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Charles Graham hat seine Umgebung satt, er will untertauchen, will frei sein.
Dazu braucht Graham Geld, viel Geld sogar. Und Skrupel kennt er nicht: Das Kapital der Firma muss dafür herhalten.
Aber nicht alles läuft nach Plan...
Schon ein paar Tage später wird Charles Graham gefunden - in einem Kleiderschrank.
Erstochen...
Harry Carmichael, eigtl. Hartley Howard resp. Leopold Horace Ognall (* 20. Juni 1908 in Montreal, Québec; † Großbritannien), war ein englischer Journalist und Schriftsteller. Neben Hartley Howard benutzte Ognall auch das Pseudonym Harry Carmichael, das sich aus dem Vornamen seiner Ehefrau und denen seiner Kinder zusammensetzte.
Der Roman Mehr Schatten als Licht erschien erstmals im Jahr 1960; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1963.
Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.
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Veröffentlichungsjahr: 2021
HARRY CARMICHAEL
Mehr Schatten als Licht
Roman
Apex Crime, Band 224
Apex-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
MEHR SCHATTEN ALS LICHT
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebtes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Dreizehntes Kapitel
Vierzehntes Kapitel
Fünfzehntes Kapitel
Sechzehntes Kapitel
Siebzehntes Kapitel
Achtzehntes Kapitel
Neunzehntes Kapitel
Zwanzigstes Kapitel
Einundzwanzigstes Kapitel
Zweiundzwanzigstes Kapitel
Dreiundzwanzigstes Kapitel
Charles Graham hat seine Umgebung satt, er will untertauchen, will frei sein.
Dazu braucht Graham Geld, viel Geld sogar. Und Skrupel kennt er nicht: Das Kapital der Firma muss dafür herhalten.
Aber nicht alles läuft nach Plan...
Schon ein paar Tage später wird Charles Graham gefunden - in einem Kleiderschrank.
Erstochen...
Harry Carmichael, eigtl. Hartley Howard resp. Leopold Horace Ognall (* 20. Juni 1908 in Montreal, Québec; † Großbritannien), war ein englischer Journalist und Schriftsteller. Neben Hartley Howard benutzte Ognall auch das Pseudonym Harry Carmichael, das sich aus dem Vornamen seiner Ehefrau und denen seiner Kinder zusammensetzte.
Der Roman Mehr Schatten als Licht erschien erstmals im Jahr 1960; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1963.
Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.
Der Tag, an dem Charles Graham seinen Plan ausführte und dann von der Bildfläche verschwand, ließ sich an wie jeder andere Wochentag. Kurz nach neun Uhr betrat er sein Büro im Londoner Stadtteil Knightsbridge, sah die Post durch, die Miss Davidson für ihn aussortiert hatte, und diktierte für sie einige Anweisungen in das Bandgerät. Danach unterhielt er sich telefonisch mit dem Lagerverwalter über ein Inventurproblem, das am Tag zuvor entstanden war. Um neun Uhr zwanzig hatte er eine Besprechung mit dem Leiter der Buchhaltung.
Kurz vor neun Uhr dreißig klingelte er nach Miss Davidson. In seinem Verhalten deutete nichts auf das hin, was er sich für diesen Tag vorgenommen hatte. Später wurde den Beteiligten klar, dass er jedes Wort, jede Handlung sorgfältig einstudiert haben musste.
Doch da war es bereits zu spät, den Ablauf der schicksalsschweren Handlung aufzuhalten; zu dieser Zeit berichtete die Presse bereits unter dicken Schlagzeilen über den Fall, der als der Mord von Knightsbridge die Öffentlichkeit beschäftigte.
Miss Davidson war von großer und schlanker Statur. Sie hatte blendendweiße Zähne, gutfrisiertes blondes Haar und wohlgeformte Beine. Mit ihren fünfunddreißig Jahren galt sie unter den Angestellten der Radioelectric Company bereits als alte Jungfer. Sie ließ sich nie über ihr Privatleben aus, aber im Lauf der Jahre hatte man erfahren, dass sie allein in einem kleinen Apartment wohnte, gute Musik liebte und keine Herrenbekanntschaften hatte.
Sie schloss die Tür fast lautlos, hielt ihre zarten Hände auf dem Rücken verschränkt und murmelte; »Ja, Mr. Graham?«
Die gleichen Worte, die sie zur gleichen Zeit jeden Morgen während der vergangenen sieben Jahre benutzt hatte. Worte, die wie ein Ritual ihren Eintritt ins Chefzimmer begleiteten.
