Bis ein neuer Morgen tagt... - Ursula Raddatz - E-Book

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Ursula Raddatz

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Beschreibung

Es beginnt als romantische Liebesgeschichte und endet in einem sinnlosen, blutigen Krieg. Als am 24. Juli 1844 auf dem großen Sängerfest in Schleswig zum ersten Mal das politisch brisante Lied «Schleswig-Holstein, meerumschlungen» erklingt, verliebt sich Christiane, die knapp 19-jährige, Tochter eines dänischen Beamten, behütet und verwöhnt, in den älteren Großhändler Heinrich Dahlsen aus Kappeln und bringt ihre Eltern dazu, einer Heirat mit ihm zuzustimmen. Sie ahnt nicht, dass diese Ehe für sie zur Hölle wird. Der Ehemann, fanatisch dem Deutschtum zugewandt, hat eine geheimnisvolle dunkle Seite. Die junge Frau bleibt trotz seiner Brutalität, der beiden Kinder wegen, bei ihm. Da bricht 1850 der Krieg zwischen Preußen und Dänemark aus und Heinrich Dahlsen kämpft bei Idstedt auf deutscher Seite. Er stirbt und Christiane muss um ihr Auskommen kämpfen. Gute Freunde und ein Mann, den sie liebt, stehen ihr bei, zeigen ihr, was wahre Freundschaft und Toleranz bedeuten, bis Anfang Februar 1864 der Krieg erneut ausbricht. Vor dem Hintergrund der sich ausweitenden nationalen Auseinandersetzungen in Schleswig-Holstein, die 1864 in der mörderischen Schlacht um die Düppeler Schanzen enden, zeichnet dieser Roman das typische Frauenbild jener Zeit nach, in dem die Frauen auf «Kinder, Küche und Kirche» reduziert blieben, keine eigene Meinung und kein eigenes Leben haben durften und das sich noch lange, viel zu lange hielt. Christiane sucht sich auf ihre Weise einen ungewöhnlichen Weg, einen, der mit spitzen Steinen gepflastert zu sein scheint...

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Buchbeschreibung:

Es beginnt als romantische Liebesgeschichte und endet in einem sinnlosen, blutigen Krieg. Als am 24. Juli 1844 auf dem großen Sängerfest in Schleswig zum ersten Mal das politisch brisante Lied «Schleswig-Holstein, meerumschlungen» erklingt, verliebt sich Christiane, die knapp 19-jährige, Tochter eines dänischen Beamten, behütet und verwöhnt, in den älteren Großhändler Heinrich Dahlsen aus Kappeln und bringt ihre Eltern dazu, einer Heirat mit ihm zuzustimmen. Sie ahnt nicht, dass diese Ehe für sie zur Hölle wird. Der Ehemann, fanatisch dem Deutschtum zugewandt, hat eine geheimnisvolle dunkle Seite. Die junge Frau bleibt trotz seiner Brutalität, der beiden Kinder wegen, bei ihm. Da bricht 1850 der Krieg zwischen Preußen und Dänemark aus und Heinrich Dahlsen kämpft bei Idstedt auf deutscher Seite. Er stirbt und Christiane muss um ihr Auskommen kämpfen. Gute Freunde und ein Mann, den sie liebt, stehen ihr bei, zeigen ihr, was wahre Freundschaft und Toleranz bedeuten, bis Anfang Februar 1864 der Krieg erneut ausbricht.

Vor dem Hintergrund der sich ausweitenden nationalen Auseinandersetzungen in Schleswig-Holstein, die 1864 in der mörderischen Schlacht um die Düppeler Schanzen enden, zeichnet dieser Roman das typische Frauenbild jener Zeit nach, in dem die Frauen auf «Kinder, Küche und Kirche» reduziert blieben, keine eigene Meinung und kein eigenes Leben haben durften und das sich noch lange, viel zu lange hielt. Christiane sucht sich auf ihre Weise einen ungewöhnlichen Weg, einen, der mit spitzen Steinen gepflastert zu sein scheint...

Personenregister:

fiktive Personen:

Hauptperson: Christiane Lucia Magnus – später Christiane Dahlsen, * 13.12.1825 in Schleswig,

Vater: Anders Magnus, Verwaltungsbeamter in Schleswig * 1791 in Aarhus

Mutter: Juliane Maria Witt, Apothekerstochter * 1799 in Schleswig

Schwester: Elisabeth Catharina Magnus, * 09.03.1823 in Schleswig verheiratet mit Thomas Heinrich Böhm, Advokat in Schleswig

ihr Sohn: Mattias, Anders, genannt Mads, * August 1845

ihre Tochter: Christiane, Friederike, * 20.01.1848

Ehemann von Christiane: Heinrich Dahlsen, Großhändler in Cappeln, * 26.09.1815 in Cappeln

Gemeinsame Kinder:

Sohn: Christian Friedrich, * 15.02. 1846 in Cappeln

Tochter: Julia Adelina, * 10.04. 1848 in Cappeln

Hans Peter Hansen, Prokurist des Handelshauses von Heinrich Dahlsen

Bente, Dienstmädchen aus der Nähe von Flensburg, mit Petuh-Dialekt

Lars (Lillebror), Bentes uneheliches Kind, * Maitag 1849

Berte, Köchin im Hause Dahlsen

Gesine, die als Köchin Berte ablöst

Lars Jensen, Uhrmacher aus Cappeln, Dahlsens Freund und Sangesbruder

Bernd Marxen, Saufkumpan und Soldat, unheilvolle dunkle Gestalt.

Marie und Jens, jugendliche Waisen, die Christiane bei sich aufnimmt

Reale Personen:

König Friedrich VII. von Dänemark * 06.10.1808 in Copenhagen, + 15. 11. 1863 auf Schloss Glücksburg

Friedrich Chemnitz, Advokat in Schleswig * 10.06.1815 in Barmstedt, + 15.031870 in Altona

Carl Gottlieb Bellmann, Kantor, Organist und Komponist in Schleswig * 06.09. 1772 in Muskau, Oberlausitz; + 24.12. 1861 in Schleswig

Karl Friedrich Straß, Rechtsanwalt, verfasste zahlreiche Liedertexte * 18.01.1803 in Berlin, + 30.06. 1864, in Berlin

Dr. Asmus Julius Thomsen, praktischer Arzt und District-Physicus * 19.06.1815 in Brunsholm, Esgrus + 03.02.1896 in Kappeln

Otto Köhnke, Tierarzt, Chemiker, Landhändler * 06.05.1815 in Copenhagen, + 10.05.1894 in Mehlby

Anna Köhnke, Fotografin, Ottos Ehefrau * 1825, + 1891, wahrscheinlich in Cappeln

Hugo Emil von Buchwaldt, Hardesvogt, Fleckensvorsteher und Amtsrichter in Cappeln, * 29.11.1810 bei Oldesloe, +17.03.1880 in Cappeln

Hans Gardthausen, Zollverwalter in Cappeln, * 22.10.1776 in Jevenstedt, + 04.11. 1845 in Cappeln

Carl Eduard Claussen, Rechtsanwalt und Fabrikbesitzer in Cappeln * 26.07.1819 in Gettorf, + 03.07.1905 in Cappeln

Claus Jürgensen, Leiter der Landwirtschaftsschule Oersberg * 5.5.1803 in Havetoftloit, + 11.1. 1851

Asmus Petersen und Ernst Kirchner, Nachfolger von Claus Jürgensen

Lebrecht Lange, Unteroffizier des 7. Brandenburg. Infanterie-Regimentes * 11.11.1843 in Hamburg, + 02.02.1864 gefallen im Gefecht bei Missunde Sein Grab befindet sich neben der St. Andreas-Kirche in Brodersby/ Schlei

«Schleswig-Holstein, meerumschlungen

deutscher Sitte hohe Wacht!

Wahre treu, was schwer errungen,

bis ein schön’rer Morgen tagt!

Schleswig-Holstein, stammverwandt,

wanke nicht, mein Vaterland!

Schleswig-Holstein, stammverwandt,

wanke nicht, mein Vaterland!»

«Schleswig-Holstein meerumschlungen (oder das «Schleswig-Holstein-Lied»; der kaum bekannte Titel lautet eigentlich «Wanke nicht, mein Vaterland») ist die Hymne Schleswig-Holsteins. Sie wurde 1844 beim Schleswiger Sängerfest vorgestellt. Die Melodie stammt von Carl Gottlieb Bellmann (1772–1862), dem Kantor des St.-Johannis-Klosters vor Schleswig. Ein ursprünglich vom Berliner Rechtsanwalt Karl Friedrich Straß (1803–1864) geschriebener Text wurde kurz vor dem Fest von dem Schleswiger Advokaten Matthäus Friedrich Chemnitz (1815–1870) fast vollkommen neu geschrieben, um der damaligen Stimmung gerecht zu werden. In dem Lied wird der Wunsch nach einem geeinten, unabhängigen und einem deutschen Schleswig-Holstein besungen.»

(Beide Texte, mit allen Strophen, finden Interessierte am Ende des Buches)

Inhaltsverzeichnis

Nach dem Sängerfest in Schleswig Am 24. Juli 1844

1844 – Die Folgen des Sängerfestes

1845 – Hochzeit und ein neues Leben

1847 – Arzt und Aberglauben...

1848 – Ein Schicksalsjahr

1849 – Die Ruhe vor dem Sturm

1850 - Ein Hoffnungsschimmer?

1850 - Der dunkle Sommer

1850 - Neue Schwierigkeiten

1851 – Zeit der Veränderung

1852 - Ein neues Leben

1853 – Familienleben

1854 – Überraschungen und Eitelkeiten

1855 bis 1856 - Ungewissheiten lösen sich auf

1857 bis 1860 - Einmal König sein

1861 bis 1862 – Gut gebrüllt, Löwe?

1863 – Der Besuch des Königs

Der 2. Februar 1864 bei Missunde

Der 4. Februar 1864

Was es noch zu sagen gäbe...

