Im Himmel gibt es keine Grenzen - Ursula Raddatz - E-Book

Im Himmel gibt es keine Grenzen E-Book

Ursula Raddatz

0,0

Beschreibung

Ende 1918, der Krieg ist vorbei, Carl kommt nach Hause zu Wilma, mit ihm die «spanische Grippe». Die Menschen hoffen auf Frieden, aber sie sterben, hungern und frieren weiter. In Deutschland dürfen Frauen wählen, zum ersten Mal. In Berlin werden Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg ermordet. In Kappeln teilt eine Bürgermeisterkrise die Stadt in zwei Lager. Gibt es noch Hoffnung auf bessere Zeiten? Reicht Wilmas Liebe, um Carls zerrissene Seele heilen zu können? Kann sie ihren Sohn Alexander aus den Fängen des Freikorps retten? Über allem droht der Volksentscheid im Norden das Land zwischen den Meeren, Schleswig-Holstein zu zerreißen, wer wird dänisch, wer bleibt deutsch? Spannend bis zur letzten Zeile, die Jahre nach dem 1. Weltkrieg.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 669

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Buchbeschreibung:

Nach dem großen Krieg:

Krank und von den Strapazen des Krieges gezeichnet, kommt Carl Mitte November 1918 nach Hause, nach Kappeln, zu Wilma und den Kindern. Doch das Sterben hört nicht auf. Unter der von den den Entbehrungen erschöpften Bevölkerung hält die «spanische Grippe» reiche Ernte und ie Ruhe, nach der sich alle sehnen, ist weder Carl, noch dem ganzen deutschen Volk vergönnt. Immer noch hungern alle, immer noch ist nichts für die Zukunft entschieden. Nur das Wahlrecht für Frauen sticht positiv heraus. Die harten Konsequenzen aus dem Versailler Vertrag, der Mord an Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, die ungeliebte «Weimarer Republik» gehen alle Deutschen an.

Auch in Kappeln brodelt es. Die Querelen um den Bürgermeister teilen das sonst so beschaulichen Städtchen in zwei Lager, die ihren Zwist in aller Öffentlichkeit austragen. Es kommt noch schlimmer, Wilma verliert ihre Stelle als Lehrerin an einen Kriegsheimkehrer, Carl muss sich den Gespenstern des Krieges stellen, die ihn heimsuchen und Sohn Alexander gerät in die Fänge der «Brigade Erhardt», einem Freikorps, das im Baltikum weiterkämpfen will. Carl findet Arbeit und auch Wilma darf wieder unterrichten, wird vielleicht doch noch alles gut?

Über ihren Köpfen schwebt die drohende Trennung von großen Teilen Schleswig-Holsteins und niemand weiß genau, was die Zukunft bringen wird... Deutsches oder Dänisches... Leben oder Tod... weil die Kraft zum Weitermachen einfach fehlt....?

Lassen Sie sich von diesem Roman, hineinziehen in die turbulente Zeit nach dem großen Krieg, die alles andere als golden war.

Im Himmel gibt es keine Grenzen

Historischer Roman, nach dem großen Krieg 1914/18

Die Schauplätze: Kappeln, Berlin und «der Rest der Welt»

Personenregister :

Fiktive Personen:

Hauptpersonen:

Wilhelmine/ Wilma Meurer, geb.Schulze, – geb.18.01.1871 in Kappeln

Carl Meurer, Archäologe, Wilmas Ehemann, geb. 30.06. 1865 in Potsdam

Alexander, Carl und Wilmas Sohn, geb. 17.07.1902 in Berlin

Helenchen, Carl und Wilmas Tochter, geb. 23. 04. 1915 in Kappeln

Leila (Elisabeth) Paulsen, Wilmas Kusine, Jans Ehefrau geb. 09.01.1871

Jan Paulsen, Wilmas Kinder- + Jugendfreund – geb. 01.07.1867 in Kappeln

Meta Paulsen, Jans Mutter geb. 28.02.1851

Henriette Polzin, genannt «die rote Jette», Freundin von Wilma

Auguste Mehn, Dienstmädchen und Freundin, geb. 1876 in Brandenburg

Janne, eigentl. Johanna, ehemaliges Dienstmädchen bei Wilmas Eltern

Paul Maroldt, Leiter der Volksschule, ehem. Kommilitone von Jan Paulsen

Dorothea Maroldt, Pauls Ehefrau, Mutter von Elise und Ludwig

Johannes Westhoff, Lehrer in der Kappelner Volksschule

Ingwer Petersen, ebenfalls Lehrer dort

Otto Meins, Kriegsheimkehrer und Lehrer,

Fiete Fisch, Fischer und Freund und Berater in allen Lebenslagen

Sönke Martin, Alexanders bester Freund und Sohn von Bauer Martin

Max Gregorius, Alexanders geheimnisvoller neuer Freund

Herr und Frau Bendixen, Kappelns Posthalter und seine Frau

Gerd Blum, Hausmeister im Kappelner Rathaus

Martha Nielsen, neue Sekretärin des Bürgermeisters Claußen

Roxane Rosenbaum, wandert mit den Eltern nach Amerika aus

Reale Personen:

In Kappeln

Dr. Erich Schröder, von 1917- 30.06.1919 Bürgermeister in Kappeln

Danach stellv. Bürgermeister Claußen, bis 13.03. 1920

Anschl. Bürgermeister Plewka bis 20.05. 1920

Gustav Spliedt, geb. 1877 in Kappeln, verst. 1955, Arzt in Kappeln,

Emmanuel Lorentzen, geb. 1875, verst. 1960, Holzkaufmann in Kappeln

Peter Kruse, geb. 1873, Stadtvertreter, will Zuckerfabrik in Kappeln bauen

Georg Asmus Friedrichsen, Samenhändler und Kartoffelbeauftragter

---------------------------------------------------------------------------------

Weitere reale Personen:

Kaiser Wilhelm II. Deutscher Kaiser und König von Preußen,

geb. 27.01.1859 in Berlin, verst. 04.06.1941 in Doorn, Niederlande

Friedrich Ebert, 1. Reichspräsident der Weimarer Republik, 1871 – 1925

Karl Liebknecht, (geb. 1871 in Leipzig, verst. 15. 01. 1919 in Berlin)

Mitglied der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands

Rosa Luxemburg, (geb. 1871 in Zamosc, verst. 15. Januar 1919 in Berlin)

Mitbegründerin der Kommunistischen Partei Deutschlands

Hauptmann Waldemar Pabst, Stabsoff. Garde-Kavallerie-Schützen-Divis.

Transportführer Oberlnt Kurt Vogel, beteiligt am Mord von Liebknecht

Hermann Ehrhardt (1881-1971), Freikorps-Kommandeur der Brigade

Helene Lange, (geb. 1848 in Oldenburg, verst. 1930 in Berlin)

Deutsche Politikerin (DDP), Pädagogin und Frauenrechtlerin.

Gertrud Bäumer, (geb. 1873, verst. 25. März 1954)

deutsche Frauenrechtlerin und Politikerin.

Mimi, Helenchens weiße Katze, Piggy, ihr Ferkel, und Lilli, die Gans

Die Abstimmungszonen für den Volksentscheid von 1920 zwischen Dänemark und Deutschland

Inhaltsverzeichnis

1. Kapitel: Ein neuer Anfang ...!? - Kappeln, 15. November 1918

2. Kapitel: Kappeln, im Dezember 1918

3. Kapitel: Kappeln, im Januar 1919

4. Kapitel: Kappeln, im Februar 1919

5. Kapitel: Kappeln, im März 1919

6. Kapitel: Kappeln, im April 1919

7. Kapitel: Kappeln, im Mai 1919

8. Kapitel: Kappeln, im Juni 1919

9. Kapitel: Kappeln – Berlin, Anfang Juli 1919

10. Kapitel: Kappeln - Berlin, Mitte Juli 1919

11. Kapitel: Kappeln, im August 1919

12. Kapitel: Kappeln, im September 1919

13. Kapitel: Kappeln und auf See, im Oktober 1919

14. Kapitel: Kappeln und Schwensby, im November 1919

15. Kapitel: Kappeln, im Dezember 1919

16. Kapitel: Kappeln und Flensburg, im Januar 1920

17. Kapitel: Kappeln und der Norden Schleswigs, im Februar 1920

18. Kapitel: Kappeln und das Plebiszit Schleswig, im März 1920

19. Kapitel: Kappeln und New York, im April 1920

20. Kapitel: Kappeln und Amerika, im Mai 1920

21. Kapitel: Kappeln und auf der Ostsee, im Juni 1920

22. Kapitel: Kappeln und unterwegs in die Fremde, im Juli 1920

Im Himmel gibt es keine Grenzen

1. Kapitel Ein neuer Anfang ...!? Kappeln, 15. November 1918

In Kappeln, einer kleinen Stadt im Norden Deutschlands, versank gerade die blasse Wintersonne hinter dem von dunklen Wolken verhangenen Horizont, als es an Wilmas Haustür klopfte. Sie schlug sich ein Tuch um die Schultern, denn es war empfindlich kalt geworden und dachte noch, während sie die Tür öffnete:

«Ist es noch nicht genug an überraschendem Besuch? Sind nicht erst vor ein paar Tagen meine Kusine und ihr Mann zu mir gekommen?»

