Bis wir wieder fliegen - Ella Simon - E-Book

Bis wir wieder fliegen E-Book

Ella Simon

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Beschreibung

Anne Perry ist Ärztin der Flugrettung. Sie liebt ihr Leben, ihren Job und ihre Pflegemutter Evelyn, die den Pub ihres kleinen Heimatorts an der walisischen Küste führt. Nur der Rettungssanitäter und unverschämt attraktive Owen Baines kann ihr die Laune verderben. Bei Noteinsätzen sind sie das perfekte Team, verstehen einander ohne Worte, außerhalb der Arbeit aber zeigt Owen ihr die kalte Schulter. Doch als die beiden bei einem Einsatz zusammen verschüttet werden, lernt Anne eine neue Seite an Owen kennen, während er verzweifelt versucht, ihr Leben zu retten ...

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Buch

Die hochbegabte Anne Perry ist die jüngste Ärztin der walisischen Flugrettung, der Flying Medics. Sie liebt ihr Leben, ihren Job und ihre Pflegemutter Evelyn, die den Pub des kleinen Orts Lliedi an der Küste führt. Nur ihr Einsatzpartner, der unverschämt attraktive Rettungssanitäter Owen Baines, kann ihr die Laune verderben. Bei Not­einsätzen sind sie das perfekte Team, verstehen einander ohne Worte, doch außerhalb der Arbeit zeigt Owen ihr stets die kalte Schulter. Ist es, weil sie ihn bei der Ausbildung überflügelte? Aber all das soll sich ändern, als die beiden bei einem Einsatz zusammen verschüttet werden. Während Owen verzweifelt um Annes Leben kämpft, lernt sie eine andere Seite an ihm kennen. Doch Anne kann nicht ahnen, dass Owen aus gutem Grund stets die Distanz zu ihr hielt …

Weitere Informationen zu Ella Simonsowie zu lieferbaren Titeln der Autorin finden Sie am Ende des Buches.

Ella Simon

Bis wir wieder fliegen

Roman

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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1. Auflage

Originalausgabe Juli 2019

Copyright © 2019 by Ella Simon

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2019

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Die Veröffentlichung dieses Werkes erfolgt auf

Vermittlung der literarischen Agentur Peter Molden, Köln.

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagmotiv: FinePic®, München

Redaktion: Kristina Lake-Zapp

MR · Herstellung: kw

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN: 978-3-641-23294-8V002

www.goldmann-verlag.de

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Für meine Mama,

weil ich durch dich gelernt habe, was es heißt,

eine gute Mutter zu sein.

Prolog

Graham klammerte die Hände ums Lenkrad und versuchte, sich auf die finstere Straße zu konzentrieren. Seine Augen brannten, die weißen Bodenmarkierungen verschwammen zunehmend hinter einem grauen Schleier. Zu seinem Glück war die Landstraße wie ausgestorben, und so schaltete er das Fernlicht ein, um einen besseren Überblick zu behalten. Er stellte die Lüftung auf kalt und drehte das Gebläse so, dass es direkt auf sein Gesicht gerichtet war. So würde er wacher bleiben. Die kühle Luft tat gut, aber seine Augen brannten dadurch nur noch mehr.

»Und dann ist sie mit dem Einhorn geflogen, richtig geflogen, es hat goldene Flügel gehabt, war gar nicht mehr unsichtbar, und ihre Freundinnen haben nur so geschaut. So, Papa, siehst du das? So!«

»Ja, mein Schatz.« Er griff nach hinten auf den Rücksitz und berührte das Knie seiner kleinen Tochter, die von ihrem ersten Kinofilm immer noch ganz aufgeregt war. »Du kannst mir nachher beim Schlafengehen alles noch einmal genau erzählen, okay? Jetzt muss ich mich auf die Straße konzentrieren.«

»Weil es dunkel ist«, stellte sie mit allem Ernst einer Vierjährigen fest.

Graham nickte nur und nahm die nächste Kurve. Es war ihm schon während des Films schwergefallen, wach zu bleiben. Nachtschichten zu schieben, dann heimzukommen und sich um seine Tochter zu kümmern, zehrte zunehmend an seinen Kräften. Aber er durfte nicht schwächeln. Er musste weitermachen. Er musste für sie da sein und gleichzeitig genug Geld verdienen, um ihr alles bieten zu können. Er musste der Behörde beweisen, dass er das hinbekam. Er war nicht der erste alleinerziehende Vater, andere schafften es auch.

Sein Handy vibrierte, aber er wagte es nicht, den Blick von der Fahrbahn zu nehmen. Sein Magen krampfte sich zusammen. In letzter Zeit hatte dieses Geräusch nie etwas Gutes bedeutet. In zwei Tagen wollten Mitarbeiter der Behörde zu ihm nach Hause kommen, um zu überprüfen, ob das Wohl seiner Tochter gewährleistet war. Und in der Firma hatte er wegen Übermüdung Fehler gemacht. Sein Vorarbeiter hatte zwar Verständnis für seine Situation gezeigt, aber er konnte sich keinen einzigen Fehltritt mehr erlauben. Weder bei seiner Tochter noch bei der Arbeit.

Seine Lider wurden immer schwerer. Er atmete die kalte Luft und lehnte sich ein wenig nach vorne, um besser sehen zu können, blinzelte immer wieder, um den Schleier vor seinen Augen wegzubekommen. Es war nicht mehr weit, bald würden sie zu Hause sein.

Auf dem Rücksitz war es ruhig, vielleicht war sie eingeschlafen. Er hegte die Hoffnung, dass er sie sofort in ihr Bett tragen konnte und die Gute-Nacht-Geschichte heute ausnahmsweise ausfiel. Vielleicht bekam er dann noch zwei Stunden Schlaf vor seiner Schicht. Als Sarah da gewesen war, hatte er als Bauführer gearbeitet und war ständig unterwegs auf Montage gewesen. Das war jetzt nicht mehr möglich, und so hatte er in die Produktion gewechselt und versuchte, so oft wie möglich nachts zu arbeiten, damit seine Kleine nicht zu lange fremdbetreut werden musste. Eine enorme Umstellung. Aber wenn sie schon ohne Mutter aufwachsen musste, konnte er sie nicht noch den Großteil des Tages ohne ihre Familie verbringen lassen. Er musste sich einfach nur etwas mehr anstrengen. Nur noch etwas mehr …

Plötzlich füllte ohrenbetäubender Lärm das Wageninnere. Reifen quietschten, Metall schrammte über Metall, ein hoher Schrei, ein Knall, ein Ruck ging durchs Auto, sein Körper flog nach vorne, ein Aufprall, Schmerz explodierte in seinem Kopf, er fiel hart in den Sicherheitsgurt, wurde zurückgeschleudert, grelles Licht blendete ihn, und dann war unvermittelt alles still.

Graham starrte durch die Windschutzscheibe, konnte aber nichts erkennen außer einem weißen Spinnennetz, das das Glas durchzog. An einer Seite entdeckte er ein Loch, Splitter lagen auf dem Armaturenbrett.

Atemlos vor Schreck fuhr er auf seinem Sitz herum. Bitte sei nicht verletzt, bitte sei nicht verletzt, betete er inständig und schluchzte verzweifelt auf, als er seine kleine Tochter immer noch angeschnallt in ihrem Kindersitz sah. Sie starrte ihn an, stumm vor Schock. Hektisch ließ Graham den Blick über ihren Körper wandern, um nach Verletzungen zu suchen.

»Bist du in Ordnung? Tut dir etwas weh?«

»Du blutest.« Sie rührte sich nicht, starrte nur wie gebannt in sein Gesicht.

Graham hob die Hand an seine Wange. Er spürte etwas Hartes, das in seiner Haut steckte, darum herum war alles nass. Aber das kam ihm nicht wirklich vor, und im Moment war es auch nicht wichtig.

»Das ist nicht schlimm, Schätzchen. Sag mir, ob dir etwas wehtut.«

Seine Kleine drehte langsam den Kopf und blickte aus dem Seitenfenster. »Da ist ein Auto.« Sie sprach sonderbar monoton, ihre Stimme klang fremd. »Es liegt auf dem Dach.«

Und dann hörte er das Weinen eines Kindes.

Kapitel 1

Anne nahm den Helm ab, warf sich den Rucksack mit den Medikamenten über die Schulter und kletterte geduckt aus dem Hubschrauber. Sie wusste, dass sie unter den dröhnenden Rotorblättern aufrecht stehen konnte, aber selbst nach zwei Jahren Einsatz bei der Flugrettung hatte sie immer noch das Gefühl, die schneidend scharfen Stahlblätter über ihr könnten sie einen Kopf kürzer machen. Dabei war sie ohnehin nur eins sechzig groß.

