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Als Pauline Mason an einer Strychnin-Vergiftung starb, lag die Erklärung nahe, dass sie Selbstmord begangen hatte; die Untreue ihres Mannes konnte sie dazu getrieben haben.
Aber für John Piper, der im Auftrag von Paulines Lebensversicherung den Fall unter die Lupe nimmt, steht außer Zweifel, dass Pauline ermordet wurde. Sonderbar: Piper will zunächst nicht einmal wissen, wer und warum - sondern wie...
Harry Carmichael (eigtl. Hartley Howard/Leopold Horace Ognall - * 20. Juni 1908 in Montreal, Québec; † Großbritannien) war ein britischer Schriftsteller.
Der Roman Bitter wie Strychnin um den Londoner Privatdetektiv John Piper erschien erstmals im Jahr 1966; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1971.
Der Signum-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur.
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Veröffentlichungsjahr: 2022
HARRY CARMICHAEL
Bitter wie Strychnin
Roman
Signum-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
BITTER WIE STRYCHNIN
Die Hauptpersonen dieses Romans
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebtes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Dreizehntes Kapitel
Vierzehntes Kapitel
Fünfzehntes Kapitel
Sechzehntes Kapitel
Siebzehntes Kapitel
Als Pauline Mason an einer Strychnin-Vergiftung starb, lag die Erklärung nahe, dass sie Selbstmord begangen hatte; die Untreue ihres Mannes konnte sie dazu getrieben haben.
Aber für John Piper, der im Auftrag von Paulines Lebensversicherung den Fall unter die Lupe nimmt, steht außer Zweifel, dass Pauline ermordet wurde. Sonderbar: Piper will zunächst nicht einmal wissen, wer und warum - sondern wie...
Harry Carmichael (eigtl. Hartley Howard/Leopold Horace Ognall - * 20. Juni 1908 in Montreal, Québec; † Großbritannien) war ein britischer Schriftsteller.
Der Roman Bitter wie Strychnin um den Londoner Privatdetektiv John Piper erschien erstmals im Jahr 1966; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1971.
Der Signum-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur.
John Piper – Privatdetektiv.
Stuart Mason – Filmproduzent.
Pauline Mason – seine Frau.
Robert Christie – Mrs. Masons Bruder.
Dr. James Eustace Barron – Arzt.
Janet Melville – Sprechstundenhilfe.
Dr. Norman Albery – Arzt.
Miss Gillen – Krankenschwester.
Diana Cartwright – Schauspielerin.
Mr. Quinn – Journalist.
Emma – Hausmädchen.
Chefinspektor Hoyle – Kriminalbeamter.
Roy Stephenson hatte sein Büro im ersten Stock des Cresset Assurance Building – dem Gebäude der Cresset Versicherung. Ein großer, viereckiger Raum mit Holzverkleidung an den Wänden und schweren Möbeln. Auf einem Tisch unter dem Fenster stand eine Vase mit Narzissen. Im Kamin brannte ein helles Feuer, und die Luft roch nach Zigarrenrauch und Möbelpolitur.
