Bipolare Störungen - Gerhard Dieter Ruf - E-Book

Bipolare Störungen E-Book

Gerhard Dieter Ruf

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Beschreibung

Die systemische Behandlung von bipolaren Störungen fokussiert auf die Gefühle und Denkprozesse der Betroffenen in ihrem sozialen Kontext und beschreibt die komplexen Wechselwirkungen im biologischen, psychischen und sozialen System, die zur Entstehung und Aufrechterhaltung der Störung beitragen. Gerhard Dieter Ruf entwickelt Lösungsansätze, die eine Integration von Hochs und Tiefs zu erreichen helfen. Seine Aufmerksamkeit gilt dabei allen beteiligten Systemen: Betroffenen, Angehörigen und Behandlern.

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Störungen systemisch behandeln

Band 8

Herausgegeben von

Hans Lieb und Wilhelm Rotthaus

Gerhard Dieter Ruf

Bipolare Störungen

2017

Mitglieder des wissenschaftlichen Beirats des Carl-Auer Verlags:

Prof. Dr. Rolf Arnold (Kaiserslautern)

Prof. Dr. Dirk Baecker (Witten/Herdecke)

Prof. Dr. Ulrich Clement (Heidelberg)

Prof. Dr. Jörg Fengler (Köln)

Dr. Barbara Heitger (Wien)

Prof. Dr. Johannes Herwig-Lempp (Merseburg)

Prof. Dr. Bruno Hildenbrand (Jena)

Prof. Dr. Karl L. Holtz (Heidelberg)

Prof. Dr. Heiko Kleve (Potsdam)

Dr. Roswita Königswieser (Wien)

Prof. Dr. Jürgen Kriz (Osnabrück)

Prof. Dr. Friedebert Kröger (Heidelberg)

Tom Levold (Köln)

Dr. Kurt Ludewig (Münster)

Dr. Burkhard Peter (München)

Prof. Dr. Bernhard Pörksen (Tübingen)

Prof. Dr. Kersten Reich (Köln)

Prof. Dr. Wolf Ritscher (Esslingen)

Dr. Wilhelm Rotthaus (Bergheim bei Köln)

Prof. Dr. Arist von Schlippe (Witten/Herdecke)

Dr. Gunther Schmidt (Heidelberg)

Prof. Dr. Siegfried J. Schmidt (Münster)

Jakob R. Schneider (München)

Prof. Dr. Jochen Schweitzer (Heidelberg)

Prof. Dr. Fritz B. Simon (Berlin)

Dr. Therese Steiner (Embrach)

Prof. Dr. Dr. Helm Stierlin (Heidelberg)

Karsten Trebesch (Berlin)

Bernhard Trenkle (Rottweil)

Prof. Dr. Sigrid Tschöpe-Scheffler (Köln)

Prof. Dr. Reinhard Voß (Koblenz)

Dr. Gunthard Weber (Wiesloch)

Prof. Dr. Rudolf Wimmer (Wien)

Prof. Dr. Michael Wirsching (Freiburg)

Reihe »Störungen systemisch behandeln«, Band 8

hrsg. von Hans Lieb und Wilhelm Rotthaus

Reihengestaltung: Uwe Göbel

Umschlag und Satz: Heinrich Eiermann

Printed in Germany

Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck

Erste Auflage, 2017

ISBN 978-3-8497-0168-0 (Printausgabe)

ISBN 978-3-8497-8068-5 (ePUB)

© 2017 Carl-Auer-Systeme Verlag

und Verlagsbuchhandlung GmbH, Heidelberg Alle

Rechte vorbehalten

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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Carl-Auer Verlag GmbH

Vangerowstraße 14 • 69115 Heidelberg

Tel. +49 6221 6438-0 • Fax +49 6221 6438-22

[email protected]