Die Hände wie Scheuklappen ans Gesicht gelegt, um ihre Augen vor dem aufwirbelnden Staub zu schützen, sah sie sich auf der beschatteten Landstraße zwischen den Einsatzfahrzeugen um. Sie hatten relativ nahe am Unfallort landen können, da es außer den Bäumen, die die schmale Fahrbahn säumten, keine Hindernisse für den Hubschrauber gab. Anne sah zwei Rettungsfahrzeuge, die Polizei und die Feuerwehr, aber wo war der verunglückte Wagen? Sie hatten kaum Informationen erhalten, nur dass es um einen Verkehrsunfall ging. Aufgrund der Lage des Unfallorts, der Geschwindigkeiten, die auf dieser Straße erlaubt waren, und der landschaftlichen Gegebenheiten mit den vielen Kurven und Bäumen war entschieden worden, den Hubschrauber zu starten. Ein Unfall in dieser Gegend konnte kaum glimpflich ausgegangen sein.

»Dort, im Graben.« Ihr Partner Owen, der ihr aus dem Hubschrauber folgte, deutete auf die eingedellte Leitplanke und die dahinterliegende Böschung. Anne spürte, wie das Adrenalin durch ihre Adern schoss. Es hatte sich schon beim Einsatzruf bemerkbar gemacht, beim Flug verstärkt, und jetzt gesellte sich auch noch ein Flattern im Bauch dazu. Sie genoss das Gefühl, das ihr mittlerweile vertraut war. Ihr Körper vibrierte richtiggehend vor Erwartung, gleich Schreckliches zu sehen, während sie gleichzeitig wusste, dass sie in der Lage wäre zu helfen.

»Doktor.« Einer der Sanitäter aus dem bereitstehenden Rettungswagen lief auf sie zu. Er musste fast schreien, um sich über den Lärm des Hubschraubers hinweg Gehör zu verschaffen. Er hatte einen gewaltigen grauen Bart und ein rundes, freundliches Gesicht, und hätte er noch ein rotes Outfit und eine Zipfelmütze auf dem Kopf getragen, wäre er glatt als Weihnachtsmann durchgegangen. Anne konnte sich gut vorstellen, wie beruhigend er auf die Patienten wirkte.

»Anne Perry«, rief sie und deutete zur Sicherheit auf den gelben Querstreifen an ihrer roten Einsatzjacke, auf den ihr Name mit dem Zusatz »Critical Care Doctor« gestickt war. »Das ist Owen Baines, Sanitäter und mein Einsatzpartner. Ich hoffe, wir haben euch nicht zu lange warten lassen.« Sie wies zur Böschung. »Was haben wir hier?«

Santa bedeutete ihnen beiden, ihm zu folgen, und winkte einem Kollegen, der von seiner zarten Statur her einer seiner Weihnachtselfen hätte sein können. »Ihr kommt gerade rechtzeitig«, sagte er an Anne gewandt. »Ein angeschnallter Insasse, Mitte bis Ende zwanzig, nicht ansprechbar. Er scheint mit hoher Geschwindigkeit in der Kurve ins Schleudern geraten und von der Straße abgekommen zu sein. Die Jungs von der Feuerwehr haben alles vorbereitet, um ihn aus dem Wrack herauszuschneiden, sie warten nur noch auf Ihr Okay.« Er lächelte sie an, die Knollennase leuchtend rot vom kalten Wind. Unter grauen, buschigen Brauen zwinkerte er ihr zu. »Ich bin übrigens Derek.«

Anne erwiderte sein Lächeln, dankbar für ein wenig Normalität und Anteilnahme in dieser angespannten Situation. Sie war nie jemand gewesen, der wie eine Maschine funktionierte und kalt und nüchtern seinen Job erledigte. Sie wusste, dass ein Menschenleben auf dem Spiel stand, aber deshalb musste sie nicht aufhören, selbst ein Mensch zu sein.

»Irgendwelche offensichtlichen Verletzungen, Derek?« Anne ließ ihren Rucksack am Straßenrand zu Boden sinken und kletterte über die Leitplanke. Sie musste sich nicht umdrehen, um zu wissen, dass Owen zurückblieb. Er würde an einer geeigneten Stelle alles vorbereiten, um den Patienten in Empfang zu nehmen und zu versorgen. Zwischen ihnen herrschte fast so etwas wie Gedankenübertragung, was nicht zuletzt daran lag, dass sie schon seit gut zwei Jahren zusammenarbeiteten, seit Anne aus dem Krankenhaus zur walisischen Flugrettung gewechselt hatte. So kannten sie den anderen zumindest beruflich in und auswendig. Owen war Notfallsanitäter, sie Ärztin mit Spezialausbildung. Vor ihrem Wechsel hatte sie als Anästhesistin gearbeitet. Diese Fähigkeiten kamen ihr hier draußen zugute.

Anne bewegte sich vorsichtig den steilen Hang hinunter, Geröll löste sich unter ihren schwarzen Stahlkappenboots. Sie schob einzelne Strähnen ihrer langen, roten, zu einem Knoten geschlungenen Haare zurück, die sich im Wind gelöst hatten, dann zog sie Handschuhe aus ihrer Jackentasche. Die Feuerwehr hatte bereits einen Brandschutz errichtet und war dabei, ausgelaufenen Sprit zu binden. Bestimmt hatte sie den demolierten Sportwagen auch schon stromlos gemacht. Anscheinend hatte sich das Auto auf dem Weg die Böschung hinunter mindestens einmal überschlagen, die gesamte Front war zusammengeschoben.

Anne winkte den Feuerwehrleuten mit der hydraulischen Rettungsschere, die bereitstanden, um das Dach des Sportwagens abzuschneiden. »Hey, Jungs, ihr könnt gleich loslegen, ich sehe ihn mir nur schnell an.«

Vorsichtig trat sie an das Fahrzeug heran, warf einen Blick durch das scheibenlose Fenster der Fahrerseite und entdeckte einen angeschnallten, bewusstlosen Mann in Anzug und Krawatte, dessen helle Haare blutgetränkt an der Stirn und den glattrasierten Wangen klebten. »Du hattest es eilig, hm? Aber keine Sorge, das wird wieder.«

Er atmete sichtlich schwer, und als sie seinen Puls überprüfte, war sie nicht überrascht, nur ein schwaches Pochen zu fühlen. Die Airbags waren wieder in sich zusammengefallen, sodass sie den Fahrer gut sehen und auf weitere offensichtliche Verletzungen überprüfen konnte. Bis auf die Wunde am Kopf, bei der das Blut bereits geronnen war, und ein paar Schrammen konnte sie nichts feststellen, doch sie rechnete mit schweren inneren Verletzungen.

Atmung und Puls gefielen ihr gar nicht, weshalb sie ihn so schnell wie möglich aus dem Wagen haben wollte. Er brauchte dringend Sauerstoff, damit sein Gehirn nicht über eine längere Zeit hinweg unterversorgt war.

»Weiß man, wie lange der Unfall her ist?«

Derek trat an ihre Seite. »Soweit wir wissen, gab es keine unmittelbaren Zeugen. Eine Passantin hat den Wagen entdeckt und den Notruf gewählt. Keine Ahnung, wie lange er schon unbemerkt dort unten gelegen hat. Wir haben achtzehn Minuten gebraucht, bis wir da waren.«

Anne nickte. Achtzehn Minuten. Zuvor hatten die Einsatzkräfte zur Unterstützung den Hubschrauber angefordert, der nur knapp nach den anderen eingetroffen war. Nun erforderte es weitere Zeit, bis der Patient befreit werden konnte. Die »goldene Stunde«, die Zeit nach einem Trauma, in der die Überlebenschance bei frühzeitiger Behandlung am größten war, verging wie immer zu schnell.

