Das Leuchten einer Sommernacht - Ella Simon - E-Book
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Das Leuchten einer Sommernacht E-Book

Ella Simon

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Beschreibung

Lynne lässt Träume wahr werden: Ihre Organisation erfüllt die Herzenswünsche schwerkranker Kinder. Ausgerechnet ein Wunsch entpuppt sich aber für sie selbst als Albtraum, denn plötzlich steht ihre Jugendliebe vor ihr: Reed Rivers war ein rebellischer Teenager, heute ist er ein umschwärmter Rugbystar, ein walisischer Nationalheld. Und er scheint den Tag nicht vergessen zu haben, an dem Lynne ihn sitzen ließ. Zum ersten Mal wünscht Lynne sich selbst etwas – nämlich dass Reed wieder aus ihrem ruhigen Leben verschwindet. Doch da ist auch die Erinnerung an leuchtende Sommernächte und das Gefühl, dass sie sich lange genug gegen die große Liebe gewehrt hat ...

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Das Buch

Lynne Padrig lässt Träume wahr werden. Sie ist Leiterin der Organisation »Gute Fee« und erfüllt schwerkranken Kindern ihre großen Wünsche. Sie weiß, dass das Leben oft ungerecht ist, und glaubt nicht mehr an Schicksal. Aber es ist ausgerechnet ein Wunsch, der sie völlig überraschend zurück zu ihrer Jugendliebe führt: Damals war Reed Rivers ein rebellischer Teenager, heute ist er ein umschwärmter Rugbystar, ein walisischer Nationalheld. Und keiner von beiden hat vergessen, wie tief sie einander damals verletzt haben. Während Lynne sich zum ersten Mal selbst etwas wünscht – nämlich dass Reed einfach wieder aus ihrem ruhigen Leben verschwinden möge –, hat er ganz andere Pläne. Doch da ist auch die Erinnerung an leuchtende Sommernächte und das Gefühl, dass sie sich lange genug gegen ihr Schicksal gewehrt haben.

Weitere Informationen zu Ella Simon sowie zu lieferbaren Titeln der Autorin finden Sie am Ende des Buches.

Ella Simon

Das Leuchten

einer Sommernacht

Roman

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
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Copyright © 2017 by Ella Simon Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2017 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Die Veröffentlichung dieses Werkes erfolgt auf Vermittlung der literarischen Agentur Peter Molden, Köln. Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München Umschlagmotiv: FinePic®, München MR · Herstellung: kw Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach ISBN: 978-3-641-20245-3V002www.goldmann-verlag.de
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Für Papa und Grazyna

»Your love was made for movie screens«

Prolog

Lynne starrte auf die Uhr. Sie beobachtete den Sekundenzeiger und tippte im Takt mit dem Stift auf ihren Notizblock. Ticktack, ticktack, ticktack … Wie aus weiter Ferne vernahm sie die Stimmen der anderen Schüler. Sie zupfte an einem losen Faden ihrer Schuluniform und rutschte auf ihrem Stuhl hin und her. Alles in ihr kribbelte, gleich würde sie aus der Haut fahren. Ticktack, ticktack, ticktack … Sie reckte ihren Hals, versuchte aus dem Fenster in den Hof zu sehen. Bestimmt wartete er schon auf sie! Er hatte eine Stunde vor ihr ausgehabt, und es war immer schwer vorauszuahnen, was er tat, ob er hielt, was er versprochen hatte, oder ob ihm spontan etwas anderes einfiel. Die ersten beiden Stunden hatten sie gemeinsam gehabt, aber danach war bei ihm Sport dran gewesen. Sein Lieblingsfach, denn im Rugby war er anders als in akademischen Disziplinen unschlagbar.

Wahrscheinlich war er längst zu Hause, sie sollte nicht so aufgeregt sein. Ticktack, ticktack, ticktack …

Im Grunde war es ja nichts Besonderes, Reed zu sehen, das tat sie, seit sie denken konnte – schließlich war er ihr Nachbar. Aber seit einem halben Jahr war alles anders. Seit dem Valentinstag kletterten sie nicht mehr auf den Heuboden und spielten Fangen oder Verstecken. Sie waren zusammen. Nicht mehr nur beste Freunde. Ob sie sich je daran gewöhnen würde?

Das schrille Läuten der Schulglocke durchbrach ihre Gedanken. Wie von der Tarantel gestochen, sprang sie auf, und ihr Stuhl fiel mit einem lauten Krachen um. Die Lehrerin zuckte zusammen, ein paar Mitschüler warfen ihr sonderbare Blicke zu, aber Lynne beachtete sie gar nicht. Sie warf ihre Schulsachen und das Zeugnis in den Rucksack, schwang ihn sich über die Schultern und rannte mit einem »Schöne Ferien!« aus der Klasse.

Überall im lichtdurchfluteten Gang öffneten sich Türen, und freudestrahlende Jugendliche strömten heraus. Es war schwer voranzukommen, die anderen blieben immer wieder in Grüppchen stehen, fielen sich in die Arme, verabschiedeten sich, als stünde ihnen eine endgültige Trennung bevor. Dabei waren es doch nur die Sommerferien. Wenn sie wollten, konnten sie weiterhin jeden Tag miteinander verbringen.

Ungeduldig hielt Lynne nach ihm Ausschau, aber eigentlich erwartete sie nicht, Reed unter den anderen zu sehen. Vermutlich hatte er die übrigen Stunden sowieso geschwänzt. Nicht nur, weil es der letzte Schultag war und sie keinen Stoff mehr durchnahmen, sondern weil Reed »regelmäßig dem Unterricht fernblieb«, wie es in den Mahnschreiben an seine Eltern hieß.

Die Sonne brannte auf den Schulhof, einen besseren Ferienstart konnte es gar nicht geben, und Lynne sprang gut gelaunt die Treppe hinunter. Ihr Blick wanderte die Zufahrtsstraße entlang zu den Parkplätzen, wo bereits der Bus wartete, genauso wie Eltern, die ihre Kinder an diesem besonderen Tag ausnahmsweise abholten. Und ganz rechts, lässig an eine Mauer gelehnt, stand Reed.

Ihr Herz machte einen Satz, und sie blieb stehen. Er sah ihr unverwandt entgegen, sein großer, schlanker Körper scheinbar völlig entspannt. Reed war noch nicht mal fünfzehn, aber er war vor einem halben Jahr in die Höhe geschossen, das königsblaue Poloshirt seiner Schuluniform spannte über seiner Brust. Er hob die Hand und winkte, und Lynne setzte sich lächelnd wieder in Bewegung. Der vom Meer kommende Wind fuhr ihm durchs blonde Haar, das mal wieder einen Schnitt vertragen könnte, obwohl die lange, unordentliche Frisur ihm etwas Verwegenes verlieh, das Lynne insgeheim besser gefiel. Es war perfekt, um ihre Hände darin zu vergraben, wenn er sie zu einem leidenschaftlichen Kuss an sich zog.

Lynne rückte ihren Rucksack zurecht, als jemand ihren Arm umschloss.

»Wo willst du hin?« Sie schloss frustriert die Augen, atmete tief durch und drehte sich zu ihrem Bruder um, der mit düsterer Miene zwischen ihr und Reed hin- und hersah. »Zum Bus geht’s da lang.« Er deutete die Straße hinunter, aber Lynne zog ihren Arm an sich.

»Dann beeil dich, Rhys, bevor er ohne dich losfährt.«

»Lynne …«

»Ich bin mit dem Fahrrad hier, oder hast du das heute Morgen nicht mitbekommen? Mum weiß, dass ich später nach Hause komme.«

»Fährst du mit ihm zu den Klippen?«

Lynne verengte die Augen, sie hasste den Tonfall in Rhys’ Stimme, die Verachtung und Überlegenheit. Ihr Bruder war nur ein Jahr älter, aber er glaubte, sie ständig beschützen zu müssen. Mit seiner in Falten gezogenen Stirn sah er auch weniger wie ein Schüler als ein mürrischer Lehrer aus. Das braune Haar war wie immer penibel kurzgeschnitten, was das sonnengebräunte, strenge Gesicht betonte.

»Bis später.« Sie wollte an ihm vorbei, doch er stellte sich ihr in den Weg. Er war nur wenig größer als sie, aber er arbeitete jede freie Minute auf der Pferdefarm von Reeds Eltern und war stark wie ein Bär. Wenn er wollte, könnte er sie sich ohne Mühe über die Schulter werfen und sie in den Bus verfrachten.

»Was macht ihr ganz allein bei den Klippen?«

Lynne lächelte liebenswürdig. »Mit Feuer und scharfen Messern spielen, mit einer Schere in der Hand balancieren …«

»Ich mache mir einfach nur Sorgen, okay? Alis kommt nicht mehr mit, du bist ganz allein mit ihm da draußen und …«

»Gott, Rhys, was soll denn passieren? Wir hängen einfach nur so rum!« Und küssen uns, bis uns die Luft ausgeht, und dann küssen wir uns weiter, weil wir seit dem ersten Mal vor einem halben Jahr einfach nicht aufhören können. Kein Wunder, dass Reeds Schwester Alis nicht mehr mitkam und sich allmählich von ihrem Trio entfernt hatte.