Sie hatte kaum zu Ende gedacht, da fiel ihr dunkler Schatten entgegen, klapperdürr bis auf die Knochen, die einstige Uniform zerfetzt und verdreckt, das eingefallene Gesicht von einem wild wuchernden Bart beinahe völlig bedeckt. Nur die blaugrauen Augen leuchteten daraus auf.

«Wilma!», krächzte das seltsame Wesen.

«Oh mein Gott, Carl, bist du das?»

Mit einem Stöhnen fiel ihr Ehemann in ihre Arme. Sie fing ihn auf, spürte seinen ausgezehrten Leib, die ungeheure Hitze, die er ausstrahlte, und erschrak. Fieber! Das konnte ihm den Tod bringen, so elend wie er aussah.

«Komm schnell rein, hier draußen ist es viel zu kalt», Wilma mühte sich, Carls zusammengesunkenen Körper zu bewegen, «hilf mit, du bist zu schwer!»

«Papa!» Alexander wollte sich an Wilma vorbeidrängeln, Klein-Helena machte es ihm nach.

«Halt! Wartet!» Leilas laute, kommandogewohnte Stimme ließ die Kinder innehalten.

«Ihr geht sofort zu Oma Meta in die Küche, los Alexander, nimm dein Schwesterchen mit! Da bleibt ihr, bis ich zu euch komme. Ist das klar?»

«Aber, das ist Papa...ich will...!» – «Nichts da!» Leila drängte sich vor, schob die Kinder in den schmalen Durchgang zwischen den Häusern von Wilma und Meta, «ab, in die Küche!»

Murrend gehorchten die Kinder. Leila schloss energisch die Tür des Nebeneinganges und wandte sich wieder Wilma, ihrer Kusine zu, die ihren halb bewusstlosen Mann kaum noch aufrecht halten konnte. Leila fasste mit an und mit vereinten Kräften schleppten sie den Kriegsheimkehrer in Wilmas Wohnzimmer. Dort betteten sie ihn auf das breite Sofa, befreiten ihn von dem völlig verschmutzten Zeug, von Kappe, Schal, Mantel und Schuhen. Willenlos, kraftlos ließ Carl das alles über sich ergehen. Er seufzte kurz auf, dann fiel er in eine tiefe Bewusstlosigkeit.

«Lass ihn», Leila fing Wilmas besorgten Blick auf, «So kann ich ihn besser untersuchen und Schlaf ist das Beste, was ihm jetzt passieren kann.»

Wilma trat, nur halbwegs beruhigt, einen Schritt zurück und überließ Leila, der erfahrenen Ärztin, das Feld. Mit kundigen Händen tastete Leila den reglos Daliegenden ab. Das schmuddelige Hemd und die Unterwäsche flogen auf den Boden. Wilma, die mit einer Schüssel voll warmem Wasser zurückkam, sah mit Entsetzen, wie entsetzlich mager ihr Liebster war. Zahlreiche Flohbisse verunzierten seinen Körper, der mit blauen Flecken und kaum verheilten Narben übersät war.

Wilma schluckte entschlossen ihre aufsteigenden Tränen hinunter, die halfen jetzt niemandem. Behutsam wusch sie ihren Mann, von dem sie viel zu lange nicht gewusst hatte, ob, wo und wie er diesen entsetzlichen Krieg überstanden hatte. Leila kam mit einer großen Schere an und schnitt rigoros Carls strähniges Haar bis auf die Kopfhaut ab. Aus ihrer Arzttasche, ohne die sie sich kaum jemals zu sehen war, nahm sie eine fürchterlich riechende Tinktur und rieb die wenigen Stoppeln, die übrig geblieben waren, damit kräftig ein.

«Du willst dir doch wohl keine Läuse von Carl einfangen, oder?»

Sie grinste Wilma an und hob die Schere hoch, als wolle sie die dichte Haarpracht der Kusine ebenfalls schneiden.

Wilma lächelte, es gelang nur halb. Eine Frage brannte ihr auf der Seele.

«Leila, warum hast du die Kinder so schnell fortgeschickt? Fürchtest du, sie könnten sich anstecken? Bitte, sag mir ganz ehrlich, ob Carl die «spanische Grippe» hat. Ich habe solche Angst, ihn doch noch an den Tod zu verlieren, obwohl er es bis zu mir nach Hause geschafft hat.»

«Beruhige dich Wilma, so genau kann ich es dir noch nicht beantworten, aber es sieht nicht nach den typischen Symptomen der spanischen Grippe aus. Bitte, wasche ihn so gut du kannst, ziehe ihm frische Wäsche an und dann lasse ihn schlafen. Ich desinfiziere mich gründlich, dann gehe ich zu Meta rüber, beruhige sie und die Kinder und koche einen Tee für Carl, um sein Fieber zu senken. Danach reden wir weiter, einverstanden? Bleib du bitte hier, bei deinem Mann, solange wir nicht wissen, was ihm fehlt und ob er nicht doch ansteckend ist.»

Wilma nickte nur und versuchte weiter, Carl vom gröbsten Schmutz zu befreien. Der zu Tode erschöpfte Mann schlief so fest, dass sie Mühe hatte, ihm etwas überzuziehen. So deckte sie ihn nur mit einem sauberen Laken zu und breitete eine warme Bettdecke über ihn. Dann setzte sie sich, nach einem hauchzarten Kuss auf seine ausgetrockneten Lippen, in einen Sessel neben ihn und bewachte seinen Schlaf.

Im Nachbarhaus war Meta eifrig dabei, aus undefinierbaren Zutaten einen Tee aufzubrühen. Meta, Leilas neunundsechzigjährige Schwiegermutter, Nachbarin und allerbeste Freundin von Wilmas verstorbener Mutter, drehte sich um, als Leila die anheimelnde Küche betrat. Am großen Küchentisch saßen Wilmas und Carls Kinder, der sechzehnjährige Alexander und die dreieinhalbjährige Helena.

Mit fragenden Augen schauten sie hoch. Leila blieb in der Tür stehen.

«Euer Vater ist krank, sehr krank. Noch kann ich nicht feststellen, woran er genau leidet. Es könnte diese bösartige Grippe sein, die gerade überall umgeht, oder vielleicht doch nur eine ganz normale Erkältung. Kinder, und auch du, liebe Meta, haltet euch bitte von Carl und Wilma fern. Wilma hatte gleich intensiven Kontakt zu ihm und sich deshalb vielleicht schon angesteckt. Ihr dürft jetzt aber auf keinen Fall auch noch krank werden, also bleibt bitte hier, bei Meta. Ihr werdet auch hier wohnen, bis wir wissen, was eurem Vater wirklich fehlt.»

«Das schaffen wir schon», Meta, die so leicht nichts umwarf, lächelte ihre Schwiegertochter an, «die Sachen der Kinder kannst du mir vor die Tür stellen. Natürlich können sie auch bei mir schlafen, ich habe ja Platz genug. Kümmere du dich um Carl und Wilma, alles andere machen wir schon, wir drei.»

Alexander nickte eifrig. Für ihn war nur wichtig, dass sein Vater, den er über alles verehrte, endlich zurückgekehrt war. Helenchen, die noch zu klein war, um zu verstehen, was Krankheit und Ansteckung bedeutete, schob ihre kleine Hand vertrauensvoll in die ihres großen Bruders. Wenn Alexander bei ihr war, das wusste sie, dann konnte ihr nichts geschehen.

«Ich habe mich gründlich gewaschen und umgezogen und kümmere mich erst einmal um Carl und Wilma. Wenn mein Mann kommt, dann informiere ihn bitte über alles. Er sollte möglichst auch hier bei euch bleiben. Ich komme wieder, wenn ich Carl genauer untersucht habe. Wird schon schiefgehen», lachte Leila, zwinkerte den Kindern zu und eilte davon.

Kurze Zeit später kam sie mit einem Aktenordner unter dem Arm zu Wilma in das Nachbarhaus zurück, setzte sich an den Tisch im Wohnzimmer und vertiefte sich in die mitgebrachten Papiere.

«Wie kann sie jetzt nur lesen», dachte Wilma empört, «Carl liegt hier todkrank und sie liest!»

Leila, die Wilmas Nervosität spürte, bat sie zu sich.

«In diesen Unterlagen steht eine ganze Menge über diese üble Seuche, die man hier die spanische Grippe nennt. Hier, schau, da steht, woran man sie erkennen und von einer normalen Grippe oder Erkältung unterscheiden kann. Das ist für mich wichtig, damit ich weiß, wie ich ihn behandeln muss. Typisch für die spanische Grippe sind zunächst Symptome, wie wir sie von einer normalen Grippe kennen. Das können zunächst plötzlich auftretende starke Kopf-, Muskel- und Gliederschmerzen, Abgeschlagenheit, starker Husten, Schüttelfrost und hohes Fieber sein. Dann allerdings verfärbt sich die Haut des Patienten, aufgrund einer Unterversorgung mit Sauerstoff, dunkelblau bis bräunlich-violett. Hast du eine solche Verfärbung bei Carl feststellen können?»

Wilma schüttelte den Kopf. Unter all dem Schmutz war Carls Körper ohne solche Flecken gewesen. Sie atmete auf, doch Leila bremste ihre Euphorie.