Unser heutiges «Schleswig-Holstein-Lied»

An Schleswig-Holstein

Schnüüsch

Nach dem Sängerfest in Schleswig Am 24. Juli 1844

«...bis ein schönrer Morgen tagt, Schleswig-Holstein, stammverwandt, wanke nicht, mein Vaterland...» Christiane Magnus ertappte sich dabei, wie sie immer wieder die wenigen Zeilen aus diesem Lied vor sich hin sang, das gestern zum allerersten Mal erklungen war. Aus dem Mund des Mannes, den sie doch erst an diesem besonderen Tag kennengelernt hatte, ertönte die zündende Melodie wie eine Fanfare, die Christiane einen Blick auf ihre neue, rosige Zukunft werfen ließ.

«Nein!», unterbrach sich das junge Mädchen selbst, «Es sollte heißen «bis ein neuer Morgen tagt», denn wie könnte jemals wieder ein Morgen so schön sein, wie der gestrige. Es war doch der Tag, an dem ich der Liebe meines Lebens begegnet bin und seitdem weiß ich, dass wir für immer zusammen gehören, er und ich, komme, was da wolle!»

Nur mühsam lösten sich Christianes meerblaue Augen von der immer noch festlich geschmückten Straße, trafen auf ihr Spiegelbild, das sich in den blanken Fensterscheiben abzeichnete. Bewundernd drehte sie sich ihrem gläsernen Abbild zu, ließ ihren Blick über die grazile Gestalt im duftigen Nachtgewand gleiten, strich sich ein paar widerspenstige Locken des kupferroten Haares aus dem herzförmigen Gesicht mit der sahneweißen Haut und warf sich selbst mit gespitzten rosenroten Lippen einen Kuss zu. Seufzend wandte sie sich um.

Zu gern hätte sie den vergangenen Tag in Gedanken Revue passieren lassen, ein weiteres Mal diesen unvergesslichen Augenblick erlebt, in dem sie den Mann erblickte, der ihr seitdem nicht mehr aus dem Sinn wollte. So müde Christiane auch war, hatte sie doch vor Aufregung über das große Fest in der Nacht davor kaum geschlafen, so überdreht fühlte sie sich gleichzeitig. Dieses glanzvolle Sängerfest, das Schleswig, ihre Heimatstadt, seit vielen Monaten nicht zur Ruhe kommen ließ, hatte all die großen Erwartungen nicht nur erfüllt, sondern sogar übertroffen.

Der 24. Juli des Jahres 1844 kündigte sich mit einem flammendroten Sonnenaufgang an, der die geschmückten Häuser aus der Dunkelheit der Nacht ins Licht eines neu erwachten Morgens begleitete. Überall wehten Fahnen in der sanften Morgenbrise, Fahnen, die in neuen unvertrauten Farben erstrahlten. Hier leuchtete das Symbol des Deutschen Bundes, das Schwarz-Rot-Gold, dort glänzte die Trikolore der Schleswiger Liedertafel, in der sich das schleswigsche Blau mit dem Rot-Weiß der Holsteiner verband, mit goldenen Litzen verziert. Deutlich zeigte sich daran die Zerrissenheit der Gesinnungen. An diesem Tag würde sich alle Zwietracht unter der Herrschaft der Musik und des Gesanges friedlich vereinen, so hofften die Veranstalter, allen voran der im Jahre 1839 gegründete Schleswiger Gesangverein. Christiane erinnerte sich daran, dass seit Januar die Planung auf Hochtouren lief. In einer politisch angespannten Atmosphäre, immer wieder angeheizt von den neuesten Nachrichten der im Juli tagenden Ständeversammlung, hatten die Schleswiger Bürger es nicht leicht, dieses Sängerfest zu einem unvergesslichen Erlebnis zu machen. Die heftig umstrittenen Anträge auf die Gewährung einer repräsentativen Verfassung für die beiden Herzogtümer Schleswig und Holstein beunruhigten nicht nur die eingeladenen Gesangsvereine und Liedertafeln. Vor ein paar Tagen erst hatte eine Abordnung den dänischen König Christian VIII. um einen stärkeren Schutz der dänischen Sprache gebeten. Der reagierte sehr verärgert und forderte die patriotisch gesinnten Männer auf, sie mögen doch versöhnend zwischen den streitenden Parteien vermitteln. Auf einmal wurde deutlich, dass dieses Fest, das in Schleswig ausgerichtet wurde, nicht mehr nur der Musik diente, sondern eine hohe politische Bedeutung erhielt.

So jedenfalls hatte es Christianes Vater, ein dänischer Verwaltungsbeamter, seiner Familie zu erklären versucht. Leider stieß er bei seiner Frau und den beiden Töchtern auf taube Ohren, zu sehr waren die Damen mit ihrer Toilette beschäftigt. Kein Kleid schien festlich genug, keine Frisur zu aufwändig, um sich den vielen Gästen, die in Schleswig erwartet wurden, auf die rechte Weise zu präsentieren.

Der große Festtag begann um fünf Uhr in der Frühe mit siebenundzwanzig Kanonenschüssen, denn siebenundzwanzig Liedertafeln, wie sich heutzutage die Gesangsvereine nannten, wurden zum Sängerfest erwartet und der gewaltige Donner der Kanonen riss Schleswigs Einwohner und die vielen, schon vor Tagen angereisten Besucher aus dem Schlaf. Von mitreißender Blasmusik begleitet, marschierten die Sänger durch die Straßen, über denen bunte Blumengirlanden hingen und deren stattliche Häuser, fantasievoll geschmückt, die Feiernden grüßten. Christiane kicherte, als sie daran dachte, wie nervös ihre Mutter sich fragte, ob den Leuten ihr kunstvolles, mannshohes Notenblatt aus Rosen, das vor dem Haus aufgebaut war, auch gefallen würde. Mit zittrigen Händen band Juliane Magnus ihren Töchtern die seidene Schleife unter dem Kinn, die das Schutenhütchen auf dem Kopf halten sollte.

«Nur nicht zu spät kommen», flüsterte die Mutter ständig vor sich hin und trieb die Mädchen an, die sich noch zu gern etwas mehr umgeschaut hätten. Sie schafften es mit Müh und Not zum Dom, wo um neun Uhr die geistlichen Lieder vorgetragen werden sollten. Auf eine Kutsche hatten die drei Frauen verzichten müssen. Damit gäbe es kaum ein Durchkommen, meinte der Vater, der sich schon beim ersten Kanonendonner mit seinen Sangesbrüdern auf den Weg gemacht hatte. Der weit über die Grenzen des Landes hinaus bekannte Musikdirektor und Kantor Carl Gottlieb Bellmann leitete das geistliche Konzert im Dom zu Schleswig. Gewiss ein hehrer Moment, doch die beiden Mädchen sehnten ein baldiges Ende der frommen Gesänge herbei. Zum guten Schluss füllte das feierliche «Hallelujah» von Georg Friedrich Händel den gewaltigen Kirchenraum mit jubilierendem Lobgesang, der mit einem, von Bellmann selbst komponierten «Amen» endete. Nicht nur Anders Magnus Töchter konnten es kaum erwarten, endlich dem Festumzug zu folgen, der vom großen Markt zur Schützenkoppel führte, die einzelnen Liedertafeln in alphabetischer Reihenfolge geordnet. Die schier unübersehbare Menge der begeisterten Zuhörer, die hinterher drängten, wollte ebenfalls zum Höhepunkt des Sängerfestes auf die Schützenkoppel.

Dort, um zwei Uhr am Nachmittag eröffnete man endlich den weltlichen Teil der Konzerte. Die Mutter schaute sehnsüchtig zum Getränkezelt und schon eilte ein Diener mit erfrischenden Getränken herbei, vom fürsorglichen Vater gesandt, der selbst auf seinem Platz bei den Sängern auszuharren hatte. Köstlich kühle Zitronenlimonade stärkte die Damen für das Kommende. Aber mit dem, was dann geschah, hatten sie nicht gerechnet.

Niemand konnte voraussehen, dass sich ein neuer, ein nicht mehr aufzuhaltender Gedanke seinen Weg in die Welt bahnen wollte. Als Nächstes stand ein weithin bekanntes Lied auf dem Programm und viele der Zuhörer stimmten in den patriotischen Text mit ein: «Was ist des Deutschen Vaterland?» Und als es in der letzten Zeile hieß: «Das ganze Deutschland soll es sein!», schien die Stimmung der Sänger und Zuhörer auf dem Höhepunkt. Christiane sah ihre Schwester Elisabeth an, sie beide hatten nicht mitgesungen, denn sie fühlten sich durch den Vater eher dem dänischen Staat verbunden. Sie wussten, dass da noch etwas Besonderes folgen würde, so viel hatte der Vater am gestrigen Abend schon angedeutet. Auf der Bühne stellten sich nun, als letzte der teilnehmenden Liedertafeln, die sechsundfünfzig Sänger des Schleswiger Gesangvereins auf. Sie traten nicht nur an, ihr Können unter Beweis zu stellen, sondern vor allem, ihr provokantes neues Lied über Schleswig-Holstein aus der Taufe zu heben.

Atemlose Stille herrschte, als der Chor die neue Weise anstimmte:

«Schleswig-Holstein meerumschlungen, Deutscher Sitte hohe Wacht!

Wahre treu, was schwer errungen, bis ein schönrer Morgen tagt!

Schleswig-Holstein, stammverwandt, wanke nicht, mein Vaterland!»

Schon mittendrin brach lauter Jubel aus! Am Ende der sieben Strophen forderten tausend Stimmen ein «da capo» und fielen sogleich mit ein, als man das Lied wiederholte: «Bis ein schönrer Morgen tagt...»

Christiane, die ebenfalls leise mitsang, drehte sich überrascht um, als hinter ihr mit strahlendem Tenor eine geschulte Männerstimme in das Lied einfiel. Sie sah in zwei dunkelblaue Augen, in ein glattrasiertes, nicht mehr ganz junges Männergesicht, von strohblondem Haar umrahmt. Er lächelte sie an, sie wandte sich verlegen ab. Es gehörte sich nicht für ein junges Mädchen, einem fremdem Mann so direkt ins Gesicht zu schauen. Verstohlen drehte sie sich ein wenig seitwärts und blickte ihn aus den Augenwinkeln heraus an. Seine knapp bemessene, nur angedeutete Verbeugung zeigte ihr, dass er ihren Blick sehr wohl bemerkt hatte. Christiane wankte zwischen Neugier und dem Bestreben, nicht aufzufallen, da bescherte ihr ein glücklicher Zufall die Chance, dem Unbekannten ein wenig näher zu kommen, ohne sich zu kompromittieren.