Graham sah auf, nickte, lehnte sich wieder in seinem Schreibtischsessel zurück und fragte: »Mr. Street schon gekommen?«
»Ja, Mr. Graham. Er ist gleich nach seiner Ankunft ins Lager gegangen, um die Bestände an Selbstbaugeräten nochmals überprüfen zu lassen. Sie wissen doch, dass sich bei der Inventur gestern irgendein Zählfehler eingeschlichen hatte?«
»Ich weiß. Das Ergebnis war geradezu absurd. Ich dachte, unser neues Lagerkontrollsystem würde so etwas endlich ausmerzen.« Das klang durchaus nicht so gereizt, wie die Worte es andeuteten. Dann fragte er: Gibt es irgendwelche wichtigen Termine heute für mich?«
»Nein... aber die Herren von der Bank würden es gern sehen, wenn Sie und Mr. Street heute Nachmittag gegen vier einmal vorbeikämen.«
Charles Graham senkte den Blick auf den Terminkalender vor sich und fuhr mit der Hand über sein angegrautes Haar, dann sah er wieder zu ihr auf und sagte: »Ach, die würden es gern sehen, wie? Wann haben die angerufen?«
»Kurz bevor Sie kamen. Sie wollten gar nicht mit Ihnen persönlich sprechen, sondern trugen mir auf, Ihnen mitzuteilen, dass man sowohl Sie als auch Mr. Street heute Nachmittag dringend erwarte.«
»Hm... Haben Sie eine Ahnung, worum es sich handelt?«
»Mr. White, der stellvertretende Vorstand, sprach mit mir am Telefon. Er meinte, sein Chef mache sich Sorgen wegen unseres Schecks für die Lohnzahlungen am nächsten Freitag. Unsere Zahlung an Gillian und diese nachdatierten Schecks an Talbot & Rice und an zwei andere Firmen hätten unser Konto überzogen – höher, als vereinbart worden sei. Außerdem möchte man die privaten Abhebungen von Ihnen und Mr. Street besprechen.«
Mit schiefem Lächeln sagte Graham: »Das klingt ja geradeso, als rege sich bei der Bank jemand mächtig auf. Haben Sie den Leuten wenigstens mitgeteilt, dass wir bis Freitag einen größeren Geldeingang erwarten?«
»Ja, Mr. Graham.«
»Da haben Sie’s mit der Wahrheit aber nicht sehr genau genommen, stimmt’s, Miss( Davidson?«
Sie brachte ihre Hände hinter dem Rücken hervor und rieb sich nervös die Finger. Dann sagte sie ausdruckslos: »Ich musste irgendetwas sagen für den Fall, dass weitere Schecks eingelöst werden sollen und die Bank sie, wie angedroht, nicht einlöst.«
»So weit wird die Bank natürlich nicht gehen«, meinte Graham. Er sah sie prüfend an und lächelte wieder. Diesmal galt das Lächeln ihr. »Wir haben schon des Öfteren in einer Geldklemme gesteckt, aber wir haben uns immer durchgebissen. Machen Sie sich etwa Sorgen?«
»Keineswegs, Mr. Graham. Wie ich schon der Bank sagte – im Januar ist die Finanzlage überall nicht rosig. Die meisten unserer Kunden machen jetzt Inventur, und wir können frühestens in der zweiten Monatshälfte wieder größere Bestellungen erwarten.«
»Ganz recht, Miss Davidson, ganz recht!« Er zündete sich eine Zigarette an, steckte die Schachtel wieder weg und fuhr dann fort: »Ich frage mich oft, was wir ohne Sie anfangen würden, Miss Davidson.«
Das war eine natürliche, nichtssagende Bemerkung, die noch nicht einmal von einem Lächeln begleitet wurde; ein Außenstehender hätte das lediglich als ein kleines Kompliment gewertet.
Sie fragte sich oft, wie es möglich sein konnte, dass sie diesen Ton untereinander anschlugen. Sie redete ihn mit Mr. Graham an, und für ihn war sie nie jemand anders als Miss Davidson – im Büro. Während des Tages war ihr Verhältnis nüchtern, geschäftsmäßig. Er war Teilhaber der Firma – sie seine Sekretärin.
Nie erwähnte auch nur einer von ihnen jene Abende, an denen er sie nach Hause begleitete. Jene Nächte, in denen sie sich, umfangen von der Dunkelheit und dem Schweigen in ihrer kleinen Wohnung, zu zwei völlig anderen Menschen wandelten.
Während er dasaß und sie still musterte, versuchte sie sich daran zu erinnern, wie alles angefangen hatte. Sie musste verrückt gewesen sein, damals, beim ersten Mal.
Wenn er einigermaßen zu dem Typ von Männern gehörte, die sie bewunderte – dann hätte es wenigstens einen Grund gegeben. Doch er verkörperte alles, was sie bei einem Menschen verachtete: Für sie war er ein Mann ohne Gewissen, ohne Halt und ohne Anstand.