»Komm mir nur ja nicht auf dumme Gedanken, Freundchen, gleich haben wir dich, du musst nur noch ein wenig durchhalten.« Anne zog eine Schere aus ihrer Rettungsjacke und schnitt den Anschnallgurt und die Krawatte ab. »Okay, holt ihn hier raus, und zwar so schnell wie möglich.« Sie trat ein kleines Stück zurück, um die Feuerwehr ihre Arbeit machen zu lassen, und hob das Funkgerät, das an ihrer Einsatzjacke an der Schulter befestigt war, an ihren Mund. »Leah, wir müssen den Patienten nach Cardiff bringen«, meldete sie der Pilotin im Hubschrauber, damit die bereits die Koordinaten eingeben konnte. Anschließend telefonierte sie mit dem Krankenhaus, um den Patienten anzukündigen, gab alle bekannten Details durch und schätzte die Zeit bis zu ihrer Ankunft ab, damit gleich bei der Landung ein Trauma-Team bereitstand. Mit dem Auto wäre es eine Fahrt von einer guten Stunde. Mit dem Hubschrauber, der hundertsechzig Meilen die Stunde in gerader Linie zurücklegte, würden sie vielleicht fünfzehn Minuten brauchen.

Während das Team der Feuerwehr daran arbeitete, den Eingeklemmten zu befreien, blieben ihr ein paar Augenblicke Zeit, um in Gedanken die nächsten Schritte durchzugehen.

Die Sanitäter brachten eine Trage mit Vakuummatratze, und kurze Zeit später lag der Verletzte bewusstlos darauf, wurde festgeschnallt und mühsam die Böschung hochgetragen. Anne hastete zu Owen, der bereits alles für die Anästhesie vorbereitet hatte.

Die Augen zusammengekniffen gegen die wenigen Sonnenstrahlen, die durch die tiefhängende, düstere Wolkendecke stachen, blickte er auf, als sie bei ihm eintraf. Anne sah, dass er einen Beutel 0 negativ in der Hand hielt, den er in einem tragbaren Flüssigkeitswärmer vorwärmen ließ, bevor sie ihn dem Verletzten verabreichten. Mit seinem pechschwarzen Haar, der eher blassen Haut und den stechend blauen Augen war Owen der Inbegriff eines Walisers. So mussten die Kelten ausgesehen haben, die einst diesen Landstrich bevölkert hatten. Sein Anblick half zumindest jungen Frauen, sich schlagartig besser zu fühlen, aber bei ihrem heutigen Patienten konnte sein fast schon absurd attraktives Gesicht leider nichts ausrichten.

»Intraossärer Zugang?«, fragte er mit seiner rauen Stimme, die klang, als würde er seine Nächte auf Rockkonzerten verbringen, und griff bereits nach den entsprechenden Instrumenten.

»Ja, wir müssen uns beeilen.«

Anne versuchte, das Gewicht des Patienten abzuschätzen, um die richtige Dosis für die Anästhesie festzulegen. Einer der jüngeren Sanitäter schnitt das Hemd auf, und Anne beugte sich über den Verletzten, um noch einmal den Puls zu messen und ihn abzuhören. »Verringerte Atemgeräusche auf der linken Seite.« Vermutlich eine Rippenverletzung, oder die Lunge hatte unter dem Schock des Aufpralls gelitten. Die Organe bewegten sich mit der enormen Geschwindigkeit des Körpers mit, bei einem abrupten Halt prallten sie dann gegen das Skelett. Das reichte aus, um schwere innere Schäden zu verursachen. Sie mussten wirklich schnell handeln.

Anne streckte die Hand nach dem Bohrer aus, den Owen ihr wortlos reichte, sie hatte gar nicht danach fragen müssen. Das Geräusch, das der Bohrer machte, erinnerte eher an eine Werkstatt als an einen Rettungseinsatz, und aus dem Augenwinkel bemerkte sie, wie einige der Polizisten unbehagliche Blicke tauschten. »Dass mir hier niemand in Ohnmacht fällt …«, warnte Anne, für die das surrende Geräusch eher beruhigend klang. Beruhigend, weil sie etwas tun konnte, um dem Verletzten zu helfen. Sie setzte den Bohrer an der einen Schulter an und bohrte die Nadel für den intraossären Zugang direkt in den Knochen. Dasselbe tat sie bei der anderen Schulter – eine schnelle Angelegenheit und sehr viel einfacher, als lange nach einer Vene zu suchen, die wahrscheinlich längst kollabiert waren und einen Zugang unmöglich machten.

Sie spritzte das von Owen vorbereitete Narkosemittel und intubierte den Mann, wobei sie darauf achtete, seine Zähne nicht zu beschädigen und die Stimmbänder im Rachen nicht zu verletzen. Somit war zumindest seine Atmung gesichert. Außerdem schloss die Intubation die Speiseröhre, sodass kein Mageninhalt in die Lunge gelangen konnte. Bei einer ungeplanten Narkose wie dieser mussten sie immer davon ausgehen, dass der Patient nicht nüchtern war und sich erbrach. Die Narkose machte aber nicht nur den Schlauch im Hals, sondern auch die Schmerzen und die folgenden Prozeduren erträglicher. Sie verringerte zudem das Risiko von weiteren Hirnschäden, falls er solche davongetragen hatte. Sein Kopf bekam eine dringend benötigte Pause.

Owen schloss den Mann ans Beatmungsgerät und ans EKG an, um sein Herz zu überwachen, während Anne bereits die Thoraxdrainage vorbereitete, um den Druck von seiner Lunge zu nehmen. Es mochte Luft oder Blut sein – eins von beiden gelangte in den Pleuraraum, den Bereich zwischen Brustwand und Lunge –, und ganz gleich, was davon es war, es musste weg, damit der Lungenflügel die Möglichkeit bekam, sich wieder zur Gänze aufzublähen.

Anne hörte das Geräusch von Automotoren; die Polizei hatte die Unfallstelle gesichert und führte den wenigen Verkehr langsam und geordnet an ihnen vorbei. Hoffentlich hatte niemand eine Handykamera bei sich und kam auf den Gedanken zu filmen. Die Bilder, wie sie mit ihrem Skalpell seitlich in die Brust des Mannes schnitt, dann zur Schere griff und anschließend mit den Fingern die Pleura untersuchte, erinnerten viele zweifelsohne an einen blutigen Horrorfilm.

Abschließend verabreichte sie dem Patienten noch das vorgewärmte Blut und Gerinnungsfaktoren. Owen immobilisierte ihn mit der Vakuummatratze, zog die Sicherheitsgurte an und half ihr dabei, die Wärmedecke über den Patienten zu legen. Dann kamen bereits die anderen Sanitäter herbei, um ihn in den Hubschrauber zu verfrachten.

»Großartige Arbeit.« Derek blickte dem eingepackten und glücklicherweise stabilen Patienten nach. »Er wird es schaffen.«

»Hoffen wir es«, bemerkte Owen trocken und fing an, das Equipment einzusammeln.

Anne verdrehte die Augen. Warum musste Owen auch immer so pessimistisch sein? »Er wird es schaffen«, bestätigte sie die Worte des Sanitäters und sah Owen eindringlich in die blauen Augen, die von unglaublich langen, dichten Wimpern gesäumt waren, um die ihn bestimmt viele Frauen beneideten. »Deine Frohnatur ist wie immer ansteckend.« Sie zwinkerte ihm zu, aber Owen wandte den Blick ab. Vorbei war es mit der Gedankenübertragung, jetzt ging es ja auch nicht mehr darum, medizinische Prozeduren gemeinsam durchzuführen.

»Wenn er es nicht schafft, dann bestimmt nicht wegen schlechter Versorgung, ich habe selten ein Team gesehen, das dermaßen perfekt aufeinander eingespielt ist«, bemerkte Derek, hob grüßend die Hand und wandte sich zum Gehen.

Gefolgt von Owen, kletterte Anne in den Hubschrauber, wo sie die Intubationstasche und den Rucksack mit den restlichen medizinischen Instrumenten in den vorgesehenen Fächern verstaute. Ohne die Monitore, an die der Patient nun angeschlossen war, aus den Augen zu lassen, setzte sie den Helm mit dem Headset auf und seufzte. Ja, sie und Owen waren ein gutes Team, wenn es darum ging, Leben zu retten, aber sobald die Arbeit erledigt war, waren sie wie Fremde. Sie wusste kaum etwas über ihn, und er war nicht gerade ein offenes Buch. Meistens fand sie Owens zurückhaltende Art nicht weiter schlimm, denn dadurch stellte er gewissermaßen einen Ruhepol zu ihrer manchmal übersprudelnden Aufregung dar. Trotzdem verspürte sie oft das kindliche Bedürfnis, ihn zu ärgern.

Sie wartete, bis alle ihre Plätze eingenommen hatten und abflugbereit waren, dann drehte sie sich zu ihrem Partner um und grinste ihn an. Er reagierte nicht. Der Hubschrauber hob ab, dröhnender Lärm umhüllte sie. Anne beobachtete, wie Owen die Vitalzeichen des Patienten überprüfte, die Daten eintrug und schließlich die Kabel und Zugänge checkte.