In dem Gedränge auf der Festwiese fiel eine Frau unmittelbar vor ihnen in Ohnmacht. Christianes Mutter und die ältere Schwester Elisabeth kümmerten sich sofort um die reglos am Boden Liegende, hielten ihr ein Riechfläschchen unter die bleiche Nase und halfen ihr wieder auf die Beine. Als Madame Magnus und Elisabeth die Unbekannte in das nächstgelegene Zelt begleiteten, nutzte Christiane die Chance und blieb zurück. Sie drehte sich ein wenig um und deutete auf diese Weise ihre Bereitschaft an, sich ansprechen zu lassen.

Ein gewagtes Unterfangen, das der Fremde sofort zu nutzen wusste. Er zog galant seinen Zylinder, verbeugte sich kurz und stellte sich dann vor.

«Gestatten, mein Fräulein, Heinrich Dahlsen mein Name, hier angetreten mit dem Quartettverein, der Liedertafel aus Cappeln. Und mit wem habe ich das Vergnügen?»

«Christiane Magnus, mein Herr, hier in Schleswig zu Hause», flüsterte das junge Mädchen und errötete sanft. Mit Kennerblick ließ Dahlsen seine Augen über Christiane wandern, deren glänzende Locken, rot wie frisch poliertes Kupfer, ihm als Erstes aufgefallen waren. Ihr keckes Lächeln, ihr rosenroter Mund, süß wie eine Herzkirsche, ihre soeben erst erwachende Weiblichkeit und die schlanke Figur, mit den richtigen Rundungen an den wichtigsten Stellen, machten das Mädchen für ihn äußerst begehrenswert. Er, mit seinen knapp dreißig Jahren, kein junger Mann mehr, war schon länger auf der Suche nach einer passenden Braut. Diese, die hier so hold errötend vor ihm stand, könnte die Richtige sein. Sie wäre möglicherweise die Ehefrau, die er für seine Geschäfte und für eine positive Reputation dringend benötigte. Mit ihr an der Seite könnte er potentielle Kunden von seiner Redlichkeit besser überzeugen. Behutsam, um das wohlerzogene Mädchen nicht zu verschrecken, begann er eine Unterhaltung, arglos antwortete Christiane ihm. So erfuhr er schnell, dass sie die jüngere Tochter eines in Schleswig ansässigen dänischen Staatsbeamten wäre, ihre Mutter, eine Apothekerstochter, sei in dieser Stadt geboren. Die Eltern hätten noch eine ältere Tochter namens Elisabeth, bereits verlobt, die noch in diesem Jahr heiraten würde. Heinrich Dahlsen gab dem Mädchen seinen Stand und Beruf bekannt, als ob er nichts zu verbergen habe. Galant verbeugte er sich ein weiteres Mal vor ihr.

«Verehrtes gnädiges Fräulein, meinen besten Dank für die erschöpfende Auskunft, die ich nun meinerseits ergänzen möchte, mit der Aufklärung über mich. Wie ich Ihnen bereits mitteilte, lebe ich in Cappeln, allein, seit meine Eltern vor Jahren verstarben. Dort bin ich nicht nur im Gesangsverein engagiert, sondern führe ein Handelsgeschäft, mit Waren aus aller Herren Länder. Das soll heißen, dass ich wohlsituiert bin und, ich bitte Sie, mich jetzt nicht falsch zu verstehen, auf der Suche nach einer passenden Gattin, die mein einsames Leben mit ihrer Anwesenheit verschönt. Nein, bitte unterbrechen Sie mich nicht, sonst verliere ich den Mut, Ihnen in der Kürze dieser uns gewährten Zeit, mein Herz und mein Leben zu Füßen zu legen. Ja, ich weiß, es ist ungehörig, was ich hier gerade mache, aber glauben Sie nicht auch, dass unsere unverhoffte Begegnung ein Wink des Schicksals ist? Darf ich in naher Zukunft Ihre Eltern aufsuchen und um deren Erlaubnis bitten, um Sie zu werben? Bitte, sagen Sie ja!»

Atemlos vor Überraschung hatte Christiane den Ausführungen des Herrn Dahlsen gelauscht. Zweimal setzte sie zu einer Entgegnung an, wollte sagen, dass eine Brautwerbung dieser viel zu schnellen Art nicht in ihrem Sinne wäre, doch der beinahe hypnotische Blick des attraktiven Mannes vor ihr, ließ sie stumm bleiben. Es blieb ihr nur noch, schnell zu nicken und sich mit einem zustimmenden Lächeln umzuwenden, denn Mutter und Schwester traten soeben aus dem Zelt und näherten sich ihr wieder.

«Ah, da bist du ja, Christiane», seufzte die Mutter erleichtert, «wir hatten uns schon gefragt, wo du wohl bliebest!»

«Mutter, entschuldigen Sie bitte, Aber Sie eilten so rasch davon, dass ich nicht sehen konnte, wohin Sie entschwunden waren. Und so dachte ich, dass es das Beste sei, hier an dieser Stelle, auf Sie und Elisabeth zu warten.»

Die Mutter gab sich mit der Antwort ihrer Tochter zufrieden. Aber Heinrich Dahlsen dachte bei sich, dass die kleine Christiane recht geschickt darin zu sein schien, die Wahrheit zu verschleiern. Es kam zu keiner Erläuterung mehr, denn Anders Magnus, der die Pflichten als Sänger hinter sich gebracht hatte, kam auf der Suche nach der Familie heran und entführte seine drei Damen in das große Festzelt, wo ein riesiges Büffet aufgebaut war, um den Appetit der vielen hungrigen Eingeladenen zu stillen. Im dort herrschenden Gedränge verlor Dahlsen das Mädchen aus den Augen und fand es an diesem Abend auch nicht wieder. Christiane aber, die jedes Wort dieses Mannes im Gedächtnis behielt, nahm von den folgenden Festlichkeiten kaum noch etwas wahr. Sie lauschte den in ihr immer wieder erklingenden Zeilen des neuen Schleswig-Holstein-Liedes, von der betörenden Stimme Heinrich Dahlsens ihr direkt ins Herz gesungen:

...bis ein schönrer Morgen tagt... Und sie flüsterte: «Wie könnte je ein Morgen schöner sein als der heutige, dieser Morgen, an dem mir die Liebe meines Lebens begegnete...»

1844 – Die Folgen des Sängerfestes

Elisabeth sah kopfschüttelnd ihrer jüngeren Schwester nach. Wie merkwürdig sich die Kleine seit gestern benahm. Was mochte vorgefallen sein? Christiane schien sich in anderen Sphären zu bewegen, als wäre sie nicht mehr sie selbst.

«Tinchen!», bewusst sprach Elisabeth die Schwester mit dem Kosenamen ihrer Kindheit an, «Magst du mir nicht erzählen, warum du dich so sonderbar aufführst? Seit dem Sängerfest gestern bist du wie verwandelt. Ist dir dort etwa ein Traumprinz begegnet?»

«Ein Traumprinz?», Christiane erschrak. Was wusste, was ahnte die große Schwester? Konnte man ihr die Liebe schon ansehen? Was sollte sie antworten? Vielleicht wäre es am besten, Elisabeth die ganze Wahrheit unter dem Siegel der Verschwiegenheit anzuvertrauen. Forschend schaute sie ihr ins Gesicht, das dem ihrer Mutter glich, mit den gleichen großen, kornblumenblauen Augen, den roten Apfelbäckchen und dem dichten, weizenblonden Haar. Auch die kräftigere Figur ähnelte der von Juliane Magnus. Sie selbst, Christiane, kam eher nach der dänischen Seite ihres Vaters.

«Liebe Schwester», begann sie, all ihren Mut zusammennehmend «stell dir vor, ich habe mich verliebt, gestern auf dem Fest.»

«Christiane, wie konnte das geschehen?», Elisabeth hielt entsetzt den Atem an, «wann hast du einen Mann getroffen, du warst doch mit Mutter und mir dort und überhaupt, woher willst du wissen, was Liebe ist? Dafür bist du mit deinen noch nicht einmal neunzehn Jahren viel zu jung!»

Mit leuchtenden Augen berichtete Christiane von dem Moment, in dem der Cappelner Sänger es gewagt hatte, sie anzusprechen.

«Stell dir vor», geriet sie ins Schwärmen, «er hat einen eigenen Handel und ist auf der Suche nach einer Frau. Bestimmt ist er furchtbar reich und kann seiner Ehefrau die Welt zu Füßen legen. Und doch hat er mich, Christiane Magnus, vor allen anderen auserwählt!»

Elisabeth lachte, sie glaubte, dass die kleine Schwester gewaltig übertrieb und sich diese Begegnung nur einbildete. Doch das Mädchen schwärmte weiter.

«Lach du nur, aber es ist wahr. Er hat mir erklärt, dass er einer der 25 Sänger der Cappelner Liedertafel von 1842 ist. Er nannte auch seinen Namen, Heinrich Dahlsen, diesen Namen, den ich nie, nie wieder vergessen werde. Wie er mich dann mit seinen blauen Augen ansah, das strohblonde Haar leicht zerzaust vom aufkommenden Wind, in feines Tuch von erlesener Eleganz gekleidet und mit einem freundlichen Charakter ausgestattet, da wusste ich, das dieser oder keiner mein Ehegatte werden sollte. Jedes Wort aus seinem Mund hat sich mir unauslöschlich ins Gedächtnis gebrannt. Artige Komplimente über mein adrettes Äußeres kamen ihm gewandt über die Lippen und ich konnte so angenehm mit ihm parlieren, dass ich am liebsten gar nicht mehr damit aufgehört hätte. Weil du und Mutter dann aber aus dem Festzelt zurückkehrtet, versprach er mir nur noch rasch, dass er wieder nach Schleswig kommen wolle und fragte, ob er dann bei meinen Eltern vorstellig werden dürfe. Oh, liebste Schwester, es scheint ihm ernst zu sein und ich glaube fest daran, dass der Herr Dahlsen zu gegebener Zeit um meine Hand anhalten wird.»