Alles wäre noch nicht einmal so furchtbar, wenn er mich wenigstens gern hätte, sei’s auch auf diese oder jene Art, dachte sie. Aber das ist ja nicht der Fall. Er findet einfach Vergnügen daran, wie ich mich erniedrige. Er weiß genau, wie hart ich dagegen ankämpfe und wie verzweifelt ich mich jedes Mal geschlagen gebe. Hinter der tadellos gepflegten Erscheinung, hinter seinem guten Aussehen verbirgt sich dieser Mann, verrottet bis ins Innerste – aber kaum dass er mich berührt, vergesse ich alles andere. Ein Tier macht er nach und nach aus mir – und das macht ihm obendrein noch Spaß...
Als könne er ihre Gedanken lesen, sagte Graham nun: »Möglicherweise müssen wir heute Abend etwas länger hierbleiben, Miss Davidson, um noch verschiedenes aufzuarbeiten. Wäre Ihnen das recht?«
Ihr Verstand sagte ihr, dass er mit ihr Schluss gemacht hatte, doch sie sehnte sich immer noch nach ihm. Würde sie sich aber eingestehen, dass alles vorbei war, dass er sie nur noch zu quälen trachtete, dann bliebe ihr kaum noch etwas, wofür es sich zu leben lohnte.
»Doch, selbstverständlich, Mr. Graham«, antwortete sie.
Und jedes Mal fürchtete sie, etwas Falsches zu sagen – oder das Richtige auf die falsche Art. Hatte es zu sehnsüchtig geklungen? Was aber, wenn sie seiner Meinung nach nicht eifrig genug zugesagt hatte?
Graham sagte: »Schön. Das wäre also erledigt.« Er fuhr sich mit dem Zeigefinger über seinen schmalen Schnurrbart und fuhr nach einer Weile gespielten Nachdenkens fort: »Würden Sie bitte meine Frau anrufen und ihr mitteilen, dass die Arbeit mich heute Abend hier etwas länger festhält?«
»Ja, Mr. Graham. Ich werde es nachher gleich erledigen.«
»Rufen Sie lieber sofort an. Ich erinnere mich, dass sie sagte, sie wolle heuten Morgen in die Stadt gehen.«
Unbewegt wiederholte Miss Davidson: »Ja, Mr. Graham.«
Früher einmal, das war schon lange her, hatte sie ihn dafür gehasst, dass er ihr die Benachrichtigung seiner Frau aufbürdete. Einmal hatte sie sich sogar aufgerafft, ihn zu bitten, das selbst zu erledigen. Doch er hatte bloß mit den Schultern gezuckt und geantwortet, er hätte es sich ohnehin anders überlegt. Er fühle sich nicht ganz wohl, eine aufkommende Erkältung vielleicht, und da ginge er besser zeitig nach Hause.
Sie hatte für ihn Lüge und Betrug auf sich genommen. Ihr blieb keine Wahl. Wenn sie das Verhältnis fortsetzen wollte, musste sie seine Bedingungen akzeptieren. Sie liebte ihn und verachtete ihn gleichzeitig... Nur ein einziger Mann hatte je Macht über Joan Davidson besessen. Für sie gab es keinen anderen.
Sie sagte: »Ich rufe also sofort an, Mr. Graham. Soll ich Sie später noch an Ihre Verabredung mit der Bank erinnern?«
»Nein, das ist nicht nötig«, erwiderte Graham. »Das werde ich nicht vergessen. Danke, Miss Davidson...«
Die letzten Worte hatten jenen Tonfall, den sie so gut kannte, dem sie entnahm, sie solle ihn nun allein lassen. Während sie die Tür öffnete, fragte sie sich, ob er auch nur eine Ahnung hatte, wie tief sie ihn hasste.
Er wartete, bis sie fast aus dem Zimmer war, dann rief er ihr nach: »Ach, Miss Davidson! Sagen Sie doch Mr. Street, dass ich nicht mit ihm essen werde – falls ich vergesse, ihm Bescheid zu geben. Ich habe eine andere Verabredung.«
Vielleicht sollte sie glauben, er führe eine andere Frau aus. Vielleicht hoffte er, er könne sie damit eifersüchtig machen.
Ihr war das alles gleichgültig geworden. Sie wusste, dass er seine Frau nicht nur mit ihr betrog. Es hatte andere gegeben, ehe sie in jener Nacht den nicht mehr gutzumachenden Fehler beging, und auch danach hatte es andere Frauen gegeben.
In den letzten Wochen hatte er ein neues Opfer gefunden – ein Mädchen, das Annette Lindon hieß und das ihn schon mehrmals angerufen hatte. Keine Frage, ihr würde es wie den anderen gehen.