Roy Stephenson lehnte sich leicht lächelnd gegen den Schreibtisch und reichte Piper seine feuchte, weiche Hand. »Guten Morgen, John. Was halten Sie vom Wetter?«
»Es schneit wieder«, sagte Piper. »Ich hoffe, mein nächster Auftrag führt mich für ein paar Monate auf die Bermudas.«
»Leider nicht, mein Freund. Die Sache, die ich für Sie habe, spielt hier in London. Aber ziehen Sie den Mantel aus, sonst holen Sie sich noch einen Schnupfen, wenn Sie wieder nach draußen kommen. Zigarette?«
Er gab Piper Feuer und fuhr dann fort: »Wie geht’s sonst? Glaube, ich hab’ Sie schon seit Monaten nicht mehr gesehen.«
»Ja, seit Ende letzten Jahres habe ich keinen Auftrag mehr für die Cresset Versicherung ausgeführt.«
»Das freut mich«, sagte Stephenson. »Sie wissen schon, wie ich das meine, nicht wahr?« Er legte die Fingerspitzen gegeneinander und lächelte. »Wir kommen auch ganz gut ohne vorgetäuschte Einbrüche, zur rechten Zeit ausbrechende Feuer, verschwundene Juwelen, die in Pfandleihen wieder auftauchen, und ähnliche Späße aus, die uns immer wieder veranlassen, Ihre teuren Dienste in Anspruch zu nehmen. Je seltener wir Sie brauchen, desto besser für uns. Das war natürlich nicht als Beleidigung gemeint.«
»Ich hab’s auch nicht so aufgefasst«, sagte Piper. »Scheint, Sie brauchen mich mal wieder, wie?«
»Oh ja, natürlich. Ich hab’ da eine Sache, die dürfte genau in Ihrer Richtung liegen.«
»Was steht auf dem Spiel?«
»Zwölftausend Pfund.« Das Lächeln verschwand aus Stephensons rundem Gesicht, und er lehnte sich in seinen Sessel zurück.
»Mit dieser Summe war Mrs. Pauline Mason bei uns versichert. Sie haben vielleicht in den Zeitungen über ihren Tod gelesen. Sie war die Frau von Stuart Mason, dem Filmproduzenten.«
»Ich erinnere mich vage, dass ich irgendwas über den Fall gelesen habe. Wann ist sie gestorben?«
»Vor zwei Wochen.«
»Wie?«
Stephenson presste die Lippen zusammen und sagte: »Ich hoffe, das können Sie mir in allernächster Zeit genau sagen. Im Augenblick wissen wir nur, dass sie ein bis zwei Gran Strychnin in der Nacht des neunzehnten März schluckte. Sie wurde erst am nächsten Morgen gefunden und muss schon seit etwa acht Stunden tot gewesen sein.«
»Sie sagen schluckte. Meinen Sie damit, dass sie das Gift selbst nahm, dass sie genau wusste, was sie tat?«
»Es wäre möglich.« Er zuckte die Achseln. »Wenn das wirklich der Fall ist, möchte die Polizei gern wissen, wie sie an das Strychnin herangekommen ist und aus welchen Gründen sie Selbstmord begangen hat.«
»Wo geschah es?«
»Bei ihr zu Hause. Sie lag im Bett. Wie es scheint, hat sie sich wie jeden Abend zur üblichen Zeit zurückgezogen. Niemand hat gemerkt, dass irgendetwas nicht in Ordnung war, bis ihr das Mädchen am nächsten Morgen das Frühstück bringen wollte.«
Piper sagte: »Wenn sie kein Motiv hatte, dann hatte vielleicht ihr Mann eins. Hat die Polizei schon an diese Möglichkeit gedacht?«
»Natürlich. Und unter uns gesagt: ich auch. Obgleich ich andererseits Doktor Barron nicht ganz aus dem Spiel lassen möchte.«
»Wer ist das?«
»Der Arzt der verstorbenen Mrs. Mason. Es gibt da eine Vermutung, eine hübsche kleine Vermutung: nämlich, dass er vielleicht mehr war als nur ihr Arzt. Wenn sie ihm allmählich lästig wurde...«
»Gibt es einen Anlass für Ihre Vermutung?«
»Eigentlich nur hier und da ein Mosaiksteinchen. Schließlich kennt ja ein Arzt die Mittel und Wege.«
»Er mag zwar den Weg kennen, aber ob er die Mittel hat, das möchte ich bezweifeln. Heutzutage mischen Ärzte doch nicht mehr selbst Medikamente, es sei denn, sie haben eine Landpraxis.«
»Oder sie haben nur Privatpatienten. Es gibt kein Verbot, das Ärzten die Herstellung von Medikamenten untersagt, solange diese nicht für Kassenpatienten verwendet werden.«
»Und Doktor Barron hat keine Kassenpatienten?«
»Nein. Er hat die Praxis seines Vaters übernommen, der es von jeher gewohnt war, die Medikamente für seine Patienten selbst herzustellen. Ich weiß, dass Strychnin heutzutage nur selten verwendet wird, ich möchte aber wetten, dass Doktor Barron Strychnin in seinem Giftschrank hat.«
»Man wird kaum feststellen können, ob davon ein paar Gran fehlen«, sagte Piper.
