County-Gerichtsgebäude und einem Maklerbüro eingeklemmt war und geradewegs auf den Marktplatz und die dahinter liegenden Lokale blickte, die aufgereiht wie Prostituierte einen leichten Zeitvertreib feilboten.

Cabe stand draußen im stürmischen, nassen Wind, seine Stiefel verkrustet mit Schlamm wie mit feuchtem Zement.

Er war nicht sicher, was er in diesem Moment empfand, aber es war nichts Gutes. Ein Teil von ihm wollte die Tür eintreten und diesen arroganten Hurensohn von einem County-Sheriff einfach abknallen. Aber das ging nicht, das war ihm klar. So war es nicht im wirklichen Leben. Jahrelang hatte er an Jackson Dirker gedacht, Rachefantasien in seinem Kopf durchgespielt für den Moment, in dem sie sich wieder begegnen würden – falls überhaupt –, und nun fiel das alles in sich zusammen. Diese Fantasien waren tot wie die abgeworfene Haut einer Schlange.

Cabe trat durch die Tür und sah den großen Deputy gerade an einer Blechtasse mit Kaffee nippen. Er war ein gewaltiger Mann, schwergewichtig in der Mitte, aber mit breiten Schultern und kraftvoll aussehend. Er trug keine Waffe. Auch im Saloon hatte er keine getragen. Cabe dachte sich, dass er dem guten alten Tom »Bear River« Smith vor Jahren unten in Abilene ähnelte, der Recht und Ordnung mit bloßen Fäusten durchgesetzt hatte.

»Was kann ich für Sie tun?«, fragte er. »Ich bin Henry Wilcox, Deputy-Sheriff.«

»Tyler Cabe. Ich habe etwas mit Sheriff Dirker zu besprechen. Ist er da?«

»Im Zimmer da hinten«, sagte Wilcox. »Ich hole ihn.«

Cabe fand einen Stuhl mit streng gerader Rückenlehne und zog ihn an einen Tisch heran, von dem er annahm, dass es Dirkers Schreibtisch war – ein großes, wie eine Antiquität aussehendes Teil, auf dem Papiere und Ähnliches wohlgeordnet waren. Yeah, das sah nach Dirker aus. Dienstbeflissen, ernst, militärisch.

Ganz der verdammte Dirker.

Cabe war in den Büros von Gesetzeshütern an Dutzenden über Dutzenden Orten gewesen, wenn nicht Hunderten. Manche waren nicht mehr als baufällige Baracken mit in Betonblöcken verankerten Fußfesseln gewesen, um Gefangene zu festzuhalten. Über Fässer gelegte Holzbohlen als Schreibtische. Aber nicht hier. Nicht in einer der minenreichen Gegenden. Der Job eines County-Sheriffs war sicher sehr einträglich.

Von Jackson Dirker war nicht weniger zu erwarten gewesen.

Cabe wartete, steckte sich eine Zigarette an und studierte die gesuchten Gauner an der Wand, Stadtverordnungen, ein Wandregal mit Repetiergewehren.

Die Tür nach hinten – wo Cabe die Zellen vermutete – öffnete sich, Dirker trat heraus, und Cabe hatte ein Gefühl, als würden Schmetterlinge in seinem Bauch abheben. Dirker trug einen gestreiften Anzug mit einer goldenen Uhrenkette und einer schwarzen Western-Schleife. Die Art Klamotten, die ein Banker tragen würde. Aber Dirker verfügte über ein beeindruckendes Auftreten, und er hätte selbst in Korsett und Kleid wie der Boss gewirkt.

Er setzte sich Cabe gegenüber. »Du hast hier was zu erledigen, Cabe?«

Cabe fühlte, wie seine Stimme in seiner Kehle feststeckte, verhakt wie Baumwollstoff auf einem Nagelkopf. Für einen Moment fragte er sich, ob er hier den richtigen Mann vor sich hatte … aber nein, es gab nur einen Jackson Dirker. Cabe war sich von dem Moment an sicher gewesen, in dem Dirker die Oase betreten hatte. Das Gesicht war älter geworden, von der Lebenserfahrung mit einem Muster makelloser Linien überzogen. An den Schläfen fand sich ein Anflug von Grau. Aber diese Augen, die konnte man unmöglich vergessen. Zwanzig Jahre hatten ihren Grimm nicht gemildert. Sie vermochten noch immer Löcher in Ziegelsteine zu brennen.

»Du erinnerst dich an mich, Dirker?«

Der Sheriff nickte. »Das tue ich.«

»Das sah vorhin im Saloon anders aus …«

»Ich habe einen Moment gebraucht.«

»Haben die Narben deine Erinnerung aufgefrischt?«

Dirker zog eine Augenbraue hoch. »Narben sind kaum etwas Überraschendes in diesem Land, Cabe. Also was willst du? Was machst du hier?«

»Ich bin hier, um das Meer zu sehen, um die Gischt zu spüren.«

»Der Ozean ist Hunderte Meilen weit weg.«

Cabe schlug seinen Hut gegen das Knie. »Verdammt, muss einen falschen Abzweig erwischt haben.«

Dirker war nicht zu Scherzen aufgelegt. »Bist du geschäftlich hier oder privat?«