Inhalt

Vorwort der Herausgeber

Vorwort

Zu diesem Buch

1 Bipolare Störungen

1.1 Vom Phänomen zur Diagnose

1.2 Affektive Störungen in der ICD-10

1.3 Bipolare Störung in der ICD-10

1.4 Differenzialdiagnose

1.5 Epidemiologie und Verlauf

2 Klassische Konzepte zu bipolaren Störungen

2.1 Historische Erklärungsmodelle

2.2 Das psychiatrische Störungsmodell und klassische Therapieformen

2.2.1 Das psychiatrische Krankheitsmodell

2.2.2 Psychiatrische Therapieformen

2.3 Anthropologische Erklärungsmodelle und Interventionsansätze

2.4 Verhaltenstherapeutische Erklärungsmodelle und Interventionsansätze

2.5 Psychodynamische Erklärungsmodelle und Interventionsansätze

3 Bipolare Störungen aus Sicht der Systemtherapie

3.1 Bipolare Störungen aus Sicht der früheren Systemtherapie (Kybernetik erster Ordnung)

3.1.1 Erforschung der Kommunikation in Familien

3.1.2 Die strukturelle Familientherapie

3.1.3 Die strategische Familientherapie nach dem Mailänder Modell

3.1.4 Die frühen systemischen Ansätze aus heutiger Sicht

3.2 Bipolare Störungen aus Sicht der modernen Systemtherapie (Kybernetik zweiter Ordnung)

3.2.1 Die Kybernetik zweiter Ordnung

3.2.2 Eine systemische Annäherung an bipolare Störungen

4 Ein systemisches Störungsmodell

4.1 Eine systemtheoretische Beschreibung

4.2 Das biologische System bei bipolaren Störungen

4.3 Das psychische System bei bipolaren Störungen

4.4 Das soziale System bei bipolaren Störungen

4.7 Wege zur Chronifizierung

5 Systemische Therapie bipolarer Störungen

5.1 Prinzipien

5.1.1 Störungsspezifische Systemtherapie

5.1.2 Das Setting

5.1.3 Kundenorientierung

5.1.4 Infragestellung des Krankheitskonzepts

5.1.5 Lösung von Problemen

5.1.6 Ressourcenorientierung

5.1.7 Neutralität

5.1.8 Anbieten hilfreicherer Wirklichkeitskonstruktionen

5.1.9 Sinnangebote

5.1.10 Störung problematischer zirkulärer Prozesse

5.2 Schwerpunkte bei der bipolaren Störung

5.2.1 Herstellen von Gleichzeitigkeit

5.2.2 Aufweichen der harten Beziehungsrealität

5.2.3 Anbieten einer neuen Beziehungsgestaltung zwischen Therapeut und Patient

5.2.4 Herausarbeiten der Funktion der bipolaren Störung

5.2.5 Ertragenlernen wechselnder Stimmungslagen

5.2.6 Besetzen der passiven Seite bei der Depression

5.2.7 Warnung vor Erschöpfung bei der Manie

5.3 Kontexte

5.3.1 Auftragsklärung und Kontext

5.3.2 Stationäre Behandlung

5.3.3 Behandlung mit Medikamenten

5.4 Methoden

5.4.1 Systemisches Fragen

5.4.2 Status quo versus Veränderung

5.4.3 Lösungsorientiertes Vorgehen

5.4.4 Paradoxe Interventionen

5.4.5 Rituale

5.4.6 Narrative Methoden

5.4.7 Rückfallprophylaxe

5.4.8 Familientherapie

5.4.9 Methoden bei chronifizierten Störungen

6 Nebenwirkungen der klassischen Depressionstherapie aus systemisch-konstruktivistischer Sicht

7 Ausführliches systemisches Fallbeispiel

8 Evaluation

Ergänzendes Online-Material

Literatur

Über den Autor

Vorwort der Herausgeber

Ursprünglich ein querdenkendes Außenseiterkonzept, hat sich der systemische Ansatz heute in vielen Bereichen der Therapie und der Beratung theoretisch wie praktisch etabliert. Auch Vertreter anderer Schulen bereichert er mittlerweile in ihrer Arbeit. Die Etablierung eines Paradigmas birgt für dieses selbst aber auch Risiken, weil sie stets mit der Verfestigung von Denk- und Handlungsgewohnheiten einhergeht. Die Reihe Störungen systemisch behandeln stellt sich vor diesem Hintergrund zwei Herausforderungen: Nichtsystemischen Behandlern und Vertretern anderer Therapierichtungen soll sie komprimiert und praxisorientiert vorstellen, was die systemische Welt im Hinblick auf bestimmte Störungsbilder zu bieten hat. Innerhalb der Systemtherapie steht sie für eine neue Phase im Umgang mit dem Konzept von »Störung« und »Krankheit«.

Historisch gesehen war einer ersten Phase mit erfolgreichen Konzepten zu Krankheitsbildern wie Schizophrenie, Essstörungen, psychosomatischen Krankheiten und affektiven Störungen eine zweite Phase gefolgt, die geprägt war von einem gezielten Verzicht oder einer definitiven Ablehnung aller Formen störungsspezifischer Codierungen. In jüngerer Zeit wenden sich manche Vertreter der systemischen Welt wieder störungsspezifischen Konzepten und Fragen zu – und werden von anderen dafür deutlich attackiert. Diese neue Welle ist bedingt durch die Anerkennung der Systemtherapie als wissenschaftliches Heilverfahren, durch den Antrag auf deren sozialrechtliche Anerkennung und nicht zuletzt dadurch, dass viele im klinischen Sektor systemisch arbeitende Kollegen täglich gezwungen sind, sich zu störungsspezifischen Konzepten zu positionieren.

Die systemische Welt hat hierzu einiges anzubieten. Die Reihe Störungen systemisch behandeln will zeigen, dass und wie die Systemtheorie mit traditionellen diagnostischen Kategorien bezeichnete Phänomene ebenso gut und oft besser beschreiben, erklären und mit hoher praktischer Effizienz behandeln kann. Sie verfolgt dabei zwei Ziele: Zum einen soll systemisch arbeitenden Kollegen das große Spektrum theoretisch fundierter und praktikabler systemischer Lösungen für einzelne Störungen zugänglich gemacht werden – ohne das Risiko, die eigene systemische Identität zu verlieren, im besten Fall sogar mit dem Ergebnis einer gestärkten systemischen Identität. Gleichzeitig soll nicht-systemischen Behandlern und Vertretern anderer Schulen das umfangreiche systemische Material an Erklärungen, Behandlungskonzepten und praktischen Tools zu verschiedenen Störungsbildern auf kompakte und nachvollziehbare Weise vermittelt werden.

Verlag, Herausgeber und Autoren bemühen sich, einerseits eine für alle Bände gleiche Gliederung einzuhalten und andererseits kreativen systemischen Querdenkern die Freiheit des Gestaltens zu lassen.

An die Stelle der Abgrenzung und der Konkurrenz zwischen den verschiedenen Therapieschulen ist heute der Austausch zwischen ihnen getreten. Die Reihe »Störungen systemisch behandeln« versteht sich als ein Beitrag zu diesem Dialog.