»Natürlich nicht, wenn die Flasche mit dem Strychnin schon seit undenklichen Zeiten in seinem Labor steht. Wer könnte eventuell wissen, wieviel sie ursprünglich enthielt?« Stephenson lehnte sich in seinem Sessel zurück, legte die Arme übereinander und fügte hinzu: »Doktor Barrons Arzneimittel werden meistens von seiner Assistentin zusammengestellt, die ausgebildete Apothekerin ist, aber sie arbeitet auch nicht sieben Tage in der Woche... Und nachts ist sie schließlich auch nicht dort. Doktor Barron selbst hatte also genügend Gelegenheit.«
»Schön, vielleicht hatte er das«, gab Piper zu. »Setzen wir einmal voraus, er hatte die Mittel und ein Motiv – zwei Faktoren, die noch lange nicht bewiesen sind. Bleibt nur noch die Frage: Wie brachte er Mrs. Mason dazu, die tödliche Dosis Strychnin zu nehmen?«
Mit einem dünnen Lächeln sagte Stephenson: »Wenn ich das wüsste, brauchte ich Sie nicht. So wie die Dinge liegen, möchte ich aber lieber an Selbstmord glauben. Schon deshalb, weil wir dann nicht zwölftausend Pfund zahlen müssen. Mrs. Masons Police enthält nämlich eine Selbstmordklausel.«
»Warum?«
»Weil sie ihre Versicherungssumme von fünf- auf zwölftausend Pfund erhöht haben. Die Selbstmordklausel wird bei uns automatisch in den Vertrag aufgenommen, wenn die Versicherungssumme auffallend erhöht wird... Aber das wissen Sie ja wohl aus eigener Erfahrung.«
»Und das war ja wohl eine auffallende Erhöhung«, sagte Piper. »Wenn Sie sie sagen, so meinen Sie doch sicher Mr. und Mrs. Mason?«
»Ja. Er hat seine Versicherung ebenfalls erhöht, zur gleichen Zeit – von fünf- auf zwölftausend.«
»Wann war das?«
»Im letzten Mai. Die Selbstmordklausel galt nur für die ersten zwölf Monate nach der Erhöhung der Versicherungssumme. In vier oder fünf Wochen wäre diese Frist abgelaufen.«
»Wenn Mrs. Mason sich vergiftet hat«, sagte Piper, »dann hat sie an ihre Erben überhaupt nicht gedacht, oder? Sie hätte auch noch zwei Monate warten können. Wer erhält nach der Police das Geld?«
»Ihr Bruder. Er heißt Robert Christie. Er lebt seit sechs Jahren bei den Masons.«
»Was für einen Beruf hat er?«
»Keinen, er ist Invalide. Er hat multiple Sklerose und trägt Stützprothesen an beiden Beinen, ein Arm ist schon gelähmt.«
»Seit wann?«
»Vor zehn Jahren hat es angefangen. Als er keinen Beruf mehr ausüben und nicht mehr allein leben konnte, haben die Masons ihn aufgenommen. Seit kurzem haben sie eine Pflegerin für ihn eingestellt.«
»Kann er sich noch allein helfen?«
»Kaum. Er ist auf Krücken angewiesen und...« Stephenson brach ab und fasste sich ans Kinn. Dann fuhr er fort: »Ich weiß, woran Sie jetzt denken, aber da liegen Sie falsch. Christie kann’s nicht gewesen sein.«
»Warum nicht? Zwölftausend Pfund – das ist schon eine ganz schöne Versuchung, auch wenn’s die eigene Schwester war.«
»Robert Christie hat mit der Sache nichts zu tun. An dem Abend, als sie starb, war die Pflegerin die ganze Zeit über mit ihm zusammen. Er ging um halb elf zu Bett und hat bis kurz vor Mitternacht ferngesehen.«
»Könnte er nicht sein Bett verlassen haben?«