»Lynne …« Rhys legte eine Hand auf ihre Schulter, Schüler zogen fröhlich plaudernd an ihnen vorüber, aber an ihrem Bruder war nichts fröhlich. »Er ist unberechenbar, gefährlich, das weißt du, du kannst nicht …«

»Bist du so weit?« Ein Schatten fiel auf sie, Reeds Stimme war eisig, seine Finger schlossen sich wie Schraubstöcke um ihren Arm, ganz anders als die von Rhys vorhin.

Sie sah zu ihm auf, seine grünen Augen funkelten unter der Julisonne, schleuderten ihrem Bruder Blitze entgegen. Beruhigend legte sie ihre Hand auf seine, sein Blick fiel auf ihre Finger und sofort lockerte sich sein Griff. Anders als alle anderen wusste Lynne mit Reeds ADHS, das die meisten einfach nicht verstanden und als gefährlich abtaten, umzugehen.

»Lynne fährt mit mir nach Hause.« Rhys nahm ihre Hand, zog von der anderen Seite, als fühlte sie sich nicht schon ohne das tatsächliche Gezerre entzweit genug.

»Das entscheidet sie immer noch selbst.«

»Ach bitte, als würdest du sie irgendetwas entscheiden lassen!«

»Ich zwinge sie zu gar nichts!«

»Das heißt, meine kleine Schwester steht drauf, wie ein wandelnder Autounfall herumzulaufen?« Er wies in Lynnes Gesicht, auf ihr aufgeschürftes, lila leuchtendes Jochbein, das mit einem Stein in Kontakt getreten war. Ein dummer Unfall! Reed hatte sie übermütig umgeworfen, in die Wiese, wohlgemerkt, er hatte nicht wissen können, dass sie mit ihrem Gesicht genau den einen Stein traf, der da wie aus dem Nichts aus dem Gras aufgetaucht war. Es war nicht seine Schuld gewesen, aber das schien er selbst nicht zu wissen, denn ihm wich bei diesen Worten alle Farbe aus dem Gesicht, seine Hand glitt von ihr, als hätte er sich an ihr verbrannt.

Lynne riss sich von ihrem Bruder los und ballte die Hand zur Faust. Am liebsten hätte sie ihn damit geboxt. »Hör auf, Rhys! Das ist unfair! Reed konnte überhaupt nichts dafür!«

»Genauso wenig wie für die letzten fünfundzwanzig Prügeleien, die er angestiftet hat, oder was?«

Reeds Körper spannte sich an, wie eine Raubkatze vor dem Sprung, und Lynnes Herz begann zu rasen. Schnell schob sie sich zwischen ihn und ihren Bruder. »Fahr heim!«, zischte sie und durchbohrte ihn mit ihrem Blick. »Lass uns in Ruhe.« Sie sah ihn noch einen Moment lang warnend an, dann machte sie auf dem Absatz kehrt, schnappte sich Reed am Ärmel und zog ihn mit sich zu den Fahrrädern. Sie wollte gerade aufatmen, als sie Rhys rufen hörte: »Genießt die Zeit, die ihr noch habt! Für sein nicht vorhandenes Zeugnis landet er jetzt ohnehin im Heim!«

Lynne keuchte auf, es kam ihr so vor, als hätte ihr jemand mit einem Baseballschläger in den Bauch geschlagen. Ein Rauschen tönte in ihren Ohren, in ihrem Kopf wirbelte alles durcheinander, und ehe sie darüber nachdenken konnte, ließ sie Reed los, drehte um und lief zurück zu Rhys. Dabei hörte sie bei jedem Schritt Reeds Eltern mit ihren ständigen Drohungen, ihn wegzugeben, sich endlich von ihm zu befreien, als wäre er Gerümpel, das man loswerden wollte.

Ein zorniger Schrei entfuhr ihr, die anderen Schüler verwandelten sich zu schemenhaften Schatten mit verzerrten Grimassen, die sie alle anstarrten. Aber das hielt sie nicht davon ab, sich auf ihren Bruder zu stürzen und mit den Fäusten auf ihn einzutrommeln.

»Sag das nie wieder! Du hast ja überhaupt keine Ahnung, du weißt nicht, wie es ist! Halt einfach einmal deine Klappe, ein einziges Mal nur, wenn du gar nicht weißt, wovon du redest und …«

Ein Arm schlang sich um ihre Taille, zog sie von Rhys weg, sie strampelte und versuchte sich zu befreien, aber der Griff war unnachgiebig, entfernte sie immer weiter von ihrem entsetzt aussehenden Bruder.

»Siehst du, Rivers, du bist Gift! Du bist ansteckend!«, rief Rhys, rot im Gesicht und die Hände zu Fäusten geballt. Er war wütend, aber lange nicht so wie sie bei diesen Worten. Erneut keuchte sie zornig auf, versuchte sich loszureißen, streckte ihre Arme aus, als könnte sie ihrem hirnlosen Bruder aus der Entfernung die Augen auskratzen. Ihr Atem ging schnell, aber über ihr entrüstetes Japsen hörte sie plötzlich Reeds leises Lachen an ihrem Ohr. Er trug sie bis zu den Fahrrädern und stellte sie zurück auf die Füße. Dann gab er ihr einen unbekümmerten Kuss auf die Stirn und sagte immer noch lachend: »Du bist die Beste!« Er winkte noch den herbeigeeilten Lehrern zu und rief: »Wir sind schon weg. Netten Sommer, wir sehen uns in ein paar Wochen – oder auch nicht!« Und mit diesen Worten radelte er los, und Lynne stand wie vom Donner gerührt da, ehe sie sich beeilte, ihm hinterherzukommen.

Lachend rasten sie die Zufahrtsstraße hinunter, durchs geöffnete Tor und auf den Weg Richtung Westen. Die Sonne stand hoch über ihnen, ein paar Wohnwägen kamen ihnen entgegen, die Sommersaison war bereits in vollem Gange. Da waren Mietautos in allen Größen und Formen, manche Wagen mit englischen Kennzeichen und auch eines vom europäischen Festland, wo der Fahrer auf der falschen Seite saß. Alle kamen an die herrliche Südküste von Wales, um ihren Urlaub zu genießen, nur Lynne hatte für die Idylle rundherum kaum ein Auge. Sie radelte einfach nur, bis ihr die Beine brannten und ihr die braunen Locken ins Gesicht fielen. Bis nach Hause dauerte es mit dem Rad für gewöhnlich eine halbe Stunde, aber ihre Lieblingsklippen lagen auf halber Strecke, und mit der Geschwindigkeit, mit der sie zwischen den von Efeu überwucherten Mauern hindurchpreschten, dauerte es nicht lange, bis sie die Straße verließen und unendliche Wiesenflächen vor sich hatten. Im Schatten unter blühenden Weißdornbäumen und Eschen radelten sie das letzte Stück bis zur Küste. Kühler Wind fegte ihnen entgegen, er roch salzig, nach Sommer und Freiheit. Möwen kreischten, übertonten das immer lauter werdende Rauschen der Schaumberge, die sich gegen die Felsen warfen.

Reed sprang vom Fahrrad, ließ es fallen und zog sie von ihrem herunter, ehe sie überhaupt die Chance hatte, richtig stehen zu bleiben. Er presste sie stürmisch an sich und küsste sie beinahe grob, als wäre er die ganze Fahrt über eine tickende Zeitbombe gewesen, die jetzt hochging.

Ihr ganzer Körper wurde weich, jeder angespannte Muskel schien sich aufzulösen. Sie ließ sich an seine Brust sinken und erwiderte den Kuss genauso hitzig. Es war ihr egal, was die anderen sagten. Sie wollte ihn. Für immer.

»Es tut mir leid.« Sie schob ihn ein wenig von sich und legte ihre Hand auf seine Wange. »Rhys ist einfach ein Idiot.«

Reed verstärkte seinen Griff in ihrem Nacken. »Glaub mir, ich habe gerade nicht eine Sekunde mehr an Rhys gedacht.« Er küsste sie noch einmal, dann ließ er sie los, zog sich sein Poloshirt über den Kopf und kramte ein T-Shirt aus seinem Rucksack, das besser zu diesen Temperaturen passte. Lynne tat so, als wäre es ganz normal, dass er halbnackt vor ihr stand, schließlich hatte sie ihn schon tausendmal gesehen. Beim Schwimmen zum Beispiel. Aber sie konnte es sich nicht verkneifen, seinen Oberkörper näher zu betrachten, den vom Rugby gestählten Waschbrettbauch und auch die vorstehenden Rippen – er war einfach zu schnell gewachsen. Am liebsten wollte sie ihre Hände ausstrecken, die warme Haut berühren, ihre Wange an ihn schmiegen, aber dieses Sehnen war so ungewohnt und fremd, dass sie lieber die Zähne zusammenbiss und den Blick abwandte.

Auch sie hatte Sachen für ihren Tag bei den Klippen eingepackt, und sie wollte gerade ihre Hose aufknöpfen, als Reed sich zu ihr umdrehte.

Verlegen hielt sie inne, biss sich auf die Lippe und sah zwischen ihrem Rucksack und ihm hin und her. »Ähm … ich ziehe mich um.«

»Okay.« Er sah sie abwartend an, und Lynne glaubte zu ersticken. Früher war das alles sehr viel einfacher gewesen.

»Kannst du dich bitte umdrehen?«

Seine Augenbrauen hoben sich ungläubig. Natürlich, letztes Jahr hatte sie noch kein Problem damit gehabt, neben ihm ihre Klamotten zu wechseln, schließlich war sie auch schon oft genug im Bikini vor ihm rumgerannt. Aber das hier war irgendwie anders, die Luft kam ihr wie elektrisch geladen vor, und Reeds Blick, der über sie wanderte, bescherte ihr eine Gänsehaut. Er räusperte sich, strich sich die wild im Wind tanzenden Strähnen aus dem Gesicht und nickte.