Atemlos von der langen Rede und vom großen Glück, das ihr aus den Augen strahlte, hielt Christiane inne. Elisabeth war zutiefst entsetzt. Wie konnte dieser Mann, wenn es ihn denn wirklich gab, sich so dreist einem unschuldigen jungen Mädchen nähern. Das hätte sich ihr eigener Verlobter, Thomas Böhm, nie und nimmer erlaubt. Als Advokat, auch wenn er erst am Beginn seiner Laufbahn stand, wusste er sich immer und überall korrekt zu benehmen. Sie entschied, diese unglaubliche Geschichte erst einmal für sich zu behalten. Die Eltern unnötig zu beunruhigen, das stand ihr nicht zu. Am besten, sie brächte die kleine Schwester auf andere Gedanken, dann würde sie diesen ominösen Mann bald vergessen haben. Sie wusste auch schon wie.

«Liebes Schwesterlein, Mutter und ich, wir wollten heute die Schneiderin aufsuchen und uns mit ihr über mein Brautkleid beraten. Hättest du Lust, uns dorthin zu begleiten? Ich möchte, dass du meine Brautjungfer wirst und dazu benötigst du ebenfalls ein schönes neues Kleid. Was ist? Kommst du mit?»

«Oh, ja, gern!», rief Christiane eifrig, «dann entgehen wir sicher auch Papas ausschweifenden Berichten über die politischen Ereignisse des gestrigen Tages. Damit langweilt er uns doch zu gern.»

Noch während des Abendessens schwärmten Juliane Magnus und ihre beiden Töchter von den herrlichen Stoffen, Bändern und Spitzen, in denen sie am Nachmittag gewühlt hatten. Anders Magnus amüsierte sich ein wenig über den Eifer, den seine Frau an den Tag legte, um für die bevorstehende Hochzeit Elisabeths passend gekleidet zu sein. Da fiel ihm siedendheiß ein, dass sie ihn sicherlich ebenfalls in einen neuen Frack stecken wolle. Dabei hasste er nichts mehr, als die lästigen Anproben beim Schneider, der ihn mehr oder weniger diskret auf sein stetig wachsendes Embonpoint hinwies. Ganz unrecht hatte das dürre Schneiderlein nicht, das wusste Magnus genau und tätschelte liebevoll sein Bäuchlein unter dem Hausmantel. Dass seine Jugendjahre längst vorüber waren, sah er jeden Morgen, wenn er in den Spiegel schaute.

Die einstige Lockenfülle, nicht ganz so kupferrot wie die seiner jüngsten Tochter, wurde allmählich dünner und ließ Stirn und Schläfen frei. Das übrig gebliebene Haar schien sich nicht zwischen Kupfer und Silber entscheiden zu können und blieb bleigrau, von rostroten Streifen durchzogen. Die einst straffe Figur erlag dem bewegungsarmen Beamtentum und den allzu guten Speisen. Doch das gewinnende Lächeln im runden, immer noch jungenhaften Gesicht, ließ Anders Magnus Beliebtheit bei jedermann verstehen. Mit eben diesem Lächeln verließ er die traute Runde, ehe Juliane ihn auf seine Garderobe ansprechen konnte. Rasch murmelte er etwas von «Treffen der Sangesbrüder» und machte sich eilends auf den Weg. In Gedanken versunken schritt er den Lollfuß entlang, die Straße in Schleswig, an der sich viele wichtige Gebäude befanden. Für ihn gab es heute Abend nur ein Ziel, das Hotel «Stadt Hamburg» in dem sich regelmäßig ein kleinerer Kreis Gleichgesinnter traf. Anders Magnus hatte keine Angst, dass gerade heute kein Gesprächsstoff zu finden sei, allein die neue Hymne sorgte für ausreichend Brisanz.

Doch wo stand er selbst, fragte er sich? In Aarhus geboren, im Jahre 1791, hatte er sich immer dem dänischen König untertan gefühlt. In Schleswig, wohin es ihn als Verwaltungsbeamten verschlug, lernte er dann bald Juliane Maria Witt kennen, die reizende Tochter eines angesehenen Apothekers. Ihr zuliebe blieb er im Herzogtum Schleswig, das im Süden bis nach Rendsburg und Tönning reichte und im Norden bis Kolding, mit der Königsau als natürlicher Grenze. Als Däne fühlte er sich nach wie vor, sprach dänisch so gut wie deutsch und verstand auch das von der Landbevölkerung gesprochene Angeldänisch. Bis vor nicht allzu langer Zeit hatte es wegen seiner Herkunft keine Probleme gegeben, doch jetzt gab es auf einmal zwei nationale Gruppen, die Eiderdänen, die bis weit zur Eider hinunter für das Dänische waren, und die, die den Deutschen Bund bevorzugten. Würde dieser Bruch sich in Zukunft durch die Familien ziehen und sogar Eltern und Kinder entzweien? Anders Magnus war beunruhigt und hoffte, dass sich diese Unruhe wieder legte. Ohne auf den immer noch sonnenhellen Himmel zu achten, der sich an diesem Juliabend wie ein goldenes Zelt über der Schlei ausbreitete, dem langen, schmalen Meeresarm, den die Ostsee tief in die fruchtbare Landschaft Angeln hinein streckt, hatte Magnus unter all dem Grübeln bald das Hotel «Stadt Hamburg» erreicht. Die Freunde saßen bereits um den Tisch herum versammelt und diskutierten heftig.

«Na, da ist aber unsere Überraschung gelungen!», kam es von Lundt, dem prompt Feddersen ins Wort fiel:

«Das hat ins Schwarze getroffen!»

«Ein Hoch auf unseren Bruder Chemnitz!», hörte Magnus aus vier kräftigen Männerkehlen jubeln, die wohl schon reichlich angefeuchtet waren. Der junge Advokat Matthäus Friedrich Chemnitz erhob sich und nahm den lauten Beifall entgegen, errötend wie ein Mädchen. Magnus schob sich leise und unauffällig auf seinen Stammplatz zwischen den Sangesbrüdern und fiel in den Applaus ein. Da der Kantor Bellmann nicht anwesend zu sein schien, übernahm es der Älteste, in Namen des gesamten Gesangvereins, Chemnitz zu gratulieren.

«Lieber Matthäus, auch wenn du kein Apostel bist...», prompt wurde er unterbrochen, «Warum fängt unser Jacobsen nicht gleich bei Adam und Eva an?» Lautes Gelächter, doch der Ältermann sprach unbeirrt weiter, «auch wenn du kein Apostel bist, so hat dir der Herrgott doch die Gabe der Dichtung verliehen, von der du jetzt den allerbesten Gebrauch gemacht hast. Unserem Kantor und Dirigenten verdanken wir die unverwechselbare Melodie, auf und abschwellend, wie die Gewässer von Nord-und Ostsee, von denen unser geliebtes Heimatland umschlungen wird. Doch diese genialen Worte hast du in die Welt gebracht, lieber Chemnitz. Da musst du dir das dreifache Hoch schon gefallen lassen. Also, Männer, erhebt euer Glas und euch selbst und lasst unseren verehrten Dichter und Rechtsgelehrten hochleben. Hoch, Hoch, Hoch!»

Wieder musste sich der im Grunde schüchterne Jurist erheben und gute Miene zum gutgemeinten Spiel machen. Anders Magnus hörte im Hintergrund aber eine spöttische Stimme, die boshaft zischte:

«Was ist da Großes daran, wenn ein Rechtsverdreher die Worte verdreht?»

Obwohl er sich umschaute, konnte er den Urheber dieser Äußerung nicht ausmachen. Er wandte sich wieder seinem Tisch zu. Dort zerpflückte man soeben den ursprünglichen Text des Schleswig-Holstein-Liedes, das der in Berlin lebende Justizrat Dr. Karl Straß geschrieben hatte. Der aus Schleswig-Holstein stammende Mann versorgte den Schleswiger Chor öfter mit zeitgemäßeren Liedertexten, die Bellmann dann vertonte.

«Der Text von Straß war aber ein wenig zu schön, zu idyllisch, um in diese Zeit des Aufruhrs zu passen», mokierte sich einer der Sänger und auf der Stelle stimmte er den ersten Vers des Liedes an:

«Schleswig, Holstein, schöne Lande, wo mein Fuß die Welt betrat,

Oh, dass stets an eurem Strande keime wahres Glückes Saat.

Schleswig, Holstein, stammverwandt, haltet fest der Eintracht Band.»

«Da ist dein Text gleich ein anderes Kaliber, nicht wahr, lieber Chemnitz, da spricht doch wahre Heimatverbundenheit heraus», es gesellte sich ein weiterer Sangesbruder zur Runde und die anderen gaben dem Dazugekommenen recht.

«Allein schon die Tatsache stört, dass der Herr Straß unser Schleswig und Holstein nur mit einem Komma trennt und so zwei Länder daraus macht!»

«Ja, genau, heißt es denn nicht schon im Vertrag zu Ripen aus dem Jahre vierzehnhundertundirgendwas «op ewig ungedeelt»? (Auf ewig ungeteilt)

«Also Männer, der Text von unserem Chemnitz und die mitreißende Melodie unseres verehrten Bellmann, wenn das nicht das Zeug zu einer Nationalhymne hat, dann will ich.... dann will ich....»

«Na, Jessen, fällt dir nicht ein, wie du dich dann nennen solltest? Wie wäre es mit «Asinus»? Würde dir das gefallen?»

Lachend stimmten die Sangesbrüder sogleich in das bekannte Lied aus der Schulmeister-Kantate von Georg Philipp Telemann ein:

«Wer die Musik nicht liebt und ehret, wer diese Kunst nicht gerne höret,

der ist und bleibt ein Asinus, ja, ja, ein Asinus, i-a, i-a, ein Asinus!»