»Wann?«
»Nachdem die Pflegerin gegangen war.«
»Das ist es ja gerade. Sie war die ganze Zeit bei ihm, jedenfalls bis kurz vor Mitternacht. Soweit ich weiß, hat sie das Zimmer nicht ein einziges Mal verlassen.«
Piper sagte: »Danach scheidet Mr. Christie offenbar aus.«
»Ja, natürlich. Er war auf seine Schwester angewiesen. Ein Mann in seiner Lage kann es sich nicht leisten, den einzigen Freund, den er auf der Welt besitzt, zu vergiften. Sie gab ihm ein Zuhause und all das, was er sich auch für viel Geld nicht kaufen kann: Zuneigung und Wärme.«
»Was ist mit seinem Schwager?«
»Sie mögen sich nicht besonders. Sie haben damit auch nie hinterm Berg gehalten. Ich kann mir vorstellen, dass es nicht gerade leicht ist, mit einem Mann wie Christie zusammenzuleben. Vielleicht liegt das an seiner Krankheit. Wie dem auch sei, Mason und er haben in den letzten Monaten off miteinander gestritten.«
»Auch kein sehr hübscher Zustand für Mrs. Mason«, sagte Piper. »Hin- und hergerissen zwischen Ehemann und Bruder, dazu häuslicher Unfriede – da ist es doch nicht überraschend, wenn sie sich zur Erholung einen anderen sucht.«
Stephenson sagte: »Ja, wenn.« Er erhob sich und fuhr mit brummigem Ton fort: »Wie Sie’s auch drehen, immer bleibt ein großes Wenn. Es stimmt, dass Mrs. Mason und Doktor Barron mehr waren als nur gute Freunde. Und wenn Doktor Barron vorhatte, das Verhältnis zu lösen, so hätte das für Mrs. Mason Grund genug für einen Selbstmord sein können'. Was meinen Sie?«
»Schon, aber sie hätte sich nicht mit Strychnin vergiftet. Wie sollte sie auch darankommen?«
»Das gilt ebenso für ihren Ehemann – und für jeden anderen auch, ausgenommen Doktor Barron. Er ist der einzige, der mit Mrs. Mason in Verbindung stand und Zugang zu dem Gift hatte. Und damit kommen wir wieder zum Ausgangspunkt zurück. Ob es nun Doktor Barron, Stuart Mason oder irgendjemand anders war – immer wieder stehen wir vor der großen Frage: Wie wurde Mrs. Mason dazu gebracht, das Gift zu nehmen? Wurde sie überredet oder gezwungen oder hypnotisiert?«
»Vielleicht wusste sie gar nicht, was sie nahm«, sagte Piper. »Vielleicht nahm sie etwas ganz anderes.«
»Zum Beispiel?«
»Medizin zum Beispiel. Hat der Doktor ihr irgendetwas verschrieben?«
»Ja, sie bekam ein Tonikum gegen Appetitlosigkeit.«
»Und?«
»Die Polizei hat das Tonikum analysiert, das Ergebnis war negativ. Kein Strychnin. Sie haben das ganze Haus vom Boden bis zum Keller durchsucht, aber nicht das geringste gefunden, keine Spur von dem Gift.«
»Das finde ich seltsam«, sagte Piper. »Strychnin hat bekanntlich einen so bitteren Geschmack, dass man es nicht pur nimmt, auch dann nicht, wenn man Selbstmord begehen will. Man braucht also irgendein Gefäß, aus dem man es verdünnt trinkt. Was hat Mrs. Mason mit diesem Gefäß gemacht, wenn sie wirklich eine tödliche Dosis schluckte und dann ins Bett ging?«