»Was ist?«, knurrte er schließlich, ohne sie anzusehen.

Anne zuckte mit den Schultern. Am liebsten hätte sie behauptet, dass sie ihn nur anschaute, weil er so gut aussah, denn dann hätte sie ihn in Verlegenheit gebracht, ihm vielleicht sogar ein kleines Lächeln entlockt, aber sie bezweifelte, dass er ihren Humor verstehen würde. Irgendetwas sagte ihr, dass er eigentlich nur unsicher war und sie ihm helfen konnte, ein wenig aufzutauen. Er brauchte bloß einen kleinen Schubs, etwas freundschaftlichen Spott, damit er aus seinem Schneckenhaus herauskam. Seit sie ihn kannte, hatte sie ihn noch nie mit Kollegen ausgehen oder Freundschaften knüpfen sehen, aber das konnte sich ja ändern. Schließlich brauchte jeder einen Freund.

»Vielleicht solltest du dich lieber auf deinen Patienten konzentrieren.« Seine raue Stimme klang übers Headset noch tiefer.

Unbeeindruckt erwiderte sie: »Ich bin eine Frau und daher durchaus multitaskingfähig. 15.32 Uhr – Puls 41, 15.41 Uhr – Puls 39, 15. 45 Uhr – Puls 44, Blutdruck 80 zu 50, Sauerstoffsättigung 91. 15.47 Uhr …«

»Was soll das?«

Anne lächelte liebenswürdig. »Ich habe den Patienten im Blick, Owen, aber wenn es dir damit besser geht, nenne ich dir gern jeden seiner Werte – wenn es sein muss, im Minutentakt.« Sie hob ihre Hand an die Schläfe. »Alles da drinnen gespeichert.«

Owen sah sie ein wenig verwundert an, schüttelte dann aber den Kopf und richtete den Blick wieder auf den Monitor. Anne beschloss, ihn vorerst vom Haken zu lassen, auch wenn sie sich lieber unterhalten hätte, anstatt sich zu fragen, ob der Patient womöglich bleibende Schäden davontragen würde. Manche von ihnen kamen nach ihrer Genesung zur Basis in Lliedi, einem kleinen Vorort von Fyrddin an der Küste, um sich zu bedanken, das freute sie jedes Mal. Sie wusste dann, dass es ihnen gut ging und dass ihre Arbeit und die der Ärzte im Krankenhaus wirklich etwas bewirkt hatte. Von anderen aber hörten sie nie wieder etwas, und Anne wollte auch nicht darüber nachgrübeln, wer von ihnen es geschafft hatte und wer nicht.

»Leah, wie lange waren wir vor Ort?«, fragte sie, den Blick auf den Monitor gerichtet, der nun bessere Werte anzeigte.

»Siebzehn Minuten«, antwortete Leah aus dem Cockpit, und Anne nickte zufrieden. Der Patient hatte gute Chancen. Für sie hieß es nun, ihn den fähigen Ärzten in Cardiff zu übergeben, die Papiere dort auszufüllen, zurück zur Basis zu fliegen, die Medikamente und das Equipment auf Vordermann zu bringen und weiteren Papierkram zu erledigen. Bis der Alarm das nächste Mal losging und alles wieder von vorne begann. Es gab keinen besseren Job.

*

Anne spritzte sich Wasser ins Gesicht und atmete tief ein. Es war ein erfolgreicher Tag gewesen, und sie fühlte sich erfüllt und zufrieden. Nach dem Verkehrsunfall waren sie für einen Patiententransfer in ein anderes Krankenhaus gerufen worden, und dann war ihre Zwölfstundenschicht bei den Flying Medics ausnahmsweise pünktlich um zwanzig Uhr zu Ende. Jetzt freute sie sich auf einen ruhigen Abend, darauf, dass das Gefühl der Bereitschaft, der Konzentration, von ihr abfiel. Solange sie sich auf der Basis aufhielt, hörte sie in Gedanken bereits das rote Telefon klingeln und den Alarm losgehen. Spürte ihre Beine kribbeln, stets bereit, sofort loszulaufen, zum Hubschrauber. Das Warten und die Ruhe waren für ihre Nerven oft schlimmer als unterwegs zu sein. Aber sie genoss die Anspannung auch, das Gefühl, jede Faser ihres Körpers zu spüren, wirklich da zu sein.

»Schaust du noch bei Evelyn vorbei?« Leah streckte den Kopf zur Tür des Ruheraums herein und sah sie hoffnungsvoll an. Auch sie hatte Zivilkleidung angezogen, trug wie immer dunkle Farben, um nicht groß aufzufallen.

Manchmal fiel es Anne schwer zu glauben, dass eine derart kleine, zarte Person in der Lage war, als Hubschrauberpilotin zu arbeiten. Leah steuerte diese enorme Maschine zu fast unmöglichen Landeplätzen, trotzte den schwierigsten Gegebenheiten, um so schnell wie möglich helfen zu können, und das so ruhig und abgeklärt, dass man meinen konnte, sie trage zwei Persönlichkeiten in sich – die unerschrockene Captain Edwards und die schüchterne Leah. Wer sie jetzt so dastehen sah, mit ihrem blonden Feen-Kurzhaarschnitt und den großen, weit aufgerissenen Augen, käme nie auf den Gedanken, dass sie Jahre beim Militär, darunter auch im Mittleren Osten, gedient hatte.

»Hast du ein heißes Date?«, fragte Anne lächelnd, auch wenn sie die Antwort bereits kannte.

Leah schnaubte wie erwartet und trat ein. »Evelyn wollte mir ein paar DVDs ausleihen, die möchte ich abholen, bevor ich nach Hause gehe und mir einen gemütlichen Abend mit Serienkillern und Popcorn mache.«

Anne schlüpfte in eine weiche, gemütliche Jeans, die sich wie eine zweite Haut an ihre Beine schmiegte, und zog ein kurzärmliges T-Shirt mit einem großen Strassherz über. Anschließend kämmte sie ihr langes rotes Haar aus und band es am Hinterkopf zu einem Knoten zusammen, dann stieg sie in ihre Stiefeletten und nahm Handtasche und Jacke vom Bett. Sie hätte Leah gern gesagt, dass sie auch ohne sie die DVDs bei Evelyn abholen könne und nicht auf sie warten müsse, aber sie wusste, dass Leah nie im Leben allein einen Fuß in Evelyns Pub setzen würde. Da waren zu viele Menschen, die sie ansehen oder – Gott bewahre – ansprechen könnten.

Oft fragte Anne sich, wie Leah wohl früher gewesen war, vor ihrem Auslandseinsatz, aber im Grunde war das unwichtig. Leah war ihre engste Freundin, hörte ihr immer zu, und sie war perfekt, so, wie sie war.

»Lädtst du mich denn wenigstens zu diesem Filmeabend ein?« Sie folgte Leah hinaus in den hell erleuchteten Korridor, von dem die Büro-, Trainings-, Besprechungs- und weitere Schlafräume für Bereitschaftsdienste abgingen.

Leah sah sie ungläubig an und schloss den Reißverschluss ihrer Sweatshirt-Jacke. »Hast du denn kein heißes Date? Was ist mit diesem Feuerwehrtyp von neulich? Wie hieß er noch gleich?«

»Luke Irgendwas.« Anne schauderte bei der Erinnerung. »Der wohnte noch zu Hause über der Garage, und für unser zweites Date wollte er mich zum Dinner einladen.«

»Herrje, du bist viel zu kritisch! Vielleicht wohnt er dort nur vorübergehend, und ein romantisches Abendessen ist doch nicht schlecht.«

»Bei seiner Mutter.«

Leah riss die Augen noch weiter auf als gewöhnlich, was Anne zum Lachen brachte. »Ja, offensichtlich macht seine Mutter den besten Lammbraten in ganz Wales.«

»Okay, ich weiß, warum ich bei Filmhelden bleibe.«

Anne seufzte und drückte die Tür auf. »Vielleicht sollte ich auch umsteigen und die ganze Daterei endlich aufgeben.«

»Irgendwann ist bestimmt der Richtige dabei.«

Das bezweifelte Anne, aber sie ging ja auch nicht mit Männern aus, um den Richtigen zu finden, sie war nur gerne unter Menschen. Allein zu Hause zu sitzen, hielt sie kaum aus. Außerdem ging sie für ihr Leben gern essen – allerdings am liebsten ohne Mütter.