«Noch wissen wir gar nichts. Weder, wie lange Carl schon krank ist, noch, welche Art von Krankheit er mitgebracht hat. Deshalb ist es so wichtig, alle, die noch keinen Kontakt mit ihm hatten, von ihm fernzuhalten, damit sie sich nicht jetzt noch anstecken. Damit meine ich vor allem eure Kinder, Helenchen und Alexander. Aber auch Meta und Jan, mein Mann müssen sich nicht dieser Gefahr aussetzen.»

«Die Kinder, oh Himmel, wo sind sie? Bei Meta?» Wilma erschrak über sich selbst, hatte sie in ihrer Angst um Carl, ihre Kinder einfach vergessen.

«Beruhige dich», Leila lächelte die Kusine an und legte ihr beruhigend eine Hand auf den Arm, «den beiden geht es gut. Sie sitzen bei Meta in der warmen Küche und lassen sich einen heißen Tee aus Was-auch-immer schmecken. Sie werden auch bei Meta wohnen und schlafen, solange wir nicht wissen, was Carl wirklich fehlt.»

Leilas liebevolle Worte und die umsichtige Art, die sie als gute Ärztin auszeichnete, beruhigten Wilma, die fröstelnd ihre Strickjacke um sich zog.

«Es ist kalt hier drin, das spüre ich jetzt erst. Bleibst du bei Carl, während ich Brennholz von draußen hole? Zum Glück hat der Vater von Alexanders bestem Freund uns zu Weihnachten noch eine ganze Fuhre Holz gebracht.»

Leila nickte nur und sah nach Carl, dessen Körper nach wie vor eine große Hitze ausstrahlte. Sie hoffte, dass es nicht die gefürchtete Krankheit wäre, die inzwischen die Ausmaße einer Epidemie angenommen hatte, und sie erinnerte sich noch gut an die ersten Meldungen darüber.

In Madrid berichtete eine Zeitung im vergangenen Mai von «einer merkwürdigen Krankheit mit epidemischem Charakter. Sie sei von einer milden Form und Todesfälle wären bisher noch nicht gemeldet worden», sie erhielt daher den Namen «spanische Grippe».

Leila, als in den USA lebende Ärztin, wusste mehr darüber. Diese ganz und gar nicht merkwürdige Krankheit war ein Killer, ein tödliches Virus, das in Amerika seinen Ursprung hatte. Schon im Jahr 1917 brachten US-Soldaten diese Krankheit über den Atlantik. Was sie genau ausgelöst hatte, ahnte niemand. Die Warnrufe einiger amerikanischer Ärzte verhallten leider ungehört. Jan Paulsen, Leilas Ehemann, nicht nur politisch höchst engagiert, erklärte ihr, dass die Pressezensur der kriegführenden Staaten verhindern würde, dass die Krankheit erkannt und kontrolliert werden konnte. Kein Staat wollte sich im Krieg die Blöße geben und von einer Epidemie reden. Ein so geschwächter Staat, so glaubte man, wäre eine leichte Beute. Das erschreckende Ergebnis wurde nun aber offenbar. Die von Krieg und Hunger entkräfteten Menschen in Europa starben wie die Fliegen. Junge Leute, die morgens noch gesund erschienen, waren am Abend tot. Für Leila war die Erkenntnis am schlimmsten, dass es nichts, aber auch gar nichts gab, dass dieses tödliche Virus aufhalten konnte. Sie hoffte von ganzem Herzen, dass Carl nur eine relativ harmlose Erkältung mitgebracht hatte, obwohl auch diese bei seinem jämmerlichen Zustand seinen Tod bedeuten konnte.

«Ganz schön eisig draußen», Wilma schüttelte sich und lud den Korb mit dem Brennholz ab. Rasch fütterte sie den Ofen damit und sah nach Carl. Der schlief immer noch tief, sein Atem rasselte noch hörbar, aber das Fieber schien nicht mehr zu steigen.

«Ich bleibe auf jeden Fall hier bei Carl, ich lasse ihn nicht allein, nicht, nachdem er es tatsächlich bis hierher zu mir geschafft hat. Wie habe ich gehofft, dass er diesen Krieg überleben wird. Nun ist er endlich hier und ich lasse nicht zu, dass er mir einfach wegstirbt!»

Wilma setzte sich wieder in den Sessel neben dem Sofa, auf dem Carl lag.

«Und ich gehe wieder rüber und schaue nach Meta und den Kindern», Leila erhob sich, «wir stellen alles, was ihr benötigt, in den Gang zwischen den Häusern. Wilma, du meldest dich bitte sofort, falls es Carl schlechter gehen sollte. Versprichst du mir das?»

Wilma nickte und Leila eilte nach oben ins Bad, um sich erneut gründlich zu waschen. Das nächste Mal würde sie Essig mitbringen, der desinfizierte recht zuverlässig.

«Ich stelle dir gleich den Tee in den Gang», rief sie Wilma noch zu, «bitte flöße Carl so viel wie möglich davon ein!»

Dann blieb Wilma allein mit Carl und ihren Gedanken zurück. Wie lange war es her, dass sie selbst als Kind in diesem Haus liebevoll behütet aufgewachsen war. Ihre Eltern, Friederike und Wilhelm Schulze zogen einst, im Jahre 1870, von Berlin nach Kappeln, dem kleinen Ort an der Schlei, von den preußischen Eroberern gerade zur Stadt ernannt. Hier sollte Bauingenieur Schulze den Bau der erforderlichen öffentlichen Gebäude in die Wege leiten. Hier kam Wilma zur Welt, hier lernte sie Jan, den Nachbarssohn kennen und später lieben. Doch ihre Lebenswege trennten sich. Wilma lief den Eltern und dem vermeintlichen Kleinstadtmief davon, nach Berlin, wo sie die erhoffte Freiheit dann doch nicht fand. Statt studieren zu können, wurde sie, wie viele Frauen damals, mit Hohn und Spott an den Schulen und Universitäten abgewiesen. Lehrerin, wie sie es sich erträumt hatte, konnte sie durch verschiedene Umstände nicht werden. Dieser Weg war ihr leider auch versperrt. Lediglich eine Ausbildung zur Kindergärtnerin blieb ihr.

«Wenn ich Carl nicht getroffen hätte, meine große Liebe, wer weiß, was dann aus mir geworden wäre», dachte Wilma und legte ihre Hand auf die Stirn ihres Mannes. Konnte es wirklich sein, dass er sich nicht mehr so fiebrig anfühlte? Würde dieses Wunder wahr werden? Oder bildete sie sich das nur ein, weil sie Carl auf keinen Fall verlieren wollte?

«Wie viel haben wir schon gemeinsam durchgestanden, mein Liebster», flüsterte sie und zog die Decke ein wenig höher über Carls magere Schultern.

Er, der studierte Archäologe, hatte ihr lange verschwiegen, dass er nur deshalb so oft an weit entfernten Ausgrabungen teilnahm, um der Frau, die er im Überschwang seiner ersten Verliebtheit viel zu übereilt geheiratet hatte, so weit wie möglich aus dem Weg zu gehen. Dass sie nicht zueinander passten, hatte sich nach der Hochzeit ziemlich schnell herausgestellt. Carl verlangte die Scheidung, sie verweigerte sie und genoss das Gefühl der Macht über ihn.

Im Sommer 1914 plante Wilma, zu Carl nach Ägypten, nach Alexandria reisen, um dort mit ihm und dem gemeinsamen Sohn Alexander, den sie inzwischen geboren hatte, unerkannt und unter falschem Namen als Familie zusammenzuleben. Der unerwartete Ausbruch des Krieges verhinderte das in letzter Minute. Carl, der sich Kaiser und Heimatland verpflichtet fühlte, meldete sich freiwillig an die Front und bat Wilma vorher noch um Verständnis und Verzeihung. Er könne eben nicht anders handeln.

Der leidenschaftliche Abschied hatte Folgen. Wilma, die in Berlin bereits alle Brücken hinter sich abgebrochen hatte, blieb nichts anderes übrig, als zu ihrer Mutter nach Kappeln zurückzugehen. Dort kam Töchterchen Helena zur Welt und Carl erhielt ein Jahr später endlich die Scheidungspapiere. Eine stille Hochzeit mitten im Krieg folgte. Carl musste viel zu schnell wieder an die Westfront, Feldpostbriefe blieben die einzige Verbindung zwischen ihnen, bis jetzt.

«Ja, bis jetzt, mein Carl. Nun bist du hier, endlich, und ich weiß nicht, ob es für immer sein wird, oder ob ich dich nun doch noch an den Tod verliere.»

Erschöpft schloss Wilma ihre Augen und riss sie gleich wieder auf. Einschlafen, das durfte sie jetzt auf gar keinen Fall. Schnell noch einmal Holz nachgelegt, die müden Glieder gestreckt und ein paar Schritte bis zum Fenster gelaufen. Draußen funkelten die Sterne am samtblauen Nachthimmel, der beinahe volle Mond, sandte sein silbernes Licht in glitzernden Streifen auf die ruhig daliegende Schlei. Morgen würde es wieder ein eisig kalter Tag werden. Die winterkahlen Äste der großen Kastanie im Garten warfen lange Schatten.

«Ob wir alle im Sommer wieder unter diesem Baum sitzen werden? Oh, lieber Gott, ich wünsche mir nichts sehnlicher, bitte, lass es wahr werden!»