Ein halbes Dutzend Vorgänge harrten auf Miss Davidsons Schreibtisch der Erledigung. Sie musste ein paar Briefe schreiben, und bis zehn Uhr hatte sie die Geldeingänge von gestern zu überprüfen. Ferner hatte Mr. Street eine Notiz hinterlassen: Sie solle sich um den Versand einer dringenden Lieferung von Plattenspielern kümmern.
Sie verscheuchte jeden Gedanken an Charles Graham und widmete sich ganz ihrer Arbeit. Die nächste Stunde verflog rasch.
Um halb elf brachte ihr ein Lehrling die übliche Tasse Tee und zwei Stückchen Gebäck. Sie rauchte eine Zigarette und streckte sich ein wenig, um ihren steifen Rücken zu lockern – sie hatte zu lange in der gleichen Haltung dagesessen. Dann betrachtete sie sich in ihrem Taschenspiegel.
Erst als sie den Lippenstift wieder in die Handtasche steckte, fiel ihr ein, dass sie den Anruf bei Mrs. Graham vergessen hatte. Nach der Uhr auf ihrem Schreibtisch war es zwanzig vor elf, und er hatte ihr aufgetragen, um halb zehn anzurufen.
Miss Davidson dachte, dass der Anruf so eilig ja auch nicht sei – wenn Mrs. Graham nicht gerade den ganzen Tag in der Stadt verbringen wollte. Und selbst wenn sie erst am späten Nachmittag heimkäme, wäre immer noch Zeit, sie davon zu unterrichten, dass ihr Mann heute später nach Hause käme. Es konnte aber auch sein, dass er Wert darauf legte, sie vor ihrem Ausgang in die Stadt zu informieren, vielleicht hatte er Gründe hierfür.
Niemand meldete sich. Miss Davidson lauschte dem Freizeichen im Telefonhörer, und ihre Gedanken wanderten zurück zu jenen anderen Gelegenheiten, bei denen sie mit unpersönlich gehaltener Stimme gesagt hatte: »Oh, Mrs. Graham... Ihr Gatte hat mich gebeten, Ihnen mitzuteilen...«
Wusste seine Frau, was für einen Mann sie geheiratet hatte? In all den vergangenen Jahren musste sie doch Verdacht geschöpft haben!
Vielleicht gestand sich eine Frau in ihrer Lage niemals ein, dass es eine andere geben könnte. Vielleicht errichtete ihre Eitelkeit einen Schutzschirm zwischen der Wahrheit und ihrem Wunschbild.
Am anderen Ende der Leitung klingelte es weiter, niemand nahm den Hörer ab. Wahrscheinlich wird ihn das freuen, dachte Miss Davidson. Dann hat er eine neue Entschuldigung, die Abmachung für heute Abend nicht einzuhalten.
Sie konnte ihn schon hören: ...zu schade. Das kommt davon, wenn man seine Gedanken nicht mehr beisammen hat. Dann müssen wir’s eben auf ein andermal verschieben...
Vor ihrem geistigen Auge tauchte sein Gesicht auf: sein starker, wohlgeformter Mund unter dem schmalen, angegrauten Schnurrbart; seine tiefliegenden, zärtlichen Augen, deren Blick fast körperliche Substanz besaß, als hätte er sie mit den Händen berührt. Aber: Wie konnte sie nur einen Mann lieben, den sie so hassen gelernt hatte?
Ob Mr. Street je vermutet hat, was zwischen seinem Teilhaber und mir vorgeht? Möchte mal wissen, wie es in seiner Ehe gegangen ist... Es heißt, er habe sich von seiner Frau getrennt. Wahrscheinlich ihre Schuld. Er ist ein netter Kerl, jeder hat ihn gern. Aber vielleicht stimmt es, dass man einen Menschen erst kennenlernt, wenn man mit ihm leben muss... Andererseits, mit Mr. Street zu leben dürfte nicht schwierig sein. Bei ihm spürt man nichts von Härte oder Sadismus wie bei Charles.
Sie lauschte dem Tüt-tüt-tüt in ihrem Hörer noch einen Augenblick und legte dann auf.
Wenn er fragte, würde sie ihm sagen, dass sich niemand gemeldet habe. Wie er das aufnahm? Nun, das machte ihr nichts aus. Nichts machte ihr mehr etwas aus. Diese unerträgliche Situation musste ihr Ende finden, besser heute als morgen, und warum nicht gleich jetzt?
Niemand wusste etwas über sie und Charles Graham – niemand brauchte je etwas zu ahnen. Nur Mut war nötig, um den endgültigen Bruch herbeizuführen, vielleicht mehr Mut, als sie aufbringen konnte. Aber wenn einmal alles vorüber sein würde, dann hätte sie ihre Freiheit zurück. Sie könnte London verlassen und anderswo ein neues Leben beginnen.