«Ja, ein Esel ist, der nicht versteht, woher heutzutage das Lüftchen weht!»

Anders Magnus vermochte wiederum nicht auszumachen, wer diese freche Bemerkung in den Raum geworfen hatte. Ein Mann von dunkler Gestalt und dunklem Gesicht stahl sich leise aus der Tür. Sei´s drum, dachte Magnus und begab sich auf den Nachhauseweg, wohl wissend, womit er seine drei Damen morgen beim Frühstück unterhalten könnte. Er schmunzelte und pfiff leise die lustige Melodie des Hamburger Komponisten vor sich hin. Dass hinter ihm die Sonne den Himmel in Flammen setzte, so dass es schien, als stünde Schloss Gottorf in Brand, sah Magnus nicht mehr. Den alles vernichtenden Brand des Aufruhrs und die dunklen Wolken des nahenden Konflikts konnten seine Augen nicht wahrnehmen, aber ein diffuses Gefühl drohenden Unheils wehte ihm das allzu lustige Liedchen abrupt von den Lippen.

In Cappeln saßen am selben Abend Heinrich Dahlsen und sein Freund und Sangesbruder Lars Jensen im Ratskrug, der passenderweise neben dem Rathaus und gegenüber der großen Kirche stand. Beide diskutierten ebenfalls heftig über das neue Lied, allerdings aus einer ganz anderen Warte als die Schleswiger.

«Mir hat am besten die zweite Zeile gefallen», begann Dahlsen, als endlich das Bier auf dem Tisch stand und er einen tiefen Zug aus dem Krug genommen hatte, «dieses «Deutscher Sitte hohe Wacht», meint doch offensichtlich unsere Zugehörigkeit in einen deutschen Nationalstaat. Vor allem hebt sie die Tatsache hervor, dass Schleswig-Holstein ein eigenständiges Land sein sollte und nicht mehr Dänemark zugehörig. Deutsch wollen wir sein und deutsch wollen wir denken und sprechen! Aber frei und unabhängig möchten wir auch sein!»

Lars Jensen, der weniger radikal dachte, hob seinen Bierkrug und prostete dem Freund zu. Ihm stand noch deutlich der gestrige Tag vor Augen, als beim erstmaligen Singen des neuen Liedes die Zuhörer einander in die Arme fielen und sogar gestandenen alten Männern die Tränen übers faltige Gesicht liefen.

«Mein bester Heinrich, lass es doch mal gut sein, mit dem Patriotismus. Wir können im Augenblick nichts tun, außer abzuwarten, was die Herrschaften, die auf beiden Seiten das Sagen haben, beschließen werden. Berichte mir lieber, was dir in Schleswig Außerordentliches widerfahren ist. Du strahlst so vor Glück, dass der Wirt getrost die Lampen löschen könnte und wir dennoch nicht im Dunkeln säßen. Nun?»

Heinrich Dahlsen fühlte sich ertappt, dachte er doch seit gestern an nichts anderes mehr, als an zwei meerblaue Augen, Locken wie frisch poliertes Kupfer, eine kecke Nase, von ein paar vorwitzigen Sommersprossen verziert und einen kleinen Rosenmund.

«Ach, Lars, du wirst es nicht glauben, aber ich habe mich verliebt und will das Mädchen so schnell wie möglich heiraten. Du magst einwenden, dass ich sie doch eigentlich gar nicht kenne, nicht kennengelernt haben kann, bei dieser viel zu kurzen Begegnung, aber es ist mir ernst, ernster als je zuvor in meinem Leben. Christiane, so heißt sie, soll meine Frau werden, sie und keine andere!»

Jensen, der rundliche, bedächtige Uhrmachermeister, der sich mit Inbrunst seinem Beruf widmete, ebenso wie dem Singen im Quartettverein, wiegte bedenklich den dunklen Lockenkopf und zupfte an seinem dichten Schnauzbart.

«Oh, Heinrich, Heinrich, überstürze nur nichts. So mancher hat in dem ersten Wahn der Verliebtheit eine Frau an sich gebunden, die sich nach der Hochzeit als eine wahre Xanthippe entpuppte und ihm das Leben zur Hölle machte. Nimm dir genügend Zeit und lerne das Mädchen erst einmal gründlich kennen, bevor du dich in eine Ehe mit ihr stürzt. Tu mir und vor allem dir selbst diesen Gefallen.»

Ein paar geleerte Bierkrüge später sprach Dahlsen davon, dass er zunächst beim Vater des jungen Mädchens vorsprechen wolle und ihn um die Erlaubnis bitten, seiner Tochter den Hof machen zu dürfen.

«Aber, das ist nicht so einfach», meinte Dahlsen, «weil ich doch gar nicht weiß, wo meine Liebste wohnt! Wenn ihr Vater, der doch ein Schleswiger Sänger ist, sich dem Aufruf gebeugt hätte, der für die Beherbergung der auswärtigen Sangesbrüder warb, wäre mir vielleicht die Gunst zuteil geworden, mit ihr unter einem Dach zu wohnen und wenn es auch nur für eine Nacht gewesen wäre. Welch ein wunderbarer Gedanke... Christiane und ich...!»

Jensen, der sich beim Trinken zurückgehalten hatte und noch einigermaßen klar denken konnte, meinte, es dürfe nicht allzu schwer sein, wenn der Vater Beamter sei. Da könne man doch nachfragen unter irgendeinem Vorwand. Ihm werde da schon etwas einfallen. Untergehakt wankten die beiden Freunde nach Hause, dem wohlverdienten Schlummer entgegen. Heinrich Dahlsen wälzte sich schlaflos im Bett, sah immer wieder Christianes süßes Gesicht vor sich und hoffte, dass er dem gestrengen Herrn Schwiegervater in spe gefallen würde. Die aufkommenden Hintergedanken, dass es eben gerade die Herkunft Christianes und ihr bezauberndes Wesen war, die ihm helfen sollte, einige Vorkommnisse seines Lebens geschickt zu verschleiern, gab er nicht einmal vor sich selbst zu.

Die, von der er gerade so intensiv träumte, schlief ebenfalls nicht. Auch sie dachte darüber nach, wie und wo sie diesem Heinrich Dahlsen wiederbegegnen könnte. Nach Cappeln fahren, das kam für sie als junges Mädchen ohne Begleitung nicht in Frage und unter welchem Vorwand sollte überhaupt eine solche Reise unternommen werden. Egal wie sehr Christiane das Problem in ihrem Kopf hin und her drehte, sie fand keine Lösung. Resigniert wandte sie sich vom Fenster ab, hatte keinen Blick für den sternenübersäten samtblauem Himmel, der sich über der friedlich daliegenden Schlei wölbte und fiel erst gegen Morgen in einen unruhigen Schlummer.

Wochen später, der August hatte in diesem Jahr viele hochsommerliche Hundstage im Gepäck, da meldete sich ein Unbekannter im Hause Magnus an. Vater Anders eilte die Treppe hinunter, um dem Fremden entgegenzutreten. Überrascht sah er einen elegant gekleideten Herrn mit stattlicher Figur vor sich, der verlegen seinen Hut in den Händen hin und her drehte.

«Womit kann ich Ihnen dienen?», überbrückte Magnus die unangenehme Stille, wobei er sich vergeblich fragte, was diesen Herrn hierher trieb.

«Bitte, verzeihen Sie mein unangemeldetes Eindringen in Ihre häuslichen Belange, werter Herr Magnus. Mein Name ist Heinrich Dahlsen und ich dürfte Ihnen wohl ein Unbekannter sein. Gemeinsam ist uns die Liebe zum Gesang und, wenn ich offen sprechen darf, die Liebe zu Ihrer Tochter Christiane!»

Dahlsen, der diesen ungewöhnlichen Schritt wagte, brach ab, wusste sich nicht weiter zu erklären. Magnus, der sich von dem Verhalten des Mannes, das jeglicher Etikette widersprach, verunsichert fühlte, bat Dahlsen rasch ins Haus.

«Werter Herr, bitte folgen Sie mir in meine Bibliothek. Ich denke, was Sie mir zu sagen haben, bespricht man besser nicht in aller Öffentlichkeit.»

Heinrich Dahlsen atmete auf, die erste Hürde schien genommen. Wenn er Christianes Vater erst seine Verhältnisse dargelegt und seine ernste Absicht ihr gegenüber bekundet hatte, dann dürfte einer baldigen Verlobung mit dem Mädchen hoffentlich nichts mehr im Wege stehen. Anders Magnus wusste nicht recht, ob er die Unverfrorenheit dieses Herrn Dahlsen bewundern und ihn erst einmal anhören sollte oder ob er ihn gleich des Hauses hätte verweisen müssen. Er seufzte, bat den Jüngeren, sich an den Tisch zu setzen, bot ihm jedoch keine Erfrischungen an, sondern forderte Dahlsen mit einer Handbewegung auf, sich zu erklären.

«Verehrter Herr Magnus», begann Heinrich Dahlsen zögerlich, «Hiermit bitte ich Sie nochmals um Nachsicht mit einem Liebenden. Seit ich mich, wenn auch nur kurz, mit Ihrer Tochter Christiane während des Sängerfestes unterhalten durfte, denke ich an nichts anderes mehr, als an sie. Nur aus diesem Grunde bin ich hier und möchte Sie bitten, mir die Erlaubnis zu erteilen, mich Ihrer Tochter nähern zu dürfen und ihr, in der Absicht sie zu ehelichen, den Hof zu machen.»

Magnus ließ sich Zeit mit seiner Antwort, wollte diesem Fremden erst ein wenig auf den Zahn fühlen. Er vertraute er seine Tochter doch nicht jedem an.

«Aha, meine Tochter hat Ihnen also den Kopf verdreht? Wie kommt es dann, dass Christiane Sie mir gegenüber bisher mit keinem Wort erwähnt hat? Kann es sein, dass Sie sich ein Entgegenkommen meiner Tochter nur einbilden? Sie ist ein wohlerzogenes junges Mädchen, das sich niemals mit einem Fremden in aller Öffentlichkeit unterhalten würde. Sie weiß genau, was sie ihrem eigenen und dem Ruf meines Hauses schuldig ist. Verzeihen Sie also, wenn ich Ihre Worte anzuzweifeln wage.»