Ein Rascheln schreckte sie aus ihren Gedanken, ein Stöhnen folgte, da war sie auch schon bei Carl. Auf den Knien lag sie neben dem Sofa und strich ihm zart über die Stirn, die nicht mehr so heiß schien, und die dunklen Schatten unter seinen Augen waren nicht mehr so ausgeprägt. Wilma hoffte, dass dies auf eine Besserung hindeutete. Sie beugte sich über ihn und hauchte einen zarten Kuss auf seinen halbgeöffneten Mund. In diesem Augenblick schlug Carl die Augen auf, sah sich verwirrt um.

«Wo bin ich, was ist mit mir», kam es heiser über seine ausgetrockneten Lippen. Er versuchte, sich aufzurichten, und fiel stöhnend wieder zurück.

«Du bist bei mir, bei deiner Wilma, alles wird wieder gut», flüsterte sie beruhigend und nahm seine Hand zärtlich in die ihre, «du bist krank, hast hohes Fieber, aber bald wirst du wieder gesund, glaube mir.»

Carl sah sich ungläubig um, staunte, konnte es kaum fassen, dass er sich nicht in einem seiner sehnsuchtsvollen Träume befand. Er hob mühevoll die Hand, wollte Wilmas Wange streicheln, doch sein Arm fiel kraftlos herunter.

Behutsam hielt Wilma eine Tasse mit inzwischen kalt gewordenem Tee an Carls spröde Lippen.

«Trink das bitte erst einmal, ich hole gleich frischen Tee und sage Leila, dass du aufgewacht bist. Nein, ich bleibe nicht lange fort», setzte sie hinzu, als er sie mit erstaunlich wiedererwachter Kraft zurückhalten wollte.

Im Gang zwischen den Häusern traf Wilma auf Leila, die sich nach dem Befinden des Kranken erkundigen wollte und den ersehnten Tee mitbrachte. Schnell ließ sie sich von Wilma berichten, wie es um Carl stand und folgte der Kusine ins Wohnzimmer. Sie beugte sich über den Kranken, fühlte ihm die Stirn und den Puls und lächelte Wilma dann aufmunternd zu.

«Das sieht schon recht gut aus. Vor allem scheint Carl keine Symptome der spanischen Grippe zu entwickeln. So geschwächt vom langen Frontdienst, wie er ist, hätte er dieses aggressive Virus kaum bis jetzt allein bekämpfen können. Trotzdem sollten wir noch vorsichtig sein und kein Risiko eingehen.»

Wilma nickte, sie verstand Leilas Bedenken und auch von Carl kam ein Laut, der sich wie eine Bestätigung anhörte. Leila nahm ihrer Kusine noch das Versprechen ab, sich nicht zu überfordern und sich bald schlafen zu legen.

«Ich löse dich nachher ab. Zuerst besorge ich dir etwas zu essen, damit du bei Kräften bleibst und Carl gesund pflegen kannst. Und du, Carl, möchtest du auch etwas zu essen haben?»

Doch der Kranke gab keine Antwort, unbemerkt war er wieder in den Schlaf geglitten. Leila lachte leise und meinte, es sei das Beste, was er jetzt tun könnte. Später löffelte Wilma die Suppe, die Leila ihr brachte und machte es sich in dem großen Sessel bequem, der früher einmal ihrem Vater gehört hatte. Er und auch ihre Mutter lagen jetzt nebeneinander auf dem Friedhof des Städtchens, freundlich behütet von der langen Lindenallee, die dort hindurch führte. Manchmal, in Stunden wie dieser, vermisste sie die Eltern immer noch.

In der Stille der Nacht lauschte Wilma Carls Atemzügen. Meistens kamen sie regelmäßig, doch ab und zu setzten sie aus. Jedes Mal durchfuhr Wilma ein tiefer Schrecken und sie klopfte Carl leicht auf die Wange, um ihn aus der Starre zu lösen.

«Carl, atme, bitte atme, bleib bei mir», flehte sie, voller Furcht, den geliebten Mann zu verlieren. Und wirklich, immer wieder hob sich Carls eingefallene Brust, ein lautes Röcheln kam aus seiner Kehle und dann das Geräusch, mit dem die Luft wieder in seine Lungen drang. Wilma horchte angestrengt, ob der Atemrhythmus gleichmäßig blieb. Plötzlich überkam sie die völlig irrationale Angst, dass Carl sie vielleicht nicht mehr lieben könnte, denn sie hatte ihre Schönheit verloren, war mager wie ein altes Kutschpferd, hatte raue Hände vom Holzhacken und der ungewohnten Gartenarbeit. Am schlimmsten fand sie ihre Frisur, die gar keine war. Meistens trug sie die kastanienbraunen Haare zu einer Art Dutt aufgesteckt, der die zahlreichen grauen Strähnen darin noch betonte. Ihr war es egal, wie sie aussah, bis jetzt. Bedrückt stellte sie sich vor, was ihr Carl wohl zu der knochigen Gestalt, zu der sie geworden war, sagen würde, doch irgendwann schlief sie ein, ohne es zu merken.

Drüben, in Metas Haus kehrte ebenfalls Ruhe ein. Die Kinder waren zu Bett gegangen, Helenchen zuerst. Doch sie quengelte so lange, bis ihr Bruder sich zu ihr legte, weil sie in dem ungewohnten Zimmer nicht allein bleiben wollte. Ohne zu murren gab Alexander dem Willen seines Schwesterchens nach. Als großer Bruder fühlte er sich für die Kleine verantwortlich, aber nie im Leben hätte er zugegeben, selbst todmüde zu sein. Mit seinen sechzehn Jahren war er fest davon überzeugt, solchem Kinderkram längst entwachsen zu sein. Auch Meta, der die Last ihrer Jahre spürbar auf den Schultern lag, hatte sich bereits zurückgezogen. Nur Leila blieb noch auf, weil sie auf ihren Mann wartete und weil sie später noch einmal nach Carl schauen wollte. Müde war auch sie, legte seufzend den Bericht beiseite, in dem sie bis jetzt gelesen hatte, bis ihr die Buchstaben vor den Augen verschwammen. Es ging um die «spanische Grippe», deren Symptome und rasante Ausbreitung.

Die erste Welle, die Deutschland im Mai überrollte, war verebbt und die Behörden reagierten eher gelassen darauf, dass plötzlich Menschen auf offener Straße zusammenbrachen. Seltsamerweise traf die tödliche Krankheit nicht etwa Kleinkinder oder Alte und Kranke, sondern es waren zumeist junge Menschen zwischen zwanzig und vierzig Jahren, die innerhalb weniger Stunden oder Tage dahingerafft wurden. Immerhin wurden einige Schulen geschlossen, um die Ausbreitung der Krankheit zu verhindern, aber Theater, Kinos und Restaurants blieben geöffnet, aus Angst vor Unruhen in der Bevölkerung, wenn solche Arten der Ablenkung ausblieben. Im Oktober rollte die nächste Ansteckungswelle heran, weit heftiger als die erste. Die Ärzte blieben ratlos. Sie hatten nichts, rein gar nichts, um die tödliche Epidemie aufzuhalten.

Leila hoffte, dass sie und ihre Familie, dieser Gefahr entgehen könnten. Carl zeigte zum Glück keines der dafür typischen Symptome. Aber vielleicht hatten sie selbst und Jan sich schon irgendwo auf ihrem Weg aus den USA angesteckt und das Virus mit nach Kappeln geschleppt? Oder trug es vielleicht Alexander bereits in sich. Er war in Kiel, im Ausbildungslager für zukünftige Soldaten, in dem er sich in den letzten Kriegsmonaten aufhielt, dem eher ausgesetzt, als die restliche Familie hier in Kappeln. Leila beruhigte sich selbst, auch der Junge zeigte, genau wie sie und Jan, seit sie in Kappeln angekommen waren, noch kein Anzeichen der tödlichen Krankheit.

Es klopfte leise an der Tür, sie öffnete und umarmte erleichtert ihren Mann, der sich rasch ins Warme drängte.

«Oh Jan, Gott sei Dank, du bist zurück. Sag, was haben die Abgesandten des Kieler Soldatenrates beschlossen? Können wir noch hierbleiben? Es wäre sehr wichtig.»

«Liebste, es gibt leider nichts Erfreuliches zu berichten.»

Zärtlich strich Jan seiner Frau eine kupferrote Locke aus dem Gesicht, in die sich bereits einige Silberfäden mischten. Er selbst zog den Hut vom einst hellblonden, inzwischen völlig ergrauten Haar, zog den dicken Mantel aus und setzte sich in die Nähe des Ofens, in dem noch ein paar Holzreste ein wenig Wärme verbreiteten.

«Und? Was gibt es? Nun lass dir doch nicht jedes Wort aus der Nase ziehen», Leilas grüne Augen blitzen ihn an, «ich muss unbedingt wissen, wie es mit uns weitergeht, denn Wilmas Mann ist zurückgekehrt und liegt mit hohem Fieber drüben in ihrem Haus. Also?»

«Na gut, ich sag´s dir. Aber nur, wenn du noch etwas Heißes zum Trinken für mich hast. Es muss nicht unbedingt so ein grässlicher Tee sein.»