»Klar.« Er schob seine Hände in die Hosentaschen und ging ein paar Schritte von ihr weg. Auf dem leicht abfallenden Grashang zum Abgrund ließ er sich nieder und schaute zum glitzernden Horizont hinaus.

Lynne atmete tief durch. Sie glaubte, noch nie so schnell in ein anderes Outfit geschlüpft zu sein, aber mit ihren weißen Shorts und dem babyblauen Tanktop fühlte sie sich gleich viel besser. Es war einer der ersten wirklich heißen Tage nach einer langen Regenperiode, und allein schon die Aussicht auf die Ferien, auf all die Freizeit mit Reed zauberte ein Lächeln in ihr Gesicht.

Zufrieden mit der ganzen Welt ließ sie sich neben ihm nieder und streckte die Beine aus. Das Gras kitzelte, es war kühl und immer noch ein wenig feucht, aber das machte ihr nichts aus.

Reed legte seine Hand auf ihren Oberschenkel, ohne den Blick vom Meer abzuwenden, und Lynne starrte auf ihre Beine – auf die vereinzelt in der Sonne leuchtenden feinen blonden Härchen auf ihren Oberschenkeln. Sie sah grinsend zu Reed und seufzte zufrieden.

»Lynnie …«

»Hm?«

»Wir beide gehören zusammen. Für immer.« Etwas Drängendes lag in seiner Stimme, der Humor, der sonst seine Worte begleitete, war komplett verschwunden, und Lynne überkam eine Welle der Zärtlichkeit, wie so oft gefolgt von Mitleid und Zorn. Am liebsten würde sie nicht nur auf ihren Bruder, sondern auch auf Reeds Eltern losgehen, die ihn sich so einsam fühlen ließen.

»Für immer.« Sie küsste ihn und ließ sich mit ihm zurück ins Gras sinken, wo sie einfach nur so dalagen, in den Himmel sahen, sich langsam und zärtlich küssten und in die Sonne blinzelten, als gäbe es nichts anderes auf der Welt. Sie wusste nicht, wie lange sie so dalagen, aber das strahlende Blau wurde immer dunkler, tiefer, erste Sterne gingen auf und brachten diese perfekte Sommernacht zum Leuchten.

»Ist dir kalt?« Reed erhob sich und holte die beiden Schuluniformen, und Lynne schlang ihre Arme um ihre Knie. Sie hatte Angst, dass er heimfahren, diesen wunderbaren Tag beenden wollte, aber er zog sich nur an, reichte ihr ihre Sachen und legte sich zurück ins Gras. Sie hatten den ganzen Tag kaum etwas gegessen, aber sie war nicht hungrig. Wenn sie bei Reed war, spürte sie nichts anderes als dieses einnehmende Glücksgefühl.

Lynne schlüpfte zurück in die Uniform, ließ sich auf seine Brust sinken und lauschte seinem Herzschlag. Es wurde immer dunkler, hier draußen gab es nicht mal ferne Lichter aus Häusern oder von Straßenlaternen, es herrschte vollkommene Finsternis. Aber gerade das war das Schöne. Sie schwebte direkt über dem Meer, dessen Rauschen sich mit dem regelmäßigen Pochen in Reeds Brust vermischte. Es kam ihr vor, als könnte sie fliegen, in einer Unendlichkeit, die überhaupt nicht dunkel, sondern strahlend hell war. Ein entspannendes Gefühl, das sie langsam in den Schlaf entließ.

Kapitel 1

Lynne glaubte nicht an Zeichen. Ein Fehler, sonst wäre sie beim Prasseln des Regens im Bett geblieben. Und sie wäre beim Anblick des riesigen weißen Flecks auf ihrer Windschutzscheibe nicht nur umgedreht, um Putzmittel und Papiertücher zu holen, sondern eher, um sich in ihrer Wohnung vor der Welt zu verstecken. Es war schwer zu glauben, dass es nur ein Vogel gewesen war, der sein Geschäft auf ihrem knalligen kleinen Flitzer erledigt hatte. Es sah eher nach einem Flugsaurier aus, und obwohl es wie aus Kübeln goss, ließ sich der Schmutz davon nicht beeindrucken. Mit dem Regenschirm in der einen Hand, dem Glasreiniger in der anderen und einer Küchenrolle unterm Arm versuchte sie fluchend, ihren Wagen sauber zu bekommen.

Schlimmer kann es nicht mehr werden, dachte sie, und in genau diesem Moment raste ein schwarzes Monstrum von Auto durch eine Pfütze vor dem Haus. Lynne riss den Schirm herum, wollte sich noch schützen, die Küchenrolle fiel zu Boden, mitten in eine Pfütze, und im nächsten Moment war sie schon nass bis auf die Knochen.

»Ist das dein Ernst?!«, rief sie mit ausgebreiteten Armen und erhobenem Schirm, dabei wusste sie gar nicht, an wen sie ihre Worte richtete. An den davonbrausenden Autofahrer? Eine höhere Macht? Wenn es eine solche gab, dann hatte sie diesen Tag zum »Quält-Lynne-Feiertag« erklärt.

»Verdammt, verdammt, verdammt«, murmelte sie und sah hinab auf ihre schlammbespritzten Strümpfe, ihren knielangen Rock und ihren Blazer. Da war nichts mehr zu retten, sie musste sich umziehen. Sie war ohnehin schon nervös, jetzt würde sie auch noch zu spät kommen. Was für ein perfekter erster Eindruck, was für eine grandiose Schlagzeile: »Neue Leiterin der Wunschagentur Gute Fee lässt nicht nur ruhmreiches Rugbyteam, sondern auch schwerkrankes Kind warten.«

Fluchend und in den nassen Kleidern zitternd hob sie die Küchenrolle auf und rannte zurück in ihre Wohnung, wo sie in ein fast identisches Outfit schlüpfte. Zum Glück hatte sie ein gutes Dutzend davon in ihrem Schrank.

Zumindest die Verkehrsgötter waren ihr hold, denn auf der Fahrt durch Cardiff hatte sich der Morgenstau längst aufgelöst, und Lynne konnte alles aus ihren fünfundfünfzig PS rausholen, was ging. Sie starrte konzentriert in die graue vom Gewitter verschleierte Düsternis hinaus, die Scheibenwischer hatten Mühe mit dem Regen mitzuhalten, als ihr Handy zu vibrieren begann.

Lynne warf einen Blick auf den Bordcomputer und verdrehte die Augen, als sie den Namen las. Mit einem Knopfdruck am Lenkrad nahm sie das Gespräch an. »Ich bin gleich da, ich bin gleich da!«

»Eigentlich wollte ich dir nur Glück wünschen, Darling.«

»Weil du glaubst, dass ich es brauche?«

Das Lachen der warmen Frauenstimme drang durch die Lautsprecher des Wagens. »Weil du glaubst, es zu brauchen! Ich weiß, dass ein paar Muskelprotze und blitzende Kameras dir nichts anhaben können.«

Da bin ich mir nicht so sicher, dachte Lynne bang, immer weniger sogar. Ein Rugbyplakat auf einer Werbetafel zog an ihr vorbei, aber sie wandte den Blick ab. Sie vermied alles, was mit diesem Sport zusammenhing wie die Pest, was sie als Waliserin wohl zu einer Art Ketzerin machte. Dabei war die Person, wegen der sie all das von sich fernhielt, weit weg in Neuseeland. Schon seit zwölf Jahren. Sie war in keiner Gefahr, sein Gesicht von einem Plakat herunterlächeln zu sehen oder ihm über den Weg zu laufen. Für gewöhnlich verschwendete sie auch gar keinen Gedanken mehr an ihn, das alles war Vergangenheit. Aber dass ihr erster Einsatz als neue Leiterin der Guten Fee sie ausgerechnet zu dem Sport brachte, den Reed Rivers so geliebt hatte und in dem er so unwirklich erfolgreich geworden war, verstärkte ihre ohnehin schon unerträglich schwelende Nervosität und das Gefühl nahenden Unheils. Das lag bestimmt nur an diesem unglückseligen Morgen. Zumindest der Regen ließ allmählich nach.

»… und vergiss nicht, die Presse an die Wichtigkeit von Spenden zu erinnern, damit sie das auch abdrucken.« Rosemaries Stimme drang zurück an ihr Ohr. Sie hatte die Wunschagentur vor vierzig Jahren gegründet. Jetzt war sie Mitte siebzig und wollte kürzertreten, das Tagesgeschäft Lynne überlassen. »Es schadet auch bestimmt nicht, den kommenden Charity-Event für dein Projekt zu erwähnen.«

Der große Charity-Event am Wochenende … Lynne wollte lieber nicht daran denken, sonst wurde ihr vor Aufregung noch ganz schlecht. Erst musste sie mal die verhältnismäßig einfache Wunscherfüllung hinter sich bringen.

»Ich rufe dich an, wenn es vorbei ist, Rosemarie, ich bin schon fast da. Mach dir bitte keine Sorgen, ich schaffe das schon. Bis später!« Sie legte auf und stellte das Tempo des Scheibenwischers herunter, als plötzlich ein Auto in irrsinniger Geschwindigkeit rechts an ihr vorbeiraste. Was für ein Idiot! Sie selbst hatte das Gaspedal durchgedrückt, nie ging es den Leuten schnell genug!