Vor den Glasflügeltüren der Basis empfing sie ein grauer Frühlingsabend, die Wolken hingen tief am Himmel, die Bäume außerhalb der Umzäunung wogten im auffrischenden Wind. Ein unheimliches senffarbenes Licht fiel auf die mit struppiger Vegetation bewachsenen Hügel. Anne fühlte sich hier an der Küste stets ein wenig abgeschnitten von der Welt, frei. Die Basis lag am Rand des kleinen Dreieinhalbtausend-Seelen-Dorfes in der Nähe von Fyrddin, das ihr als Kind eine Heimat gegeben hatte. Es war ihr der liebste Ort der Welt, und als sie vor ein paar Jahren erfahren hatte, dass die walisische Flugrettung eine Basis ausgerechnet in Lliedi errichten wollte, hatte sie sich sofort beworben und dafür ihre Stelle in England aufgegeben. Sie war nach Hause zurückgekommen, was sie noch keine Sekunde bereut hatte.

Hinter ihr erstreckten sich unendliche Weiden mit ein paar wenigen dazwischengeworfenen landwirtschaftlichen Gehöften. Alles war friedlich, aber im Hinblick auf den nahenden Sturm, der in zwei Tagen auf die walisische Küste treffen sollte, überkam sie trotz der idyllischen Landschaft ein ungutes Gefühl. Lliedi lag nicht weit vom Meer entfernt, und Anne fürchtete, dass sie die volle Ladung abbekommen und Hubschraubereinsätze schwierig werden würden. Dann kamen wohl auch die beiden umgemodelten, knallig gelb-grün karierten Audis als Einsatzfahrzeuge zum Zug. Bei zu schlechtem Wetter war es nicht sicher, den roten Hubschrauber mit den grünen Flanken zu starten. »Ariannwyd gan bobl Cymru« stand in weißer Schrift darauf. »Finanziert durch die Menschen von Wales.« Denn ohne Spenden gäbe es die Flugrettung gar nicht.

»Tschüss, Owen!«

Anne zuckte bei Leahs Ruf zusammen. Sie sah zu dem elektronischen Tor hinüber, durch das man von der Basis auf die Straße gelangte, und erkannte Owen im Licht der Laternen auf seinem Fahrrad. Er drehte sich zu ihnen um, hob kurz die Hand und fuhr weiter.

»Und ich wollte ihn schon fragen, ob er mit in den Pub geht«, scherzte Anne, ging zu ihrem Wagen und drückte auf die Fernbedienung für die Zentralverriegelung.

Leah sah sie ungeduldig an. »Du meinst, um eine Abfuhr zu bekommen, so wie die letzten dreitausend Mal?«

»Er kommt mir so einsam und allein vor. Es würde ihm guttun, mal unter Leute zu kommen, mit Kollegen Zeit zu verbringen, abseits der Arbeit.«

»Wenn er einsam ist, dann weil er es so möchte. Du hast ihm oft genug die Möglichkeit gegeben, Anschluss zu finden. Wenn er nicht will, dann will er nicht. Versteh mich nicht falsch, er ist ein ausgezeichneter Sanitäter, das weiß ich. Ich weiß auch, wie gut du mit ihm zusammenarbeitest, ihr seid unser Dream-Team. Aber mögen muss ich ihn deshalb trotzdem nicht.«

Anne legte gespielt entsetzt die Hand auf die Brust und lachte. »Wie kannst du nur so etwas sagen?« Sie warf ihre Jacke und ihre Tasche in den Kofferraum und stieg in ihren unscheinbaren kleinen Wagen. Sie war erleichtert, nicht direkt nach Hause fahren zu müssen, sondern zuerst bei Evelyn vorbeizusehen und dann bei Leah Zeit zu verbringen. Vermutlich schliefen sie beim Fernsehen ohnehin wieder ein, und da sie beide morgen freihatten, war das auch nicht schlimm.

»Wieso gibst du dir überhaupt solche Mühe?« Leah ließ sich auf den Beifahrersitz fallen und streckte ihre dünnen Ballerina-Beine aus. Anne konnte sie sich gut vorstellen auf einer Bühne, mit glitzernden Feenflügeln auf Zehenspitzen tanzend. Anne selbst war eher der Lauftyp. Sie rannte oft und viel, immer, wenn sie nichts anderes zu tun hatte und nicht allein in ihrem kleinen Apartment sitzen wollte. Zu Hause fühlte sie sich oft einsam, obwohl sie nur knapp zehn Autominuten von der Basis entfernt wohnte. Zu Evelyn war es noch näher. Wirklich große Entfernungen gab es in diesem Dorf ohnehin nicht.

»Niemand sollte allein sein«, beantwortete sie Leahs Frage und setzte den Wagen zurück. »Er wirkt auf mich einfach nicht so, als würde er das Alleinsein genießen. Er sieht immer so ernst aus, hast du ihn jemals lachen sehen?«

»Nein, aber ich weiß, dass es sinnlos ist, an dich hinzureden. Wenn du glaubst, jemand braucht Hilfe, bist du zur Stelle. Oder interessierst du dich für ihn, weil er so heiß ist?«

»Leah!« Anne wirbelte zu ihrer Freundin herum. Fast wäre sie durch den engmaschigen Zaun gefahren, der die gesamte Basis umgab.

»Was? Ich bin vielleicht nicht so eine Plaudertasche wie du, das heißt aber nicht, dass ich blind bin.«

»So ein Unsinn. Ja, er sieht gut aus, aber das tun andere auch, darum geht es nicht. Ich mag einfach diese Anspannung in der Basis nicht – er verbreitet eine komische Stimmung, findest du nicht auch?«

Leah seufzte schwer und lehnte sich auf dem Beifahrersitz zurück. »Annie, ich sage es nur ungern, aber hast du schon mal daran gedacht, dass es einen Grund gibt, weshalb er sich dir gegenüber so kühl verhält? Dass nicht alle Hilfe brauchen und nur darauf warten, von dir gerettet zu werden?«

Anne warf ihr einen ungeduldigen Blick zu. »Das weiß ich doch! Aber bei ihm ist das anders, das hab ich im Gespür, von ihm geht so eine … so eine Traurigkeit aus.«

»Als jemand, der selbst zurückhaltend ist, kann ich nur sagen, dass es eigentlich immer einen Grund gibt, warum man sich von anderen Menschen fernhält. Auch er wird einen haben, und ich ahne, welchen. Schließlich ist er ein Mann, und Männer sind alle gleich. Ich habe es selbst so oft erlebt, bin so oft dagegen angerannt.«

Anne lachte auf. »Wovon zum Teufel redest du?« Sie verließ die Basis, die von außen eher militärisch und daher vielleicht für andere wenig einladend aussah, aber inmitten der grünen Hügel war sie für Anne ein Juwel. Die Straße führte sie am Industriegebiet mit seinen Bürokomplexen, Werkstätten und Verkaufsräumen vorbei, aber selbst diese Gegend war nicht dicht bebaut. Auf die Gebäude, die umgeben waren von Grün, folgte der große Park mit dem Kinderspielplatz, Fußball- und Cricket-Feldern; es gab sogar mehrere Tennisplätze.

»Ich bin Hubschrauberpilotin, und das war ich auch im Ausland. Ein Job, den hauptsächlich Männer ausüben. Ja, es gibt viele, die sagen, sie finden das toll, eine Frau dabeizuhaben, die einen unterstützt und nicht im vorigen Jahrhundert lebt. Es gibt aber genauso viele, die der Meinung sind, Frauen hätten jenseits des Herds nur wenig zu suchen.«

»Ach, Leah, ich bitte dich.«

»Annie, du bist eine Frau und Ärztin mit einer ganzen Liste an Spezialausbildungen, Owen ist Sanitäter, und damit stehst du über ihm. So mancher Mann mag damit ein Problem haben. Er arbeitet mit dir zusammen, aber du sagst ja selbst, dass er dir ansonsten aus dem Weg geht. Du bist nicht einmal dreißig und hast einen Beruf, für den viele sehr viel länger brauchen.«

»Ich hatte eben Glück.«

»Schon als Kind Klassen zu überspringen und das Studium in Rekordzeit zu absolvieren, würde ich nicht unbedingt Glück nennen. Du hast die anderen überflügelt, und das finden nicht alle toll. Ich habe gehört, dass Owen auch Medizin studiert hat, aber er hat mittendrin abgebrochen und bloß die Ausbildung zum Sanitäter zu Ende gemacht. Vielleicht hat er es nicht geschafft, vielleicht war das Studium für ihn zu schwer, und dann kommst du daher, eine Frau, noch halb im Kindergarten, in einem Job, den meist sehr viel ältere Männer ausüben.«

Anne blickte in die zunehmende Abenddämmerung hinaus. Die Straßenlaternen beleuchteten die Weiden mit ihren herabhängenden Ästen am Straßenrand. Sie konnte kaum glauben, was Leah da sagte. Auf so einen Gedanken war sie bislang noch nie gekommen. Ja, ihre Freundin hatte recht, damals in der Schule waren nicht alle begeistert davon gewesen, dass sie Tests mochte, Zahlen faszinierend fand und ohne große Mühe gute Noten schrieb. Aber sie war nicht mehr in der Schule. Herrgott, sie war achtundzwanzig, im richtigen Leben, in der realen Arbeitswelt, und da sollte für kindischen Neid kein Platz mehr sein!