Dr. Hans Lieb, Dr. Wilhelm Rotthaus

Vorwort

Bipolare Störungen werden in den letzten Jahren zunehmend häufiger diagnostiziert. Eine bipolare Störung wird angenommen, wenn ein Patient die beiden Pole Depression und Manie durchlebt bzw. entsprechende Symptome zeigt. Manie ist ein Zustand inadäquater Euphorie und Antriebssteigerung, Hypomanie eine leichte Ausprägungsform. Während in früheren Jahren nur ausgeprägte Manien bei der Diagnosestellung einer bipolaren Störung berücksichtigt wurden, führen jetzt auch schon hypomane Zustände mit leicht gehobener Stimmung zu dieser Diagnose. So kann man die Diagnose schließlich bei 3–5 % der Bevölkerung stellen (Laux 2011b). Pharmafirmen fördern die Ausweitung der Diagnosen. Sie haben mehrere Mittel gegen Stimmungsschwankungen entwickelt, die sogenannten Mood Stabilizer oder Stimmungsstabilisierer, und drängen in ihrer Öffentlichkeitsarbeit auf eine entsprechende Diagnostik und Behandlung. Die Krankheit fasziniert und verhilft dem Gesundheitswesen zu neuen Umsätzen.

Aber wo bleibt der Mensch? Himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt. Gehören solche Gefühle nicht zur normalen Existenz des Menschen? Bieten solche Pole nicht auch einen Spielraum, der innere Freiheit erschafft? Ist es krankhaft, wenn man sich bei Verlusten, Niederlagen oder Erschöpfung antriebsarm und traurig zurückzieht? Ist es krankhaft, wenn man in einem Glückszustand aktiv wird und seine ganze Energie einsetzt?

Hier stellt sich die Frage, wo es Sinn macht, in Krankheitskategorien zu denken. In unserer Gesellschaft verhilft eine Diagnose zu Schonung und zu einem legitimen und legalen Rückzug aus den Anforderungen und dem Leistungsdruck der Arbeitswelt. Im Gesundheitswesen ist das Etikett einer Diagnose eine Voraussetzung für unterstützende und therapeutische Angebote. In der Familie wird man von Verantwortung und Schuld für Verhaltensweisen freigesprochen, wenn diese auf eine Krankheit zurückgeführt werden.

Andererseits hat eine Diagnose den Preis, dass man allzu leicht den Menschen hinter der Diagnose vergisst. Die ganze Familie ist auf die Krankheit fixiert, hat Angst vor einem Rückfall und schränkt in ihren Kontrollbemühungen die Freiheit vor allem des als krank diagnostizierten Familienmitglieds ein. Wenn dieser, vielleicht für die anderen unerwartet, neue Neigungen entdeckt und ins Kino und Theater geht, wird eine beginnende Manie angenommen und vom Arzt eine Erhöhung der Medikamentendosis erwartet, damit er wieder wie zuvor still und antriebsarm zu Hause bleibt. Eine Patientin berichtete mir, sie traue sich seit der Diagnosestellung einer bipolaren Störung nicht mehr, glücklich zu sein, weil sie dann den Ausbruch einer Manie befürchte. Die Verarbeitung einer schweren Trauer nach dem Tod eines Angehörigen wird nicht gefördert, wenn sie mit der Diagnose einer Depression als Krankheit eingestuft wird.

Diese Polarität zwischen den Kategorien Krankheit bzw. Störung und Normalität ist Thema der systemischen Psychiatrie und Therapie. Es geht um die Frage, wann ein Denken in Krankheitskategorien sinnvoll und hilfreich ist, wann es eher behindert oder schadet und wann sich selbst erfüllende Prophezeiungen gerade zu dem führen, was man befürchtet. Manche Probleme und Symptome werden durch sogenannte zirkuläre Prozesse, das sind Rückkopplungsprozesse, aufrechterhalten. Probleme entstehen auch durch Erklärungen, die den subjektiven oder den wissenschaftlichen Beobachtungen gegeben werden. Erklärungen können Hoffnung machen oder nehmen, können erleichtern oder bedrücken.

In der systemischen Therapie werden solche Zusammenhänge zwischen Denken, Fühlen und Handeln thematisiert und alternative Sichtweisen angeboten. Wenn diese besser zum Leben der Betroffenen passen, können sie zur Problemlösung verhelfen und Symptome überflüssig werden lassen. Depressive Symptome können in manchen Fällen als normale Trauer, als Erschöpfung oder als Signal dafür gesehen werden, dass die Lebensform nicht stimmt und eine Veränderung im Leben ansteht, sei es im privaten Bereich oder im Beruf.

Systemische Therapie und Beratung ist eine bewährte und gut evaluierte Methode, die in unterschiedlichen psychotherapeutischen und psychiatrischen Arbeitsfeldern und Kontexten eingesetzt werden kann. Sie ist besonders flexibel bezüglich der Settings und Zeitrahmen (von Schlippe u. Schweitzer 2012, S. 349) und kommt oft mit wenigen, über einen längeren Zeitraum verteilten Sitzungen aus. Häufig werden Sitzungen alle vier Wochen oder in noch längeren Intervallen angesetzt, insgesamt durchschnittlich ca. 10 bis 12 Sitzungen (vgl. Simon, Clement u. Stierlin 2004, S. 303 f.). Mit der zunehmenden Verbreitung der systemischen Therapie werden aber in Abhängigkeit vom Bedarf auch lange systemische Therapien durchgeführt.

Dass auch bei einer sogenannten »schweren« oder »chronifizierten« bipolaren Störung oft kleine Impulse in wenigen Sitzungen ausreichen, um Muster zu verstören, die die Störung aufrechterhalten, mag verwundern. Oft wird übersehen, dass schon die Diagnosestellung einer bipolaren Störung zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung werden und die befürchtete Chronifizierung fördern kann. Immer wieder berichten mir Patienten, wie die ängstliche Aufmerksamkeitsfokussierung auf einen möglichen »Rückfall« durch Sorgen und eine innere Anspannung eben diesen auch provozieren kann. Hilfreich sind in diesen Fällen die ressourcenorientierte systemische Haltung und spezifische Interventionen, wenn sie zum problematischen Denk- und Verhaltensmuster eine passende bessere Lösung darstellen.

Zu diesem Buch

Dieses Buch soll spezifische psychische und soziale Muster bei bipolaren Störungen verdeutlichen und systemische Therapiemethoden zur Veränderung problematischer Muster zur Verfügung stellen. Der Schwerpunkt liegt auf der ambulanten Behandlung. Bei den Fallbeispielen sind die akuten, meist in der Klinik behandelten Symptome bereits abgeklungen. Die vorgestellten Methoden können jedoch auch im stationären Kontext Anwendung finden.

Systemische Therapie kann als Einzel-, Paar- oder Familientherapie durchgeführt werden. Weil die meisten Patienten eine Einzeltherapie wünschen, habe ich überwiegend solche Fallbeispiele vorgestellt. Ab und zu wird in meiner Praxis auch eine Kombination von Einzelund Familientherapie durchgeführt. Eine Indikation zur Familientherapie besteht bei entsprechendem Wunsch des Klienten üblicherweise dann, wenn er in einer Familie lebt oder wenn die Familie sonst eine wichtige Rolle für das Problem oder die Lösung spielt.

Theorie und Methoden der systemischen Therapie finden bei verschiedenen psychischen Störungen Anwendung. Einige Abschnitte dieses Buches wurden aus meinen Büchern Schizophrenien und schizoaffektive Störungen (Ruf 2014) und Depression und Dysthymia (Ruf 2015) übernommen, weil sie auch zur Therapie bipolarer Störungen passen. Bei bipolaren Störungen dominieren im Verlauf oft depressive Episoden, sodass insbesondere die Therapie der Depression nicht ausgeklammert werden konnte. Ich habe sie im Vergleich zum Buch Depression und Dysthymia hier verkürzt dargestellt und empfehle ggf. dort eine Vertiefung. Detaillierte Erläuterungen, wie zum Beispiel wissenschaftliche Erklärungen oder therapeutische Interventionen, wurden im Text durch eine kursive Schreibweise gekennzeichnet. Als ergänzendes Material werden einzelne Interventionen zur jeweils gezielten Anwendung online bereitgestellt.1

Beratung und Therapie gehen fließend ineinander über; ich habe im Text nicht streng dazwischen getrennt. Das Gleiche gilt für die Begriffe Klient und Patient. Wegen der besseren Lesbarkeit habe ich auch nicht immer die männliche und weibliche Form aufgeführt; beides soll als austauschbar gelten, sofern aus dem Text nichts anderes hervorgeht. Alle Fallbeispiele sind aus unserer Praxis, die ich mit meiner Frau und anderen Kollegen zusammen führe. Sie sind so weit anonymisiert, dass Rückschlüsse auf die jeweiligen Patienten nicht möglich sind.

An dieser Stelle danke ich meiner Frau Ulrike Preuß-Ruf ganz herzlich für viele wertvolle Ratschläge. Mein besonderer Dank gilt auch dem Herausgeber der Buchreihe Dr. Hans Lieb für viele hilfreiche Anregungen.

1  http://www.carl-auer.de/machbar/bipolare_stoerungen

1    Bipolare Störungen

1.1  Vom Phänomen zur Diagnose

Die 51-jährige geschiedene und allein lebende Frau K. hatte nach Aussagen ihrer Freundin in letzter Zeit eine auffallend gehobene Stimmung und trank viel Alkohol. Als die Freundin sie in unsere Praxis brachte, redete sie weitschweifig und zeigte einen deutlich gesteigerten Antrieb mit Rededrang und Bewegungsunruhe. Eine Medikamenteneinnahme oder Klinikeinweisung lehnte sie strikt ab und drohte, sonst aus dem Fenster zu springen. Da keine akute Selbst- oder Fremdgefährdung vorlag, wurden beruhigende Medikamente verordnet, sonst aber keine weiteren Maßnahmen veranlasst.

Am Folgetag rief die Freundin an, Frau K. fahre alkoholisiert Auto und niemand wisse im Moment, wo sie sich aufhalte. Später teilte Frau K. telefonisch mit, sie sei im Autohaus und lasse gerade ihr Auto schätzen, um es zu verkaufen und so an Geld zu kommen.

Eine Woche später kam Frau K. wieder in Begleitung ihrer Freundin in die Praxis. Sie gab an, die verordneten Medikamente nicht vertragen zu haben, und sie nehme jetzt nur Bachblüten.

Eine weitere Woche später kam eine Nachbarin ohne Frau K. in unsere Praxis und berichtete, in der letzten Nacht sei die Feuerwehr da gewesen, es habe gebrannt, nachdem Frau K. zuerst nicht bemerkt habe, dass eine Kerze umgefallen sei, aber später selbst die Feuerwehr alarmiert habe.

Die Nachbarin äußerte auch ihre Sorge, Frau K. könne sich etwas antun, weil sie gestern davon geredet habe, dass sie am liebsten tot sei, und heute früh in ihrer Wohnung alles dunkel gewesen sei. Sie sei jetzt in ihrer Wohnung, habe alle ausgesperrt, habe etwas von Zeugen Jehovas zitiert und Kerzen aus dem Fenster geworfen. Sie trinke ständig Alkohol und fahre Auto. Man befürchte, dass der Hund kein Futter mehr bekomme, weil sie kein Geld mehr habe. Sie habe das von uns beim letzten Termin ausgestellte Rezept nicht eingelöst und das Medikament nicht genommen.

Da jetzt sowohl eine Selbst- als auch eine Fremdgefährdung anzunehmen war, informierten wir die Polizei, die eine Einweisung in die psychiatrische Klinik regelte.

Frau K. wurde dann zwei Wochen lang in der Klinik behandelt. Dort verhielt sie sich distanzlos, hatte einen vermehrten Rededrang und eine deutliche Bewegungsunruhe, Stimmung und Antrieb wirkten gesteigert, das Denken sprunghaft und weitschweifig. Während der körperlichen Untersuchung führte sie mehrere Turnübungen vor und zog plötzlich die Hose herunter, um zu zeigen, wo sie vor mehreren Wochen an der Schamlippe operiert worden sei. Eine richterliche Unterbringung wurde veranlasst, und sie wurde unter der medikamentösen Behandlung mit der Zeit ruhiger.

Nach der Klinikentlassung kam sie wieder in unsere Praxis. Sie gab an, sie fühle sich nun besser und fange an, ihre Wohnung wieder aufzuräumen. Zwei Wochen später kam sie antriebslos in die Praxis und gab an, die Medikamente eigenmächtig abgesetzt zu haben.

Das ist die Beschreibung eines Phänomens. Es spielt sich vor allem in der Kommunikation ab, also im sozialen System. Das von Frau K. gezeigte Verhalten ist für die Menschen ihrer Umgebung nicht nachvollziehbar und verstehbar. Es ist anzunehmen, dass ihre Gedanken und Gefühle oder Affekte, das psychische System, wesentlich beteiligt sind. All das wäre ohne ihr Nervensystem, das Gehirn, also das biologische System, nicht möglich. In allen drei Systemen wirkt Frau K. anders als andere Menschen.

Für dieses schon seit Menschengedenken existierende Phänomen nicht nachvollziehbarer Verhaltensweisen und Affekte wurden im Lauf der Geschichte unterschiedliche Erklärungen entwickelt (vgl. Abschnitt 2.1). Schließlich nahm sich die westliche Medizin dieses Phänomens an und ordnete es als Geisteskrankheit ein. Verhaltensweisen wie die von Frau K. gezeigten wurden als »Manie« bezeichnet. Es wurden gesellschaftliche Entscheidungen getroffen, was als normal und was als pathologisch zu gelten hat (vgl. Hess u. Herrn 2015).

Bestrebungen zu einer internationalen Vereinheitlichung von Diagnosekriterien führten zur Entwicklung der International Classification of Diseases der Weltgesundheitsorganisation, die immer wieder überarbeitet wird und jetzt mit der ICD-10 in der 10. Version vorliegt (Dilling, Mombour u. Schmidt 1993). In der ICD-10 wird auf den problematischen Begriff der psychischen »Krankheit« verzichtet und stattdessen von »Störung« gesprochen. Damit meint man einen

»klinisch erkennbaren Komplex von Symptomen oder Verhaltensauffälligkeiten […], der […] mit Belastung und mit Beeinträchtigung von Funktionen verbunden«

ist (a. a. O., S. 23). Affektive Störungen werden unter der Diagnosekategorie F3 eingruppiert.

Damit wird in der Psychiatrie der Beobachtungsrahmen auf das Individuum begrenzt und eine Norm von Verhalten und psychischen und biologischen Funktionen postuliert; Abweichungen von dieser Norm begründen dann die psychiatrische Diagnose. In den Begriffen »Krankheit« oder »Störung« sind die Beschreibung von Phänomenen (den geäußerten Klagen und dem gezeigten Antriebsmangel, also den Symptomen) und die Erklärung für die Entstehung dieser Symptome (die angenommene Funktionsstörung) vermischt. Die Erklärungen auch für soziale Phänomene werden im psychischen und biologischen System gesucht (vgl. Lieb 2014; Simon 1995).

1.2  Affektive Störungen in der ICD-10

Das Kapitel F3 der ICD-10 beinhaltet die affektiven Störungen. Hauptsymptome dieser Störungen sind Veränderungen der Stimmung oder der Affektivität, meist zur Depression hin, mit oder ohne begleitende Angst, oder hin zu einer gehobenen Stimmung. Die meisten dieser Störungen tendieren zu wiederholtem Auftreten. Der Beginn der einzelnen Episoden ist oft mit belastenden Ereignissen oder Situationen in Zusammenhang zu bringen.