»Das herauszufinden ist Ihre Sache«, sagte Stephenson. »Mrs. Mason ist entweder ermordet worden oder hat Selbstmord begangen. Wenn sie sich das Leben genommen hat, spart unsere Gesellschaft zwölftausend Pfund. Wenn nicht, müssen wir zahlen.« Er nahm eine Zigarre aus der Dose auf seinem Schreibtisch und riss ein Streichholz an. Dann fuhr er fort: »Egal wie es passiert ist, irgendjemand muss die Möglichkeit gehabt haben, an eine tödliche Dosis Gift heranzukommen. Man kann Strychnin nicht irgendwo kaufen so wie Aspirin. Sie müssen also das Warum, das Wie und das Wo klären.«
»Wenn die Polizei schon nichts gefunden hat, habe ich dann überhaupt eine Chance?«
»Aber natürlich, vielleicht sogar eine bessere. Die Polizei konzentriert sich vor allen Dingen auf Doktor Barron.«
»Und wie hat Doktor Barron nach Meinung der Polizei die Tat ausgeführt?«
»Das weiß ich nicht.« Stephenson zog eine Schublade auf und nahm einen Aktendeckel heraus. »Das ist alles, was ich an Informationen habe. Wenn Sie das durchgelesen haben, wissen Sie genauso viel über die einzelnen Personen wie ich.«
»Eigentlich bin ich nur an einer einzigen Person interessiert«, sagte Piper. »Was für eine Frau war Mrs. Mason?«
Stephenson nahm aus dem Aktendeckel ein Blatt Papier heraus und las: »Neununddreißig Jahre, seit fünfzehn Jahren verheiratet und organisch völlig gesund. Ob sie hübsch oder hässlich war, ist nicht vermerkt.«
»Wie kam sie mit ihrem Ehemann aus?«
»Nicht gut. Sie hatten sich im Lauf der Zeit auseinandergelebt.«
»Wegen ihres Bruders?«
»Nein, jedenfalls nicht allein deswegen. Ihre Ehe war auch aus anderen Gründen nicht glücklich.«
»Wer sagt das?«
»Stuart Mason. Er hat dem Coroner gegenüber angegeben, er und seine Frau hätten häufig miteinander gestritten und auch über Scheidung gesprochen.«
»War es nicht etwas unklug von ihm, das unter den augenblicklichen Umständen zuzugeben?«
»Aber nein, im Gegenteil! Als er gefragt wurde, ob er irgendeinen Grund nennen könne, weshalb seine Frau sich das Leben nahm, sagte er, sie sei psychisch sehr labil gewesen. Bei mehr als einer Gelegenheit habe sie mit Selbstmord gedroht.«
»Aha, so läuft der Hase. Hat Doktor Barron bestätigt, dass sie zu den Menschen gehörte, die zu solchen Handlungen neigen?«
»Nein, nach seinen Aussagen war sie keine Psychopathin. Er hatte zwar den Eindruck, dass sie mit ihrem Mann nicht glücklich war, aber sie hat ihm gegenüber nie angedeutet, sie wolle sich das Leben nehmen.«
»Doktor Barron will sich wohl nach allen Seiten absichern, wie? Ganz gleich, was die Jury beschließt, er ist aus dem Schneider.«
»Es sei denn, die Polizei kann beweisen, dass er und Mrs. Mason mehr als nur befreundet waren.«
»Da Mrs. Mason tot ist, wird sich da kaum was machen lassen.«
»Und darauf verlässt er sich. Sonst hätte er es wohl nicht so eilig gehabt, einen Selbstmord auszuschließen.«
Piper fragte: »Von wem stammt eigentlich die Behauptung, dass sie seine Geliebte war?«
»Von Mrs. Barron – indirekt. Sie hat ihren Mann verlassen.«
»Kürzlich?«
»Vor etwa einer Woche. Angeblich macht sie allein Urlaub, aber nach meinen Informationen hat sie ihre Sachen mitgenommen. Sieht so aus, als wolle sie nicht mehr zurückkommen.«