Jan grinste vergnügt und zog eine kleine Flasche aus der Jackentasche, «Heißes Wasser genügt, den Rum zum Grog habe ich hier.»

Es dauerte nicht lange, da saßen Jan und Leila am Küchentisch, die Hände um die heißen Gläser gelegt, aus denen es verführerisch duftete.

«So», meinte Leila ernst, «nun rück schon endlich raus mit der Sprache. Es kann nichts Gutes sein, sonst hättest du es mir längst erzählt.»

«Was hast du nur für ein feines Näschen, mein Schatz. Du hast recht. Ich muss zurück nach Berlin, sofort. Das heißt, bis spätestens morgen Mittag soll ich mich auf dem Schiff melden, mit dem wir beide hergekommen sind. Es bringt mich zurück nach Kiel und von dort geht es nach Berlin.»

«Aber warum? Was ist geschehen? Und was ist mit mir? Muss ich etwa auch fort?»

Leila brach bei dem Gedanken, Wilma mit dem kranken Carl, Meta und den Kindern allein zu lassen, beinahe in Panik aus. Doch Jan beruhigte sie.

«Nein, du musst nicht mit. Es geht vor allem darum, dass der deutsche Kaiser abgedankt und sich nach Holland abgesetzt hat. In Berlin wird soeben eine neue Regierung gebildet, mit erheblichen Differenzen unter all Parteien. Ich soll dort für die USA als Beobachter fungieren. Da musst du nicht dabei sein, auch wenn ich mir das sehr wünschen würde.»

«Das muss ich erst einmal verdauen», Leila trank den Rest aus dem längst kalt gewordenen Grog und strich sich müde über die Stirn, « kannst du nachvollziehen, dass ich im Moment lieber hierbleiben möchte? Hier werde ich gebraucht, in Berlin sitze ich nur herum und warte den ganzen Tag auf dich. Als amerikanische Ärztin darf ich dort nicht praktizieren. Was soll ich also da?»

«Ich verstehe dich», Jan stand auf und reckte seine müden Glieder, «es ist wohl wirklich besser, wenn du bleibst und deiner Familie und damit ja auch meiner Mutter beistehst. Es fällt mir dennoch schwer, ohne dich nach Berlin zu fahren. Aber gut, genug für heute. Wir reden morgen früh mit den anderen darüber.»

Am nächsten Morgen stand Meta schon früh in ihrer Küche, als ihr Sohn eintrat. Jan erinnerte sich kurz daran, wie er zutiefst erschrocken war, als er vor ein paar Tagen seine Mutter nach längerer Zeit endlich wiedersah. Wo war die große, stattliche Blondine geblieben, in deren liebevoller Nähe er sich immer so geborgen gefühlt hatte? Vor ihm stand eine alte, grauhaarige Frau, der die abgetragene Kleidung in Falten am abgemagerten Körper herabhing. Nur die erstaunt aufgerissenen Augen erinnerten ihn noch an seine Mutter. Sanft umarmte er sie jetzt, spürte unter dem fadenscheinigen Kittel die zerbrechlich wirkenden Knochen und er schämte sich dafür, dass es ihm selbst so gut ging. Als er später mit Leila darüber sprach, ob sie Meta zu Beginn des Krieges zu sich nach Amerika hätten holen sollen, tröstete sie ihn.

«Liebling, erinnerst du dich an dein Heimweh, dass dich so oft überfiel, als du nach Amerika gingst? Deine Mutter wäre in den Vereinigten Staaten verloren gewesen, würde die Sprache nicht sprechen und niemanden außer uns kennen. Du hättest ihr keinen Gefallen getan. Sie sieht zwar alt und dünn aus, aber ihr Lebenswille ist ungebrochen, denn hier fühlt sie sich zu Hause und hier wird sie gebraucht.»

Jan wusste, dass Leila recht hatte und dennoch plagte ihn sein Gewissen, dass er die Mutter schon wieder verlassen musste. Mit vorsichtigen Worten erklärte er ihr die Situation und sah bestürzt, wie eine Träne Metas faltige Wange herunterrollte.

«Mutter, ich fahre doch nur nach Berlin und ich komme wieder. Leila möchte hierbleiben und sich hier in Kappeln nützlich machen. Und du glaubst doch wohl nicht, dass ich mich ohne meine Frau davon mache. Von Berlin aus kann ich euch vor allem Medikamente und Lebensmittel senden, die aus Amerika kommen, und die es hier nicht gibt Jetzt muss ich aber los, sonst fährt das Schiff noch ohne mich!»

Eine letzte liebevolle Umarmung, dann schloss sich die Tür hinter Jan und wurde nur eine Minute später wieder aufgerissen.

«Nun, mein Sohn, was hast du vergessen?»

«Nix Sohn, Oma Meta, ich bin´s, Alexander.»

Mit dem Jungen kam ein Schwall kalter Luft in die Küche.

«Tür zu», rief Helenchen sofort, die immer gleich fror. Sie saß schon auf der Bank und wartete auf ihr Frühstück.

«Wo hast du dich denn schon so früh am Morgen herumgetrieben», Meta stellte zwei Tassen auf den Tisch, aus denen kleine Dampfwölkchen aufstiegen.

«Denkste, herumgetrieben, was hältst du nur von mir.» Alexander biss herzhaft in etwas, dass Brot sein sollte und das wahrscheinlich weniger Mehl als gemahlene Steckrübe enthielt.

«Schmeckt wie eingeschlafene Füße», grinste er und duckte sich, denn Meta schlug mit dem Küchentuch halbherzig nach ihm, «also, ich war bei der Zeitung, unserem «Schleiboten» und hab mir den Aushang angeschaut. Da haben sie inzwischen die Gefallenen aus unserem Kreisgebiet aufgelistet. Oh Mann, es sind 2100 Soldaten aus Angeln ums Leben gekommen, und davon kamen 139 aus Kappeln oder der direkten Umgebung. Ist das nicht grausam? Was bin ich froh, dass unser Vater wieder da ist. Wo ist der überhaupt und wie geht es ihm? Wo ist meine Mutter? Und außerdem habe ich...»

In diesem Moment öffnete sich die Tür erneut und Leila kam in die Küche. Sie gehe jetzt zu Wilma rüber, verkündete sie, nahm die Kanne mit Tee, die Meta ihr entgegenhielt und verschwand schon wieder.

«Und? Was ist nun mit Vater?» Alexander maulte vor sich hin, «nicht mal ausreden darf man hier. Na gut, dann verrate ich eben nicht, dass ich Sönke getroffen habe. Er musste nicht mehr in den Krieg. Als er sich melden wollte, war das ganze Theater schon vorüber. Na, dem werde ich erzählen, was wir alles an Ausbildung hatten. Puh, das war kein Zuckerschlecken, sag ich euch..»

Endlich merkte der Junge, dass niemand ihm zuhörte, und verstummte beleidigt. Verstohlen legte er seine linke Hand auf den Umschlag, der in seiner Jackentasche leise knisterte. Wenn sie ihn so gemein ignorierten, dann sollten sie auf diesen Brief eben warten müssen.

Als Leila zu Wilma und Carl ins Zimmer trat, schrak ihre Kusine auf und auch Carl öffnete überrascht die Augen.

«Was ist los? Leila? Bist du das? Oh, mein Kopf schmerzt und ich habe großen Durst. Wilma? Bist du auch hier?»

Eine winzige Schrecksekunde glaubte Wilma, ihr Mann sei plötzlich erblindet, bis ihr klar wurde, dass es einfach nur stockdunkel im Zimmer war. Sie fröstelte, erhob sich mit steifen Gelenken aus dem Sessel, in dem sie anscheinend die ganze Nacht verbracht hatte, und zündete den Kamin an. Leila, die von irgendwoher eine Lampe geholt hatte, sah sich Carl gründlich an. Erleichtert drehte sie sich zu Wilma um, die vor dem Kamin hockte und vorsichtig in die kleinen Flammen blies, bis die dicken Scheite Feuer fingen und hell aufloderten. Rasch breitete sich wohlige Wärme im Raum aus. Leila erhob sich und lächelte Carl ermutigend an.

«Ich glaube, dein Carl hat nur eine schlimme Erkältung und ist total erschöpft. Es gibt zum Glück keine Anzeichen von dieser spanischen Grippe.»

Wilma war, als fiele ihr ein dicker Felsbrocken vom Herzen. Sie würde ihren Carl behalten dürfen. Das war für sie das Einzige, das zählte.

«Wird Carl wieder ganz gesund?» Von Leilas Antwort, so schien ihr, hing jetzt ihr Seelenheil ab. «Was kann ich tun, um ihn schnell wieder auf die Beine zu bringen?»

«Nun, lieber Carl, sag deiner Frau, was du dir am dringendsten wünschst, womit können wir dir helfen?»

Nicht eine Sekunde zögerte der Kranke, streckte sehnsüchtig die Arme aus und sah Wilma bittend an. Sie verstand sofort und nahm ihn behutsam in ihre Arme. Ein tiefer Seufzer, dann lehnte Carl seinen Kopf an Wilmas Brust, drückte sie fest an sich, eine Träne rann über sein leuchtendes Gesicht.