Lynne wollte dem Fahrer gerade eine unfeine Geste hinterherschicken, als ein rotierendes Blaulicht auf dem Autodach auftauchte, sowie ein aus dem Beifahrerfenster gestrecktes Schild. Ihr blieb überrascht der Mund offen stehen. Was war heute nur los?!

Fluchend bremste sie, fuhr an den linken Straßenrand und legte dann resigniert und mit einem leisen Stöhnen den Kopf auf das Lenkrad. Erst als es an ihre Scheibe klopfte, wagte sie einen Blick nach oben und ließ zögernd das Fenster hinunter. Sie blickte zwei Polizisten entgegen, die sie mit triefenden Haaren missgelaunt ansahen. Es regnete immer noch genug, um in wenigen Schritten durchnässt zu sein.

Der eine Polizist hatte leuchtend rotes Haar, das in diesem tristen Wetter genauso grell herausstach wie die quietschgelbe Warnweste, die er über der dunkelblauen, fast schwarzen Uniform trug. Der andere war ein eher dunkler Typ, der noch grimmiger aussah.

Überleg dir was, überleg dir was. Komm schon, Lynne. Du bist schwerkrank und musst ins Krankenhaus! Deine Katze ist gestorben, dein Fuß hatte einen Krampf …

»Miss.« Die beiden traten näher ans Fenster, und Lynne biss sich auf die Lippe. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, der Puls pochte ihr in den Ohren. Sie wusste nicht wieso, aber seit ihrer Kindheit verwandelten Polizisten sie in ein nervöses Etwas. Dabei hatte sie nie auch nur einen Kaugummi geklaut. Vielleicht lag es daran, dass ihr ehemaliger bester Freund so oft in Schwierigkeiten geraten war und sie immer Angst um ihn gehabt hatte.

»Führerschein und Fahrzeugpapiere.«

Lynne versuchte, einen teils zerknirschten, teils unschuldigen Blick aufzusetzen, und war sich ziemlich sicher, dass das Resultat ein eher irrer Gesichtsausdruck war. »Ich bin etwas zu schnell gefahren, oder?« Sie kramte nervös nach ihren Papieren. »Ich weiß, ich habe das Tempolimit leicht überschritten, aber ich muss dring…«

»Sie waren fünfzehn Meilen pro Stunde zu schnell!«

»Oh, das habe ich gar nicht gemerkt! Tut mir wirklich leid! Ich war so in Eile! Ich treffe mich gleich im Trainingscenter mit den Cardiff Greens, um einem schwerkranken Mädchen einen Wunsch zu erfüllen. Sie ist ein so großer Rugbyfan …« Lynne merkte selbst, dass ihr Geplapper sie nicht unschuldiger wirken ließ. »Wissen Sie, ich leite die ›Gute Fee‹, eine Agentur, die kranken Kindern ihre großen Wünsche erfüllt, und bitte, ich kann heute nicht zu spät kommen!« Lynne rang ihre Hände und sah die Polizisten flehend an. Doch sie blickte nach wie vor in völlig ausdruckslose, triefend nasse Gesichter.

»Miss, das nächste Mal sollten Sie einfach etwas früher losfahren, dann …«

Lynne schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Oh, aber ich bin früh genug losgefahren! Wenn Sie mich kennen würden – ich bin wirklich sehr verantwortungsbewusst und außerdem ein Perfektionist, aber dann war da dieser Vogel und dieses dumme Auto, und Sie wissen ja bestimmt, wie es ist, wenn sich die ganze Welt gegen einen verschwört.« Die Polizisten starrten sie ausdruckslos an, und Lynne seufzte resigniert. »Na gut, dann wissen Sie eben nicht, wie das ist, aber können Sie nicht ein Auge zudrücken? Die Cardiff Greens haben nur begrenzt Zeit, und Winnie wartet bestimmt schon …«

Der Mundwinkel des Rothaarigen hob sich zu einem süffisanten Grinsen. »Ich muss schon sagen, die Geschichte ist ziemlich gut. So eine originelle Ausrede haben wir lange nicht mehr gehört, hab ich recht, Paul?« Gespielt beeindruckt sah er zu seinem Kollegen, aber der ließ sich vom Spott des anderen nicht anstecken.

»Führerschein und Fahrzeugpapiere, Miss. Bitte.«

Lynne ballte die Hände zu Fäusten, langsam machte sich Wut in ihr breit. Sie funkelte den dunkelhaarigen Polizisten zornig an und händigte ihm schließlich widerwillig die Papiere aus. »Dann machen Sie schnell«, brummte sie. »Denn ob Sie’s glauben oder nicht, von mir hängt tatsächlich der größte Wunsch dieses Mädchens ab, und wenn ich nicht bald im Trainingscenter bin, wird es Tränen geben.« Sie dachte an die Mannschaft, die Presse, das Kind, daran, wie alle warteten, wie niemand wusste, was los war, und sich alle fragten, wo die Leiterin der Agentur blieb, die doch all das organisiert hatte. Oh Gott, was würde Rosemarie nur dazu sagen?

Lynne drängte die aufsteigende Panik zurück, strich sich ihre unbändigen Locken aus dem Gesicht und murmelte wütend: »Ich hätte Ihnen ein Autogramm von Gavin Quinn besorgen können. Er ist mit meiner besten Freundin verheiratet. Aber das glauben Sie mir wohl auch nicht …« Vorsichtig sah sie durch ihre Wimpern hindurch zu den beiden hoch, insgeheim hoffend, sie doch gnädig gestimmt zu haben. Dem düsteren Blick aus verengten Augen nach zu schließen fanden sie Bestechung der Staatsgewalt aber nicht komisch. Großartig! Sie konnte sich gerade noch davon abhalten, ihren Kopf gegen das Lenkrad zu schlagen. Es war ihr einfach nicht möglich, klar zu denken, während eine Knarre vor ihrem Gesicht baumelte und sie so vorwurfsvoll angestarrt wurde. Aber mit diesen beiden Polizisten stimmte ja auch etwas nicht! Welche Männer ließen sich nicht von Rugby erweichen, und wer blieb bei schwerkranken Kindern so hart?

Doch da fiel der Blick des Rothaarigen an ihr vorbei zum Beifahrersitz, wo ihre Gute Fee-Mappe lag. Das Lächeln kehrte zurück. »Gavin Quinn, hm?«

Lynne nickte langsam. »Auch bekannt als der beste Flügelstürmer des Landes.«

»Hey, Paul, ist dein Junge nicht ein riesiger Quinn-Fan?«

Der Dunkelhaarige sah sie immer noch finster an, nickte aber, dann stemmte er eine Hand gegen das Autodach und lehnte sich ein wenig zu ihr hinunter.

»Hören Sie, Miss, wir können Sie nicht wie eine Verrückte über die Straße fliegen lassen, Sie gefährden sich selbst und andere gleich mit.« Seine Stimme nahm einen noch tieferen Ton an, sein Ausdruck hätte nicht ernster sein können. »Und außerdem ist es keine gute Idee, ausgerechnet einem Polizisten eine solche Lüge auftischen zu wollen, nur um einem Strafzettel zu entgehen. Es ist zwar keine Straftat … aber wir sind schließlich darin geschult, Menschen zu durchschauen.«

Mit diesen Worten und einem hochmütigen Blick händigte er ihr ihre Papiere wieder aus – mit einer saftigen Bußgeldforderung obendrauf. Lynne starrte den Polizisten sprachlos an! Er glaubte ihr nicht! »Hören Sie, … Mister äh Officer, wer denkt sich bitte eine solche Geschichte aus?! Ich kann es Ihnen beweisen, wenn …«

»Miss, bringen Sie sich nicht in Schwierigkeiten …«

»Paul, jetzt sei nicht so streng!«, unterbrach der Rothaarige seinen Kollegen. »Ich persönlich würde diesen Beweis gerne sehen. Ich sage Ihnen was, Miss – wir begleiten Sie jetzt zum Trainingscenter. Sollten Sie tatsächlich die Wahrheit sagen, lade ich Sie als Entschädigung auf einen Kaffee ein.« Er zwinkerte ihr zu, was Lynne zusammenzucken ließ. Flirtete er mit ihr? Sie wollte gerade protestieren, da klopfte Officer Rotschopf dem missmutigen Paul bestimmt auf die Schulter. »Lasst uns keine Zeit mehr verlieren!« Er machte auf dem Absatz kehrt, während der Dunkelhaarige zurückblieb und sie musterte, als wartete er darauf, sie nun mit einem Geständnis zusammenbrechen zu sehen. »Diese Suppe haben Sie sich selbst eingebrockt. Überlegen Sie sich gleich eine neue Ausrede für später, wenn wir vor dem Trainingscenter stehen.« Mit diesen Worten eilte er seinem Kollegen hinterher durch den nachlassenden Regen zurück zum Wagen.

Lynne schnappte nach Luft. Das alles war einfach nicht zu fassen! Aber sie konnte sich keine weiteren Gedanken machen, denn der dunkle Audi A3, der auf den ersten Blick nicht als Polizeiauto zu erkennen war, startete bereits und fuhr zurück auf die Straße – mit Blaulicht!