Magnus hielt inne, wartete, wie der Mann auf diese Vorwürfe reagieren würde.

«Ich bin hier wohl derjenige, der Sie um Verzeihung bitten muss, Herr Magnus», Dahlsen versuchte seine Empörung über diese Unterstellungen im Zaum zu halten, «das Fräulein Christiane hat sich nicht das Geringste zuschulden kommen lassen. Es war eine vollkommen unverfängliche Situation, als mich inmitten zahlreicher begeisterter Zuhörer des weltlichen Konzertes auf der Schützenkoppel stand, plötzlich jemand von hinten angerempelte und ich Ihrem Fräulein Tochter dadurch um ein Haar das Sonnenschirmchen aus der Hand schlug. Selbstverständlich entschuldigte ich mich sofort bei Ihr und stellte mich vor. Ihre Tochter antwortete mir mit angemessener Zurückhaltung und unser kurzes Gespräch endete in dem Augenblick, als Ihre Frau Gemahlin und mit Ihrer älteren Tochter zurückkam. Das war alles, was zwischen mir und Christiane an jenem Tag vorgefallen ist, und ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, dass wir uns seither nicht wiedergesehen haben und auch sonst keinerlei Kontakt zueinander hatten!»

Anders Magnus ließ das Gehörte einen Moment auf sich wirken, konnte aber keinerlei Fehlverhalten seines Töchterchens erkennen und fragte Dahlsen nun konkret nach dessen Verhältnissen.

«Ein Handelsmann also», dachte er bei sich, «meine Christiane könnte es schlechter treffen. Wie gut er situiert ist und ob seine Angaben stimmen, das bringe ich leicht in Erfahrung. Vom Äußeren her macht er einen angenehmen Eindruck. Er ist elegant, aber nicht übertrieben, weiß sich auszudrücken und zu benehmen. Dazu ist er kein junger Hüpfer mehr, sondern scheint ein gestandenes Mannsbild zu sein. Außerdem wäre es nicht falsch, wenn ich meine Töchter in diesen unruhigen und ungewissen Zeiten gut verheiratet wüsste.»

Dahlsen, der wie auf glühenden Kohlen saß und sich das lange Schweigen von Christianes Vater nicht erklären konnte, atmete sichtbar auf, als Magnus ihm nun beschied, dass er über eine Werbung Dahlsens nachdenken, jedoch erst einmal mit seiner Tochter darüber sprechen möchte. Sei Christiane einer Verbindung mit Dahlsen nicht abgeneigt, würde er, Anders Magnus, demnächst nach Cappeln kommen, um sich selbst vor Ort von der wirtschaftlichen Situation des Kaufmannes zu überzeugen.

«Es interessiert mich natürlich auch, wie und wo Sie wohnen, Herr Dahlsen. Schließlich soll sich meine Tochter ja nicht verschlechtern, das verstehen Sie doch sicher!»

Damit war Heinrich Dahlsen entlassen. Auf dem Heimweg grübelte er lange darüber nach, wie eigentlich seinen Chancen bei Christiane stünden und ärgerte sich ein wenig, dass er sie nicht einmal zu Gesicht bekommen hatte. Aber aufgeben, das kam für ihn nicht in Frage, dazu war ihm die Sache zu wichtig.

Christiane, die nicht im Hause weilte, sondern mit Schwester und Mutter der Einladung von Elisabeths zukünftiger Schwiegermutter ins Cafè gefolgt war, ahnte nicht, was inzwischen geschehen war. Erst am Abend, als ihr Vater sie zu sich in seine Bibliothek bat, erfuhr sie von dem unerwarteten Besuch.

«Ach, Herr Papa, es war genauso, wie Herr Dahlsen es Ihnen berichtete», beantwortete sie die drängenden Fragen ihres Vaters, in der Hoffnung, dass ihr Verehrer nichts Kompromittierendes über sie ausgesagt habe, «nichts, was mich in Verruf bringen könnte, ist dort geschehen. Um uns herum standen so viele Leute, dass niemand es gewagt hätte, mir zu nahe zu treten. Bitte, Herr Vater, das müssen Sie mir glauben!»

«Du gibst also zu, diesen Herrn zu kennen, und du hast mir und deiner Frau Mutter nicht das Geringste darüber berichtet? Wie habe ich dieses Verhalten deinerseits zu verstehen?»

Die strenge Miene des Vaters ließ Christiane nicht im Zweifel, dass er über seine Tochter und ihr ungebührliches Verhalten nicht sonderlich erfreut war. Das junge Mädchen, dem der stattliche Kaufmann aus Cappeln nicht aus dem Kopf gehen wollte, überlegte blitzschnell, wie sie die Sache zu ihren Gunsten drehen und am Ende vielleicht sogar Dahlsens Ehefrau werden konnte.

«Liebstes Papachen», umschmeichelte sie ihn geschickt, «warum sollte ich über eine Begebenheit berichten, die mir als ein einmaliges Erlebnis schien und ich keine Hoffnung hegen konnte, diesem Herrn jemals wieder zu begegnen.»

«Und welchen Eindruck hattest du von ihm? Bitte, Christiane, sprich ganz offen mit mir, weil Dahlsen mich um die Erlaubnis bat, um dich zu werben. Du weißt, dass ich dich keinem Manne geben werde, den du nicht willst.»

Wie ungewöhnlich es war, dass ein Vater seine Tochter fragte, ob und wie ihr ein Bewerber um ihre Hand gefiele, wurde Christiane gar nicht bewusst. Für Anders Magnus mochte das Glück seiner Töchter selbstverständlich sein, für die meisten Männer dieser Zeit galt der Wunsch der Mädchen nichts. Ein Vater entschied über das Wohl und Wehe seiner Kinder nach eigenem Gutdünken. Christiane errötete ein wenig und gestand dann dem Vater, wie sehr sich dieser Heinrich Dahlsen in ihr Herz geschlichen habe, dass sie immerzu an ihn denke und sich nichts Schöneres vorstellen könne, als seine Frau zu werden.

«Nun, so sei es denn», lächelte Magnus, «aber bevor ich der Werbung des Herrn Dahlsen nachgebe, werde ich ihn in Cappeln persönlich aufsuchen und sehen, ob alles, was er mir von sich berichtete, auch der Wahrheit entspricht. Schließlich möchte ich, dass mein jüngstes Töchterlein glücklich wird, so wie es mir mit der Älteren anscheinend gelungen ist! Und nun lauf und berate dich mit Mutter und Schwester, die beide genau wissen, wie man sich im Brautstand zu benehmen hat.»

«Nichts lieber als das», dachte Christiane und fieberte jetzt schon dem Tag entgegen, da ein gewisser Heinrich Dahlsen ganz offiziell ihr Elternhaus betreten und um sie werben durfte. In den nächsten Wochen beteiligte sich Christiane um einiges enthusiastischer als vorher an den Hochzeitsvorbereitungen ihrer Schwester, dachte sie dabei doch bereits an ihre eigene Trauung. Obwohl Heinrich Dahlsen sich im Hause Magnus noch nicht wieder hatte blicken lassen, träumte das junge Mädchen davon, wie er ihr gegenübertreten, ihr tief in die Augen schauen und kostbare Geschenke aus fernen Ländern zu Füßen legen würde. Wozu hat er einen Handel mit überseeischen Gewürzen und Seide und was es an seltenen Dingen geben mag, dachte sie voller Freude.

Doch ihre Träume wurden jäh von der Wirklichkeit eingeholt, jegliche Tätigkeit für Elisabeths Hochzeit erst einmal verschoben, denn Anders Magnus kam mit einer aufregenden Neuigkeit nach Hause.

«Meine Lieben, stellt euch nur vor, man hat mich, euren Ehemann und Vater, dazu ausersehen, bei der ersten Fahrt der «Christian VIII. – Ostseebahn» von Altona nach Kiel dabei zu sein!»

Frau Juliane schien einer Ohnmacht nahe, geschwind hielt Elisabeth ihr das Riechfläschchen unter die blass gewordene Nase. Die Mutter sank auf den nächstbesten Sessel und tastete ängstlich nach der Hand ihres Ehemannes.

«Lieber Magnus, versprechen Sie mir, dass Sie auf sich achtgeben werden. Man hat gehört, dass eine solch hohe Geschwindigkeit, wie diese Eisenbahn sie an den Tag legt, zum frühzeitigen Tode der Mitfahrer führen kann. Bitte, denken Sie an Ihre Frau und die Kinder, die schutz- und mittellos zurückbleiben! Ach, mir wird schon wieder schwarz vor Augen...» Ermattet ließ Frau Magnus sich zurücksinken. Anders schmunzelte, kannte er doch das melodramatische Talent seiner Frau sehr genau. Behutsam ging er auf sie ein und nahm ihre kalte, bleiche Hand erneut in die seine.

«Meine Liebe, mach dir bitte nicht so viele Gedanken. Das Fahren mit einer Eisenbahn hat sich als völlig harmlos und ungefährlich herausgestellt. Außerdem bin ich ja nicht allein unterwegs. Der Gedanke, dass ihr drei Damen in der Zwischenzeit hier freie Bahn für den anstehenden Hochzeitsspuk habt, wird dich gleich wieder aufrichten.»

«Oh, du schlimmer Mann», Juliane lächelte schon wieder, «kannst du mich nicht ein einziges Mal ernst nehmen?»

«Doch, mein liebes Eheweib, nichts und niemanden nehme ich ernster als dich», lachte Magnus, «ich weiß doch genau, was ich an dir habe!»