»Sie scheinen sich aber ganz schön hineingekniet zu haben, was den Arzt betrifft«, sagte Piper. »Ich hätte gedacht, eine Untersuchung, bei der das Ergebnis Selbstmord lautet, wäre Ihnen lieber gewesen? Warum komplizieren Sie alles?«
Stephenson legte seine Zigarre in den Aschenbecher und presste die Hände gegeneinander. Mit milder Stimme sagte er: »Wir suchen die Wahrheit, John, nichts als die Wahrheit. Wenn eine Forderung berechtigt ist, sträuben wir uns nicht dagegen zu zahlen.«
»Ja, natürlich. Woher wissen Sie übrigens, dass Mrs. Barron ihren Mann verlassen hat?«
»Einer unserer Agenten hat sich umgehört. Sie wissen ja selbst, wie geschwätzig Dienstboten sind, nicht wahr?«
»Nur zu gut. Gerüchte sind zwar manchmal recht nützlich, aber man kann sich nicht immer auf sie verlassen. Wenn Mrs. Barron ihren Mann für immer verlassen hat, weil er ein Verhältnis mit einer seiner Patientinnen hatte, so kann ich das begreifen. Dagegen ist es mir unerklärlich, warum sie jetzt, nach dem Tod der erschienen ist, einen Skandal macht. Verstehen Sie das?«
»Naja, Sie wissen ja... Ich dachte nur, Sie sollten wissen, was die Leute so reden.«
»Schon gut. Wie lange kannten sich Mrs. Mason und Doktor Barron?«
»Das weiß ich nicht. Soweit unser Agent erfahren hat, war es allgemein bekannt, dass sie ihn in den letzten sechs Monaten ein- bis zweimal in der Woche aufsuchte, häufig in seiner Praxis anrief und ihn beim Vornamen nannte. Wenn das kein guter Ausgangspunkt ist...?«
»Das reicht schon für böse Zungen, auch wenn alles ganz harmlos ist«, sagte Piper.
»Sicher... Besonders, wo die Zeitungen über ihren Tod berichtet haben und die Leute wissen, dass sie an einer Strychnin-Vergiftung gestorben ist. Dann ist Doktor Barrons Frau fortgegangen, und die Gerüchte blühten.« Stephenson schnippte mit den Fingern.
»Was ist mit der Assistentin des Doktors? Hat sie viel geredet?«
»Nein, nicht viel. Sie ist eine ziemlich reservierte junge Dame. Wie unser Agent berichtete, hat sie nicht sehr freundlich auf seine Fragen reagiert. Er hatte so das Gefühl, dass sie ihm mehr hätte sagen können, als sie wirklich tat.«
»Interessant. Was wissen Sie über sie?«
»Nur wenig. Sie heißt Janet Melville. Sie ist etwa fünfundzwanzig, lebt allein und hat irgendwo in Chelsea eine Wohnung. Seit etwa vier Jahren arbeitet sie bei Doktor Barron. Als Assistentin, Sekretärin und Apothekerin für Doktor Barron und seinen Mitarbeiter, einen gewissen Doktor Norman Albery.« Stephenson griff wieder nach seiner Zigarre. »Wenn zwischen Mrs. Mason und Doktor Barron ein besonderes Verhältnis bestand, dann konnten sie das nicht vor der Assistentin und Doktor Albery geheim halten. Die beiden könnten viel erzählen – wenn sie wollten.«
»Vielleicht wollen sie ja«, sagte Piper. »Das erfährt man am besten, wenn man sie fragt.«
Der Wind fuhr beißend durch die Straßen, der Schnee hatte sich in einen feinen Regen verwandelt, der wie mit Nadeln stach. Nur wenige Menschen waren auf der Straße, und wenn einmal ein Taxi vorbeikam, dann war es besetzt.