Sie war froh, als sie den Ortskern erreichten und Susan Llwynhan, die in dem kleinen Supermarkt an der Tankstelle arbeitete und mit einem Sanitäter der Flugrettung verheiratet war, mit ihrer kleinen Tochter am Straßenrand entdeckten. Der Gitarrenkoffer des Mädchens wirkte doppelt so groß wie das Kind selbst. Die zwei erkannten ihren Wagen und winkten, und Anne fühlte die vertraute heimelige Wärme, die stets in ihr aufstieg, wenn sie sich an ihre eigene wunderbare Kindheit erinnerte.

Sie bremste ab und ließ das Fenster hinunter. »Ich hoffe, ich bekomme eine Einladung zum Auftritt!«, rief sie, und die Kleine reckte strahlend den Daumen in die Höhe.

»Ich gebe sie Jimmy zur Basis mit!«, versprach Susan grinsend.

Kurz darauf hielten sie vor Evelyns gemütlichem Pub an, der das inoffizielle Dorfzentrum von Lliedi bildete.

Anne betrachtete das Gebäude mit seinen hohen Bogenfenstern und den Säulen, die das Vordach stützten. Es sah beinahe aus wie ein kleines Schloss. Der Pub war nach seiner Besitzerin benannt – »Evelyn’s« –, und das passte, denn Evelyn war das Herz und die Seele nicht nur des Pubs, sondern des ganzen Dorfs. Oft kam es Anne so vor, als verbringe das halbe Dorf den Feierabend hier bei walisischem Ale und leckerem Essen, und sonntags nach der Kirche fanden sich alle zum Sunday Roast zusammen. Es war eine Tradition, die sie schon als kleines Mädchen geliebt hatte – genau wie sie den berühmten Sonntagsbraten ihrer Mum liebte.

Stimmengewirr und der Geruch nach Welsh Rarebit, einem mit Unmengen an Käse und leckeren Gewürzen überbackenen Toast, empfingen sie beim Eintreten. Sie meinte, auch Cawl zu erschnuppern, ihren Lieblingseintopf, in dem Lamm, Lauch, Kartoffeln, Rüben und alles, was die Küche sonst noch so hergab, zu einer leckeren Suppe zusammengerührt wurden. Manchmal bereitete Evelyn ihn auch mit Meeresfrüchten zu. Als Kind hätte Anne am liebsten darin gebadet.

Es herrschte gedämpftes Licht, die Menschen in den Sitznischen am Rand waren kaum zu erkennen, die Bar hingegen war hell erleuchtet. Die Wände hinter dem Tresen zierten walisische Weisheiten und ermutigende Sprüche, als wäre dies ein Tempel des Trosts und der Motivation.

Und dort stand auch Evelyn, das schwarze Haar zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, der sie nicht wie Anfang fünfzig, sondern eher wie Mitte dreißig aussehen ließ. Vermutlich auch, weil sie immer noch eine jugendliche Figur hatte, die sie mit der hautengen Jeans und dem weit ausgeschnittenen Top betonte. Es war nicht verwunderlich, dass beinahe die gesamte männliche Single-Gemeinschaft des Dorfes die Bar besetzt hielt und sie anhimmelte. Sogar Pater Stephen war dort, aber Anne war überzeugt, dass der Pfarrer natürlich nur des Eintopfs wegen so oft hierherkam, den er auch jetzt gerade gierig in sich hineinschaufelte.

Anne bemerkte eine Frau, die sie noch nicht kannte. Die Frau war das genaue Gegenteil von Evelyn, wenn sie auch vermutlich im selben Alter war. Ihr Haar war grau und schütter, sie war knochendürr, und ihr eingefallenes Gesicht wirkte verlebt. Anne ahnte, woher sie kam.

»Annie! Leah!« Evelyn entdeckte sie beim Eingang und winkte sie freudestrahlend näher. Die Gäste an der Bar drehten sich zu ihnen um, und Anne spürte, wie sich Leah an ihrer Seite verspannte. Für ihre Freundin war das kleine Dorf, in dem es keine Anonymität gab, eine tägliche Qual. Sie war in London aufgewachsen und sprach auch nicht Walisisch wie die meisten hier. Dabei hatte Anne erst neulich eine Studie gelesen, in der das Volk der Waliser als das schüchternste und emotional instabilste Großbritanniens bezeichnet wurde. Vielleicht war Leah im tiefsten Inneren ja doch eine Waliserin. Llewellyn vom Postamt, der gerade an einem der runden Tische in der Mitte ein Volkslied anstimmte, hätte die Studie ruhig mal lesen sollen, denn als schüchtern konnte man ihn bestimmt nicht bezeichnen.

Am liebsten hätte Anne ihre Freundin an sich gedrückt, aber das würde alles nur noch schlimmer machen.

Stattdessen hakte sie sich bei Leah unter, um ihr ein wenig Halt zu geben, und zog sie zur Bar.

»Wir sind hier, um die DVDs abzuholen.« Anne stibitzte ein paar Erdnüsse aus den Schalen auf dem blankpolierten Tresen und ließ sich von Pater Stephen auf die Schulter klopfen. »Na, Annie, heute wieder Leben gerettet?«

»Nur eines«, erwiderte sie lächelnd und wandte sich Evelyn zu. »Hast du die DVDs hier oder in der Wohnung?«

»Oben, Darling«, winkte Evelyn ab, »aber jetzt komm doch erst mal her.«

Anne zog einen freien Barhocker für Leah heran, drei Hocker von den anderen Gästen entfernt, und wartete, bis diese hinaufgeklettert war, dann ging sie zu Evelyn hinter den Tresen.

Evelyn legte den Arm um Anne und drehte sie zu der fremden, verhärmten Frau um.

»Das ist sie, Josephine, das ist meine Annie«, erklärte sie stolz.

Anne fühlte eine Welle der Liebe über sich hinwegbranden. Sie streckte der fremden Frau die Hand entgegen. »Es freut mich, Sie kennenzulernen.«

»Josephine ist neu in meiner Gruppe«, erklärte Evelyn, womit sich Annes Verdacht bestätigte. Josephine war irgendeiner Form der Sucht erlegen und befand sich nun dank Evelyns Hilfe auf dem Weg der Besserung, denn Evelyn leitete neben dem Pub auch ein Suchthilfezentrum, das Menschen dabei unterstützte, aus der Spirale auszubrechen und ihr Leben neu zu beginnen.

»Deine Mutter hat mir schon viel von dir erzählt«, sagte Josephine mit einer heiseren Stimme, die klang, als hätte sie ihr ganzes Leben lang geraucht.

Anne lächelte. »Hoffentlich nicht, wie ich ihre Schlafzimmermöbel mit Permanent Marker verziert habe. Sie hat kein Wort gesagt, aber ich glaube, sie hätte mich damals am liebsten zurück ins Pflegeheim geschickt.«

Josephines Gesicht spiegelte Verwirrung. Offenbar wusste sie nicht, dass Evelyn nicht Annes leibliche Mutter war.

»Meine Mutter hat mich verlassen, als ich noch ganz klein war«, erklärte sie daher schnell. »Evelyn gehörte nicht zur Familie, war nicht einmal eine entfernte Verwandte, trotzdem hat sie mich bei sich aufgenommen und mir das beste Zuhause gegeben, das sich ein Kind …« Sie sah ihrer Pflegemutter in die verdächtig glänzenden Augen. »… und auch eine Erwachsene nur wünschen kann.«

»Oh, Annie.« Evelyn zog sie an sich und drückte sie fest, dabei hatte Anne gar nicht mehr gesagt als die Wahrheit. Evelyn war so viel mehr als eine Mutter für sie, denn es war die Pflicht einer Mutter, sich um ihr Kind zu kümmern. Evelyn dagegen hatte vollkommen selbstlos gehandelt. Sie war der herzlichste Mensch, den Anne kannte, und das sollten alle wissen. Andere Kinder pendelten ständig von einer Pflegefamilie zur nächsten, während Anne ihren Lebensplatz schon früh gefunden hatte. Nur dank Evelyn lebte sie jeden Tag mit den Erinnerungen an eine wunderbare Kindheit. Ohne diesen Rückhalt könnte sie ihren Beruf wohl nicht ausüben.