«Oh, meine Liebste, ahnst du, in wie vielen Nächten ich schlaflos im Schützengraben lag und von diesem Augenblick träumte, von diesem ganz besonderen Moment, an dem ich dich wirklich und wahrhaftig wieder in meine Arme schließen würde. Mein Mund auf deinen Lippen, deine Hände an meinem Gesicht. Ist es jetzt wahr? Oder träume ich noch immer? Werden gleich wieder die Geschütze losdonnern und der Befehl zum Angriff ertönen?»

Wilma spürte, wie ein heftiges Zittern Carls Körper durchlief, und strich ihm beruhigend über den Rücken. Leila, die den beiden diese ersten innigen Minuten von Herzen gönnte, musste sie jetzt leider trennen.

«Wilma, Carl, so ungern ich euch störe, ich muss Carl jetzt genauer untersuchen. Es ist wichtig, den Verlauf seiner Erkrankung festzustellen. Bald habt ihr alle Zeit der Welt, um miteinander zu schmusen.»

Widerstrebend ließ Wilma ihren Mann los, übergab ihn Leilas kundigen Händen und lief nach oben, ins Bad, um sich zu waschen und etwas Frisches für Carl zum Anziehen zu holen. Später, als Leila wieder in Metas Haus eintraf, schauten drei Augenpaare hoffnungsvoll zu ihr hin.

«Ja, es geht Carl besser, das kann ich jetzt schon sagen. Halt! Du bleibst hier!» Schnell hielt sie Alexander am Arm fest, der bereits auf dem Weg zur Tür war. Er sträubte sich heftig und versuchte vergeblich, Leilas festem Griff zu entkommen.

«Lass mich los, ich will zu meinem Vater. Du kannst mich nicht daran hindern. Ich mache, was ich will! Lass los, sag ich dir!»

«Nein, Alexander, sei vernünftig. Dein Vater ist noch nicht über den Berg. Wir wissen immer noch nicht, was ihm fehlt. Er braucht jetzt Ruhe, nichts als Ruhe, hörst du?»

Mit hängenden Armen und traurigen Augen ließ der Junge sich wieder auf die Bank sinken.

«Und wann kommt meine Mutter endlich wieder zu uns?» Sehr viel leiser kam diese Frage über Alexanders Lippen. Er legte seine Arme um Helenchen, die ihm eifrig nachplapperte, «wann kommt Mama wieder?»

Leila und Meta sahen sich an, fragten sich insgeheim, wie viel Wahrheit die Kinder ertragen konnten. Meta fasste sich zuerst, setzte sich zu den beiden auf die Bank und versuchte zu erklären, dass Wilma sich vielleicht bei Carl angesteckt habe und auch krank werden könnte.

«Weil sie euch sehr lieb hat, will sie euch nicht auch noch anstecken. Und das würde sie vielleicht, wenn sie euch zu nahe käme. Wir müssen jetzt alle viel Geduld haben. Das schaffen wir gemeinsam, ganz bestimmt.»

Helenchen nickte eifrig, auch wenn sie sicher nicht alles verstanden hatte. Alexander blieb stumm, verstohlen tastete er nach dem Brief, den er immer noch in seiner Jackentasche mit sich herumtrug. Er fasste einen Entschluss, schlich sich aus der Küche, als Meta und Leila gerade nicht zu ihm hinsahen. Helenchen bedeutete er, mit auf den Mund gelegtem Zeigefinger, dass sie ihn nicht verraten sollte, und zog die Tür leise hinter sich zu.

In Wilmas Haus war es still. Carl, erschöpft vom Waschen und Umziehen, war schnell wieder eingeschlafen. Wilma saß neben dem Sofa, auf dem er seiner Genesung entgegenschlief und beobachtete seine ruhigen Atemzüge. Es war ruhig, auch draußen vor dem Haus rührte sich wenig. Sie ließ ihre Gedanken schweifen, fragte sich, was die Zukunft für sie und Carl bereit halten mochte, da schreckte ein Geräusch sie hoch. Sie horchte aufmerksam, ein leises Schleifen war zu vernehmen, als ob eine Tür vorsichtig zugezogen würde, dann war es wieder still. Was war das? Leila hatte doch gesagt, dass sie dafür sorgen würde, dass niemand Wilmas Haus betrat. Nach einem Blick auf Carls ruhig daliegende Gestalt, erhob sie sich und öffnete leise die Tür zum Flur. Im Dämmerlicht lag alles friedlich da, niemand war zu sehen oder zu hören. Verunsichert zuckte sie mit den Schultern und wollte sich umdrehen, um zu Carl ins Wohnzimmer zurückzugehen, da fiel ihr etwas Helles auf, das auf dem Garderobenschränkchen lag.

«Es könnte ein Brief sein», dachte sie, aber woher sollte der kommen? Wer könnte ihn dorthin gelegt haben? Es kam doch niemand ins Haus und Leila würde nicht einmal den Postboten einlassen, sondern ihm den Brief an der Tür abnehmen. Wilma gab ihrer Neugier nach und trat weiter in den Flur.

Ein Griff, und der Brief lag in ihrer Hand. Schnell zog sie sich zurück, las im schwachen Licht der einzig brennenden Lampe, dass er wirklich an sie selbst gerichtet war. Sie kannte die Schrift. Erleichtert öffnete sie den Umschlag. Von ihrer Freundin und ehemaligen Berliner Wohngemeinschaftspartnerin konnte nichts Schlimmes kommen. Henriette Polzin, die rote Jette, wie alle sie nannten, berichtete seit Wilmas Weggang, aus Berlin, von dem, was in der Hauptstadt vor sich ging. Sie wurde die «rote Jette» genannt, nicht etwa, weil sie rotes Haar gehabt hätte, sondern wegen ihrer tiefroten politischen Gesinnung.

Schnell überflog Wilma die engbeschriebenen Seiten. Nur einmal entfuhr ihr ein erstickter Laut, den sie sofort unterdrückte.

«Bloß nicht Carl aufwecken», dachte sie und konnte doch ihre Freude kaum verbergen.

«Endlich, endlich», flüsterte sie, «damit hätte ich nie im Leben gerechnet, erst recht nicht jetzt, nach dem verlorenen Krieg. Ich kann es kaum fassen.»

Sie hob das Blatt auf, das sie vor Freude hatte fallen lassen und las noch einmal, was Henriette Polzin, ihre Freundin aus Berlin schrieb.

«Liebe Wilma Berlin, 13.11.1918

hier, bei uns in Berlin geht es gerade richtig rund. Du wirst es sicher in den Zeitungen gelesen haben. Endlich ist dieser lange, furchtbare Krieg zu Ende. Der Kaiser dankte ab und verließ nicht nur Berlin, sondern sein Preußen, sein Deutschland und floh in die Niederlande. Wir können auf ihn verzichten. Wer braucht jetzt noch einen Kaiser? Das frage ich dich. Aber es kommt noch viel, viel besser. Nur einen Tag, nach dem dieser Krieg mit der Unterzeichnung des Waffenstillstandes in Compiègne, in Frankreich am 11. November tatsächlich beendet war, wurde der Rat der Volksbeauftragten in Berlin mit dem Aufruf «An das deutsche Volk», schon am nächsten Tag tätig. Dieser Aufruf markiert einen sehr wichtigen Schritt in die Richtung einer vollkommen neuen, einer demokratischen Gesellschaftsordnung. Vor allem für uns Frauen ändert sich jetzt viel. Ob du es glaubst oder nicht, am Ende der Erklärung findet sich die Ankündigung eines neuen Wahlrechts:

«Alle Wahlen zu öffentlichen Körperschaften sind fortan nach dem gleichen, geheimen, direkten, allgemeinen Wahlrecht auf Grund des proportionalen Wahlsystems für alle mindestens 20 Jahre alten männlichen und weiblichen Personen zu vollziehen».

So heißt es darin. Verstehst du, was das bedeutet, für uns Frauen? Es ist überwältigend, dass wir Frauen uns endlich durchsetzen konnten. Allerdings fiel dieses Wahlrecht nicht gerade vom Himmel. Wie du weißt, hatte unsere SPD als erste deutsche Partei schon im Jahre 1891 das Wahlrecht für Frauen gefordert. Erinnerst du dich noch daran, dass ich Ende April 1915 an einem internationalen Frauenkongress in Den Haag teilgenommen habe? Es waren damals schon über tausend Frauen aus Europa und Amerika, die vehement das Ende des Krieges forderten, dazu Demokratie, Abrüstung und, vor allem, Gleichberechtigung. Wir Frauen standen im Krieg unseren Mann und erhielten viel weniger Lohn dafür, als davor die Männer. Wir wollten Frieden, für uns, unsere Kinder und endlich wieder genug zu essen. Wir Frauen, mitten im Krieg, wir setzten uns auf unsere Weise für den Frieden ein. Das hat kein einziger Mann getan, bis zum bitteren Ende nicht. Und aus diesem Grund, liebe Wilma, haben wir es verdient, unsere Stimme auch nach dem Krieg zu erheben und endlich, endlich wählen zu dürfen.

Ist das nicht einfach unfassbar? Nun hoffen wir darauf, dass unsere neue, eher vorübergehende Regierung ein entsprechendes Wahlgesetz auf den Weg bringt. Es soll alles anders, alles besser werden, so heißt es. Mir geht es einigermaßen gut, auch wenn die Versorgungslage hier in Berlin nach wie vor katastrophal ist. Ich weiß schon lange nicht mehr, wie es sich anfühlt, einmal so richtig satt zu sein. Mein ewig knurrender Magen macht mich immer darauf aufmerksam, dass ich mich irgendwo anstellen sollte, um etwas auch nur annähernd Essbares aufzutreiben.