Unter vielen guten Wünschen und noch mehr gutgemeinten Ratschlägen von Frau und Töchtern, brach am Morgen des 15. September, der Staatsbeamte Anders Magnus mit der Postkutsche nach Altona auf. Dort, ganz in der Nähe der großen Hansestadt Hamburg gelegen, aber zum Herzogtum Holstein gehörend, sollte die Jungfernfahrt der «Christian VIII. - Ostseebahn» beginnen. Ein wenig mulmig war Magnus doch, auch wenn er vor seinen Damen so getan hatte, als stünde er über den Dingen. Stolz mischte sich in seine Ängste, der Stolz darauf, dass er ausersehen war, später über diese Fahrt in Schloss Gottorf, dem Verwaltungssitz des Herzogtums Schleswig, zu berichten.

Von der Kutschfahrt durchgerüttelt und jeden einzelnen Knochen im Leibe verspürend, kam Magnus endlich in Altona an und begab sich sofort in ein nahegelegenes Hotel. Bei einem guten und reichlichen Abendessen erholte er sich langsam von den Strapazen der Reise. Er begab sich früh zu Bett, denn am nächsten Morgen, am 18. September 1844, dem Geburtstag des dänischen Königs Christian VIII., sollte die erste Fahrt mit drei festlich geschmückten Zügen nach Kiel schon um acht Uhr beginnen. Kein Mensch, kein Tier zog die vielen schweren Wagen, sondern ein stählernes Ungetüm, eine Maschine, die aus schwarzer Kohle weißen Dampf machte, der die großen Räder antrieb. Mochten die Bauern, die zuhauf an der neuen Trasse standen und die sich eine solche Neuheit nicht recht vorstellen konnten, auch spotten:

«Ohne Peer? Wie geit dat? (Ohne Pferde? Wie funktioniert das?)», doch die dampfenden Lokomotiven, die so viele Waggons zogen, belehrten sie schnell eines Besseren.

Die Hochrufe der Passagiere und der zahlreichen Neugierigen, die sich jubelnd und staunend an der 105 Kilometer langen Bahnstrecke versammelt hatten, machten aus der Jungfernfahrt einen Triumph der neuen Eisenbahn. Magnus, der einen Platz am Fenster ergattern konnte, sah mit Staunen die Landschaft mit atemberaubender Geschwindigkeit an sich vorüberziehen. Seit er wusste, dass er mitfahren sollte, las er alles, was es über die Eisenbahn zu lesen gab. Dabei erfuhr er, dass schon vor knapp zwanzig Jahren, in England der erste, mit Dampf betriebene Zug zwischen Stockton und Arlington verkehrte. Mit unglaublichen 24 Kilometern in der Stunde brauste Deutschlands allererste Bahn zwischen Nürnberg und Fürth im Dezember 1835 dahin. Heute, keine zehn Jahre später, fuhr auch im Herzogtum Holstein ein Zug, und er, Anders Magnus aus Aarhus, saß inmitten geladener Gäste auch darin. Wenn das kein Grund war, sich stolz zurückzulehnen.

Er hatte noch immer die Worte seiner Frau im Ohr, die ihn vor der hohen Geschwindigkeit warnte. Längst waren die mahnenden Stimmen der Ärzte verstummt, die behauptet hatten, der Mensch sei für das unerhörte Tempo von mehr als 40 Kilometern pro Stunde nicht geschaffen, er fiele ins Delirium, desgleichen auch der irrige Hinweis, ein Mensch sei nicht in der Lage, die vorbeirasenden Landschaften wahrzunehmen. Nichts, rein gar nichts davon verspürte Magnus und war versucht, sich eine seiner geliebten Zigarren anzustecken. Doch dann lachte er leise:

«Das Qualmen überlasse ich doch lieber der Lokomotive. Sie ist größer und bei ihr dient es einem guten Zweck!»

Seine Gedanken gingen zurück, ins Jahr 1831, als die Eisenbahneuphorie auch den Norden erreichte. Geplant war ursprünglich eine Bahnlinie zwischen Altona und Lübeck, doch die Stadt Kiel protestierte dagegen. Dort ging die Angst um, mit dieser Strecke gingen der eigene Hafen und der Handel zugrunde.

Lange wägte man das Für und Wider ab. Erst als König Christian VIII. zustimmte, einen Zuschuss des dänischen Gesamtstaates doch nur dann genehmigen wollte, wenn man die neue Bahnlinie nach ihm, dem König, benannte, gründete man 1842 die «Altonaer-Kieler-Eisenbahn-Gesellschaft». In nur eineinhalb Jahren lag die Trasse bereit, die erste Lokomotive passieren zu lassen. Dabei war Vieles zu beachten gewesen, vor allem die Enteignung der benötigten Ländereien kosteten Zeit und Geld. Es mussten viele Brücken und Durchlässe geschaffen werden, wahrlich kein leichtes Unterfangen. Und doch, es gelang, denn in genau diesem Augenblick saß ja er, Anders Magnus auf einer bequemen, gepolsterten Sitzbank und sah die ersten Häuser von Kiel vor sich. Er schaute auf seine Taschenuhr, auf die er besonders stolz war. Nur wenig mehr als zwei Stunden hatte der Zug von Altona bis hierher benötigt.

«Unglaublich!», murmelte Magnus vor sich hin und sah noch einmal auf seine Uhr, «Einfach unglaublich. Früher brauchte man mit Pferd und Wagen 16 Stunden für diese Strecke. Als man dann die befestigten Chausseen baute, verringerte sich die Reisedauer auf 9 Stunden. Und nun», ungläubig schüttelte er den Kopf, «nun rase ich in zweieinhalb Stunden durchs halbe Land!»

Ein wenig schwindlig wurde ihm jetzt doch, als die Züge in Kiel einfuhren. Am Bahnhof begrüßten Salutschüsse das stählerne Ungetüm. Magnus, der sich bereits erhoben hatte, sank zurück auf seinen Sitz, ihm wurde auf einmal schwarz vor Augen. Sollte die hohe Geschwindigkeit doch ihre Auswirkungen zeigen? Ängstlich griff er sich an die Brust, fühlte sein Herz aber stark und regelmäßig schlagen. Da fiel ihm ein, dass er in der Aufregung am Morgen keine ordentliche Mahlzeit zu sich genommen hatte und begründete nun sein Schwindelgefühl damit, dass er sonst gerne und reichlich zu speisen pflegte. Auf dem Bahnsteig stand der Statthalter der beiden Herzogtümer Schleswig und Holstein, Prinz Friedrich von Schleswig-Holstein-Sonderburg-Augustenburg und hielt eine festliche Rede im Auftrag seines Schwagers, des dänischen Königs. Danach taufte man die neue Eisenbahn feierlich auf den Namen «Christian VIII. – Ostseebahn».

Magnus seufzte, sein leerer Magen meldete sich vernehmlich, was zum Glück in den lauten «Hurra»-Rufen der Mitreisenden unterging. Er hoffte sehr, dass nicht noch mehr Reden gehalten würden, der unangenehme Schwindel überfiel ihn erneut. Als ob die Götter ein Einsehen mit ihm hätten, löste sich die Versammlung rasch auf, schritten die vielen Eingeladenen unter einem prächtigen Triumphbogen hindurch zu den wartenden Barkassen, die alle Gäste zur Seebadeanstalt Bellevue brachten, wo ein herrliches Festmahl auf sie wartete. Hier durfte auch Anders Magnus endlich seinen Hunger stillen.

Zur gleichen Zeit in Schleswig rief Juliane Magnus ihre Töchter zu sich und verkündete, dass es wieder einmal an der Zeit sei, Frau von Hedenau, Elisabeths Patentante zu besuchen. Die Mädchen zogen lange Gesichter, war es bei der alten Dame doch immer sterbenslangweilig, der Tee wässrig und das Gebäck staubtrocken. Zudem erwartete die Tante, dass die Mädchen stocksteif und stumm am Tisch sitzen blieben, ganz so, wie es sich in ihrer längst vergangenen Jugend gehört hatte. Christiane sah rasch aus dem Fenster. Draußen schien die Spätsommersonne noch kräftig von einem blitzblauen Himmel herab, die Schlei lag beinahe reglos darunter, wie ein schimmerndes Tuch. Nur die nimmermüden Möwen störten mit ihrem lauten Geschrei die Ruhe dieses Vormittages. Elisabeth, die sich von ihrer Patentante ein größeres Geschenk zur Hochzeit erhoffte, überlegte, womit man die alte Frau erfreuen könne.

«Ob die Tante sich über einen schönen Rosenstrauß freuen würde? Was meinen Sie, Frau Mutter?»

«Das ist eine ausgezeichnete Idee, Elisabeth. Schicke doch gleich die Magd zum Markt. Aber sie soll darauf achten, dass die Rosen frisch geschnitten sind. Und es dürfen keine roten Blumen sein, sag ihr das bitte!»

Christiane ergab sich in ihr Schicksal. Solange sie bei der alten Tante still herumsitzen musste, konnte sie ungestört von Heinrich Dahlsen träumen, von dem sie immer noch keine Nachricht hatte. Am Nachmittag fuhren die drei Damen mit der Kutsche zu der kleinen Stadtvilla, in der, die seit vielen Jahren verwitwete Elisabeth-Sophie von Hedenau residierte. Deren Hausdame, mager und zerknittert wie eh und je, öffnete ihnen mit beunruhigter Miene.

«Bitte einzutreten, gnädige Frau, die jungen Damen! Aber erschrecken Sie nicht, Frau von Hedenau ist in keiner guten Verfassung, leider schon seit Tagen!»

Im Salon, der auf den schattigen Garten hinaussah, saß die Patentante in ihrem Lehnstuhl. Bleich, abgehärmt, in einem schlichten schwarzen Kleid, schaute sie unentwegt zum Fenster hinaus. Bei Julianes Eintritt drehte sie sich nicht um, reagierte auch nicht, als Elisabeth ihr den prächtigen Rosenstrauß in die mageren Hände legen wollte. Als nähme sie nichts um sich herum noch wahr, ging ihr Blick ins Leere. Juliane und ihre Töchter sahen sich ratlos an und fragten die Hausdame, wie lange die Tante schon in diesem Zustand verweile.