Lynne folgte den beiden Polizisten mit einer Mischung aus Erleichterung und Panik, die aber ob ihres Unglaubens über die Situation zum Glück nicht an die Oberfläche sprudelte. All das kam ihr wie ein seltsamer Traum vor, vor allem, als jeder einzelne Wagen, der vor ihnen auftauchte, mit Sirenen zur Seite gescheucht wurde. Und als wäre das alles nicht schon peinlich genug, tauchte plötzlich noch ein zweites Polizeiauto hinter ihr auf! – Diesmal ein richtiges, weiß, mit gelb-blau karierten Flanken. Langsam fühlte sie sich wie ein Sträfling, dem man den Fluchtweg abschnitt, und ihr Blick zuckte zwischen der Straße und dem Rückspiegel hin und her.

Zugegeben, sich nicht um den Verkehr kümmern zu müssen hatte seine Vorteile, sie erreichte den Vorort, in dem das Trainingscenter der Cardiff Greens lag, in einer fast unmöglichen Zeit. Aber als der Audi zur Seite fuhr, um sie vorbeizulassen und sie auf der Suche nach einem Parkplatz der riesigen Sportanlage näher kam, wuchs das mulmige Gefühl in ihrem Bauch.

Es war kurz vor elf, und um Punkt sollte Winnie mit ihrer Mutter ankommen. Zuvor musste Lynne aber noch mit dem Team und der Presse sprechen. Und Autogramme besorgen! Vertreter der Zeitungen und des Fernsehens kamen nicht zu jedem Wunsch, den ihre Agentur einem schwerkranken Kind erfüllte, aber der heutige war etwas ganz Besonderes. Nicht nur wurde die Cardiffer Rugbymannschaft wegen ihres Pro12-Gewinns im Mai gefeiert und startete bald in eine neue Saison. Auch die Weltmeisterschaft, die neben England in Wales als Gastgeberland ausgerichtet wurde, stand kurz bevor – das Sportereignis in diesem Land. Wirklich begeistert hatte die Medien aber, dass es ein neunjähriges Mädchen war, das das Team kennenlernen wollte, kein Junge. Und die Agentur konnte solche Aufmerksamkeit gut gebrauchen, war sie doch auf Spenden angewiesen, um den Kleinen ihre Wünsche zu erfüllen. Aber was würde die Presse wohl zu dieser Situation sagen?

Lynne fuhr an vollen Parkplatzreihen vorbei nach vorne zum Haupthaus. Sie stutzte und verengte die Augen, als sie ein monströses schwarzes Auto dort stehen sah – ein Geländewagen, der Funktionalität ausstrahlen sollte, stattdessen glänzte er wie ein Schmuckstück. Lynne hatte keine Probleme, sich einen Rapper darin vorzustellen, aber Sportler standen wohl auch auf protzige Wagen. Ob es dieses Auto gewesen war, das sie heute durchnässt hatte? Schwer zu glauben, da Lynne keine Schlammspritzer darauf erkennen konnte. Aber vermutlich war dieses Ding mit irgendeinem schmutzabweisenden Mittel versehen. Der Platz daneben war frei, was sie überraschte, aber dann erkannte sie Ava, die hinter dem riesigen Wagen hervortrat. Ihre beste Freundin hatte den Platz für sie freigehalten, und Lynne wusste nicht, ob sie lachen oder ob ihrer nun bezeugten Entourage im Erdboden versinken sollte. Die rotierenden Blaulichter folgten ihr in nur geringem Abstand.

Ava hatte die Hände in die schmale Taille gestemmt, ihr Blick aus schräg stehenden Katzenaugen war finster – bis sie die Lichtershow hinter Lynne bemerkte. Ihre Arme sanken schlaff an die Seite. Ihr auffällig geschwungener Mund klappte auf. Kurz sah es sogar so aus, als schwankte sie in ihren High Heels, während ihre Lippen die Worte »Was zur Hölle« formten.

Lynne manövrierte den Wagen in die Lücke. Sie wollte all das nur hinter sich bringen, und das Schlimmste war ja jetzt überstanden. Erleichtert schnappte sie sich ihre Handtasche und wollte gerade die Wagentür aufmachen, als ihr Blick auf den gläsernen Eingangsflügel des Trainingszentrums fiel. Eine große Männergruppe stand davor. Manche waren Anzugsträger, andere hatten normale Straßenkleidung an, und wieder andere leuchteten in den Trikots der Cardiff Greens und zeigten in den dazu passenden Shorts ihre typisch kräftigen Rugby-Muskelprotz-Oberschenkel.Viele hatten Zigaretten in der Hand, um die letzten Momente noch für eine Rauchpause zu nutzen. Und ausnahmslos alle starrten zu ihr und den Polizisten herüber, die ihre Wagen einfach hinter ihr stehen ließen, mit eingeschaltetem Blaulicht. Verwirrung zeichnete sich in ihren Gesichtern ab, Sorge, manche wirkten auch belustigt, besonders die Spieler, die sich gegenseitig anstießen und auf sie deuteten.

Lynne konnte nicht länger hinsehen. Wo blieb das verdammte Loch, in dem sie versinken konnte? Ihr kam der Gedanke, einfach den Rückwärtsgang einzulegen und abzuhauen, aber die Polizei hatte ihr ja den Weg versperrt.

»Lynne!« Avas Stimme war sogar durchs geschlossene Auto zu hören. »Was ist denn hier los?«

Lynne blickte hoch und sah ihre Freundin an, die mit wallend blonder Mähne im stürmischen Wind draußen stand und nicht schockierter hätte aussehen können. Sie kam aus einer wohlhabenden Familie und war die Besitzerin von Ava’s Paradise, einer exklusiven, wahnsinnig schicken Boutique mit weiteren Filialen in Wales und England. Als Freiwillige half sie bei der Guten Fee aus.

Für Fragen war jetzt aber keine Zeit, sie musste sich stellen. Also überprüfte sie im Rückspiegel kurz ihr Make-up, strich durch ihre lichtbraunen Locken, die bei solch feuchtem Wetter noch unbändiger wurden, und kletterte aus dem Wagen. Dabei sah sie die Männer ihre Zigaretten austreten und näher kommen. Schnell stakste sie mit einem kaum zitternden Lächeln auf ihren hohen Schuhen zu Ava und packte ihren Arm, ihre Fingernägel gruben sich in ihre Haut. »Sag mir, dass Gavin uns mit seiner Anwesenheit beehrt.«

Ava sah sie an, als wäre sie aus einem Irrenhaus entlaufen. »Natürlich. Alle sind da. Nur du …«

Lynne verstärkte ihren Griff, ihr Lächeln fühlte sich wie eine Grimasse an. »Ich brauche ihn. Jetzt.«

Noch ein deutlich verwirrter Blick, aber ehe ihre Freundin antworten konnte, tauchten die Polizisten hinter ihr auf, und wie befürchtet, hatte sich ihre Zahl verdoppelt. Zumindest der Regen hatte aufgehört. »Miss …« Der Dunkelhaarige von vorhin streckte Ava die Hand hin, plötzlich konnte er freundlich dreinschauen, was wohl entweder an Avas atemberaubendem Äußeren lag oder an der Sportanlage mit den größten Sportstars des Landes darin.

Ava sah zwischen den Uniformierten und ihr hin und her, und Lynne straffte die Schultern. »Ava, das sind Officer … ähm … Paul …«

Der dunkelhaarige Polizist schüttelte Avas Hand. »O’Donnell, Miss, schön Sie kennenzulernen, und das sind Evans, Jenkins und Roberts.«

Ava zog ihre Hand an sich, sie gab sich nicht die Mühe ihr Misstrauen zu verbergen. »Was wollen Sie hier?«

Auch die anderen waren inzwischen näher getreten und sahen neugierig in die Runde.

Paul O’Donnell begann zu lachen und hob beschwichtigend die Hand. »Bitte entschuldigen Sie die Aufregung, wir wollten wirklich niemanden beunruhigen.« Er legte Lynne die Hand auf die Schulter, als wären sie alte Freunde. »Nur sichergehen, dass Miss Padrig hier nicht im Verkehr steckenbleibt – heute ist viel los.« Er drückte ihre Schulter, seine Stimme troff vor Hohn.

Lynne spürte Hitze in ihren Wangen aufsteigen, fiel aber ins Lachen der anderen ein. Was sonst sollte sie tun?

»Ganz uneigennützig«, murmelte sie leise, sodass nur O’Donnell und vielleicht auch der Rothaarige, Evans, sie hören konnten. Lauter fügte sie hinzu. »Die Straßen waren vollgestopft, ich hätte eine Ewigkeit durch die Stadt gebraucht, aber als Officer O’Donnell hörte, was die Cardiff Greens für ein krankes Mädchen ermöglichen, waren er und seine Kollegen sofort bereit zu helfen.«

Einer der durchtrainierten Typen im Trikot kam näher und legte seinen Arm um Avas Schultern. Diese gab ihm einen Kuss auf die glattrasierte Wange, dabei musste sie sich nur zur Seite lehnen, mit ihren eins achtundsiebzig und den mörderisch hohen Absätzen überragte sie ihn fast schon. Er hatte braune, kurzgeschnittene Haare und eine Narbe quer über die Nase. Bei seinem Anblick atmete Lynne erleichtert auf. »Gentlemen, darf ich vorstellen? Gavin Quinn!« Sie funkelte den jetzt so handzahmen Paul an. »Sind wir jetzt hier fertig?«

»Ich glaube, das ist meine erste positive Erfahrung mit Cops.« Gavin schüttelte die Hände von allen vier Polizisten und kniff Lynne in die Wange, was nicht unbedingt half, um sie als seriöse Leiterin einer Wunschagentur dastehen zu lassen. Dann sah er über sie hinweg, als hielte er auf dem Parkplatz bereits Ausschau nach dem Mädchen, aber noch war nichts zu sehen.