Ich hoffe, dass es dir und den Kindern dort oben im Norden, auf dem Land, etwas besser geht. Hast du schon etwas von Carl gehört? Hat er den Krieg heil überstanden? Hier sehe ich tagtäglich immer mehr von diesen abgerissenen Gestalten, oft ohne Arm, Bein oder Auge, die um ein Stück Brot betteln. Was ist das nur für ein Land, dass seine Männer in einen Krieg schickt und sich dann nicht um die Folgen kümmert.

Liebste Wilma, ich will dir mit meinem Gejammer dein Leben nicht noch schwererer machen. Der Krieg ist vorbei, das ist die Hauptsache. Alles andere wird sich regeln. Und ich wünsche dir, dass dein Carl heil und gesund aus dem Krieg zu dir nach Hause kommen wird.

Ich selbst wünsche mir so sehr, dass du dann mit deiner Familie wieder nach Berlin kommst, du fehlst mir so sehr. Aber, wer weiß, was uns die Zukunft bringen mag.

In Gedanken bin ich bei dir, deine Jette, so rot wie eh und je...»

Wilma ließ den Brief sinken, Tränen der Sehnsucht nach ihrem Berlin standen ihr in den Augen, gleichzeitig hätte sie jubeln mögen, bei dem Gedanken an die neue Freiheit der Frauen. Wählen gehen, an der Politik aktiv teilnehmen dürfen, ein langgehegter Traum schien endlich in Erfüllung zu gehen. Schon wollte sie loslaufen, hinüber zu Meta, um ihr und Leila diese frohe Botschaft zu überbringen, sich mit den beiden über diesen Triumph zu freuen, da erwachte Carl aus seinem Schlaf, regte sich und griff nach ihrer Hand.

«Wilma, bitte, bleib bei mir. Ich friere ohne dich, und das hat nichts mit dem Ofen zu tun. Es ist deine Nähe und deine Liebe, die mein Herz wärmen. Also, bleib!»

«Warte, Carl, ich lege trotzdem noch schnell etwas Holz nach, damit wir nicht wirklich frieren müssen. Dann setze ich mich wieder zu dir und berichte dir aus Berlin. Stell dir nur vor, Jette schrieb mir, von der neuen Regierung und was es für neue Gesetze gibt. Geradezu unglaublich ist, dass wir Frauen ab jetzt sogar zur Wahl gehen und mitbestimmen dürfen, wer regiert und was die Regierung macht. Ist das nicht großartig?»

Erwartungsvoll schaute sie ihren Mann an. Der zog seine Decke ein wenig höher über die Schultern, sah sie mit gerunzelter Stirn an und brummte:

«Und, sag mir, wozu soll das gut sein? Aus welchem Grund müssen Frauen zur Wahl gehen? Könnt ihr das nicht den Männern überlassen? Denn seit wann verstehen Frauen etwas von Politik?»

Dann drehte er sich zur Seite und war schon wieder eingeschlafen, eine fassungslose Wilma zurücklassend.

2. Kapitel Kappeln, im Dezember 1918

Carl erholte sich, wenn auch in für ihn quälend langsamen Schritten. Immer wieder musste Leila ihn ermahnen, sich nicht zu früh zu sehr anzustrengen. Erst als sie ihm erklärte, dass sein Herz davon betroffen sein und er sogar einen Herzstillstand erleiden könnte, ergab er sich in sein Schicksal und befolgte zögernd die Anweisungen, sich zu schonen.

«Auf dich als Ärztin hört er», klagte Wilma ihrer Kusine ihr Leid, «gegen deinen Beruf, oder dass du als Frau berufstätig bist, sagt er nichts. Aber als ich ihm vom zukünftigen Frauenwahlrecht berichtete, meinte er, das sei nichts für uns. Verstehst du das?»

«Ach Wilma, diese Männer, sie können wohl nicht anders. In Amerika ist das noch schwieriger. Dort kämpfen die Frauen ebenfalls seit langem um ihr Wahlrecht und um Gleichberechtigung. Weil die USA aber aus vielen Staaten besteht, kocht jeder Einzelne davon sein eigenes Süppchen. Die Frauen dort haben allerdings etwas, das sie anführen, um zu ihrem Recht zu kommen. Es gibt eine Art Gesetz, das Folgendes besagt:

«Das Wahlrecht der Bürger der Vereinigten Staaten darf von den Vereinigten Staaten oder einem Einzelstaat nicht auf Grund des Geschlechts versagt oder beschränkt werden.»

Dass darin der Zusatz fehlt, «und auf Grund der Hautfarbe», fällt leider kaum jemandem auf. Bis auch unsere farbigen Mitbürger die gleichen Rechte erhalten, wie alle anderen, das wird, so fürchte ich, noch sehr lange dauern.»

«Das ist ja wirklich noch komplizierter als bei uns. Übrigens, Leila, ich weiß jetzt, woher der Brief von Jette kam, der so plötzlich bei mir im Flur lag.»

«Sag schnell, hast du herausgefunden, wer es gewesen ist? Wer war der heimliche Postbote?»

«Niemand anderer als mein Sohn hat das Schreiben dorthin gelegt. Mit rotem Kopf und unübersehbar schlechtem Gewissen, hat er es mit gebeichtet, als ich aus meiner Quarantäne heraus durfte. Er wollte mich damit ein wenig bestrafen, weil er nicht zu mir und Carl durfte. Ich habe ihm natürlich längst verziehen.»

Ein paar Tage später, nachdem Wilmas Isolierung von Leila aufgehoben wurde, verlangte Carl auch endlich seine Freiheit.

«Hört mal, ihr könnt mich hier nicht länger festhalten. Mir geht es gut und ich will endlich zu meinen Kindern und am richtigen Leben wieder teilhaben. Versteht ihr das denn nicht? Ich fühle mich hier so überflüssig.»

Noch einmal ließ Carl eine gründliche Untersuchung von Leila über sich ergehen, und wartete mit wachsender Ungeduld auf das Ergebnis. Als Leila zustimmend nickte, erhob er sich und kleidete sich an. Die verdreckte Uniform gab es nicht mehr, Wilma hatte sie längst im Garten verbrannt, mitsamt den Flöhen und Läusen, die darin hausten. Zum Glück gab es immer noch ein paar Kleidungsstücke von Wilmas Vater, die ihre Mutter wohl aus sentimentalen Gründen aufgehoben hatte.

«Also, die Damen, was meinen Sie zu dieser Garderobe? Auf dem Hofball kann ich mich damit aber nicht sehen lassen.»

Carl grinste und die Frauen lachten laut. Er sah aber auch zu komisch aus. Die Ärmel waren zu kurz und auch die Hose hatte reichlich «Hochwasser». Dafür konnte Carl sich die Jacke beinahe zweimal um seinen mageren Körper wickeln.

«Ach du Armer, du kannst nichts dafür, dass mein Vater kleiner war als du und ein stattliches Bäuchlein vor sich hertrug. Ich bin sicher, dass Meta dir die Sachen passend machen kann.»

«Und? Was soll ich bis dahin anziehen, Liebste? Zum nackt Herumlaufen ist es viel zu kalt und anstößig ist es außerdem. Vielleicht passt mir ja dies hier», lachte er und hielt sich Wilmas Morgenrock vor die Brust.

«Ich glaube, den Kindern ist es egal, was du anhast. Hauptsache, du darfst jetzt endlich zu ihnen. Komm, sie warten schon sehnsüchtig auf dich.»

Dass allein die wenigen Schritte hinüber zu Metas Haus ihn schon an die Grenze seiner Leistungsfähigkeit trieb, versuchte Carl sich nicht anmerken zu lassen, und wischte sich heimlich den Schweiß von der Stirn. Er streckte sich, wollte imposant aussehen und betrat mit angehaltenem Atem die Küche.

Für Alexander gab es kein Halten mehr. Stürmisch umarmte er seinen Vater und überfiel ihn mit tausend Fragen auf einmal. Atemlos ließ Carl sich auf die Bank in der warmen Küche fallen und nahm das heiße Getränk, das Meta ihm wortlos hinstellte, dankbar entgegen. Liebevoll lächelte er dabei sein Töchterchen an, das ihn stumm und mit weitaufgerissenen Augen anstarrte. Bis auf die goldblonden Löckchen und die leuchtend blauen Augen, die anscheinend sein Erbe waren, glich das kleine Mädchen eher Wilmas zartgliedriger Mutter Friederike. Helenchen erkannte ihren Vater nicht mehr, er war zu lange fort gewesen. Carl stellte die Tasse ab und wandte sich seinem Sohn zu, der eine jüngere Ausgabe seiner selbst zu sein schien. Alexander war mit seinen sechzehn Jahren, inzwischen schon beinahe so groß wie sein Vater.