Die affektiven Störungen werden unterteilt in F30 manische Episode, F31 bipolare affektive Störung, F32 depressive Episode, F33 rezidivierende depressive Störungen, F34 anhaltende affektive Störungen (z. B. Dysthymia, Zyklothymia) und in die Ausweichkategorien F38 sonstige affektive Störungen und F39 nicht näher bezeichnete affektive Störung. In dem vorliegenden Buch wird die systemische Therapie der bipolaren affektiven Störung mit manischen und depressiven Episoden behandelt. Die beschriebenen Muster und Therapiemethoden sind im Wesentlichen auch auf die leichtere Variation der Störung übertragbar, die als Zyklothymia klassifiziert wird.

1.3  Bipolare Störung in der ICD-10

Manische Episode in der ICD-10

Bei der manischen Episode werden drei Schweregrade unterschieden. Die gemeinsamen Charakteristika der Störung sind gehobene Stimmung und Steigerung in Ausmaß und Geschwindigkeit der körperlichen und psychischen Aktivität.

Die Hypomanie ist eine leichtere Ausprägung der Manie. Es findet sich eine wenigstens einige Tage anhaltende leicht gehobene Stimmung, gesteigerter Antrieb und Aktivität und ein auffallendes Gefühl von Wohlbefinden und körperlicher und seelischer Leistungsfähigkeit. Häufig sind eine gesteigerte Geselligkeit, Gesprächigkeit, übermäßige Vertraulichkeit, gesteigerte Libido und vermindertes Schlafbedürfnis vorhanden, alternativ Reizbarkeit, Selbstüberschätzung und flegelhaftes Verhalten. Konzentration und Aufmerksamkeit und die Fähigkeit, sich der Arbeit zu widmen, sich zu entspannen oder zu erholen, können beeinträchtigt sein.

Bei der Manie ohne psychotische Symptome ist die Stimmung situationsinadäquat gehoben und kann zwischen sorgloser Heiterkeit und fast unkontrollierbarer Erregung schwanken. Die gehobene Stimmung ist mit vermehrtem Antrieb, Überaktivität, Rededrang und vermindertem Schlafbedürfnis verbunden. Soziale Hemmungen gehen verloren (was zum Beispiel zu ungehemmten sexuellen Handlungen führen kann, die später in der depressiven Episode schambesetzt erlebt werden). Die Aufmerksamkeit kann nicht mehr aufrechterhalten werden, und es kommt zu starker Ablenkbarkeit. Die Selbsteinschätzung ist überhöht, Größenideen oder maßloser Optimismus werden geäußert. Farben können als besonders schön und lebhaft wahrgenommen werden, und es können eine Beschäftigung mit feinen Einzelheiten von Oberflächenstrukturen oder Geweben wie auch eine subjektiv besonders laute Wahrnehmung von akustischen Reizen vorliegen. Die betroffene Person kann überspannte und undurchführbare Projekte beginnen, leichtsinnig Geld ausgeben oder bei unpassender Gelegenheit aggressiv, verliebt oder scherzhaft werden. Manchmal ist die Stimmung eher gereizt und misstrauisch als gehoben. Die Episode dauert wenigstens eine Woche und unterbricht die berufliche und soziale Funktionsfähigkeit.

Die Manie mit psychotischen Symptomen entspricht der schwersten Form einer Manie. Selbstüberschätzung und Größenideen sind hier wahnhaft übersteigert. Aus Reizbarkeit und Misstrauen kann sich ein Verfolgungswahn entwickeln. In schwereren Fällen können Größenideen oder religiöse Wahnvorstellungen, die die eigene Identität oder Rolle betreffen, im Vordergrund stehen. Ideenflucht2 und Rededrang können dazu führen, dass der Betroffene nicht mehr verstanden wird. Körperliche Aktivität und Erregung können in Aggression oder Gewalttätigkeit münden. Eine Vernachlässigung der Nahrungsaufnahme und der persönlichen Hygiene kann zu einem gefährlichen Flüssigkeitsmangel des Körpers und Verwahrlosung führen. Man kann die Wahngedanken und Halluzinationen als synthym (stimmungskongruent, der Stimmungslage entsprechend) oder parathym (stimmungsinkongruent, nicht zur Stimmungslage passend) einteilen.

Depressive Episode in der ICD-10

Nach der ICD-10 liegt eine depressive Episode vor, wenn eine Person unter gedrückter Stimmung, Interessenverlust, Freudlosigkeit und einer Verminderung des Antriebs leidet. Die Verminderung der Energie führt zu erhöhter Ermüdbarkeit und Aktivitätseinschränkung. Deutliche Müdigkeit tritt oft nach nur kleinen Anstrengungen auf.

Andere häufige Symptome sind:

Verminderte Konzentration und Aufmerksamkeit

Vermindertes Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen

Schuldgefühle und Gefühle von Wertlosigkeit

Negative und pessimistische Zukunftsperspektiven

Suizidgedanken, Selbstverletzung oder Suizidhandlungen

Schlafstörungen

Verminderter Appetit

Gewöhnlich wird eine Dauer der Symptome von mindestens zwei Wochen verlangt; kürzere Zeiträume können berücksichtigt werden, wenn die Symptome ungewöhnlich schwer oder schnell aufgetreten sind.