Schon nach wenigen hundert Metern war Piper bis auf die Knochen durchgefroren. Und ausgerechnet an solch einem Tag musste er sein Auto in die Werkstatt geben. Vielleicht war es besser, er fuhr in sein Büro und verschob seine Nachforschungen im Fall Pauline Mason auf morgen. Ein Tag früher oder später würde auch nichts ausmachen.
Während er sich in einem Hauseingang unterstellte und auf ein leeres Taxi wartete, das jedoch nie zu kommen schien, dachte er darüber nach. Stephenson erwartete, dass er sofort mit seinen Nachforschungen begann, das war ein stillschweigendes Übereinkommen. Aber Stephenson saß in seinem geheizten Büro und erteilte Anweisungen – Roy Stephenson mit seinem künstlichen Lächeln, seinem betont herzlichen Gehabe und dem kleinen Schuss Freundschaft in der Stimme. Aber das alles zählte im Ernstfall nicht.
Auch damals, vor langer Zeit, hatte Roy Stephensons Freundschaft nichts bedeutet, als Piper sie so dringend brauchte wie ein Ertrinkender den rettenden Strohhalm. Es gab nur wenige, herzlich wenige, die Verständnis hatten. Man konnte sie an den Fingern einer Hand abzählen. Alle anderen halfen nur mit dem Mund.
Er dachte daran, als endlich ein Taxi kam. In Gedanken war er immer noch damit beschäftigt, als das Taxi ihn an einer kleinen Seitengasse zur Regent Street absetzte, wo er sein Büro hatte.
Die Wände im Treppenhaus waren feucht, das Fenster des kleinen Raums beschlagen. Er schloss die Tür auf, hing Hut und Mantel auf und machte den Gasofen an. Dann ging er auf und ab, während er die Akte studierte, die Stephenson ihm mitgegeben hatte – das Aktenstück, das alles enthielt, was über Pauline Mason bekannt war.
Er fand nur wenig mehr, als er schon wusste. Mrs. Mason hatte eine Lebensversicherung über zwölftausend Pfund abgeschlossen, und sie starb an einer Strychnin-Vergiftung. Nach Aussagen ihres Ehemannes war sie eine unglückliche Frau, die häufig mit Selbstmord gedroht hatte. Nach Aussagen ihres Arztes hatten sich keinerlei Anzeichen für ernste seelische Störungen ergeben.
Etwas daran war falsch – entweder das eine oder das andere. Oder gelogen. Wenn sie wirklich Selbstmord begangen hatte, dann spielten diese Lügen überhaupt keine Rolle. Wenn sie aber ermordet worden war, dann war das Gesetz zuständig. Schließlich wurde er nicht dafür bezahlt, eine Schuld nachzuweisen.
Alles deutete darauf hin, dass sie sich das Leben genommen hatte. Nur die Tatsache, dass sie dazu Strychnin verwendet hatte, machte Piper stutzig. Jedes Barbiturat wäre angenehmer gewesen als ausgerechnet ein Mittel mit so schrecklichen Begleiterscheinungen.
Er holte sein Handbuch über Gerichtsmedizin und setzte sich damit an den Kamin, um noch einmal in Ruhe den Abschnitt über Strychnin-Vergiftungen nachzulesen. Es konnte nicht schaden, sich genau zu orientieren, bevor er mit Dr. Barron oder Dr. Albery sprach.
Ein halbes Gran ist ausreichend, den Tod herbeizuführen, obgleich es hier erhebliche individuelle Abweichungen gibt. Für gewöhnlich fällt der bittere Geschmack auf, aber er kann absichtlich überdeckt werden, wenn das Gift für Mordzwecke verwendet wird.
Innerhalb von fünfzehn Minuten kommt es zu Krämpfen und Atemnot. Dann setzt am ganzen Körper Muskelstarre ein, der Rücken krümmt sich, und die Atmung ist mehr oder minder ausgeschaltet.
Nach ein bis zwei Minuten entspannt sich der Körper, und das Opfer liegt erschöpft nach Atem ringend da. Einige Minuten später wiederholt sich plötzlich der Anfall, häufig ausgelöst durch einen minimalen Reiz, wozu manchmal schon die bloße Berührung der Kleidung ausreicht. Der Verstand bleibt klar, bis nach ein oder zwei Stunden der Erschöpfungstod eintritt...