«Alexander, ich weiß, dass du viele Fragen hast und ich werde versuchen, sie dir alle zu beantworten. Doch heute sei bitte gnädig mit mir. Ich war sehr krank und habe gerade erst das Bett verlassen. Noch darf ich mich nicht zu sehr anstrengen, um keinen Rückfall zu erleiden. Leila hat mich eindringlich davor gewarnt. Das verstehst du bestimmt. Und außerdem bin ich ja nun hier und ich muss nicht mehr fort. Der Krieg ist zu Ende, Gott sei Dank.»

«Ja Papa, der Krieg ist endlich zu Ende. Musst du jetzt nicht mehr fort? Bleibst du auch an Weihnachten bei uns?»

«Das werde ich, auch über Silvester und Neujahr, mein Sohn. Was wir danach machen, darüber reden wir später. Doch sag mal, wie wäre es, wenn du mir zuerst von deinem Abenteuer berichtest. Wie ich hörte, bist von zu Hause fortgelaufen, um eine soldatische Ausbildung zu erhalten. Wie ging denn das vonstatten?»

Während Alexander lang und breit davon erzählte, wie er an seinem sechzehnten Geburtstag heimlich nach Kiel gefahren und sich dort in einem Ausbildungslager für junge, angehende Soldaten vorgestellt hatte, dachte Wilma voller Dankbarkeit an den Ausbildungsoffizier, der die Halbwüchsigen nicht dem Kriegsmoloch in den Rachen werfen wollte. Er behielt die jungen Möchtegern-Soldaten vor Ort und verpasste ihnen ein derart anstrengendes Training, dass sie ihre kriegerischen Gedanken bald vergaßen. Nach dem Waffenstillstand sorgte dieser besonnene Mann dann auch noch dafür, dass die Jugendlichen wohlbehalten in ihr altes Zuhause kamen. Der merkwürdige Unterton, den Wilma aus Carls Aussage heraushörte, als er sagte, dass man später über die Zukunft reden würde, gab ihr allerdings zu denken. Sie gestand sich ein, dass sie selbst noch überhaupt nicht an eine Zukunft irgendwelcher Art gedacht hatte. Für sie war vorerst allein Carls Genesung wichtig gewesen. Aber nun würden sie darüber reden müssen, doch nicht jetzt und nicht vor den Kindern.

Wilmas Blick blieb an ihrem Helenchen hängen. Die Kleine hatte unbemerkt ihr Händchen in Carls große Hand gelegt, den Daumen der anderen in den Mund geschoben und sich dicht an ihren Vater geschmiegt. Wilma lächelte und atmete auf, über Helenchen Beziehung zu Carl brauchte sie sich wohl keine Gedanken zu machen. In dem Moment, als sie Carls erschöpfte Miene sah und den Sohn stoppen wollte, klopfte es an der Haustür.

Alexander sprang auf. Alles, was er noch sagen wollte, war vergessen, und er stürmte nach draußen. Mit einem gewaltigen Paket beladen kam er zurück in die Küche.

«Ist von Onkel Jan, aus Berlin», ächzte er, «puh, ist das schwer.»

Das Paket landete mitten auf dem Küchentisch. Meta gelang es gerade noch, die Tassen in Sicherheit zu bringen, da begann schon das Auspacken.

«Halt, so wartet doch», rief Wilma den Kindern zu, «ihr wisst doch gar nicht, an wen das Paket gerichtet ist!»

«Na, an uns alle, steht doch drauf», nuschelte Alexander, während er versuchte, mit den Zähnen den Knoten des Bindfadens zu lösen, mit dem das Ding verschnürt war. Meta kam mit der Schere, fackelte nicht lange und schnitt das Band durch. Kurze Zeit später hallten Freudenschreie durch die Küche, am lautesten die von Meta, die ein kleines Päckchen selig an ihre Brust drückte, immer wieder daran schnupperte, nur um gleich wieder in laute Begeisterungsrufe auszubrechen.

«Wisst ihr, was das ist? Könnt ihr es nicht riechen? Bohnenkaffee, echter, richtiger Bohnenkaffee. Ach, ich weiß schon gar nicht mehr, wie der schmeckt. Den hebe ich für Weihnachten auf, das ist das Schönste, was mein Sohn mir nur schenken konnte. Bohnenkaffee, oh nee, dat kann ik gor nich glöven!»

Vor lauter überschäumender Freude verfiel Meta in ihre plattdeutsche Heimatsprache. Alexander und Helenchen hatten sich bereits über die große Tafel Schokolade hergemacht, wie an den braun verschmierten Mündern zu erkennen war. Carl hielt begeistert ein Päckchen Zigaretten in die Höhe und stöhnte selig: «Wie habe ich diese Glimmstängel vermisst, danke Jan, dass du sogar daran gedacht hast.»

Wilma, anscheinend die Einzige, die eine kühlen Kopf bewahrt hatte, schnappte sich den Briefumschlag, der unbeachtet neben dem Paket lag und öffnete ihn.

«Liebste Leila», las sie und ließ das eng beschriebene Blatt sinken. Sie sah sich um und bemerkte erst jetzt, dass ihre Kusine gar nicht anwesend war.

«Wo ist eigentlich Leila», fragte sie, doch nur Meta hörte sie, die anderen waren noch eifrig mit dem Auspacken beschäftigt.

«Komm, setzen wir uns in die Stube, da erkläre ich dir dann, was Leila gerade macht.»

Meta wies zur Tür und Wilma folgte ihr mit einem seltsam beklommenen Gefühl. Wollte Leila etwa nach Berlin, zu ihrem Mann? Verstehen könnte sie das, aber die Kusine würde ihr doch sehr fehlen. Umständlich rückte Meta erst noch ein paar Kissen auf dem Sofa zurecht, ehe sie begann.

«Weißt du, Leila fehlt ihr Jan doch sehr und da du dich um Carl so gut kümmerst, fühlt sie sich hier ziemlich überflüssig. Mir in der Küche zu helfen oder auf Helenchen aufzupassen, das fülle sie nicht aus, meinte sie. Als Ärztin könnte sie den Menschen doch besser beistehen. Da habe ich sie zu unserem guten Doktor Spliedt geschickt. Der hat doch immer so viel zu tun, dass es inzwischen hier bei uns schon ein Sprichwort über ihn gibt «Spliedt hett keen Tied». Der könnte fachmännische Hilfe sicher gut gebrauchen. Nun ist sie schon seit heute Morgen fort, das lässt darauf schließen, dass Dr. Spliedt sie wohl gleich mit eingespannt hat. Das würde mich freuen, für uns alle.»

Einen Augenblick war Wilma sprachlos, überrascht von der Tatkraft ihrer Schwägerin. Dann freute auch sie sich darüber, dass Leila eine wichtige Aufgabe für sich gefunden hatte und hier in Kappeln blieb, wenigstens vorerst. Mitten in ihre Gedanken hinein sprach Meta das aus, was ihr seit Carls Bemerkung vorhin durch den Kopf ging und Befürchtungen bei ihr auslöste.

«Wilma, was wird eigentlich aus deiner Arbeit als Lehrerin, wenn die Schule wieder öffnet und die Lehrer aus dem Krieg zurückkommen und ihre alten Posten wieder zurückhaben wollen? Wirst du dann zu Hause bleiben müssen?»

«Daran habe ich auch schon gedacht und weiß es einfach nicht. Im Moment ist die Schule geschlossen, weil wir kein Heizmaterial haben. Und mit frierenden Fingern kann niemand schreiben. Nächste Woche gibt es sowieso Weihnachtsferien, die bis zum Neuen Jahr andauern. Und was dann kommen mag, liebe Meta, das sehen wir, wenn es so weit ist.»

Ganz wohl war Wilma nicht bei dem Gedanken, dass einer der Lehrer als Kriegsheimkehrer seine Stelle einfordern könnte. Sie wollte Meta beruhigen, ihr sagen, dass es schon irgendwie weitergehen würde, als aus der Küche Leilas Stimme zu hören war.

«He, Finger weg, es wird nicht alles sofort aufgegessen. Die Konserven sind wertvoll, weil sie lange haltbar sind, sofern sie nicht geöffnet werden.»

Wilma und Meta schüttelten den Kopf, als sie das Durcheinander sahen, das die eifrigen Auspacker angerichtet hatten. Leila hörte sie kommen und drehte sich um.

«Ein Paket von Jan, ist das nicht eine wunderbare Überraschung? Da ist ja auch ein Brief. Für mich? Entschuldigt, aber den muss ich jetzt erst lesen.»

Rasch überflog sie die Zeilen, lachte und hatte gleichzeitig dabei Tränen in den Augen. Sie hob den Blick und sah die anderen eindringlich an.

«Dieser Brief ist nur zum Teil für mich gedacht. Jan will uns alle darüber informieren, was in Berlin gerade vor sich geht. Da scheint es gerade drunter und drüber zu gehen. Ich möchte es euch vorlesen, dann kann ich die allzu persönlichen Stellen überspringen. Einverstanden?»

Meta und Wilma nickten und Carl meinte, dass er begierig darauf sei, zu erfahren, was sich in der Hauptstadt und der Politik täte. Als alle am Tisch saßen, begann Leila zu lesen.

«Liebste Leila, Berlin, 05.12.1918 es steht hier in Berlin nicht gut, nicht für die Menschen und nicht für die neue Regierung, von der niemand weiß, wie lange sie eine funktionierende Regierung bleiben wird. Die Menschen hier hungern immer noch, auch wenn