»Wollen wir nicht reingehen, anstatt weiterhin in diesem scheußlichen Wetter herumzustehen?« Ava musterte die Polizisten von oben bis unten. »Sie werden dann ja nicht mehr gebraucht. Danke für Ihre Hilfe.«

O’Donnell zuckte zurück und sah fast schon hilfesuchend zu Lynne. Vom knallharten Cop, der ihr so herzlos einen Strafzettel verpasst hatte, war nicht mehr viel übrig.

Fast hätte Lynne gelacht. Aber er stand da wie ein kleiner Junge, und sie spürte, wie sie weich wurde.

»Bevor wir gehen …« Sie lächelte zu Gavin hoch. »Meinst du, mein Freund Paul hier könnte ein Autogramm von dir haben?«

»Und ich glaube, ich schulde Ihnen einen Kaffee, Miss Padrig«, mischte sich Evans ein und lächelte Lynne anzüglich an.

Sie spürte, wie sie rot anlief, während Ava zwischen ihnen hin- und hersah und eine Augenbraue hob.

Zum Glück räusperte O’Donnell sich in diesem Moment. »Das wäre wirklich nett von Ihnen, Mr Quinn, mein Sohn ist ein großer Fan.«

»Na dann kommen Sie mit rein, vielleicht finden wir auch noch ein Trikot oder sowas für Ihren Jungen.«

Gemeinsam traten sie durch die sich selbst öffnenden Flügel ins Gebäude und durch einen hellerleuchteten Korridor mit unzähligen gerahmten Rugbybildern und Teamfahnen an den Wänden.

Lynne konnte nicht glauben, dass sie die Polizisten immer noch nicht losgeworden war und schaute missmutig auf ihre Schuhe. »Keine Sorge, Lynnie, alles ist bereit, die Jungs sind geschniegelt und gestriegelt und haben halbwegs annehmbare Manieren versprochen. Jetzt fehlt nur noch die Kleine.« Gavin beugte sich ein wenig zu ihr hinunter und flüsterte: »Nur vergiss nicht, was du Ava und mir versprochen hast: Du kommst zum Freundschaftsspiel gegen Irland.«

Lynne presste die Lippen aufeinander. Er wusste, wie sehr sie Rugby hasste, nur den Grund kannte er nicht. Fast hätte sie »Nur über meine Leiche!« geantwortet, aber sie erinnerte sich schnell daran, dass sie hier nicht alleine waren. »Na klar, habe ich doch gesagt!« Sie lächelte und fügte in Gedanken hinzu: »Leider werde ich da krank sein.« Denn nichts auf der Welt könnte sie freiwillig zu einem Rugbyspiel bringen – auch wenn es nur ein Aufwärmspiel vor der eigentlichen WM war. Sie hatte als Teenager genug sich rammende Typen gesehen, hatte Reed nicht nur einmal das Blut abgewischt. Sie wollte nicht daran erinnert werden. Aber Gavin hatte ihr Kommen zur Bedingung für seine Unterstützung bei der Wunscherfüllung gestellt. Und obwohl Lynne es bestimmt auch ohne ihn geschafft hätte, war es durch ihn sehr viel komplikationsloser gewesen. Diese Gegenleistung konnte sie ihm nur einfach nicht geben.

Gavin stieß die Tür zu einem riesigen Konferenzraum auf und führte die Polizisten hinein. »Hey, Leute, ich habe ein paar Retter in der Not aufgegabelt, und Lynnie … also Miss Padrig … ist auch schon hier.«

Lynne rückte den Schulterriemen ihrer Handtasche zurecht und trat ein. Fast wäre sie wieder zurückgestolpert, was mit ihren Absätzen zwangsweise mit ihrem Hintern auf dem Boden geendet wäre. Es fühlte sich an, als liefe sie geradewegs in eine Testosteronwand. Mindestens dreißig Männer drehten sich zu ihr um, während hinter ihr noch die Raucher in den Raum drängten. Sie blickten von den Brötchen, Kuchen und Getränken auf, die auf dem langen Konferenztisch in der Mitte vorbereitet waren, wandten sich von Gesprächen in kleineren Gruppen zu ihr um und legten Unterlagen und Fotoausrüstungen nieder. Keine einzige Frau außer Ava war hier, noch nicht einmal eine weibliche Journalistin. Wie sexistisch! Als könnten nur Männer über Sport berichten.

So gelassen wie möglich hob sie die schmucklose, aber zumindest frisch manikürte Hand und winkte in den Raum. »Guten Tag, ich hoffe, Sie haben nicht zu lange gewartet.« Sie verzichtete darauf, näher auf die Polizisten einzugehen, die Gavin in den hinteren Bereich führte. Dafür hatte sie ohnehin keine Zeit mehr, denn einer der Muskelprotze löste sich aus der Menge und kam auf sie zu. Anders als die meisten trug er nicht das Cardiff-Greens-Trikot, sondern einen Anzug, der sich um seine breiten Schultern spannte. »Schön, Sie kennenzulernen, Miss Padrig, ich bin Daniel Green, der Geschäftsführer der Mannschaft.« Er schüttelte ihre Hand mit festem Griff und wies auf einen weiteren, ebenfalls teils ergrauten Anzugträger an seiner Seite. »Colin Douglas, der Cheftrainer.«

Lynne gab auch diesem Mann die Hand. »Nett, Sie kennenzulernen, und vielen Dank, dass Sie all das hier ermöglichen. Ich denke, wir werden bald strahlende Kinderaugen sehen.«

»Ich gehe auch gleich wieder raus, um die Kleine in Empfang zu nehmen«, ließ Ava sich vernehmen, und Lynne nickte ihr dankbar zu. Ein paar Presseleute kamen durch den Raum näher, Lynne erkannte sie nicht nur an den Ausweisen, die ihnen um den Hals hingen, sondern auch an ihrer gewöhnlichen Straßenkleidung, die hier drinnen Mangelware war. Ein paar Gesichter kamen ihr von draußen bekannt vor, und sie hoffte, dass niemand sie nach ihrer polizeilichen Begleitung fragte. Es ging hier einzig um den Wunsch eines kleinen Mädchens.

Sie setzte ein höfliches Lächeln auf, erinnerte sich an ihre vorbereiteten Worte über die Wichtigkeit von Unterstützern wie diese Rugbymannschaft. Aber ehe die Herren sie erreichten, wandte der Trainer sich ihr noch mal zu. »Das Team ist froh, helfen zu können, und wenn wir mit ein bisschen von unserer Zeit einem Kind Freude bereiten, dann liegt die Freude ganz bei uns.« Er streckte ihr erneut die Hand entgegen, und als Lynne ein wenig verwirrt einschlug, hörte sie das Klicken von Kameras. Natürlich! Sie waren alle schon in Stellung.

»Darf ich Ihnen auch gleich den neuen Kapitän der Mannschaft vorstellen?«, fuhr Mr Douglas fort. »Ein Teufelskerl. Direkt von Auckland zu uns gekommen.«

Ihr Lächeln gefror. Aus Auckland?! Neuseelands Auckland?!

»Hey, Reed, wo treibst du dich herum? Jungs! Ist er noch draußen?«

Ein Kribbeln fuhr durch ihren Körper, ihre linke Hand, die einst ein Ring mit einem Delfin geziert hatte, zuckte. Bekam sie jetzt etwa einen Herzinfarkt? Nein, das waren doch Schmerzen im linken Arm, oder? Sie wusste gar nichts mehr, konnte nicht denken, nicht reagieren, sie starrte einfach nur an Mr Douglas vorbei zu den Muskelprotzen, die zur Seite traten und einen von ihnen durchließen – einen blonden Mann mit blondem Bart und viel zu grünen Augen. Grüne Augen, die sich wachsam auf sie richteten und die durch das grüne Trikot noch intensiver leuchteten. Ihr Herz begann zu rasen. Er sah völlig anders aus. Dieser Bär von einem Mann hatte nichts mit dem Teenager von einst gemein, und doch erkannte sie ihn sofort wieder. Er trug das Haar länger als früher, es kräuselte sich in seinem Nacken, und aus einem leichten Flaum war ein richtiger Bart geworden, der am Kinn etwas dichter und länger war.

Sie spürte die Blicke aller, die Kameras, die darauf warteten, dass sie eine weitere Hand schüttelte, und aus dem Gang hörte sie aufgeregte Stimmen näher kommen. Winnie Griffin war hier.

Trotzdem konnte Lynne sich nicht bewegen, sie schien in Zeitlupe gefangen. Das war ein Albtraum. Wie hatte sie nur so dumm sein können? Die Weltmeisterschaft! Reed mochte für eine neuseeländische Mannschaft spielen, aber er gehörte immer noch zum Nationalteam Wales’. Aber was zur Hölle machte er ausgerechnet bei den Cardiff Greens? Seit wann war er ihr Kapitän?! Sie hätte ihn hier nicht treffen dürfen, das war inakzeptabel, das Risiko hatte gar nicht bestanden, sonst wäre sie ja überhaupt nicht hergekommen, sie hätte Rosemarie geschickt, auch wenn die alte Dame sich so langsam lieber im Hintergrund hielt.