Als er das Buch ins Bücherregal zurückstellte, war ihm einiges mit Sicherheit klargeworden. An Schlaftabletten konnte man verhältnismäßig leicht herankommen, während Strychnin absolut unerreichbar war. Der Tod durch eine Überdosis Schlaftabletten war schmerzlos, der Tod durch Strychnin war schon allein in der Vorstellung grauenhaft.
Wenn Mrs. Mason Selbstmord begangen hatte, dann musste sie entweder nicht gewusst haben, welchen Qualen sie sich aussetzte, oder sie war geistig zu verwirrt, um daran zu denken. Wenn sie aber ermordet worden war, dann wusste ihr Mörder nichts von den Todesqualen, oder er hasste sie so sehr, dass er keinerlei Gewissensbisse hatte.
Wie Piper die Sache auch betrachtete, es ergab sich immer wieder dieselbe Frage. Wenn er erst einmal herausgefunden hatte, woher das Gift stammte, dann würde er auch weiterkommen.
Ein halbes Gran ist ausreichend, den Tod herbeizuführen, obgleich es hier erhebliche individuelle Abweichungen gibt.
In Pauline Masons Fall hätte eine Dosis zwischen ein und zwei Gran vollkommen ausgereicht, jede individuelle Abweichung eingeschlossen.
Unter einem trüben Himmel duckten sich in der Kenilworth Road die alten Häuser mit ihren regennassen Dächern und überlaufenden Dachrinnen. Der Wind hatte nachgelassen, und der Regen rann unablässig. Auch der Mittag hatte keine Wetteränderung an diesem bitterkalten Tag gebracht.
Piper ließ die Tür der Telefonzelle hinter sich zufallen, stapfte mit den Füßen auf den Boden und suchte in seinen Taschen nach Kleingeld. Die Seiten des Telefonbuchs waren klamm, und der Spiegel an der Wand lief an. Alles fühlte sich nass und steif an – einfach deprimierend.
Die Leitung war besetzt. Er stützte den linken Ellbogen auf den Münzapparat auf und trocknete sich das Gesicht mit einem Taschentuch. Durch die kleinen Glasfenster der Tür beobachtete er die endlose Autoschlange, die auf der Bingley Street durch den Regen platschte. Die Abflüsse waren verstopft, und eine große Wasserlache breitete sich halb über die Straße aus. Draußen vor der Telefonzelle verkroch sich eine Frau unter einem Regenschirm.
Piper versuchte es noch einmal. Diesmal war nicht besetzt. Es läutete und läutete. Das Brrrr-brrrr schien immer lauter zu werden, während er dastand und wartete.
Dann wurde der Hörer abgenommen. Eine leise Stimme sagte: »Praxis Doktor Barron.«
»Ich hätte gern den Doktor gesprochen, wenn’s möglich ist«, sagte Piper. »Es tut mir leid, aber er macht Krankenbesuche und wird vor ein Uhr nicht zurück sein. Ist es dringend?«
Er sagte: »Nein, es ist nicht dringend. Aber ich hätte gern mit ihm gesprochen, sobald es möglich ist. Können Sie mir einen Termin geben?«
»Ja, natürlich. Ich denke, morgen Vormittag würde es gehen – wenn Ihnen das passt?«
»Lieber wäre mir heute Nachmittag.«
»Heute Nachmittag... Ich müsste mal nachsehen, ob er...«
Aus dem Hörer drangen einige Geräusche, die ihre Worte verschluckten und den Rest des Satzes unverständlich machten. Dann war die Verbindung wieder klar, und Piper hörte nur noch das Ende einer Frage.
»... Ihr Name, bitte?«
»Mein Name ist Piper, John Piper. Doch das dürfte Doktor Barron wenig sagen, denn ich war noch nie bei ihm.«