Schließlich – war sie nicht noch jung genug? Fünfunddreißig war noch nicht zu alt für einen neuen Anfang... Mit einem kleinen, kalten Schauer wurde ihr bewusst, dass sie gerade die wichtigste Entscheidung ihres Lebens getroffen hatte.
Sie ließ den Telefonhörer los und drückte ihre Zigarette aus. Die Schwierigkeit lag nun allein darin, einen Weg zur Verwirklichung ihres Planes zu finden, ehe sie wieder schwach wurde.
Fünf Minuten vor elf läutete das Telefon. Das Mädchen von der Zentrale sagte: »Miss Davidson, ich habe hier Kirkbright in der Leitung. Sie wollen mit Mr. Graham etwas wegen einer Plattenspielerlieferung besprechen. Wollen Sie den Anruf übernehmen?«
»Warum legen Sie ihn nicht auf seinen Apparat? Soviel ich weiß, ist er in seinem Büro.«
»Schon, aber ich weiß nicht so recht. Ich müsste dann ein soeben angekommenes Privatgespräch für ihn warten lassen... und die junge Dame scheint es eilig zu haben.«
Miss Davidson hatte den Namen Lindon auf der Zunge, aber das war jetzt alles vorüber. Selbst ihr Hass auf Charles Graham schien sich aufgelöst zu haben; zurück blieb eine Leere, wo einst ihr Gefühl sie gequält hatte.
Bald würde sie völlig frei sein. Ihr war es gleichgültig, ob er sie nun dieser Frau oder einer anderen wegen hatte fallenlassen.
Sie sagte in den Apparat: »Na gut, verbinden Sie die Dame lieber mit Mr. Graham. Ich werde mit Kirkbright sprechen.«
In der Leitung ertönte ein Knacken, ein zweites Knacken. Durch die Tür hörte sie aus Charles Grahams Zimmer seine tiefe, volle Stimme: »Oh, hallo! Ich hatte nicht erwartet...«
Und dann kam aus ihrem eigenen Hörer eine gereizte Stimme: »Für jemand, der so gern andere Leute herumscheucht, Graham, nehmen Sie sich verdammt lange Zeit...«
»Hier spricht nicht Mr. Graham«, sagte Miss Davidson. »Ich bin seine Sekretärin. Ich kenne die näheren Umstände dieser Bestellung; wenn Sie mir also mitteilen wollen, wie die Angelegenheit bei Ihnen steht, kann ich der entsprechenden Abteilung hier Anweisung geben. Spreche ich mit Mr. Kirkbright?«
»Stimmt. Entschuldigen Sie bitte die rauen Worte, meine Dame, aber ich bin ein Mann des offenen Wortes und mache aus meinem Herzen keine Mördergrube. Dieser Schlamassel mit der Lieferung ist bei Ihnen entstanden – nicht bei mir. Ich habe die Daten und Unterlagen hier und kann das beweisen.«
»Ja? Wenn Sie mir bitte Ihre Aufstellung ansagen wollen«, erwiderte Miss Davidson, »notiere ich alles. Und sowie Mr. Graham frei ist, sehe ich zu, dass er Sie wieder anruft. Wäre Ihnen das recht?«
»Geht in Ordnung. Also, nach unseren Bestellungsunterlagen befand sich der ausstehende Rest vom 20. November in der Lieferung Bestellnummer 6943 K von der zweiten Dezemberwoche...«
Halb unbewusst und mechanisch schrieb sie die Zahlen auf ihren Block. Mit dem Rest ihres Bewusstseins lauschte sie auf Charles Grahams Stimme im angrenzenden Zimmer.
Seine Worte konnte sie nicht verstehen, doch das war unwichtig. Sie hatte nicht die Absicht zu lauschen. Was er Miss Lindon oder einer anderen Freundin zu erzählen hatte, bedeutete ihr nichts mehr. Er tat ihr fast leid.
Nach dem Gespräch mit Kirkbright rief sie die Abteilung K an und gab seine Informationen weiter. Dann vertiefte sie sich in ihre Arbeit, um die Stimme aus dem anderen Zimmer zu vergessen.
Hin und wieder drangen ein paar Wortfetzen in ihr Ohr; sie hatte den Eindruck, als sei er über irgendeine Nachricht erregt. Kurz bevor er auflegte, hörte sie deutlich einen Satz: »...das kannst du mir nicht antun!« Und eine Sekunde später sagte er in schärferem Ton: »Das ist wirklich nicht zu viel verlangt...« Das übrige war nicht zu verstehen.
Ein Mädchen aus dem Hauptbüro kam herein mit einigen Akten, die Mr. Graham vorgelegt werden sollten. Miss Davidson teilte ihr mit, dass Mr. Graham beschäftigt sei. Das Mädchen überließ ihr die Akten und ging.