»Ich habe gehört, Sie arbeiten bei der Flugrettung«, ließ sich Josephine vernehmen und nippte an ihrem Saft. »Drüben bei der Airbase.«

Anne löste sich von ihrer Pflegemutter und zwinkerte Leah zu, die sich eine Erdnuss nach der anderen in den Mund warf. Wie konnte sie ihrer Freundin nur helfen, zumindest ein wenig aus sich herauszukommen? Sie war sicher, dass ihre Scheu, ja vielleicht sogar Angst, an ihren Erfahrungen im Ausland lag, denn Leah sprach nie über die Jahre, in denen sie fort gewesen war, kein Wort. »Sie sind Ärztin, nicht wahr?«, riss Josephines Stimme sie aus ihren Gedanken.

»Ja, ich bin Anästhesistin.«

»Ein schrecklicher Job.«

Anne hob fragend die Augenbrauen. »Eigentlich gefällt es mir bei der Flugrettung sehr gut.«

»Aber ihr werdet doch nur gerufen, wenn etwas so Schlimmes passiert ist, dass ein gewöhnlicher Krankenwagen nicht mehr reicht. Ich nehme an, ihr seht schreckliche Dinge – Stoff, aus dem Albträume gemacht sind. Und bestimmt verliert ihr jede Menge Patienten, entscheidet tagtäglich über Leben und Tod, strengt euch an und versucht alles, um sie am Leben zu halten, und dann sterben sie doch. Wie schafft man es da, morgens aus dem Bett zu kommen?«

Nun musste Anne lachen. Josephine hatte ja recht, aber dann auch wieder nicht. »Es kommt wohl auf die Sichtweise an«, erklärte sie und nahm dankend ein Glas selbstgemachten Apfelsaft von Evelyn entgegen, die sich zurückzog, um Leah Gesellschaft zu leisten. »Denn wenn wir losfliegen, haben die Menschen zumindest eine Chance. Die Unfälle, Krankheiten, was auch immer, passieren so oder so. Das war schon immer so, darauf haben wir keinen Einfluss. Aber wir können diesen Menschen helfen. Durch unsere Arbeit schaffen es einige von ihnen, zu überleben. Nicht immer, aber jeder Einzelne zählt – und das ist ein Geschenk und nichts Schreckliches.«

Josephine sah sie mit gerunzelter Stirn an. »Das nenne ich übersteigerten Optimismus.« Sie blickte an Anne vorbei zu Evelyn und rief: »Ich fürchte, deine Tochter ist nicht ganz normal!«

Evelyn drehte sich schmunzelnd zu ihnen um und sah zwischen Anne und Josephine hin und her. »Hat sie dich mit ihren warmen Sonnenstrahlen gestreift, Josephine? Wärme dich daran, solange du kannst, zu oft werde ich sie nicht teilen.«

Anne verdrehte lachend die Augen und füllte die Nüsse nach, dann brachte sie Pater Stephen noch eine Schale Eintopf.

»Deine Mutter ist schuld, wenn ich bald nicht mehr in meine Jeans passe«, sagte er, schnupperte genüsslich und griff voller Vorfreude nach dem Löffel.

Anne lachte. »Solange das Messgewand noch passt, wird sie wohl keine Schwierigkeiten mit dem da oben bekommen.« Sie deutete zwinkernd gen Himmel, und Pater Stephen nickte zustimmend.

»Hey, Annie, zapf mir doch noch ein Bier, ja?« Llewellyn vom Postamt presste seinen kugelrunden Bauch gegen die Theke und streckte ihr einen Geldschein entgegen. »Aber bitte nicht wieder ein Glas voll Schaum, okay?«

»Ähm …« Anne sah sich hilfesuchend nach Evelyn um. Sie schaffte es, Saft einzuschenken, ja, sie könnte Llewellyn auch eine Wunde nähen oder Knochen einrenken, aber ein Bier zu zapfen, überstieg tatsächlich ihre Fähigkeiten. Leider war Evelyn nirgendwo zu sehen, vermutlich war sie in die Wohnung gegangen, um die DVDs zu holen, und so versuchte sie ihr Bestes. Der Schaum hielt sich in Grenzen, und sie überreichte Llewellyn das Glas mit einem triumphierenden Lächeln. Anschließend schenkte sie Josephine neuen Saft ein, wobei sie sie unauffällig musterte, um herauszufinden, wie es ihr mit all dem Alkohol um sie herum ging. Zu ihrer Erleichterung schien Josephine mit ihrem Saft ganz glücklich zu sein. Sie war nicht die Erste von der Suchthilfe, die Evelyn mit in den Pub nahm, und Anne war überzeugt, dass ihre Pflegemutter wusste, was sie tat. Vielleicht war das ein Meilenstein, den es zu überwinden galt, und Josephine sollte sich beweisen, dass sie der Versuchung widerstehen konnte.

Evelyn kehrte zurück, legte die DVDs vor Leah, dann verschwand sie nach hinten in den Kühlraum.

Anne schaute zur Pub-Tür, die sich soeben öffnete. Ein Mann um die vierzig mit Dreitagebart trat ein. Sie kannte ihn nicht, und das wollte in diesem Dorf etwas heißen. Die Hände in der Lederjacke, stolzierte er herein, als gehörte der Pub ihm, dabei konnte er ein leichtes Torkeln nicht verbergen. Er steuerte auf die Bar zu, und ehe Anne etwas unternehmen konnte, ließ er sich auf dem freien Stuhl neben Leah nieder.

Leah blickte auf und erstarrte, ihre Hände klammerten sich so fest um ihr Glas, dass die Knöchel weiß hervor­traten und Anne fürchtete, es würde jeden Moment bersten.

»Ein Bier!« Der Mann winkte in Annes Richtung. Er strahlte Arroganz aus, Herablassung, was ihr sofort zuwider war.

»Soll ich ihn loswerden?«, raunte Llewellyn, der gerade mit seinem Getränk in der Hand an seinen Platz zurückkehren wollte.

Anne schüttelte den Kopf. »Ich kümmere mich schon darum, danke.«

Llewellyn prostete ihr zu und entfernte sich. Anne sah, wie sich der Typ Leah zuwandte, und wünschte sich, sie hätte Llewellyn gebeten zu bleiben. Sie spürte, wie ihr Beschützerinstinkt in ihr aufwallte, wollte aber keine große Szene veranstalten. So unauffällig wie möglich ging sie näher heran, lehnte sich gegen den Tresen und beobachtete die beiden aus den Augenwinkeln.

»Was willst du trinken?«, fragte der Typ Leah, als wären sie alte Freunde.

Leah hob den Blick und sah Anne mit ihren Rehaugen hilflos an.

»So eine Süße wie du trinkt bestimmt einen Sherry!«, fuhr der Mann fort.

»Nein danke.« Leah packte die DVDs zusammen und wollte gerade aufstehen, als der Mann seine Hand auf die Filme legte, was Anne augenblicklich in Alarmbereitschaft versetzte. »Wo willst du denn so schnell hin?«, fragte er. Seine Worte klangen leicht verschliffen. »Du hast doch nicht etwa vor, einen einsamen Abend vor dem Fernseher zu verbringen?«

»Doch. Genau das«, erwiderte Leah mit zusammengebissenen Zähnen.

»Das kann ich unmöglich zulassen. Nicht, wenn wir beide so viel Spaß miteinander haben könnten, kleine Elfe.«

Leah zuckte zusammen, was den Mann nur noch mehr anzustacheln schien. Er strich über die DVDs und fragte mit süffisanter Stimme: »Du stehst also auf Horror?«

Anne konnte nicht länger zusehen. Das Ganze musste ein Ende haben, und zwar sofort. Entschlossen beugte sie sich über den Tresen und schob seine Hand zur Seite. »Nur im Film«, erklärte sie freundlich und stellte ein Glas vor ihm ab, dann deutete sie auf ein Kreideschild, das hinter ihr an der Wand lehnte.

»Hausgemachter Apfelsaft«, las der Typ mit der Lederjacke und zog fragend die Augenbrauen in die Höhe.

»Hier gibt es weder Bier noch Sherry, aber ich kann den Saft wirklich empfehlen. Vitamine können manchmal Wunder wirken und verhindern, dass auch noch der Rest an Gehirnzellen abstirbt.«

Der Mann richtete sich abrupt auf und sah sie aus blutunterlaufenen Augen an, die zeigten, wie tief er schon ins Glas geschaut hatte. »Ich will Bier!«, rief er und ballte die Hand zur Faust. »Schließlich sind wir hier in einem Pub und nicht im Kindergarten.«

Anne bekam es mit der Angst zu tun und sah bereits vor sich, wie er sie packte, über den Tresen zerrte und sie zu Hackfleisch verarbeitete. Da ließ Evelyn sie nur ein paar Minuten allein, und schon drohte eine Kneipenschlägerei. Was nun? Das Wichtigste war vermutlich, ruhig zu bleiben und sich nichts anmerken zu lassen.

»Nimm den Apfelsaft!«, rief Llewellyn von seinem Platz aus, als unterhielte er sich mit einem alten Bekannten.

»Er ist wirklich gut«, ließ sich auch Pater Stephen vernehmen, der besorgt über seine Schale Eintopf hinweg in ihre Richtung sah.

Der Kerl knurrte etwas Unverständliches, doch er machte keinerlei Anstalten, klein beizugeben.

Auf einmal meldete sich Josephine zu Wort. »Wir sind eine Gruppe von Alkoholikern, hier gibt es kein Bier, oder wir würden alle durchdrehen.« Anne sah sie überrascht an, doch die ausgemergelte Frau war noch nicht fertig. Sie lehnte sich ein wenig vor, kniff die Augen leicht zusammen und sah ihn fest an, bevor sie mit düsterer Stimme hinzufügte: »Glauben Sie mir, Sie wollen uns nicht durchdrehen sehen.«

Der Mann starrte sie abschätzig an, dann wandte er sich wieder Leah zu, die aussah, als würde sie am liebsten im Erdboden versinken.

Auf einmal stand ein junger Mann Anfang zwanzig von einem der Tische am Rand des Pubs auf, durchquerte den Gastraum und schob sich zwischen den Fremden und Leah. Er trug Jeans und eine dunkle Jacke, seine Haare hatten eine undefinierbare Farbe zwischen blond und braun und waren mit Gel verwuschelt, was ihn jünger wirken ließ. Doch er überragte den aggressiven Kerl um ein gutes Stück und sah so aus, als verbrächte er viel Zeit im Fitnessstudio.

»Was glaubst du eigentlich, wer du bist, Bürschchen?«, tobte der Betrunkene. »Geh mir aus dem Weg!«

»Ich glaube, ein deutliches Nein gehört zu haben, und da, wo ich herkomme, nimmt man ein Nein wörtlich. Nein heißt nein.«

Der Betrunkene verzog die Lippen zu einem widerwärtigen Grinsen, rutschte von seinem Barhocker und holte aus, erstaunlich schnell und präzise. Der junge Mann rührte sich nicht vom Fleck. Im nächsten Moment hatte er eine Faust im Gesicht und taumelte zurück gegen den Barhocker.

Leah schrie auf vor Schreck, Evelyn, die gerade aus dem Kühlraum zurückkam, blieb wie versteinert stehen, während Anne ungläubig von einem zum anderen starrte. Sie erwartete, dass der junge Mann zurückschlug, dass er zornig wurde, aber er hob nur seine Hand an die aufgeplatzte Lippe und wischte sich das Blut ab, ehe er sich erneut vor dem Betrunkenen aufbaute. »Einen habe ich Ihnen geschenkt, um hier drinnen keine Schlägerei anzufangen, aber jetzt sollten Sie besser verschwinden.« Von der Statur her hätte er den Kerl mit dem kleinen Finger unschädlich machen können, doch dass er das nicht tat, rechnete Anne ihm hoch an.

Evelyn trat mit dem Handy in der Hand näher. »Ich zähle jetzt bis drei«, sagte sie energisch, genau wie sie es getan hatte, wenn es darum ging, dass Anne ihr Zimmer aufräumte, »dann sind Sie hier draußen, oder ich rufe die Polizei.«

Der Betrunkene sah noch einmal in Leahs Richtung, überlegte sichtlich, ob es sich lohnte weiterzukämpfen, dann wankte er fluchend zum Ausgang, was ein kollektives Aufatmen zur Folge hatte.

»Arschloch!«, rief Josephine ihm hinterher.

»Es tut mir so leid.« Leah, die völlig in sich zusammengesackt war, richtete sich auf und betrachtete den Fremden mit einem mitfühlenden Blick. »Tut es sehr weh?«

Der junge Mann winkte ab. »Nicht der Rede wert. Und übrigens – mir tut es leid. Wenn ich solche schmierigen Typen sehe, habe ich das Gefühl, mich im Namen meines ganzen Geschlechts entschuldigen zu müssen.«

Leah lächelte. »Das wird wohl nicht nötig sein. Aber ich bin bereit, mich im Namen meines Geschlechts für solche Ritterlichkeit zu bedanken. Das sieht man nicht mehr oft.«

Erneutes Lächeln. Erstaunt bemerkte Anne, wie die Augen ihrer Freundin anfingen zu funkeln. War das wirklich Leah, die vor einem Fremden auftaute?

Evelyn hatte ihr Handy beiseitegelegt, stellte ein Glas Saft vor Leahs Retter ab und reichte ihm ein Tuch mit darin eingewickelten Eiswürfeln. »Sie können gern ein Bier haben, wenn Sie wollen. Ritter in schimmernder Rüstung bekommen hier auch Alkohol.«

Der junge Mann grinste, was Grübchen in seine Wangen zeichnete, aber auch das Blut auf seiner Lippe betonte. Er nahm einen Schluck Saft und drückte sich dann den improvisierten Eisbeutel gegen den Mund. »Danke.« Er streckte Leah die Hand entgegen. »Ich bin übrigens Elvis.«

»Elvis?« Leah lachte ein unbeschwertes Lachen, das Anne noch nie in einem derart gefüllten Raum von ihrer Freundin gehört hatte, zögerte kurz und schlug ein. »Deine Eltern haben einen … einzigartigen Geschmack, was Namen betrifft.«

»Den Namen haben die Behörden oder meine ersten Eltern Claudia und John verbrochen, das kann man nicht mehr so genau nachvollziehen.«

»Deine ersten Eltern?«

»Ich hatte insgesamt zwölf.«

Die Dorfbewohner tauschten bestürzte Blicke, und auch Anne war überrascht. Sie kannte niemanden im Dorf, der wie sie in einer Pflegefamilie groß geworden war, zumindest nicht in ihrer Generation, aber das mochte nichts heißen, denn den jungen Mann vor sich kannte sie ja auch nicht. Ob er aus Lliedi kam? Vielleicht hatte es ihn zu einer seiner zwölf Pflegefamilien hierherverschlagen. Zwölf Pflegefamilien … Dankbar sah sie in Evelyns Richtung.

Elvis hingegen winkte lachend ab. »Das ist eine lange Geschichte! Ich hoffe, ich verliere meinen Status nicht als Ritter in schimmernder Rüstung mit Schimmel und Schwert und … was haben Ritter noch?«

»Bescheidenheit.« Leah kicherte. Plötzlich erweckte sie nicht mehr den Anschein, als wolle sie lieber früher als später von hier verschwinden.

»Sehe ich das richtig?« Evelyn trat an Annes Seite, das Staunen war ihrem Flüstern anzuhören.

Anne grinste. »Ich bin mir nicht sicher.«

»Unsere Leah mit funkelnden Herzen in den Augen. Erstaunlich!«

Anne lachte. »Meinst du nicht, dass es für Herzen etwas früh ist?«

»Ich habe mir sagen lassen, dass es das geben soll. Liebe auf den ersten Blick …« Evelyn zwickte ihr in die Seite. »Könnte auch für dich etwas sein.«

Allein der Gedanke klang absurd. Eine Beinahe-Schlägerei, ein schillernder Held … das war der Stoff aus Filmen und Büchern, nicht aus dem richtigen Leben, wenn sie auch zugeben musste, dass er durchaus etwas Romantisches hatte. Sie würde sich für Leah freuen. Zwar hörte sie anders als Evelyn noch nicht die Hochzeitsglocken läuten, aber sie war froh, dass Leah ein wenig aus sich herauskam und es zumindest einen Mann auf dieser Welt zu geben schien, dem sie nicht mit Misstrauen und Abneigung begegnete.