Lynne war sich sicher, dass man ihr all diese wirren Gedanken im Gesicht ablesen konnte, und wäre fast in ein hysterisches Lachen ausgebrochen. Doch da blieb Reed plötzlich mit einem höflichen Lächeln vor ihr stehen und sah auf sie hinunter. Er wirkte viel zu real. »Hi.«

Hi? Er sagte einfach »Hi« zu ihr? Mit einer Stimme, die so ungewöhnlich tief und rau war, dass sie zusammenzuckte.

Reiß dich zusammen, Lynne! Er ist nur einer von den Muskelprotzen, Kameras sind auf dich gerichtet, warten auf ein perfektes Foto mit dem Helden der Nation, mit dem Mann, auf dem all die Hoffnungen für die kommende Weltmeisterschaft liegen. Mit deiner Kindheitsliebe.

»Mr Rivers.« Sie streckte ihm die Hand entgegen, eine abrupte, sehr überlegte Bewegung, die enorme Kraft erforderte. Ihre Stimme klang ein wenig hoch, aber in Anbetracht der Umstände konnte sie wohl stolz darauf sein, dass sie sich noch auf den Beinen halten konnte. »Willkommen zurück in der Heimat.« Sie versuchte sich an einem Lächeln, wartete darauf, dass er ihre Hand ergriff, sie berührte, während es in ihrer Brust wild pochte. Aber ehe er dazu kam, lachte der Trainer neben ihm laut auf und ließ sie zusammenzucken.

»Und Gavin hat gesagt, Sie verstünden nichts von Rugby, Miss Padrig. Nachdem Sie wissen, wer Reed ist, wage ich das zu bezweifeln.«

Lynne ließ ihre Hand sinken, wandte sich Mr Douglas zu, dankbar für diese Ablenkung von dem stechenden Blick, der sich in ihr Innerstes bohrte. »Es wäre schwer, nicht von Reed Rivers gehört zu haben, Mr Douglas, auch wenn ich fürchte, dass Gavin ansonsten recht behält. Rugby und ich … das hat leider nie zusammengepasst.«

Ein verächtliches Schnauben erklang, und Lynne wäre beinahe zu Reed herumgefahren, um ihn zornig anzufunkeln. Bevor sie aber dazu kam, ging die Tür hinter ihr auf.

»Leute, seht mal, wen ich hier mitbringe.« Avas fröhliche Stimme drang durch den Raum, die Presseleute konzentrierten sich Gott sei Dank nicht länger auf sie, sondern wandten sich sofort an den Ehrengast. Auch Lynne drehte sich um, ohne Reed noch einmal anzusehen.

Ein dünnes, für ihr Alter kleines Mädchen mit blondem Pferdeschwanz und Trikot stand da und sah mit einer Mischung aus Unsicherheit und Aufregung von einem zum anderen. Ein durchsichtiger Plastikschlauch verlief unter ihrer Nase, sie trug einen Rucksack, in dem der Sauerstoff verwahrt war. Arme Winnie. Sie war erst neun Jahr alt und litt an Mukoviszidose. Die Hand ihrer Mutter lag auf ihrer Schulter, eine ebenso viel zu dünne Frau, die nervös lächelte und genauso wie bei der Besprechung zur Wunscherfüllung neulich sehr müde aussah. Vermutlich war sie eine Schönheit gewesen, ehe das Schicksal ihr so übel mitgespielt hatte. Lynne wusste, sie war dreißig, sah aber derart dünn noch eher wie ein Teenager aus. Schwarze glatte Haare waren zu einem Knoten am Hinterkopf gebunden, sie betonten die blasse Haut und die blauen Augen. Das knielange Kleid und die weiße Sommerjacke waren ein Hingucker, aber an dem abgemagerten Körper kam das Outfit kaum zur Geltung.

Einen schönen Tag, das war alles, was Lynne dieser Familie geben konnte, nur einen Tag – eine Wahrheit, die sie jedes Mal wieder wie ein Fausthieb in den Magen traf. Die Machtlosigkeit in Anbetracht solch unfairer Umstände überlagerte für Lynne immer den Anblick der Aufregung und Freude. Der brennende Wunsch kam in ihr auf, dieses Mädchen zu schnappen und fortzubringen, irgendwohin in Sicherheit, in eine andere Welt, in der sie nicht mit Sauerstoff herumlaufen musste, in der sie gesund war.

Nur jetzt lag alles an ihr, sie musste sich zusammenreißen. Sie wollte gerade näher treten und die beiden willkommen heißen, als eine Stimme an ihrem Ohr flüsterte. »Wo ist dein Ring?« Sein Atem kitzelte an ihrem Hals, sandte ein Zittern durch ihren Körper, seine Worte lähmten sie. Sie suchte nach einer Antwort oder nach der Kraft, ihn einfach zu ignorieren, aber da ging er schon an ihr vorbei und kniete vor dem Mädchen nieder.

»Hi! Winnie, nicht wahr? Was hast du da für einen coolen Rucksack?«

Das Mädchen strahlte, die Presseleute tauschten Blicke, so war das nicht geplant gewesen. Zuerst hätten die offiziellen Vorstellungen kommen sollen, aber die Fotografen brauchten nicht lange, um die Chance zu nutzen und loszuknipsen.

»Den habe ich, damit ich besser atmen kann«, sagte das Mädchen und sah Reed mit ihren großen blauen Augen an. »Sind Sie Reed Rivers? Der beste Fly-half der ganzen Welt?«

Reed lachte leise, kaum mehr als ein tiefes Vibrieren seiner Stimme. »Darauf kannst du wetten. Aber ob ich lange der Beste bleibe, wage ich zu bezweifeln, wenn ich mir dich so ansehe. Was meinst du, gehen wir raus aufs Feld, um ein wenig Schlamm auf dieses tolle Trikot zu bekommen? Aber nur, wenn keiner dieser Loser hier draufsteht.« Er deutete mit dem Daumen hinter sich zu seinen Teamkollegen und bedeutete dem Mädchen dann, sich umzudrehen. »Los, zeig her, welche Nummer trägst du?«

Winnie wirbelte herum und hob den Rucksack ein wenig auf, um allen die große 10 zu präsentieren, die Nummer des Fly-halfs.

Reed klopfte ihr auf die Schulter. »Braves Mädchen! Na dann, komm mal mit.« Er richtete sich auf, nahm Winnies dargebotene Hand und verschwand mit ihr im Gang. Perplexe Gesichter blieben zurück, und auch Lynne brauchte einen Moment, um wieder richtig zu sich zu kommen. Sie wollte den beiden hinterher, schließlich war es ihre Aufgabe, die Mutter in Anbetracht dieses wilden, gefährlichen Sports zu beruhigen, die Presse zu koordinieren, Fragen zu beantworten und dem Team Honig ums Maul zu schmieren. Aber ehe sie sich bewegen konnte, trat Paul O’Donnell grinsend vor sie hin, ein signiertes Trikot in der Hand. »Lady, wenn Sie mir gesagt hätten, dass ich hier Reed Rivers treffe, wären sie ganz sicher ohne Strafzettel davongekommen.«

Lynne hörte ihn über das Rauschen in ihren Ohren kaum, ihr Blick war seltsam unklar, überlagert von zu vielen Bildern aus der Vergangenheit. »Hätte ich gewusst, dass Reed Rivers hier ist, hätte ich mich von Ihnen einsperren lassen.« Sie wartete auf keine Antwort mehr, sondern ging hinaus, Reed hinterher, der schon wieder das Herz eines Mädchens gewann.

❊ ❊ ❊

Reed holte einen Rugbyball aus dem Schrank und führte das unaufhörlich schnatternde Mädchen durch die leicht müffelnde Umkleidekabine, durch den Tunnel und hinaus auf den nasskalten Platz. Hinter sich hörte er die Zeitungs- und Fernsehfuzzis und den Rest seines neuen Teams, das er kaum kannte. Und Lynne.

Sie war wieder da, nach so langer Zeit, es war wirklich passiert. Ihr Name war schon vorher gefallen, er hatte gewusst, wer die Leiterin der Agentur war, und so hatte er sich auch auf das Treffen vorbereiten können. Anders als sie. Trotzdem war es eher wie ein Tritt in die Eingeweide gewesen, in diese bernsteinfarbenen Augen zu sehen. Einen Moment lang war die Zeit weggeschmolzen. Schon als sie mit polizeilicher Begleitung auf so dramatische Weise eingefahren war, hatte er das Gefühl gehabt, in die Vergangenheit gefallen zu sein. Sie war ausgestiegen, stolz, entschlossen, trotzig, mit nur einem Hauch von Unsicherheit. Wie das Mädchen von einst, nur in völlig anderen Klamotten, die nicht zu ihr passten und sie fremd wirken ließen. Er hatte sich im Hintergrund gehalten, nicht ihr zuliebe, um sie nicht noch weiter in Verlegenheit zu bringen, sondern weil er das Gefühl gehabt hatte, nicht mehr atmen zu können. Die wenigen Minuten draußen waren notwendig gewesen, um ihr gegenübertreten zu können, gefasst und nach außen hin unberührt. Vielleicht hatte er es genossen, sie so überrumpelt und hilflos zu sehen. So habe ich mich damals auch gefühlt, hätte er am liebsten gesagt. Fast hätte er sie vor laufenden Kameras bloßgestellt, allen auf die Nase gebunden, dass sie seine Verlobte war. Aber er wollte der kleinen Winnie den Tag nicht ruinieren.