Als die Tür hinter ihr ins Schloss fiel, hatte Charles Graham das Gespräch beendet. Miss Davidson hörte, wie er den Stuhl zurückschob und in seinem Zimmer auf und ab wanderte wie immer, wenn er einem schwierigen Problem gegenüberstand.
Während sie weiterarbeitete, spielten ihre Gedanken mit der Frage, was wohl Annette Lindon für eine Frau sein mochte und was Charles gemeint haben konnte, als er sagte: »...das kannst du mir nicht antun!«
Irgendetwas tiefer Gehendes als bloße Gereiztheit hatte in seiner Stimme mitgeklungen. Das war eigenartig, denn so leicht brachte ihn nichts aus der Fassung. Wenn Miss Lindon eine derartige Gemütsbewegung in ihm hervorrufen konnte, so handelte es sich bei ihr offensichtlich um eine ungewöhnliche Person.
Nach einiger Zeit kehrte er an seinen Schreibtisch zurück und setzte sich wieder hin. Während der folgenden Stunde führte er mehrere Telefongespräche. Soweit Miss Davidson feststellen konnte, handelte es sich ausschließlich um geschäftliche Angelegenheiten.
Einmal rief er sie über den Hausapparat an und fragte, ob sie von Kirkbright etwas gehört habe. Sie berichtete ihm über ihr Gespräch und dass sie die Daten an Abteilung K weitergegeben habe, wo man dem Fehler auf die Spur gekommen zu sein scheine.
Er brummte zustimmend und schnitt ihr dann das Wort ab: »Schon gut, Miss Davidson, ersparen Sie mir die Einzelheiten. Ich habe viel Arbeit hier liegen; sehen Sie bitte zu, dass ich nicht gestört werde.«
Noch nie hatte er diesen barschen Ton ihr gegenüber angeschlagen. In diesem Augenblick verschwand jede Spur eines Bedauerns über ihre private Entscheidung. Immer hatte sie gewusst, dass eines Tages das Maß voll sein werde. Dieser Tag war nun wirklich gekommen. Sie konnte es nicht länger zulassen, dass er sie wie einen Hund behandelte, der auf seinen Pfiff angelaufen kam und ihn um gut Wetter anflehte.
Um zwölf verließ er sein Büro. Er trug Mantel und Hut, eine Zeitung steckte in seiner Manteltasche.
Er sagte zu Miss Davidson: »Vor meiner Verabredung zum Essen muss ich noch eine Besorgung machen, deshalb gehe ich jetzt schon weg. Sollte ich nicht rechtzeitig zurückkommen, gehe ich direkt zur Bank. Sagen Sie bitte Mr. Street, dass ich ihn dann dort treffe.«
Miss Davidson antwortete: »Natürlich, Mr. Graham.«
Wie gut kannte sie ihn doch! Er machte Ausflüchte, um zu erklären, warum er früher fortging. Demnach hatte er etwas zu verbergen. Für ihn bestand kein Anlass, sein Weggehen vor ihr zu rechtfertigen.
Eine Stimme schien ihr zuzuflüstern: Er ist mit Miss Lindon verabredet. Er will nicht hingehen, aber er kann sich nicht weigern. Ob es ihm wohl gefällt, herumkommandiert zu werden? Er ist erregt. Das will er sich zwar nicht anmerken lassen, aber es gelingt ihm nicht. Irgendetwas ist ihm danebengegangen, und er weiß nicht, was er tun soll!
Ihm in diesem Augenblick mitzuteilen, dass sie seine Frau nicht mehr erreicht hatte, wäre sinnlos gewesen. Wenn er wirklich die Absicht gehabt haben sollte, heute mit ihr Überstunden zu machen, so dachte er nun gewiss nicht mehr daran.
Er nickte ihr zum Abschied zu und ging. Während sie die Nummer der Zentrale wählte, hörte sie, wie sich seine Schritte den Korridor entlang entfernten. Das Mädchen in der Vermittlung meldete sich, und Miss Davidson teilte ihm mit, dass sie früher zum Essen gehen werde.
»...Ich muss noch verschiedenes einkaufen, und heute Abend habe ich noch zu arbeiten, so dass die Geschäfte vielleicht schon zu haben. Wenn ich verlangt werde, sagen Sie, dass ich nach ein Uhr wieder zurück sein werde.«
»In Ordnung, Miss Davidson.«
Charles Graham hatte schon das andere Ende des Korridors erreicht, als sie Mantel und Handtasche ergriff und aus der Tür trat, nachdem er die ersten Stufen der Treppe hinabgegangen war. Dann folgte sie ihm.