Zusätzlich kann ein somatisches Syndrom vorliegen mit folgenden Merkmalen:

Interessenverlust oder Verlust der Freude an normalerweise angenehmen Aktivitäten

Mangelnde Fähigkeit, auf eine freundliche Umgebung oder freudige Ereignisse emotional zu reagieren

Frühmorgendliches Erwachen zwei oder mehr Stunden vor der gewohnten Zeit

Morgentief

Psychomotorische Hemmung oder Agitiertheit

Deutlicher Appetitverlust

Gewichtsverlust, häufig mehr als 5 % des Körpergewichts

Deutlicher Libidoverlust

Das somatische Syndrom ist nur dann zu diagnostizieren, wenn wenigstens vier der genannten Symptome eindeutig feststellbar sind.

Wenn von den typischen Symptomen depressive Verstimmung, Verlust von Interesse oder Freude und erhöhte Ermüdbarkeit mindestens zwei vorliegen und außerdem mindestens zwei der oben genannten anderen Symptome, wird eine leichte depressive Episode diagnostiziert. Bei drei oder vier der anderen Symptome und einem besonders ausgeprägten Schweregrad ist die Diagnose einer mittelgradigen depressiven Episode zu stellen. In einer schweren depressiven Episode ohne psychotische Symptome zeigt der Patient meist erhebliche Verzweiflung und Agitiertheit oder Hemmung, außerdem Verlust des Selbstwertgefühls, Gefühle von Nutzlosigkeit oder Schuld, ein somatisches Syndrom und in schweren Fällen ein hohes Suizidrisiko; alle drei typischen und mindestens vier andere Symptome werden gefordert. Bei einer schweren depressiven Episode mit psychotischen Symptomen treten zusätzlich Wahnideen, Halluzinationen oder ein depressiver Stupor3 auf; der Wahn schließt gewöhnlich Ideen der Versündigung, der Verarmung oder einer bevorstehenden Katastrophe ein; akustische Halluzinationen bestehen gewöhnlich aus diffamierenden oder anklagenden Stimmen; Geruchshalluzinationen beziehen sich auf Fäulnis oder verwesendes Fleisch. Sonstige depressive Episoden können in die genannten Kategorien nicht sicher eingeordnet werden, z. B. Mischbilder vor allem somatischer Art.

Bipolare affektive Störung in der ICD-10

Eine bipolare affektive Störung ist durch wenigstens zwei Episoden von Manie oder Hypomanie und Depression charakterisiert. Zwischen den Episoden ist die Besserung vollständig.

Manische Episoden beginnen in der Regel abrupt und dauern zwischen zwei Wochen und vier bis fünf Monaten, im Mittel etwa vier Monate. Depressive Episoden tendieren zu längerer Dauer, im Mittel etwa sechs Monate, selten länger als ein Jahr, außer bei älteren Menschen. Episoden beider Art folgen oft einem belastenden Lebensereignis oder einem anderen psychischen Trauma. Die erste Episode kann in jedem Alter, von der Kindheit bis ins hohe Alter, auftreten. Die Häufigkeit von Episoden und das Verlaufsmuster von Remissionen und Rückfällen sind sehr variabel, wenn auch die Intervalle im Laufe der Zeit eher kürzer werden und Depressionen im höheren Lebensalter eher häufiger auftreten und länger dauern.

Bei der gemischten Episode sind depressive und manische Symptome gleichzeitig vorhanden. Zum Beispiel kann eine depressive Stimmung tage- oder wochenlang von Überaktivität und Rededrang begleitet sein oder eine manische Stimmungslage mit Größenideen von Agitiertheit, Antriebs- und Libidoverlust. Depressive, hypomanische oder manische Symptome können auch rasch von Tag zu Tag oder von Stunde zu Stunde wechseln. Eine gemischte affektive Störung soll nur dann diagnostiziert werden, wenn beide Gruppen von Symptomen während des überwiegenden Teils der gegenwärtigen Krankheitsepisode gleichermaßen im Vordergrund stehen und wenn diese Phase wenigstens zwei Wochen lang angedauert hat.

In seltenen Fällen liegen ausschließlich manische Episoden vor. Sie werden auch als bipolar klassifiziert, weil Familienanamnese, prämorbide Persönlichkeit, Krankheitsbeginn und langfristige Prognose ähnlich sind wie bei Patienten, die sowohl manische als auch depressive Episoden erleben.

Zyklothymia in der ICD-10

Die Zyklothymia ist unter anhaltende affektive Störungen eingruppiert und stellt eine leichte Form einer bipolaren affektiven Störung dar. Eine andauernde Instabilität der Stimmung mit zahlreichen Perioden leichter Depression und leicht gehobener Stimmung entwickelt sich in der Regel im frühen Erwachsenenleben und nimmt einen chronischen Verlauf, auch wenn die Stimmung gelegentlich normal und monatelang stabil sein kann. Die Stimmungsschwankungen werden im Allgemeinen von den Betroffenen ohne Bezug zu Lebensereignissen erlebt. Keine darf ausreichend schwer oder andauernd genug gewesen sein, um die Beschreibungen und Leitlinien für eine bipolare affektive Störung, das heißt für manische oder depressive Episoden, zu erfüllen.

Exkurs: DSM-5

In der ähnlichen, in Amerika favorisierten Diagnoseklassifikation DSM-5 (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) (Falkai u. Wittchen 2015) wird zwischen Bipolar-I-Störung (mit manischen Episoden) und Bipolar-II-Störung (mit hypomanischen Episoden) unterschieden.

Für die Diagnose einer Bipolar-I-Störung ist mindestens eine manische Episode Voraussetzung; hypomane oder depressive Episoden können dabei der manischen Episode vorausgegangen sein oder ihr folgen.