»Bist du schnell?« Reed warf den Ball von einer Hand in die andere und blieb im Malfeld stehen. Winnie sah grübelnd zur anderen Seite des Platzes, als wollte sie sich ausrechnen, in welcher Zeit sie die Entfernung schaffte. Dabei wusste er natürlich, dass sie alles andere als schnell war, schließlich war ihre Lunge im Eimer. Aber er war schon immer der Meinung gewesen, dass es wenig Sinn machte, ein krankes Kind wie ein krankes Kind zu behandeln. Jeder sah ihre Nasenbrille und den Sauerstoff, das wusste sie selbst – also sollten sie betreten zu Boden schauen oder sie so nehmen, wie sie war?

»Wie sieht’s aus mit Werfen und Fangen?«, fragte er weiter, da sie weiterhin nachdenklich das Feld betrachtete.

»Ich kann kicken«, erklärte Winnie und sah ihn etwas unsicher an.

Reed lächelte. »Natürlich kannst du das, du trägst schließlich die Nummer zehn.« Er legte den Ball ab und trat einen Schritt zurück. »Na, dann zeig mal, was du drauf hast.«

Winnie grub ihre Hände ins Trikot und knetete es. Sie warf einen Blick zurück zu den anderen, die sich bei der Tribüne herumdrückten, und sah dann wieder zu ihm hoch.

»Ich wette, du kickst besser als jeder einzelne dieser Presseheinis dort drüben«, flüsterte er und zwinkerte ihr zu.

Winnie biss sich auf die Lippe und trat an den Ball heran. Sie sah noch einmal zurück, und als Reed ihrem Blick folgte, sah er Winnies schattenhafte Mutter und die ungewohnt elegante Lynne, die beisammenstanden und sich unterhielten. Ein paar Fotos wurden geschossen und Videokameras liefen.

Verschwindet doch alle, wollte er am liebsten rufen, auch zu seinem Team. Nicht dass er etwas gegen die Jungs hatte, sie waren im Moment nur einfach noch Fremde. Sie schienen sowieso nicht wirklich zu wissen, was sie machen sollten, und Reed konnte sich besser auf die Kleine konzentrieren, wenn sie nicht um ihn herumscharwenzelten. »Bereit?«

Winnie nickte, atmete sichtbar ein, trat ein paar Schritte zurück, nahm Anlauf, holte mit dem rechten Bein aus, schwang es nach vorne und verfehlte den Ball. Sie ruderte mit den Armen, rutschte auf der nassen Wiese aus, aber ehe sie hinfiel, hatte Reed sie schon unter den Achseln gepackt und aufgerichtet. »Sag es nicht weiter, aber das ist mir auch schon mal passiert, nur hat es mich voll auf den Hintern geschmissen«, flüsterte er ihr ins Ohr.

Winnie lächelte schüchtern in sich hinein, während ihre Mutter rief: »Alles in Ordnung, Schatz?«

»Mir geht’s gut, Mum!«

Reed unterdrückte ein Lachen, sie war neun Jahre alt und klang schon wie ein genervter Teenager.

»Kann ich es noch mal versuchen?« Sie sah mit ihren großen blauen Augen zu ihm auf, so voller Vertrauen, und Reed hätte sie am liebsten in den Arm genommen.

»Natürlich machst du es gleich noch mal! Denkst du etwa, ich lasse dich von diesem Platz, ehe du die anderen so richtig blamiert hast?«

Winnie strahlte und brachte sich wieder in Position.

»Das ist die richtige Einstellung. Versuche jetzt mal, den Ball gar nicht anzusehen, schau zum Tor.«

»Das ist viel zu weit weg und zu hoch oben.«

»Das ist egal, Hauptsache, die Richtung stimmt schon mal.«

»Lloyd Everglade aus meiner Klasse sagt, Mädchen können nicht Rugby spielen.«

»Wenn ich mit dir fertig bin, Darling, wirst du Lloyd Everglade in den Dreck treten.«

Winnie riss die Augen auf, sah zurück zu ihrer Mutter, wieder zu ihm und kaute auf ihrer Unterlippe herum. Das Kichern konnte sie aber nicht unterdrücken, und beim nächsten Versuch traf sie den Ball, der sogar ein gutes Stück weit flog. Mit einem Triumphschrei fuhr sie zu ihm herum, und Reed gab ihr ein High Five. »Das soll Evershade dir mal nachmachen.«

»Everglade.«

»Von jetzt an Evershade, denn er wird immer in deinem Schatten stehen.«

»Sind in Neuseeland alle Poeten?« Gavin Quinn trat zu ihnen heran, und Reed unterdrückte ein Seufzen. Zwar war der Flügelstürmer ein ganz anständiger Kerl, soweit er das beurteilen konnte, aber er wollte sich in Ruhe mit der Kleinen beschäftigen. In Auckland hatte er hin und wieder mit Kindern gearbeitet, Schulklassen besucht und sich als Preis für Meet and Greets hergegeben, was er tausendmal lieber machte, als belanglose Interviews zu führen. Die Kleinen unter den Menschen berührten etwas in ihm, sie waren wie Knete, noch so formbar, und er hasste den Gedanken, dass irgendjemand daherkam und sie zertrampelte. Rugby verlieh ihnen Selbstvertrauen, machte aus weicher Knete Stein, sodass sich Eltern, Lehrer, mobbende Mitschüler oder wer auch immer ihnen das Leben schwermachte die Zähne an ihnen ausbissen. Wenn er nur ein wenig dazu beisteuern konnte, war er bereits zufrieden.

»Hast du schon mal jemanden getacklet?«, fragte Gavin die Kleine, und Reed bemerkte aus den Augenwinkeln, dass die anderen alle näher kamen. Grandios.

Winnie grinste als Antwort, warf sich herum und stürzte sich mit wildem Gebrüll auf Reed. Sie versuchte ihre dürren Ärmchen um seine Taille zu schlingen, aber ehe sie Halt finden konnte, packte Reed sie und warf sie hoch in die Luft.

Winnie schrie lachend auf, und er fing sie, darauf bedacht, vorsichtig mit ihrem Rucksack umzugehen. Dann warf er sie sich über die Schulter, drehte sich im Kreis, während sie immer weiter kreischte. »Winnie Griffin hat versucht, den Meister zu tacklen! Was hat sie sich nur dabei gedacht?« Er drehte sie herum, sodass sie ihre Hände frei hatte und ihn angreifen konnte. »Wird sie die gegnerische Nummer zehn zu Boden bringen oder im Schlamm enden?«

Winnie presste ihre Hände gegen seine Brust, wand sich und zappelte, und Reed ließ sich abrupt nach hinten auf die nasse Wiese fallen. Winnie schrie auf, landete auf seiner Brust und rollte zur Seite ins Gras. »Nein! Er ist zu Boden gegangen! Winnie Griffin hat es tatsächlich geschafft, sie …«

Ein Schemen trat in sein Blickfeld. Reed sah auf, blinzelte in die zaghaft aus den Wolken greifenden Sonnenstrahlen und verengte die Augen, als er Lynne mit sturmumwölkter Miene über sich stehen sah.

»Bist du verrückt geworden?«, zischte sie leise, sodass nur er und vermutlich auch die Kleine sie hören konnten.

Reed setzte sich auf und sah auf Winnie hinab, die von der Anstrengung schwer atmete, aber immer noch lachte.

»Das ist ein krankes Kind!« Ihre Stimme wurde noch leiser, ihr Gesicht aber sah aus, als würde sie schreien. Hinter ihr kamen die anderen näher, Winnies Mutter lächelte, ging neben ihrer Tochter auf die Knie nieder und ließ einen Wortschwall über sich ergehen, wie toll es hier war. Reed aber sah weiterhin Lynne an, die ihn zornig fixierte, was er mindestens genauso leidenschaftlich erwiderte.

»Wie wär’s, wenn wir zusammen das Passspiel üben«, hörte er Gavin sagen, und aus den Augenwinkeln sah er, dass er Winnie und ihre Mutter mitnahm. Die anderen folgten ihnen. Lynne wollte sich ebenso abwenden, aber Reed war noch nicht fertig.

»Du hast wirklich keine Ahnung von Kindern.« Er stand auf und zupfte seine vom Gras durchnässten Shorts zurecht. »Hast also in der Zwischenzeit keine bekommen.«

Lynne erstarrte. Sie hatte ihm den Rücken zugewandt, und ihre dezent lackierten Fingernägel gruben sich in ihre Handflächen. Der Wind ließ ihre Locken tanzen, und als sie sich wütend zu ihm umdrehte, sah sie trotz der Verkleidung aus wie das ungestüme Mädchen von einst.

»Die Kleine hat Mukoviszidose, sie ist ernsthaft krank und …«

»Und Leute wie du lassen sie das auch nicht vergessen.«

»Du hättest sie verletzen können! Sie ist keiner deiner Teamkollegen, du kannst doch nicht einfach so grob mit ihr umgehen!«

»Ich war nicht grob.«

»Du bist immer …« Sie verstummte, Schuld zeichnete sich in ihren allzu vertrauten Augen ab, ihre vollen Lippen, von denen er jahrelang geträumt hatte, pressten sich zusammen.

Reed nickte langsam. Er hatte ihr eine Abreibung verpassen wollen, hatte den kindischen Wunsch gehabt, ihr alles heimzuzahlen, und da verpasste sie ihm so eine Ohrfeige.