Christopher Street, Teilhaber der Radioelectric Company, traf fünf Minuten vor vier in der City & Suburban Bank in der King Street ein. Dort erfuhr er, dass sein Partner noch nicht erschienen sei und dass Mr. Farley noch einige Minuten anderweitig zu tun habe. Bis dahin werde sicher auch Mr. Graham eingetroffen sein.
Zwei Minuten nach vier wurde Mr. Street in das Büro der Bankdirektion geleitet. Man tauschte einige nebensächliche Bemerkungen über das Wetter und die politische Lage aus. Farley bot ihm eine Zigarette an und fragte ihn nach seiner Meinung über das Fernsehprogramm vom vergangenen Abend, das sie beide, gesehen hatten. Dann machte Street eine Bemerkung über ein Thema, für das sich keiner von beiden interessierte.
Nach einer Weile sah Farley auf seine Uhr und sagte: »Vielleicht weiß Graham nicht, dass wir uns für vier Uhr verabredet hatten?«
»Ausgeschlossen«, erwiderte Street. »Bevor er zum Essen ging, hinterließ er die Nachricht, dass er mich in der Bank um vier treffen würde, falls er sich in der Stadt zu lange aufhielte. Natürlich, wenn er sich in irgendeine Geschichte verbissen hat, vergisst er manchmal alles andere.«
»Sieht ganz danach aus«, meinte Farley. »Um halb fünf erwarte ich einen weiteren Besucher, also fangen wir am besten ohne Graham an. Haben Sie was dagegen?«
»Nein, nicht im geringsten.«
»Gut. Wenn er in den nächsten Minuten noch kommt, umso besser.
In der Zwischenzeit...« – Farley drehte sich um und nahm eine Akte von einem kleinen Tischchen hinter dem Drehsessel »...in der Zwischenzeit können Sie vielleicht die eine oder andere meiner Fragen beantworten.«
»Sehr gern – wenn es mir möglich ist«, antwortete Street. »Offen gestanden, ich verstehe nicht recht, warum Sie uns zusammen hierherbestellt haben. Soweit mir bekannt ist, bewegen wir uns noch innerhalb unserer verabredeten Kreditgrenze, seit wir unsere letzte gemeinsame Unterredung hatten... Vor drei oder vier Monaten muss das gewesen sein.«
Farley erwiderte: »Sie wissen sehr gut, dass die Tatsachen völlig anders aussehen. Ich habe mich wahrhaftig für Ihre Firma eingesetzt, so gut ich das konnte; aber meine Unterstützung hat irgendwann eine Grenze. Unsere Zentralverwaltung hat sich eigens nach dem Stand Ihres Kontos erkundigt, und ich weiß nicht, wie ich mich vor diesen Leuten rechtfertigen soll. Die Situation lässt nur eine Deutung zu: Meiner Meinung nach haben Sie, Mr. Street, und Ihr Teilhaber mich weidlich an der Nase herumgeführt.«
Farley hatte eine schwere, untersetzte Figur, seine Wangen hingen schlaff und schwammig herunter, und seine Augenbrauen sahen wie verfilzte Bürsten aus. Gewöhnlich trug er schon eine sorgenvolle Miene zur Schau, doch heute wirkte er mehr als besorgt. Der Unmut in seinen Augen drohte in offene Verbitterung umzuschlagen.
Street gab zur Antwort: »Ich glaube, dass hier ein Missverständnis vorliegt. Wie Sie wissen, verwaltet Charles die Finanzen unserer Firma, daher habe ich die Zahlen nicht im Kopf – aber in den vergangenen Monaten haben wir doch beträchtliche Einzahlungen geleistet, daher sehe ich nicht...«
»Sie haben sich auch ebenso beträchtliche Abhebungen geleistet«, fiel ihm Farley ins Wort. »Was Sie mit dem Geld angestellt haben, geht mich nichts an; aber ich habe Sie heute Nachmittag hergebeten, um Ihnen und Ihrem Partner klarzumachen, dass es so nicht mehr weitergeht. Wenn es Ihnen nicht gelingt, Deckung für den Lohnzahlungsscheck bis zum nächsten Freitag herbeizuschaffen, würde es mir sehr leid tun...«
Verwirrt fragte Street: »Was meinen Sie damit: beträchtliche Abhebungen?«
»Genau dasselbe, was man sonst darunter versteht. Es wird Ihnen gewiss nicht entgangen sein, dass die Sekretärin – wie heißt sie noch, Miss Davidson? – in den verflossenen zwei oder drei Wochen ein paar ziemlich hohe Schecks von Mr. Graham eingelöst hat?«