«Ach, sie dauert mich ja so», jammerte die ältere Frau, die, als verarmte, weitläufige Verwandte, sich seit Jahren um Frau von Hedenau kümmerte und sich nützlich machte. Ohne diese, zugegeben undankbare Aufgabe, bliebe ihr nur eine Stelle als Kinderfrau oder einfache Dienstmagd. Was besser wäre, darüber wollte sie nicht nachdenken. Sie wusste, dass sie das Schicksal vieler verarmter Verwandter und unverheirateter nutzloser Töchter teilte.

«Seit Tagen geht das nun schon so. Ihre Tante isst kaum etwas, schläft wenig, sitzt von morgens bis abends in diesem Stuhl und starrt in den Garten», klagte die Hausdame weiter, « ob Sie, gnädige Frau Magnus, nicht einen Arzt zu Rate ziehen können? Ich weiß mir nicht mehr zu helfen!»

Juliane erschrak. Was würde ein Arzt über das Befinden der Tante sagen? Auf diese Weise konnte sie doch nicht weiterleben, auch nicht mit Hilfe der verzagten Hausdame. Darüber musste sie selbst zunächst mit Ihrem Gemahl sprechen, allein hier und jetzt eine Entscheidung zu treffen, das wagte sie nicht. Das teilte sie sogleich der Haushälterin mit, die ihr tränenfeuchtes Taschentuch in den Händen rang.

«Oh, bitte, gnädige Frau», fiel sie erneut in ihren Jammerton, «aber einen Arzt, den könnten Sie doch vielleicht doch schon zu uns schicken. Eventuell genügt ja bereits ein leichtes Stärkungsmittel, um Ihrer Tante in diesem Zustand Erleichterung zu verschaffen, bitte!»

Das versprach Juliane mit etwas schlechtem Gewissen, denn auch darüber hatte nur ihr Mann zu befinden. Rasch verabschiedeten sich die drei Frauen, froh darüber, diesem tristen Gemäuer so schnell entkommen zu sein. Das schöne Wetter lud ein, noch ein wenig an den Königswiesen zu promenieren. Als man wieder zu Hause ankam, bat Juliane ihre Töchter, gemeinsam Elisabeths Aussteuer nachzusehen, ob auch alles Nötige vorhanden sei. Doch die Braut wirkte seltsam abwesend. Auf die Frage ihrer Mutter, was mit ihr los sei, antwortete sie unter Tränen:

«Oh, Frau Mutter, ich fürchte, das meine Patentante nicht mehr ganz bei sich ist und dass ein Arzt sie womöglich in die Irrenanstalt einweisen wird. Wäre doch nur unser Herr Vater hier, er könnte solch ein Vorgehen verhindern. Die arme Tante, was mag ihr nur fehlen!»

«Liebes Kind», die Mutter legte begütigend ihren Arm um die Schultern des Mädchens, «eine Sache wie diese löst man zum Glück nicht von heute auf morgen. Du wirst sehen, dass dein Vater die Dinge in seine bewährte starke Hand nimmt, wenn er wieder zurückkommt von seinem Eisenbahnabenteuer. Außerdem kann ich dich beruhigen. Wenn deiner lieben Patentante ihr reger Geist irgendwie abhanden gekommen ist, weiß er sicher Hilfe. Vor kurzem erst hat er mir berichtet, dass er aus zuverlässiger Quelle weiß, dass im kommenden Jahr hier in Schleswig eine Fachklinik für Gemütskranke eröffnet werden soll. Und wir wissen doch gar nicht, was der Tante wirklich fehlt. Möglicherweise ist es nur eine Gemütsverstimmung, die Angst vor dem nächsten Winter vielleicht oder das nahende Alter. Wer weiß!»

Christiane, die nicht geahnt hatte, dass ihrer Schwester so viel an ihrer Patin lag, versuchte, Elisabeth auf ihre Weise abzulenken.

«Schwesterlein, magst du mir noch einmal ganz genau schildern, welche Möbel du dir für dein neues Domizil als verheiratete Frau ausgesucht hast? Ich bin ja so neugierig, wie du dich einrichten möchtest!»

Christianes Plan ging auf. Vergessen war die Patentante, vergessen auch die Sorgen um deren Gemütszustand. Voller Eifer beschrieb die Schwester ihre zukünftige Wohnung im Hause ihrer Großeltern. Julianes Vater hatte seine Apotheke, die im Erdgeschoss eines zweistöckigen Gebäudes lag, lange vor seinem Tod verpachtet, da er leider keinen Sohn hatte, der sie weiterführen konnte. Die Großmutter überließ ihrer ältesten Enkelin gern den größeren Teil der geräumigen Wohnung im ersten Stock, in der Erwartung, dass sich Elisabeth um sie kümmern würde, wenn sie gebrechlich werden sollte. Die junge Braut, die das gern versprach, erging sich überschwänglich in der Beschreibung der neuen Mahagonimöbel, die man aus einem Möbelmagazin kommen ließ.

«Ob du es glaubst oder nicht, Christiane, dort durfte ich mir das Mobiliar selbst anschauen, man hatte es schon angefertigt und es wird bald geliefert und aufgestellt. Alles ist aus feinstem polierten Mahagoni, vom Eckschrank, den Kommoden, dem großen Kleiderschrank, dem ovalen Esstisch, bis hin zu dem mit bestem Samt bezogenen Sofa und den dazu passenden Stühlen. Und weißt du was? Ich habe sogar einen richtig großen Spiegel erstanden, für unser neues Wohnzimmer. Man möchte schließlich mit der Mode gehen», setzte Elisabeth noch etwas hochnäsig hinzu.

Christiane zeigte sich entsprechend beeindruckt, nahm sich insgeheim vor, wenn sie Dahlsen heiraten sollte, sich ebenfalls so vornehm einzurichten. Die Mutter kam mit etlichen eng beschrifteten Zetteln zu den Mädchen und bestand darauf, alles, was an beweglicher Ware zur Aussteuer gehörte, genau nach den Listen zu zählen und bereitzulegen, es blieben schließlich nur noch wenige Wochen bis zur Hochzeit und die vergingen schnell. So hieß es dann nicht nur Teller, Tassen und sonstiges Geschirr zu sichten, sondern auch Spuckbecken, Messingleuchter, Rasiermesser, Behälter für Zigarren, allerlei Kupferzeug, Eiderdaunen für das Bettzeug, gewebte Ober- und Unterbetten, etliche Ellen Flachs, Leinen und sogar Seide, außerdem Kraamlaken (schlichte Leinenlaken) für die künftige Wochenstube.

Hier errötete Elisabeth auf einmal und kicherte verlegen. Frau Juliane sah hoch und musterte ihre Tochter mit seltsamem Blick. War es nicht langsam an der Zeit, das Mädchen über ihre Pflichten als Ehefrau aufzuklären? Sie genierte sich ein wenig, von körperlichen Dingen zu sprechen, das gehörte sich eigentlich nicht. Aber es schien ihr andererseits doch wichtig. Nur zu gut erinnerte sie sich an das erste Mal, als sie glaubte, sterben zu müssen, an dem, was ihr Verlobter von ihr erwartete. Nichts und niemand hatte sie auf solche Geschehnisse vorbereitet. Dass dieser entsetzliche Moment sehr schnell vorüber war und sie dann unerwarteterweise Vergnügen an der Sache fand, das würde sie vor sich selbst nicht zugeben und ihren Töchtern gegenüber erst recht nicht. Auch wenn Anders Magnus und sie zum Glück nicht einen von den Eltern ausgesuchten Partner ehelichten, sondern aus Liebe und Zuneigung heiraten durften, unvorbereitet in die Ehe und vor allem in die Hochzeitsnacht zu gehen, das wollte sie ihren eigenen Töchtern nicht zumuten. Kurz überlegte sie noch, ob sie Christiane hinausschicken oder gleich mit einweihen sollte, in die Geheimnisse des Ehelebens.

Entschlossen bat sie dann ihre beiden Mädchen, sich zu ihr auf das Sofa zu setzen. Wie sollte sie beginnen, wie das Unsagbare aussprechen, dass auf jede Frau nach der Hochzeit wartet? Juliane atmete tief ein und versuchte, ihre Scheu vor dem heiklen Thema zu überwinden.

«Liebe Töchter», begann sie, zögernd nach den richtigen Worten suchend, «es wird euch seltsam vorkommen, dass ich, als eure Mutter, mit euch über Dinge sprechen will, die eigentlich nur euch und euren Ehemann etwas angehen sollten. Doch ich finde, ihr dürft nicht unvorbereitet auf eure Rolle als Ehefrau und künftige Mutter sein. Wie ihr wisst, ist der Sinn und Zweck einer Ehe die Nachkommenschaft. Ihr als Frauen seid dazu auserkoren, Leben zu schenken, Kinder zu gebären und aufzuziehen. Dass dazu aber zwei Menschen gehören, ein Mann und eine Frau, ahnt ihr wohl auch. Wenn ihr also nach der Hochzeit das erste Mal mit eurem Ehemann allein im Schlafzimmer seid, wundert euch nicht, wenn er etwas befremdlich aussieht unter seinem Nachtgewand.»

Sie unterbrach ihre Rede, unsicher, wie sie ihren unschuldigen Mädchen etwas so Intimes wie den ehelichen Beischlaf erklären sollte. Dann gab sie sich einen Ruck, angesichts der erwartungsvoll aufgerissenen Augen von Elisabeth und Christiane. Vorsichtig nach den richtigen Worten suchend, fuhr sie fort:

«Ein Mann ist körperlich anders ausgestattet als eine Frau. Es ist nun so, dass dieses, Instrument, das ihr unter seinem Nachthemd erahnt, dazu dient, euch zu einem Kind zu verhelfen. Mithilfe dieses männlichen Organs, das er in euch einführen wird, entsteht neues Leben. Das mag zunächst unangenehm, vielleicht sogar ein wenig schmerzhaft für euch sein, aber wenn der Mann euch liebt, wird er behutsam auf eure Jungfräulichkeit Rücksicht nehmen. Später, wenn einander vertrauter seid, werdet ihr die Sache sogar genießen können.»

Juliane atmete auf, diese schwierige Klippe hatte sie umschifft und sie hoffte, dass die Mädchen sie verstanden hätten. Deshalb schloss sie das Thema mit wenigen Worten ab: