Bis wir fallen - Tobias Heuer - E-Book

Bis wir fallen E-Book

Tobias Heuer

0,0

Beschreibung

"Bis wir fallen" ist ein modernes Märchen für Erwachsene. Der subtile Stil des Buches ist vergleichbar mit anderen Urban-Fantasy-Romanen wie "Der Nachtzirkus" von Erin Morgenstern, "Das Schneemädchen" von Eowyn Ivey und "Die Frau des Zeitreisenden" von Audrey Niffenegger. In dem Roman verwischen zusehends die Grenzen zwischen der Realität und dem Übernatürlichen, es geht es um die Tiefe des Menschseins und unsere Verbindung zur Natur. Handlung: Bei einem Spaziergang im Hamburger Stadtpark mit ihrem Labrador-Rüden James begegnet Sophie Oliver. Er ist völlig am Boden zerstört und weint bitterlich. Auf ihre Frage wieso, behauptet er, dass er der Herbst sei. Er ist deshalb so verzweifelt, weil er seine Fähigkeit verloren habe, die Jahreszeit und die damit verbundenen Veränderungen auf der Welt einzuleiten. Es ist bereits Oktober und der Blätterfall bereits viel zu lange überfällig. Sollte es Oliver nicht gelingen, noch etwas zu verändern, drohe die gesamte Natur zerstört zu werden. Sophie entschließt sich dazu, dem Unbekannten zu helfen. Gemeinsam beginnen sie nach einem Weg zu suchen, wie Oliver seine Kraft doch noch wiedererlangen kann. Im Laufe der Zeit verliebt Sophie sich in Oliver und sie finden auf ihrer Suche Unglaubliches über die Jahreszeiten und den Ursprung aller menschlichen Gefühle heraus. Sophie gibt die Hoffnung nicht auf, dass Oliver letztendlich doch noch etwas bewegen und die bedrohte Pflanzenwelt retten kann.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 385

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Bis wir fallen

Bei einem Spaziergang im Hamburger Stadtpark mit ihrem Labrador-Rüden James begegnet Sophie Oliver. Er ist völlig am Boden zerstört und weint bitterlich. Auf ihre Frage wieso, behauptet er, dass er der Herbst sei und angeblich deshalb so verzweifelt ist, weil er seine Fähigkeit verloren hat, die Jahreszeit und die notwendigen Veränderungen auf der Welt einzuleiten.

Es ist bereits Oktober und das Fallen der Blätter schon lange überfällig. Sollte es Oliver nicht gelingen, etwas zu verändern, drohe die gesamte Natur zerstört zu werden.

Sophie glaubt ihm. Sie entschließt sich dazu, dem Unbekannten zu helfen und gemeinsam beginnen sie nach einem Weg zu suchen, wie er seine Kraft doch noch wiedererlangen kann. Im Laufe der Zeit verliebt sich Sophie jedoch in Oliver und die beiden finden auf ihrer Suche Unglaubliches über die Jahreszeiten heraus, die mit dem Ursprung aller menschlichen Gefühle verbunden sind. Sophie weigert sich strikt dagegen, die Hoffnung aufzugeben, dass Oliver am Ende doch noch etwas bewegen und die bedrohte Natur retten kann.

TOBIAS HEUER

Bis wir fallen

Roman

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2020 Tobias Heuer

2. Auflage

Herstellung und Verlag:

tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg

ISBN

978-3-7497-4418-3 (Paperback)

978-3-7497-4421-3 (Hardcover)

978-3-7497-4422-0 (E-Book)

Für Melli.

Mit all der Liebe, die mein Herz aufbringen kann.

TEIL EINS

1

Zuerst hatte Sophie das Schluchzen gar nicht wahrgenommen, doch je näher sie dem kleinen Baumstumpf am Rande des Weges kam, desto deutlicher hörte sie es.

Sie pfiff erneut nach ihrem Labrador James. Doch ihn interessierte es natürlich herzlich wenig, dass sie ihn jetzt an ihrer Seite haben wollte. Unbeirrt streifte er durch die niedrigen, blassgrünen Büsche seitlich des Weges und schnaufte dabei wie eine kleine Dampfmaschine. Seine Schnauze war dabei so rasant in Bewegung, dass es wirkte, als würde er versuchen damit möglichst viele der dicken Regentropfen aufzufangen, bevor sie den Boden berührten. Das abscheuliche Wetter hielt offenbar zu viele spannende Gerüche für ihn bereit, als dass er auf sie hören wollte. Sophie warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu.

Sie schloss ihre grazilen Finger etwas fester um den hölzernen Griff ihres Regenschirms und ging noch ein paar Schritte auf die Gestalt zu, die alleine auf dem maroden Baumstumpf saß.

Ein junger Mann hatte sein Gesicht tief in den Handflächen vergraben und die Ellenbogen auf die Knie gestützt. Keine zwei Meter vor ihm blieb Sophie stehen und betrachtete ihn genauer. Sie zögerte wider Willen. Denn eigentlich gehörte sie nicht zu den Menschen, die allzu viel überlegten, bevor sie ein Vorhaben in die Tat umsetzten. Doch irgendetwas an dem Bild, das sich ihr bot, hielt sie davon ab, den jungen Mann anzusprechen.

Er trug einen hellbraun melierten Mantel, dessen Saum die nasse Erde rund um den Baumstumpf berührte. Auf der Vorderseite des Mantels waren zwei lange Reihen goldschwarzer Knöpfe angenäht und auf dem Nacken dünne Schulterklappen befestigt, was dem Mantel ein wenig das Aussehen einer eleganten Uniformjacke aus vergangenen Zeiten verlieh. Darunter konnte Sophie einen edlen dunkelbraunen Tweedanzug mit dazu passender Weste und schwarzer Krawatte über einem weißen Hemd erkennen. Doch das Ungewöhnlichste waren eine grün-weiß gestreifte und eine sonnengelb karierte Socke. Beide steckten in schmalen, knöchelhohen Lederschuhen, die das außergewöhnliche Erscheinungsbild des jungen Mannes nur noch untermalten. Sowohl der Mantel als auch seine Schuhe hätten Sophie mit Sicherheit auch gut gestanden, dachte sie bei sich und legte den Kopf leicht schräg. Sie fragte sich ehrlich interessiert, was wohl mit ihm los war. Mit der freien Hand nahm sie ihre gewellten, schulterlangen Haare in ihrem Nacken zu einem dicken Strang zusammen.

»Ich weiß nicht, wer du bist, aber geh bitte weiter«, sprach die gesichtslose Gestalt plötzlich in die Hände, was Sophie zusammenzucken ließ. Vielleicht hatte sie nicht erwartet, dass er sie überhaupt bemerkt hatte, vielleicht überraschte sie aber auch sein fordernder Tonfall, den sie in dieser Situation nicht gerade angemessen fand. In jedem Fall hatte sie sich erschrocken und fühlte sich nun schlagartig herausgefordert.

»Entschuldige bitte, dass es mich nicht kaltlässt, wenn jemand vollkommen alleine im Regen auf einem Baumstumpf sitzt und weint.« Die Antwort kam schnell und nüchtern.

»Entschuldigung angenommen, und jetzt geh einfach!« Sophie schnaubte verächtlich und hielt dabei nach James Ausschau, der gerade in einem Rhododendronstrauch verschwand. Was bildet der Typ sich eigentlich ein? Als ob sie sich einfach so von ihm herumkommandieren lassen würde.

»Korrigier mich, wenn ich falsch liege«, sagte sie darauf, »aber meines Wissens gehört dir der Stadtpark genauso wenig, wie ich dir gehöre. Ich gehe also nirgendwohin, solange ich es nicht selbst will. Und weißt du?«, sie hob leicht die Schultern, »zufällig könnte ich mir in diesem Augenblick keinen besseren Platz vorstellen als diesen hier.«

Sie ließ die Schultern wieder fallen und wartete auf eine Reaktion, doch diesmal machte der junge Mann keine Anstalten, etwas zu erwidern. Er schluchzte einfach weiter leise vor sich hin und blieb ansonsten stumm. Doch Sophie sah es überhaupt nicht ein, sich jetzt von ihm fortschweigen zu lassen. Sie meinte es doch nur gut, also blieb sie wie angedroht stehen und betrachtete ihn eine Weile. Sie strich gedankenverloren an dem feinen Stoff ihres burgunderfarbenen, knielangen Wollmantels hinab und beließ die Hände dann in ihrer schmalen Taille.

»Sprichst du jetzt nicht mehr mit mir?«, fragte sie schließlich und beobachtete, wie ihr Hund, der eine Sekunde zuvor mit einem Rascheln wieder aus dem Strauch aufgetaucht war, wild mit dem Schwanz wedelnd auf ihren am Boden kauernden Gesprächsverweigerer zulief.

»Keine Angst, er wird dir einen, allerhöchstens zwei Finger abbeißen«, sagte sie im Scherz. Der Mann jedoch regte sich kein Stück und James wandte sich ab, weil ein kleiner Tannenzapfen plötzlich doch viel interessanter schien.

»Du meinst deinen Hund?«, gab er leise zurück und Sophie fragte sich, ob er durch seine Handflächen überhaupt hindurchsehen konnte oder ob er James einfach gehört hatte.

»Nein, die Amsel da drüben auf dem Ast«, konterte sie etwas frecher als beabsichtigt, »natürlich meinen Hund.«

Da hob der Mann den Kopf, richtete sich ein kleines Stück auf und ließ die Hände behutsam in seinen Schoß fallen. Er wandte sich nach links und blickte für einen kurzen Moment genau auf den Ast, auf dem Sophie nur Sekunden zuvor der besonnt singende, schwarze Vogel aufgefallen war. Anschließend drehte er sich zu ihr und sah sie an. Auf einmal wieder ein wenig verunsichert, verschränkte Sophie ihre linke Hand in der Ellenbogenbeuge des Arms, der ihren Schirm trug, und hielt seinem Blick stand.

Das Gesicht des jungen Mannes war zwar rot und ein wenig verquollen, aber abgesehen davon nicht gerade unattraktiv. Er schien etwas jünger als sie selbst zu sein und vor allem seine Augen fingen ihre Aufmerksamkeit ein, da sie verschiedenfarbig waren. Das rechte war hellbraun, während das linke vielmehr einen stark moosgrünen Ton hatte. Seine kurzen, dunkelbraunen Haare waren vollkommen durcheinander und standen nach allen Seiten ab.

Gerade hatte Sophie ihre Sprache wiedergefunden und den Mund wieder aufmachen wollen, um ihn zu fragen, warum er nun alleine im Regen saß, als sie ein paar kurze, kräftige Flügelschläge hörte und mit ansehen musste, wie die aufgeregt flatternde Amsel von eben auf der rechten Schulterklappe des Mannes landete.

Sophie verschluckte sich an ihrer Frage, während das galante Tier ordentlich seine Flügel zusammenfaltete, sich kurz aufplusterte und sein kleines Köpfchen anschließend im Sekundentakt zwischen ihr und dem Ohr des Mannes hin- und herwandern ließ. Mit leicht geöffneten Lippen starrte Sophie abwechselnd den Typen und dann wieder den Vogel an.

»Meintest du diese Amsel?«, fragte er mit immer noch bebender Stimme herausfordernd und begann, das Tier sanft zu streicheln. »Ich glaube, meine Finger wird sie nicht abbeißen. Wie es jedoch mit deinen aussieht, kann ich nur schwer sagen. Was meinst du?«

Er schaute den Vogel liebevoll an und Sophie war sich in ihrer Sprachlosigkeit nicht ganz sicher, ob er diese Frage ihr oder dem Tier gestellt hatte. Dann sah sie, wie sich James, der nun endlich bei dem Baumstumpf angekommen war, vor dem Mann hinsetzte und seinerseits das geflügelte Tier in Augenschein nahm. Abgesehen davon, was sich gerade vor ihren Augen abgespielt hatte, war Sophie verblüfft, wie ruhig ihr sonst so aufdringlicher Gefährte dabei wirkte. So wie sie ihn kannte, hätte er den Vogel sofort stürmisch aufscheuchen müssen. Und dabei hätte er den jungen Mann wahrscheinlich zu Boden geworfen. Doch stattdessen saß James einfach nur da und schaute das offenbar für ihn befremdlich wirkende Gespann neugierig an.

»James, komm her!«, rief sie. Er machte keine Anstalten, sich zu bewegen.

»James, komm, wir gehen!«, befahl sie ihm nun bestimmter, doch auch das blieb wirkungslos. Sie fühlte sich von Sekunde zu Sekunde weniger wohl in ihrer Haut.

»Ach, jetzt möchtest du gehen?«

Ihre Zufallsbekanntschaft hörte auf, die Amsel zu streicheln, und legte die Hand vorsichtig auf James’ Kopf. Sophie traute ihren Augen nicht, als der Vogel sogleich über die Falten des Mantelärmels hinabhüpfte und letztendlich zwischen seinen Fingern auf James’ Kopf stehen blieb.

»Gerade noch so mutig und plötzlich von einem kleinen Vogel derart eingeschüchtert …« Er zog die Hand wieder zurück und Sophie musste perplex mit ansehen, wie James zögerlich – als ob er sichergehen wollte, dass der Vogel nicht von seinem Kopf fiel – aufstand, sich umdrehte und langsam zu ihr hinübertrottete. Als er bei ihr angekommen war, umkreiste er sie einmal halb und setzte sich schließlich an ihre Seite. Sophie schaute an ihrer eigenen Schulter zu ihm herab und sah, wie er zufrieden hechelte. Die Amsel hockte wankend auf seinem Dickschädel und schaute, anders als James, interessiert zu ihr hinauf. Sophie überlegte, ob sie sich kneifen sollte.

»Spätestens jetzt hätte ich zugegebenermaßen damit gerechnet, dass du dich so weit wie möglich von mir entfernen würdest.«

Sophie schluckte schwer, sah jedoch nicht ein, sich durch diesen Trick abwimmeln zu lassen.

»Nur weil du einen Vogel dressiert und meinen Hund dazu überredet hast, ihn als Hut mit sich herumzutragen?«, gab sie zurück und merkte, wie wenig selbstsicher sie dabei klang. Diese Tatsache gefiel ihr überhaupt nicht.

»Ich sehe nicht, was daran sonderlich gefährlich sein sollte«, schloss sie und berührte, sich selbst innerlich verfluchend, mit zitternden Fingerspitzen das kühle Gefieder des Vogels. Im ersten Moment schien das Tier ein Stück zurückzuweichen und sie dachte, es würde sogleich wegfliegen. Doch dann lehnte sich der Vogel zu ihr und drückte mit seinem kleinen Körper ganz leicht gegen ihre Knöchel. Sie konnte sein rasant schlagendes Herz und das ständige Zucken seiner Muskulatur spüren.

Mit einem zweifelnden Blick schaute sie abermals zu dem Mann hinüber, wobei sie feststellte, dass neben der offensichtlichen Traurigkeit und Verzweiflung noch ein dritter Ausdruck in seinem Gesicht aufgetaucht war. Ein Ausdruck, den Sophie irgendwo zwischen verwundertem Respekt und unwillkommener Verwirrung einordnete. Eine stumme Träne lief an seiner Wange herab und Sophie fühlte einen kalten Stich in ihrer Brust.

»Warum sitzt du hier …? Ich meine, an einem Sonntagnachmittag im Stadtpark. Ohne Schirm bei diesem scheußlichen Wetter?«, wagte sie sich nochmal vor und ignorierte dabei geflissentlich die interessanteren Fragen, die jetzt zwischen ihren Augenbrauen brannten, zum Beispiel: Wie zum Teufel hast du das eben gemacht? Auf ihre Frage wandte er jetzt seinerseits den Blick von ihr ab und schaute in den Wald hinein, als ob er dort eine Antwort finden könnte.

»Ich habe etwas verloren«, bekundete er dann so leise, als wollte er den Bäumen und Sophie etwas beichten.

Auch wenn es schwer war, sich von dem Vogel nicht ablenken zu lassen, der nun aufdringlich wie eine Katze mit ihrer Hand kuschelte, ließ Sophie ihr Gegenüber nicht aus den Augen.

»Wenn es dir so schlecht geht, dann muss es wohl etwas Wichtiges gewesen sein«, sagte sie.

»Du hast ja nicht die geringste Ahnung«, gab er zurück und senkte wieder den Kopf.

»Och, da wär ich mir an deiner Stelle nicht so sicher«, erwiderte sie. »Ich hab in meinen siebenundzwanzig Jahren alle wirklich wichtigen Dinge schon mindestens zwei Mal verloren. Portemonnaie, Handy, Haustürschlüssel, Autoschlüssel, meine Würde …« Sophie hielt kurz inne und fragte sich, warum sie schon wieder schneller redete, als sie dachte. »Und aus meiner Erfahrung kann ich sagen, dass zwei weitere helfende Hände meistens entscheidend zum Erfolg der Suche beitragen.« Sie klatschte tatkräftig in die Hände und der Vogel meckerte vorwurfsvoll. »Also, damit du möglichst schnell aus dem Regen kommst und dir wieder trockene Sachen anziehen kannst: Was suchen wir?«

Traurig dreinblickend wandte er sich ihr erneut zu.

»Hör zu, auch wenn es mich ein wenig neugierig macht, dass sich meine Amsel von dir hat berühren lassen, kannst du mir nicht helfen. Das, was ich suche, kannst du nicht finden. Es ist schlicht unmöglich. Deshalb danke für dein Angebot, aber vergiss es.«

»Deine Amsel? Also hast du sie wirklich dressiert oder so? Ist sie so eine Art Haustier?«

»Nein, ist sie nicht«, antwortete er. »Das war nur so dahergesagt, sie ist natürlich nicht meine Amsel. Sie ist einfach nur irgendeine Amsel, die zufällig auf einem nahen Ast gesessen hat.« Er schüttelte genervt den Kopf.

»Aha, und du bist dann wohl ein Zauberer, der einen beängstigend guten Draht zu fremden Vögeln und anderer Leute Haustiere hat?«

»Wenn dich das endlich zufriedenstellen würde.« Obwohl sie wusste, dass sie diese Angelegenheit eigentlich gar nichts anging, wurde Sophie zickig. Ein Windstoß fuhr durch die Baumkronen, drang jedoch nicht durch das Geäst bis zu ihnen hindurch. Nur das Rauschen füllte den kurzen Moment der Stille.

»Nein, das stellt mich nicht zufrieden.«

»Und warum wundert mich das nicht?«, fragte er resigniert.

»Was weiß ich, aber ich werde dich bestimmt nicht in Ruhe lassen, bevor du mir nicht mindestens erklärt hast, wie das mit dem Vogel funktioniert. Wie stellst du dir das eigentlich vor? Nachher bin ich zu Hause und denke noch, dass ich Geister gesehen habe!«

»Vielleicht ist dir das dann eine Lehre, nicht mehr wildfremde Männer im abendlichen Park anzusprechen. Machst du so was eigentlich häufiger?«

»Nein, aber ich bin nun mal hilfsbereit«, konterte Sophie, »deshalb wollte ich dir einfach zur Seite stehen und sehen, was los ist. Wenn ich heulend im Regen sitzen würde, wäre es mir schließlich auch lieber, wenn sich jemand um mich kümmert, als dass ich ganz auf mich allein gestellt wäre.«

Der Mann seufzte kurz angestrengt, schüttelte sich und stand auf.

Vielleicht bildete Sophie es sich nur ein, aber es schien ihr dabei, als würden sich die Äste der umstehenden Bäume im selben Augenblick, in dem er sich aufrichtete, ein wenig dem Boden entgegenstrecken. Ganz so, als wollten sie ihn mit ihren Zweigen erreichen. Es war nur minimal, aber für Sophie durchaus sichtbar.

Sie wich instinktiv ein paar Schritte zurück, was ihr einen skeptischen Blick des Labradors einbrachte, der immer noch an Ort und Stelle verharrte, so, als wären der ungewöhnliche Typ und die Amsel auf seinem Kopf ganz normal. Ihre Gänsehaut verstärkte sich und sie klammerte sich so fest an ihren Regenschirm, dass ihre Knöchel weiß hervortraten. Doch irgendetwas hielt sie davon ab, wegzurennen. Warum konnte sie nicht ein Mal vernünftig sein?

Ihr Gegenüber, das größer war, als Sophie erwartet hatte, setzte sich langsam in Bewegung und ging auf sie zu. Dabei zog er tatsächlich die Äste kreisförmig mit sich, was den Eindruck erweckte, als pustete eine seichte, kaum sichtbare Welle aus Blättern durch den Wald. Jeden seiner Schritte setzte er so achtsam auf den Waldboden, dass Sophie sich, stocksteif wie sie immer noch dastand, fragte, ob er vielleicht Angst hatte, mit seinen Füßen etwas kaputt zu machen. Sie sog die feuchtigkeitsschwangere, kühle Luft durch ihren offenen Mund ein und wartete, bis seine elegante Erscheinung kaum eine Armeslänge von ihr entfernt zum Stehen kam. Seine bunten Augen waren so gläsern, dass sich ihr angespanntes Gesicht in ihnen spiegelte.

Auch James war derweil wieder aufgestanden und setzte sich fröhlich wedelnd neben den Mann in das alte, nasse Laub. Wirklich ein treuer Freund, dachte sie. Der Vogel schwankte bedrohlich und hatte Mühe und Not, sich an James’ schokoladenbraunem Fell festzukrallen.

»Verrätst du mir deinen Namen?«, fragte er sie und sie spürte seinen Atem dabei. Er war angenehm warm und ganz und gar menschlich, was Sophie ein wenig beruhigte.

»Ich bin Sophie«, erwiderte sie zögerlich und klang so, als wäre sie sich nicht hundertprozentig sicher. »Und du?«

Er bemühte sich um ein freundliches Lächeln und brachte sie damit noch mehr durcheinander.

»Auch wenn das unbedeutend ist, mein Name ist Oliver.«

Sophie nickte. »Warum sollte dein Name unbedeutend sein? Kein Name ist unbedeutend.«

»Weil sich unsere Wege ohnehin gleich wieder trennen werden, darum. Du wirst deines Weges gehen, und ich werde hierbleiben«, sagte er und fixierte sie mit festem Blick.

»Nicht, bis du mir erzählt hast, was es mit den Tieren und den – verdammt noch eins – Bäumen auf sich hat. Ich bilde mir doch nicht ein, dass die Äste dir folgen, oder spinne ich jetzt vollkommen?«

Er kam noch einen winzigen Schritt näher und schüttelte den Kopf. »Nein, Sophie, das bildest du dir nicht ein.«

Sie erschauderte, als er ihren Namen aussprach. Seine Stimme war bestimmt und verletzlich zugleich. Sie sah, wie sehr er sich zusammenreißen musste, um mit ihr zu sprechen.

»Aber warum tun sie das, ich verstehe das nicht. Und der Vogel, ich …«

Diesmal unterbrach er sie: »Versprichst du mir, dass du mit deinem Hund weitergehst, wenn ich es dir verrate?«

Sophie zögerte kurz und überlegte, was für Optionen sie hatte. »Versprochen.«

Oliver holte tief Luft und seufzte. »Na gut, dann …«, sagte er und zog die Schultern wie zum Schutz an die Ohren. Es dauerte ein paar Sekunden, bis er weitersprach.

»Die Bäume folgen mir mit ihren Zweigen, weil ich der Herbst bin.«

Eine kurze Pause entstand, während Sophie sich fragte, ob sie ihn gerade richtig verstanden hatte.

»Sorry, was hast du gerade gesagt?«, hakte sie nach. Oliver machte ein Gesicht, als würde er dieses Gespräch jetzt noch mehr bereuen als vorher.

»Ich habe gesagt, dass ich der Herbst bin.«

»Der Herbst?«

»Ja.«

»Du bist eine Jahreszeit?«

»Ja.«

Immer noch sah er ihr fest in die Augen. Obwohl sie prüfend zurückblickte, konnte sie keine Spur von Humor in seiner Mimik entdecken.

»Wie meinst du das, dass du der Herbst bist? Das soll ich dir glauben?«, entgegnete sie.

»Na ja, der Vogel, die Äste … dein Verstand wird das nicht in sein Bild von der Welt einordnen können. Also würde ich dir empfehlen, dass du es zumindest versuchst. Abgesehen davon ist es aber unwichtig, da unsere Abmachung nicht beinhaltete, dass du mir glauben musst. Wir haben abgemacht, dass ich dir den Grund nenne und du mich anschließend in Frieden lässt.«

»Ja, aber einen schlüssigen Grund.«

Oliver verschränkte die Arme vor der Brust und sah frustriert durch Sophie hindurch.

»Also erstens ist dieser Grund sehr wohl schlüssig, dein Horizont ist nur nicht weit genug«, fuhr er fort, »und zweitens kannst du nicht im Nachhinein einfach so die Spielregeln verändern. Das ist nicht besonders ehrenhaft.«

»Ich habe ja auch nie behauptet, dass ich ehrenhaft bin.«

Er schüttelte wieder verzweifelt den Kopf.

»Ich habe das Gefühl, ich rede mit einem Kleinkind. Und überhaupt – hast du eigentlich gar keine Angst vor mir? Du weißt schon, dass es klüger von dir gewesen wäre, längst das Weite zu suchen. Du bist eine zierliche junge Frau und wärest mir im Zweifelsfall hilflos ausgeliefert. Schon mal darüber nachgedacht? Von dem, was du gerade miterlebt hast, mal ganz abgesehen«, sagte er angespannt. »Hilfsbereitschaft hin oder her. Das ist kein Mut, das ist Dummheit!«

Während er sie anfauchte, beobachtete Sophie, dass er den Tränen weiterhin nahe zu sein schien und sich offenbar zusehends beherrschen musste, um seine Fassung nicht zu verlieren. Es ging ihm offensichtlich schlecht. Er war nicht einfach unfreundlich, weil er ein taktloser Mensch war, sondern weil ihre Anwesenheit ihn wirklich zu belasten schien.

»Ich wäre dir nicht hilflos ausgeliefert«, erwiderte sie so beiläufig wie möglich und machte sich größer. »Unabhängig davon denke ich nicht, dass du mir etwas antun würdest. Männer, die weinend im Regen auf Holzstümpfen sitzen, wirken generell nicht sonderlich bedrohlich, das musst du zugeben.« Wieder entstand eine kurze Pause, in der die beiden sich still ansahen.

»Also hast du keine Angst vor mir, nein? Fühlst du dich in meiner Anwesenheit nicht irgendwie – wie soll ich es ausdrücken – haltlos?«

Sophie horchte in sich hinein. Die riskante Situation, in die sie sich hineinmanövriert hatte, beunruhigte sie schon, aber haltlos fühlte sie sich nicht. Nur die Gänsehaut, die sich mittlerweile auf ihrer ganzen Körperrückseite ausgebreitet hatte und sich nicht wieder, wie es sich für eine normale Gänsehaut gehörte, verflüchtigte, machte sie stutzig. Doch heute war nicht der Tag, an dem sie ihre lang vergessene Unsicherheit wieder hochkommen lassen wollte.

»Haltlos, wieso? Weil du der Herbst bist?«, fragte sie scherzhaft.

Oliver schaute sie an, als wäre sie ein kleines Mädchen, dem man zum zehnten Mal erklären musste, dass es gefährlich ist, über die Straße zu gehen, ohne vorher nach links und rechts zu schauen.

»Ja, so einen Effekt habe ich auf die meisten Menschen.«

»Zu deinem Glück gehöre ich aber nicht zu den meisten Menschen.« Sophie traute ihren Ohren kaum, als sie sich das sagen hörte. Doch Oliver sah aus, als würde es ihn nicht sonderlich überraschen.

»Um genau zu sein, meinte ich auch nicht die meisten Menschen, sondern alle Menschen. Alle Menschen fühlen sich in meiner Anwesenheit etwas haltlos und verloren. Du brauchst nur etwas länger, wirst aber schon sehen.«

Sophie verunsicherte diese Aussage erneut, weil sie nicht den geringsten Eindruck hatte, dass er ihr Lügengeschichten auftischen wollte.

»Wenn es wirklich so ist, dass sich alle Menschen in deiner Gegenwart verloren fühlen, dann wäre das aber ganz schön traurig.« Sie spürte, wie sich etwas in ihrem Unterbauch zusammenzog. Es schien ihr immer aussichtsloser, in den Wendungen ihres Gehirns nach einer Erklärung für die ungewöhnlichen Geschehnisse zu suchen, die sich vor ein paar Minuten abgespielt hatten.

»Der Herbst zu sein hat auch seine guten Seiten«, sprach er, nun mehr zu sich selbst als zu ihr. »Da muss man Unannehmlichkeiten nun mal in Kauf nehmen.« Er biss sich auf die Lippe. Weder der erste noch der letzte Teil des Satzes wirkten überzeugend auf Sophie.

»Das ist wirklich dein Ernst, oder? Diese Sache mit dem Herbst?«

»Ja, mein voller Ernst.« Er starrte wieder resigniert zu Boden.

»Aber wenn das stimmen sollte, warum sitzt du dann hier im Stadtpark und weinst? Ich meine, hat der Herbst nicht was Besseres zu tun? Müsstest du nicht Stürme heraufbeschwören oder so was?« Sophie hoffte inständig, dass kein Mensch zufällig hinter einem der unzähligen Baumstämme stand und sie belauschte. »Nicht, dass es mich stören würde … Aber der Sommer geht dieses Jahr doch ohnehin schon ungewöhnlich lange. Vielleicht solltest du dich, wenn du wirklich der Herbst bist, ein wenig …«

Sie hatte ihren Satz noch nicht ganz beendet, da setzte Oliver sich plötzlich in Bewegung und streifte im Vorbeigehen unsanft ihre Schulter.

»Hey!«, rief sie empört und drehte sich um die eigene Achse, um ihm hinterhersehen zu können.

*

Ohne sie eines weiteren Blickes zu würdigen, ging Oliver, den sie vor fünf Minuten noch nicht einmal gekannt hatte, fort und zog dabei die zarte Welle mit sich durch die Baumkronen. Da er schnell davonging, raschelten die vielen Blätter aufgeregt, während sie sich ehrfürchtig vor ihm verneigten und anschließend wiederaufrichteten. Sophie zuckte zusammen, als James ihr mit seiner kalten Schnauze über das Handgelenk fuhr und dabei leise fiepte. Sie schaute zu ihm hinab und sah, dass der Vogel nicht mehr auf seinem Kopf saß. Darüber wirkte er überhaupt nicht glücklich und warf Oliver einen kurzen, wehmütigen Blick hinterher, bevor er sie wieder traurig ansah. Sophie kannte diesen Ausdruck genau. Es war derselbe Blick, den der Charmeur aufsetzte, wenn er wusste, dass sie eine frische Tüte seiner geliebten Schweineohren gekauft und im oberen Küchenschrank verstaut hatte. Es war ein Blick, der ihr sagte: Ich bin ein Hund, ich kann die Tür nicht aufmachen, aber ich weiß, dass du es kannst. Also bitte fass dir ein Herz, komm schon!

Sophie schaute weiterhin der sich schnell entfernenden Gestalt hinterher und blinzelte ruckartig. Sie glaubte nicht an Zauberei. Diese träumerischen Zeiten waren vorbei und das hatte einen guten Grund. Sie konnte jedoch nicht leugnen, was sie gesehen hatte, und James’ Anblick war einfach zu tragisch, als dass sie einfach hätte stehen bleiben können. Also setzte auch sie sich in Bewegung und beschleunigte ihren Gang auf dem matschigen Parkweg, bis sie so schnell war, dass sie beinahe joggte. James verstand sofort und lief zuversichtlich voran, nicht ohne dabei fröhlich zu japsen. Sophies Regenschirm wippte bedrohlich, als sie den Griff für einen kurzen Augenblick unter den Arm klemmte, um sich mit der frei gewordenen Hand den linken Ärmel ihrer Jacke hochzuschieben. Nach einem flüchtigen Blick auf die Uhr stellte sie fest, dass es bereits kurz vor sechs war und sie den Kuchen für Lenas Geburtstag noch nicht fertig hatte. Das alles hier passte ihr also eigentlich so gar nicht in den Kram.

Sie holte Oliver langsam wieder ein und beobachtete unter der tief hängenden Kante des Schirms, wie er ins Freie trat und jetzt an der Seite des Stadtparksees entlangging.

»Oliver, warte!«, rief sie ihm zu, als sich die Distanz zwischen ihnen auf wenige Meter verringert hatte. Doch er machte nicht den Eindruck, als würde er auf sie hören wollen.

Sophie wich immer wieder den sandig trüben Pfützen aus, die sich zunehmend auf dem Weg ausbreiteten, und versuchte nicht ihre Entschlossenheit zu verlieren. Der Regen trommelte unregelmäßig, aber lautstark auf den karogemusterten Stoff über ihrem Kopf, ganz so, als wolle er ihre Verfolgungsjagd musikalisch untermalen. Sie erhöhte nochmals ihr Tempo, bis sie endlich zu Olivers Seite aufgeschlossen hatte, wobei sie für jeden von seinen Schritten mindestens zwei nehmen musste.

Die Tatsache, dass sie plötzlich wieder neben ihm aufgetaucht war und ihn eindringlich anstarrte, ließ ihn völlig kalt. Er ignorierte sie stur und sah zielstrebig geradeaus, als würde sie für ihn schlicht und einfach nicht existieren.

Sophies Schuhe und der Ansatz ihrer schmal geschnittenen Jeans waren mittlerweile völlig durchnässt und mit Matsch besprenkelt. Das ärgerte sie wahnsinnig, denn sie liebte diese knöchelhohen Schuhe abgöttisch. Das sollte ihr eine Lehre sein, sie hatte sich schon tausend Mal verboten, bei so einem Wetter mit ihnen vor die Tür zu gehen. Genervt pustete sie sich eine Strähne ihrer kastanienbraunen Haare aus dem Gesicht und fragte sich, ob sie genauso aufgebracht aussah, wie sie sich fühlte.

»Hab ich irgendetwas Falsches gesagt? Ich habe doch nur Spaß gemacht …« Doch Oliver weigerte sich, ihr darauf zu antworten. Er schwieg sie an und bog bei den Rosengärten nach rechts ab.

»Okay, wenn ich dir sage, dass ich dir glaube?«, startete Sophie einen neuen Versuch und betrachtete dabei misstrauisch, wie die Blätter über ihnen sanft schaukelten. »Dass du wahrhaftig der Herbst bist? Was könntest du dann verloren haben, das dich so aus dem Gleichgewicht bringt? Ich stelle mir vor, dass man eine Jahreszeit nicht gerade leicht aus der Ruhe bringen kann. Schließlich bist du eine Art Naturgewalt, oder nicht?«

Oliver presste seinen Kiefer zusammen und warf ihr einen flüchtigen Blick zu. Seine Augen glänzten immer noch. Dann sah er wieder nach vorne.

Mittlerweile waren sie wieder im Wald und hatten im Stechschritt ein rundes, offenes Bauwerk aus Backstein-Torbögen erreicht, in dessen Mitte ein gemauerter, mit Wasser gefüllter Springbrunnen lag. Auf seinen Rändern saßen sechs kleine Pinguinstatuen.

»Was kann der Herbst verloren haben?«, wiederholte Sophie ihre Frage.

Durch ein kleines Loch in den schweren Wolken schnitten ein paar klingengleiche Sonnenstrahlen und tauchten die Szenerie in ein frisches, goldenes Licht. Malerlicht hieß dieser Glanz des späten Nachmittags, wusste Sophie. In der Ferne sah sie ein junges Pärchen mit einem Kinderwagen entlangschlendern. Sie schauten kurz in Sophies und Olivers Richtung, schienen jedoch keine Notiz von ihnen zu nehmen. Der Kinderwagen war mit einer durchsichtigen Plane überspannt, die den Nachwuchs vor dem Wetter schützen sollte. Das knirschende Rattern seiner Plastikreifen drang bis zu ihnen herüber.

»Was ich verloren habe?«, antwortete Oliver schließlich leise und ließ seine Hände tief in die Taschen seines Mantels gleiten. »Meine Kraft. Ich habe meine Kraft verloren.«

Ein erneuter Windstoß ließ die Kronen der Bäume über ihnen erzittern. Sophie legte den Kopf leicht schräg, um ihm zu bedeuten, dass sie nicht verstand.

»Ich habe meine Kraft verloren, den Pflanzen dabei zu helfen, ihre Blätter verwelken zu lassen und abzuwerfen«, fuhr er fort. »Es funktioniert einfach nicht mehr.«

Er legte eine Hand auf den Mund und rang um Fassung. Sophie versuchte das Gesagte für sich zu ordnen. Sie sah hinauf in das von der Sonne stellenweise hell durchbrochene Grün der Buchen und dachte auf einmal an das, was der Nachrichtensprecher am Abend zuvor im Fernsehen von sich gegeben hatte. Dieser Sommer war bei Weitem der längste seit Anbeginn der Aufzeichnungen gewesen. Ein geladener Experte des Deutschen Wetterdienstes hatte darüber berichtet, dass die Entwicklung des Spätsommers durchaus beunruhigend sei und dass Forscher sich große Sorgen machten.

Sophie hatte den Bericht nur noch im Halbschlaf auf der Couch mit angehört, während sie ihre verbleibende Konzentration dafür verwendet hatte, James zu kraulen, und deshalb nur Bruchstücke davon mitbekommen. Doch jetzt, wo sie diesem unbestreitbar außergewöhnlichen jungen Mann gegenüberstand, der behauptete, er sei der Herbst und habe seine Kraft verloren, erinnerte sie sich immer genauer an die Aussagen des Fachmannes und seine besorgte Miene. Er ging seinerseits davon aus, dass der Klimawandel für den beachtlich verspäteten Wechsel der Jahreszeiten verantwortlich war. Schließlich war es schon Anfang Oktober und die Bäume hätten ihre Blätter längst färben und beginnen müssen sie abzuwerfen, um rechtzeitig vor den fallenden Temperaturen des Winters geschützt zu sein. Eine genaue Erklärung für all das hatte der Experte jedoch nicht parat gehabt. Auf Sophie hatte er ziemlich ratlos gewirkt.

Aber auch wenn sie am Abend vollkommen wach gewesen wäre, musste sie zugeben, dass sie das Thema wohl nicht besonders ernst genommen hätte. Sie liebte den Sommer, und obwohl es mittlerweile recht kalt geworden war, genoss sie, dass draußen noch alles so ungewöhnlich frisch aussah. Doch jetzt, wo sie sich umsah, kam ihr der Zustand der Natur zu dieser Zeit zugegebenermaßen etwas unnatürlich vor.

»Sind deshalb alle Bäume noch so grün?«

»Ja«, antwortete Oliver und unterdrückte ein Schluchzen. »Das ist eine absolute Katastrophe! Du ahnst ja nicht, was das für Folgen haben wird. Und ich alleine trage die Verantwortung. Ich alleine bin schuld …«

Er vergrub wieder das Gesicht in den Händen und Sophie sah, wie er bebte.

»Aber was kann daran so schlimm sein?«, versuchte sie ihn zu beruhigen, auch wenn sie sich schon dachte, dass sie sich mit dieser Frage als übertrieben gutgläubig outete. »Und wenn, kannst du dich doch nicht ganz alleine dafür verantwortlich machen. Die Pflanzen tragen doch auch ihren Teil zu dieser Sache bei, dass es dieses Jahr bei ihnen nicht so vorangeht, wie es sollte. Wozu brauchen sie dich überhaupt? Ich finde, sie müssten das auch alleine können!«

»Ja, früher war das wohl auch mal so.«

»Früher?«

»Ja.«

»Wann?«

»Das ist nicht genau überliefert. Aber das ist schon eine ganze Weile her.«

»Und wer hat dir das erzählt?« Oliver holte tief Luft.

»Hör mal, ich weiß überhaupt nicht, wieso ich dir davon erzähle. Das bringt dich nur in ein Dilemma. Es wird für dich keinen Sinn ergeben und jeder, dem du davon erzählst, wird dich für übergeschnappt halten. Aber um das, was du gesehen hast, zu verarbeiten, musst du es eigentlich jemandem erzählen, weil du sonst wirklich durchdrehst. Wozu das alles nun? Ich halte es für besser, wenn ich so viele Informationen wie möglich für mich behalte und wir jetzt zusammen überlegen, wie wir es schaffen können, dass du und dein Hund nach Hause gehen.«

Sophie bemerkte, dass es aufgehört hatte zu regnen und sie ihren Schirm nicht mehr benötigte. Sie kippte ihn zur Seite, drehte ihn ein paarmal gekonnt in der Hand und zog ihn dann, während die Kreisbewegung andauerte, in den gefalteten Zustand zusammen. Sie befestigte das Klettband und stach den Stock mit der eisernen Spitze in den Sand.

»Woher kennst du James’ Namen?«, fragte sie dann skeptisch. »Hat er ihn dir verraten? Habt ihr eine Art telepathische Verbindung oder so etwas?«

»Nein, nicht er hat ihn mir verraten, sondern du.«

»Wann?«

»Na vorhin, als du dich an mich herangeschlichen hast. Da hast du ihn gerufen, weil er sich nicht für dich interessierte.«

Sophie erinnerte sich. »Stimmt … also keine Telepathie.«

»Keine Telepathie. Weder mit deinem Hund noch mit dem Vogel.«

»Schade, damit hättest du mich tief beeindruckt.« Oliver schnaubte erneut und raufte sich seine Haare.

»Du bist echt besonders, Sophie. Verzeih mir bitte, dass ich dich enttäuschen muss«, fuhr er fort, »und jetzt … wie beenden wir unser unerwartetes Zusammentreffen? Hast du irgendeinen Vorschlag?«

Sophie machte abermals ein paar Schritte auf Oliver zu und ließ die Spitze des Schirms dabei rhythmisch auf den Boden klicken.

»Du bist total durchnässt. Willst du nicht auch nach Hause gehen und dir erst mal einen Tee kochen, damit du dich nicht erkältest?« Sie hielt kurz inne, ehe sie fortfuhr: »Das heißt, wenn man sich als Herbst überhaupt erkälten kann.«

Ein schmales Lächeln zeigte sich auf Olivers Lippen, verlor sich gleich darauf jedoch wieder.

»Ich kann mich erkälten wie jeder andere Mensch auch.«

Diese Vorstellung amüsierte Sophie und sie blieb kurz vor ihm stehen.

»Schön … also nein«, korrigierte sie sich schnell, »das ist natürlich nicht schön!« Wieder einmal hatte ihre Zunge sie überholt.

»Ich wollte sagen, dass es dann doch gut wäre, wenn du nach Hause gehst«, nahm sie ihren Faden wieder auf, »denk darüber nach, du würdest schließlich gleich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen und wärest mich los.«

Als sie den letzten Satz ausgesprochen hatte, bemerkte Sophie empört, dass ein Teil von ihr hoffte, Oliver würde sich weiterhin weigern auf sie zu hören. Sie versuchte diesen Teil zu ignorieren. Selbstverständlich war sie neugierig. Aber das würde nach einer gewissen Zeit schon wieder vergehen, sagte sie sich. Wenn man wirklich will, kann man alles vergessen. Sie wollte schlicht und einfach sichergehen, dass er hier nicht weiterhin Trübsal blies und sich eine Grippe einfing.

Oliver sah sie traurig an.

»Sophie, ich will jetzt nicht nach Hause. Ich habe hier, wie du dir vorstellen kannst, eine nicht ganz unwichtige Aufgabe.« Sophie spürte jetzt ein dumpfes Gefühl in ihrer Magengegend.

»Auch nicht zu deinen Eltern oder so?«, fragte sie besorgt.

Oliver trat von einem Fuß auf den anderen. Sie sah ihm an, dass er kurz davor war, erneut vor ihr zu flüchten, und sie hatte den Eindruck, dass sie ihn dieses Mal nicht so einfach einholen würde.

»Tut mir leid, ich will dir nicht zu nahe treten«, versuchte sie ihn zu beruhigen, »aber wenn du nicht nach Hause willst, wo wirst du dann heute Nacht schlafen?«

»Ich werde heute nicht schlafen gehen«, antwortete er ein wenig trotzig.

Auch wenn ihr gar nicht danach zumute war, musste Sophie kurz auflachen. »Was meinst du damit, du wirst heute nicht schlafen gehen?«

»Na, ich meine es so, wie ich es sage«, entgegnete er ihr störrisch.

Sie starrte ihn verwirrt an, ließ aber nicht locker.

»Hör zu, die Sonne ist kurz davor unterzugehen. Es dauert bestimmt keine Dreiviertelstunde mehr, dann ist es hier stockfinster.«

»Das ist mir klar. Ich kann gut auf mich selbst aufpassen. Die letzten paar Nächte habe ich schließlich auch überlebt. Außerdem werde ich ohnehin kein Auge zutun, ich muss …«

»Die letzten Nächte?!«, fiel sie ihm ins Wort. »Du kannst mir doch nicht ernsthaft erzählen, dass du bei diesem Wetter schon mehrere Tage hier gewesen bist. Herbst hin oder her, das kann doch nicht gut sein.« Sie hob die Arme zu beiden Seiten und ließ sie abrupt wieder fallen. »Wenn ich mir dich so ansehe, siehst du nicht gerade aus, als wärest du mittellos und würdest auf der Straße leben. Also, wo ist dein Zuhause?«

Sophie verstand selbst nicht so richtig, warum sie sich so in Rage redete. Sie wusste, dass sie dazu überhaupt kein Recht hatte.

Sie war eine völlig Fremde für ihn. Aber ihr Helferkomplex und die dumme Angewohnheit, niemals ein Blatt vor den Mund zu nehmen, ließen ihr einfach keine andere Wahl.

»Ich werde dir nicht sagen, wo ich wohne«, erwiderte er betrübt.

»Also hast du sehr wohl ein Zuhause.«

»Ich habe niemals behauptet, dass ich keines hätte, lediglich ist es so, dass ich dort weder hinwill noch -kann. Ich habe hier etwas Entscheidendes zu erledigen. Du verstehst das nicht, ich kann hier nicht weg.«

Ohne genauer zu überlegen, nahm Sophie all ihren Mut zusammen und trat unvermittelt ganz dicht an ihn heran, sodass sie sich jetzt sogar noch näherstanden als zuvor bei dem Baumstumpf. Ihr Herz erschrak vor ihrem Vorstoß und schlug schlagartig schneller. Mit bestimmtem, zart wütendem Ausdruck sah sie ihn an.

»Auch wenn du mich jetzt endgültig für bescheuert hältst: Ich werde dich hier nicht alleine lassen … Du hast die Wahl: Entweder ich bleibe hier und hole mir mit dir den Tod oder du kommst mit und übernachtest in meiner Wohnung.« Sie glaubte beinahe nicht, was sie da gerade von sich gab, und ohrfeigte sich innerlich selbst. »Ich habe eine Dusche und eine sehr gemütliche Couch … Und das ist, um es ganz klarzumachen, kein eindeutig zweideutiges Angebot. Wenn du dich erst mal aufgewärmt und ausgeschlafen hast, siehst du die Dinge bestimmt in einem anderen Licht und hast eine Idee, die dir weiterhilft.«

Sie nickte in Zeitlupe, als würde sie so ihren Worten Nachdruck verleihen, und blickte weiter stur in sein Gesicht, in dem sich jetzt blanke Fassungslosigkeit spiegelte.

»Du bist doch wahnsinnig. Das kann nicht dein Ernst sein.«

»Doch, kann es«, antwortete Sophie und bemühte sich dabei ihre aufrechte Haltung zu bewahren. Trotzig stellte sie fest, dass sich weiter Gänsehaut auf ihrem Rücken, ihrem Po und den Rückseiten ihrer Oberschenkel ausbreitete.

»Du willst mich mit in deine Wohnung nehmen? Einen wildfremden Mann? Das …«

»… ist total naiv, ja, ich weiß. Das Thema hatten wir aber doch schon. Wollen tue ich das, nebenbei gesagt, nicht unbedingt, aber mir bleibt wohl nichts anderes übrig, wenn du dich hier beinahe umbringen willst. Ich lasse dich hier jedenfalls nicht allein, egal wie fremd du mir bist. Und das ist mein letztes Wort.«

»Dann könnte ich ja genauso gut in meine WG gehen.«

»Wirst du das denn auch tun?« Sophie merkte, wie ihr unter dem Mantel und dem dicken bunten Wollschal trotz der kühlen Abendluft zunehmend warm wurde.

»Nein, werde ich nicht.« Still beobachtete sie, wie Oliver misstrauisch die Stirn runzelte und sie weiter anstarrte. »Siehst du«, sagte sie selbstzufrieden.

»Und du fühlst dich immer noch nicht unwohl, nein?«, sprach er dann, während die Fragezeichen in ihm immer deutlicher hervortraten. »Kränklich, niedergeschlagen, nein?«

Sophie ignorierte ihren ungewollten Zweifel sowie das schmerzliche Gefühl in ihrem Bauch und flunkerte starrköpfig: »Nein, tut mir leid, ich kann nichts dergleichen feststellen.« Er zog sich ein Stück von ihr zurück. Sophie blieb, wo sie war.

Der Tag neigte sich derweil dem Ende zu. Die Wolken waren mittlerweile deutlich aufgelockert und der Himmel nahm bereits die Farbe von cremigem Vanilleeis an. Das Wetter war in der letzten Viertelstunde so viel freundlicher geworden.

Olivers Verstand arbeitete im Akkord, das sah Sophie ihm an. Auch seine Gefühle schienen nach ihrer letzten Aussage völlig durcheinanderzupurzeln. Sie erkannte in seinem Gesicht stille Traurigkeit und einen tief sitzenden Schmerz. Aber auf der anderen Seite gab es auch etwas, das nicht ganz so offensichtlich war. Sie fragte sich, ob es Dankbarkeit war.

Oliver nahm die Hände wieder aus den Manteltaschen und verschränkte sie im Nacken. Sein Blick wanderte dabei zwischen den Kronen der Bäume hin und her, als wäre dort oben eine Weisheit verborgen, die ihm in dieser Lage helfen könnte.

James, der sich die ganze Zeit so ruhig verhalten hatte, dass Sophie ihn bereits fast vergessen hatte, gab ein einzelnes schüchternes Bellen von sich und lehnte sich träge gegen ihr linkes Bein. Er tat wieder mal so, als könne er sich nicht mehr auf den eigenen vier Pfoten halten. Sie verstand schon. So versuchte er sie nur darauf aufmerksam zu machen, dass ihm jetzt langweilig wurde und er lieber aufbrechen würde. Dieses Verhalten hatte er sich in letzter Zeit regelrecht angewöhnt.

»Komm schon, gib dir einen Ruck!«, durchbrach sie die Stille. »James will auch nach Hause. Er ist ganz schön deprimiert, glaube ich, weil du ihm seinen neuen geflügelten Spielgefährten wieder weggenommen hast.«

Oliver hob die linke Augenbraue. »Ich habe gar nichts weggenommen. Die Amsel war freiwillig bei ihm. Alles, was ich getan habe, ist, sie miteinander bekannt zu machen. Es gibt da zwischen zwei fremden Tieren häufig mehr Verständigungsprobleme als nötig. Da muss man nur ein wenig vermitteln.«

Jetzt zog Sophie die Stirn kraus. »Und wenn du man sagst, meinst du dich, den Herbst? Oder gehst du davon aus, dass andere Menschen diesen Vermittlerjob auch übernehmen können?«

»Ich habe zwar bisher noch niemanden außer mir getroffen, aber es wäre durchaus vorstellbar, denke ich. Hat lediglich was mit persönlichem Vertrauen zu tun und mit Einfühlungsvermögen.«

Sophie wog ab, ob sie sich wegen dieses einfach dahingesagten Satzes wieder aufregen oder nur ein entgeistertes Gesicht aufsetzen sollte, entschied sich dann aber für Letzteres. Sie erkannte, dass er ihren Vorschlag zumindest nicht mehr ganz so abwegig fand, weshalb sie ihren Fortschritt nicht boykottieren wollte.

Die verlorene Zeit saß ihr ohnehin brennend im Nacken. Schließlich wartete noch ein Geburtstagskuchen darauf, von ihr dekoriert zu werden.

Sie dachte noch einmal darüber nach, ob sie sich mit diesem Manöver nicht womöglich auf die Titelseite der Tageszeitungen bringen würde, immerhin hätte sie sich im Zweifelsfall ihren Mörder persönlich in die Wohnung eingeladen.

Dann jedoch dachte sie an ihre Mutter und warf ihre letzten Befürchtungen über Bord. »Ich weiß, du bist ein erwachsener Mann und kannst deine eigenen Entscheidungen treffen. Aber bleib heute Nacht bitte nicht hier«, versuchte sie, ohne dabei flehend zu klingen, »bitte!«

Es dauerte einen Moment, aber dann löste Oliver die Arme wieder von seinem Nacken und Sophie erkannte, wie er aufgab. Sie hatte ihn überzeugt.

»Einverstanden. Wenn du dann zufrieden bist. Aber nur eine Nacht, ja? Dann werde ich wieder herkommen. Mir läuft die Zeit davon und das beeinflusst uns alle. Dein Angebot ist zwar totaler Irrsinn«, er wischte sich mit dem Mantelärmel die verlaufenen Tränen von den Wangen, was nicht sonderlich viel brachte, da der Mantel vom Regen auch völlig durchtränkt war, »aber ein wenig Schlaf könnte mir wohl nicht schaden», sagte er zurückhaltend. Dann fügte er nach einer kurzen Pause hinzu: »Danke für das Angebot auf jeden Fall.«

»Gern geschehen!«

Sophie atmete mit einem Seufzer aus. Sie wusste nicht warum, aber irgendeine Stimme sagte ihr, dass sie ihm vertrauen konnte und ihn besser nicht alleine ließ. Er hatte recht, ihr war wirklich nicht zu helfen. »Wenn du nichts dagegen einzuwenden hast, würde ich mich gerne gleich auf den Weg machen. Ich habe heute Abend nämlich noch einiges zu tun und bin schon weit hinter meinem Zeitplan, also …« Oliver stand da, so, als wäre sein eben ausgesprochenes Einverständnis noch nicht vollständig bei ihm angekommen. Er zögerte für einen Augenblick, in dem er Sophie ansah, als würde er überprüfen, ob er ihr auch wirklich vertrauen konnte. Als ob er etwas zu verlieren hatte, dachte sie bei sich.

»Gut, dann lass uns gehen«, gab er schließlich nach, »wenn du schon so großzügig bist und mich als Gast bei dir aufnimmst, möchte ich dir wenigstens keinen zusätzlichen Stress bereiten.«

Sophie schmunzelte und wandte sich zum Gehen. James flitzte bei ihrer ersten kleinen Bewegung sofort los, als hätte er auf einen Startschuss gewartet.

»Kein Drama, ich muss mich nur ein wenig beeilen.« Oliver folgte ihr und schloss zu ihr auf.

»Wo ist denn deine Wohnung?«, erkundigte er sich, ohne sie dabei anzusehen. »Ist es ein weiter Weg dorthin?«

»Nein, nicht wirklich. Bei deinem Tempo eine halbe Stunde, denke ich.«

Sie hatte sich schon wieder bemühen müssen mit ihm Schritt zu halten, doch er nahm ihre unterschwellige Bitte wortlos entgegen und verlangsamte sein Tempo etwas.

2

Sophie schlug einen Weg ein, von dem sie wusste, dass er bei Dunkelheit beleuchtet sein würde. Darin sollte sie auch gleich bestätigt werden, denn die kleinen Laternen entzündeten ihr Licht in der Sekunde, als sie den Weg erreichten. Unter den gewaltigen Schatten der Bäume schien der Abend seiner Zeit mehr als eine Stunde voraus zu sein und dies verstärkte Sophies Eindruck, dass sie ein handfestes Zeitproblem bekommen würde. Denn als sie Oliver auf dem Baumstumpf entdeckt hatte, war sie nicht ohne Grund bereits auf dem Rückweg des Spaziergangs gewesen. Ihren Nachmittag hatte sie perfekt getaktet. Eine halbe Stunde für soziale Arbeit war darin eigentlich nicht vorgesehen gewesen.

Nach ein paar Minuten verließen die drei, stillschweigend nebeneinanderher gehend, den Stadtpark und bogen in die Maria-Louisen-Straße ein, auf der sie ihren Weg in Richtung Außenalster fortsetzten. Sie passierten dabei die verschieden gestalteten Stadtvillen. Prachtvolle, rot verklinkerte Bauten aus Gründerzeiten, unattraktive Siebziger-Jahre-Fehlentwürfe und modern-puristische Würfelhäuser mit bodentiefen, schwarz gerahmten Fenstern.

Die jungen Sommerlinden, die entlang des Fußweges standen, verbeugten sich natürlich ebenfalls vor Oliver, und Sophie stellte sich die Frage, ob dieses Schauspiel den Passanten auch auffallen würde. Wahrscheinlich war die Bewegung jedoch zu unauffällig, die mit ihnen durch die dicht beblätterten Zweige huschte, als dass jemand darauf aufmerksam werden würde.

Als sie die Barmbeker Straße erreichten, war der Feierabendverkehr dort in vollem Gange und der Lärm unzähliger Autos füllte dröhnend die Schweigsamkeit zwischen ihnen. James blieb brav an der Ampel stehen, setzte sich hin und wartete auf sie, natürlich nicht ohne ihnen mit Schwanzwedeln zu zeigen, wie stolz er deshalb auf sich selbst war.

Kaum hatten sie ihn erreicht, lobte Sophie ihn eifrig mit zärtlichen Streicheleinheiten und schaute dabei heimlich zu Oliver hinauf, der apathisch den rasant dahinrasenden Lichtern folgte. Aus irgendeinem Grund fiel es ihr plötzlich schwer, das Gespräch von vorhin wieder aufzunehmen. So wie er die ganze Zeit folgsam und still neben ihr her getrottet war, den Kopf stets leicht gesenkt, tat er ihr wirklich leid. Sie fragte sich, ob sie ihm gegenüber vielleicht ein wenig taktlos gewesen war. Ein bisschen schämte sie sich sogar dafür, eben derart auf ihn losgegangen zu sein. Sie hatte doch wirklich keine Ahnung, was er gerade durchmachte und welche schlimmen Gründe es haben mochte, dass er seine Kraft verloren hatte.

Trotz ihrer neuen Bedenken musste sie auf einmal kichern, was Oliver aus seiner Trance herausholte.

»Worüber lachst du?«

»Na, ob viele Frauen von sich sagen können, sie hätten im Park den Herbst getroffen und ihn anschließend zu sich nach Hause eingeladen?«

»Also ich weiß nicht, wie das bei meinen Vorgängern war, aber was meine Amtsperiode betrifft, würde ich sagen, dass du wohl die Einzige bist, die das in ihren Lebenslauf schreiben kann.«