Für die Diagnosestellung einer Bipolar-II-Störung ist es notwendig, dass die Kriterien für eine aktuelle oder frühere hypomane Episode und die Kriterien für eine aktuelle oder frühere depressive Episode (Major Depression) erfüllt sind. Hier werden Fälle mit hypomanischen Episoden ohne ausgeprägte Manie eingeordnet.

Die Zusatzcodierung Rapid Cycling kann verwendet werden, wenn mindestens vier Episoden veränderter Stimmung in den letzten 12 Monaten vorhanden waren, welche die Kriterien für eine manische, hypomane oder depressive Episode (Major Depression) erfüllten.

1.4  Differenzialdiagnose

Die Diagnose schizoaffektive Störung sollte gestellt werden, wenn sowohl eindeutig schizophrene (wie Wahn oder Halluzinationen) als auch eindeutig affektive Symptome (manische Symptome oder depressive Symptome) gleichzeitig oder nur wenige Tage getrennt während der gleichen Krankheitsepisode vorhanden sind.

Eine Antriebssteigerung oder inadäquate Affekte können bei einer Schizophrenie auftreten. Auch depressive Symptome können in allen Stadien dieser Störung vorkommen, häufig im Vorfeld (Prodro-malstadium) oder nach Abklingen akuter schizophrener Symptome, dann als postpsychotische Depression bezeichnet.

Differenzialdiagnostisch muss bei jüngeren Patienten an ein Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Syndrom (ADHS) gedacht werden. Stimmungsschwankungen können auch bei einer Borderline-Persönlichkeitsstörung auftreten.

Beim Missbrauch psychotroper Substanzen sind depressive und bei Intoxikationszuständen mit Stimulanzien (Amphetamine, Kokain, Ecstasy) auch maniforme (einer Manie ähnliche) Symptome möglich. Auch die Einnahme verschiedener Medikamente kann zu einer Veränderung der Stimmung oder des Antriebs führen, wie z. B. bei Kortison oder Levodopa (ein Parkinson-Medikament).

Die organische affektive Störung infolge einer Schädigung des Gehirns ist durch eine Veränderung der Stimmung charakterisiert. Eine zugrunde liegende zerebrale oder andere körperliche Störung muss mittels körperlicher oder Laboruntersuchungen belegt oder aufgrund einer entsprechenden Krankengeschichte vermutet werden. Infrage kommen unter anderem viele internistische Erkrankungen, wie Infektionen, Hormonstörungen, Herz- oder Leberkrankheiten.

1.5  Epidemiologie und Verlauf

Die genaue Häufigkeit bipolarer Störungen ist schwer abzuschätzen. Gründe dafür sind eine hohe Dunkelziffer, ein unscharfer Grenzbereich und diagnostische Mischformen. Nicht selten weisen zunächst unipolar depressiv diagnostizierte Patienten im Lauf der Jahre eine hypomane oder manische Episode auf, was zu einer Änderung der Diagnose in eine bipolare Störung führt. Auch wird die Häufigkeit gemischter Episoden mit bis zu 40 % angegeben (Laux 2011b).

Nach verschiedenen Untersuchungen liegt eine Bipolar-I-Störung bei ca. 1 % der Bevölkerung vor, eine Bipolar-II-Störung bei 1,5–3 %. Für das bipolare Spektrum wird eine Lebenszeitprävalenz4 von ca. 6 % angegeben. In den letzten Jahren werden zunehmend auch leichte hypomane Zustände bei der Diagnosestellung berücksichtigt und deshalb die Häufigkeit nach oben korrigiert; dann ergibt sich eine Punktprävalenz5 des bipolaren Spektrums von 3–5 % (Laux 2011b).

Das durchschnittliche Ersterkrankungsalter liegt insgesamt bei 18–25 Jahren, bei der Bipolar-I-Störung bei 24 Jahren und bei der Bipolar-II-Störung bei 30 Jahren (Laux 2011b).

Bipolare Störungen verlaufen periodisch rezidivierend. Traumatisierungen in der Kindheit und Jugend spielen für den Verlauf eine wichtige Rolle. Bei ca. 70 % der Patienten beginnt die Störung mit einer depressiven Episode. Die Dauer der depressiven oder manischen Episoden liegt im Median bei 4–5 Monaten. Bei etwa 15–20 % der Patienten treten mindestens vier manische oder depressive Episoden in einem Jahr auf; man bezeichnet diese Verlaufsform als Rapid Cycling. Etwa 25–50 % unternehmen im Lauf ihres Lebens Suizidversuche, 15 % einen Suizid. Häufig werden bipolare Patienten vorzeitig berentet; bei einer Untersuchung war die Hälfte mit 46 Jahren in Rente (Laux 2011b).

2  Bei der Ideenflucht geht die logische Ordnung und Steuerung des Denkens durch einen Leitgedanken weitgehend verloren; stattdessen wird das Denken durch immer neue Assoziationen in immer neue Richtungen gelenkt.

3  Von einem depressiven Stupor spricht man bei einer Erstarrung oder Betäubung mit Fehlen jeder Reaktion auf Versuche der Kontaktaufnahme.

4  Lebenszeitprävalenz ist der Prozentsatz der Menschen, bei denen irgendwann im Leben die Diagnose einer Erkrankung gestellt werden kann.

5  Punktprävalenz ist der Prozentsatz der zum Untersuchungszeitpunkt als krank diagnostizierten Individuen in der Bevölkerung.