»Davon hatte ich keine Ahnung«, sagte Street. Er sah auf das Aktenstück vor sich auf dem Tisch und schüttelte den Kopf. »Ich höre eben das erste Mal davon.«
»Aber, Mann Gottes, Sie haben die Schecks doch unterzeichnet! Sie müssen die Schecks mit unterschrieben haben. Wir hätten sie sonst nicht ausgezahlt, wenn sie nicht sowohl Ihre wie Grahams Unterschrift getragen hätten.«
Street schüttelte erneut den Kopf und sagte dann: »Wie oft kommt es vor, dass ich Schecks unterschreibe, ohne dass Name und Betrag ausgefüllt sind. Zwischen fünf und sechs Uhr abends bin ich immer im Lager so stark beschäftigt, dass ich wenig Augenmerk für andere Dinge habe. Daher gewinne ich Zeit, wenn ich schon vorher unterschreibe.«
Eine Unruhe dämmerte in Farleys sorgenvollem Blick auf. »Soll das heißen, dass Sie nicht wussten, unter anderen auch Barschecks unterzeichnet zu haben?«
»Nein, keine Ahnung davon! Doch wie ich schon sagte, solche Vorgänge gehören üblicherweise nicht zu meinen Aufgaben. Ich zweifle nicht daran, dass Charles Gründe für die Barabhebungen hatte. Vielleicht verlangten einige unserer Lieferanten Barzahlung.«
»Vielleicht. Was hinter diesen Vorgängen steckt, das müssen Sie unter sich ausmachen, allenfalls noch mit dem Finanzamt. Ich bin nur daran interessiert, dass Ihr Konto in Ordnung gebracht wird. Und wenn Sie’s nicht bis Freitag schaffen, dann müssen Sie sich eben anderswo nach Ihren Lohngeldern umsehen.«
Street holte tief Atem und meinte dann vorwurfsvoll: »Aber das können Sie doch nicht machen! Wissen Sie denn nicht...«
»Ich kann nicht nur – ich werde es auch tun. Ich gebe Ihnen einen guten Rat, Ihnen und Ihrem Teilhaber: Bringen Sie die Geschichte ins reine, und fangen Sie am besten gleich morgen früh damit an. Was Sie auch mit dem Geld angestellt haben, zahlen Sie’s wieder ein, ehe ich mich gezwungen sehe, Ihre gestern ausgestellten Wechsel zu Protest gehen zu lassen.«
»Aber Sie werden doch sicherlich warten, bis Sie mit Charles gesprochen haben? Ich bin überzeugt, dass er alles aufklären kann.«
»Das will ich hoffen. Aber ich lege weniger Wert auf Aufklärung als auf einen größeren Geldbetrag, der nicht nur unseren Kredit an Sie auf die verabredete Höhe zurückführt, sondern der auch noch außer den ausstehenden Schecks Ihre Lohnzahlungen deckt. Nach Ihrem derzeitigen Kontostand sehe ich mich nicht in der Lage, für die Radioelectric Company auch nur mit einem Penny zu bürgen.«
Mit zusammengebissenem Mund wippte er auf den Füßen und betrachtete seine Uhr. Dann brummte er: »Fast vier Uhr fünfzehn. Sieht nicht so aus, als hätte es Ihr Mr. Graham eilig, seine aufklärende Tätigkeit hier zu entfalten, nicht wahr?«
Auf Streets plumpen, rosigen Gesichtszügen zeigte sich so etwas wie Angst. Er spielte mit seinem Hut und schlug die Augen nieder. »Ich weiß nicht, was Sie damit sagen wollen, Mr. Farley«, sagte er dann, »aber ich darf Ihnen mitteilen, dass Charles Graham nicht nur mein Geschäftspartner, sondern auch mein Freund ist. Wir vertrauen einander völlig. Wir arbeiten nun schon jahrelang zusammen, und nie hat sich so etwas ereignet, was...«
Seine Stimme erstarb in Verlegenheit. Als er aufsah und den Ausdruck in Farleys Augen bemerkte, fügte er unsicher hinzu: »Womöglich hatte er einen Unfall. Er hat Miss Davidson gegenüber eindeutig geäußert, dass er direkt zur Bank ginge, wenn für den Rückweg ins Büro keine Zeit mehr bliebe. Andererseits Street zögerte, »vielleicht hat er’s einfach vergessen.«
Farley erwiderte: »Darüber können wir uns gleich Gewissheit verschaffen. Benutzen Sie meinen Apparat, und rufen Sie Ihre Firma an. Dann wissen Sie wenigstens, woran Sie sind, und Sie brauchen hier nicht länger auf ihn zu warten.«
»Selbst wenn er noch nicht dort eingetroffen ist«, pflichtete Street ihm bei, »hat Miss Davidson vielleicht Nachricht von ihm erhalten. Nur hätte ich eigentlich von ihr erwartet, dass sie mir dann Bescheid gibt.«
Während er auf die Verbindung wartete, hielt er den Blick starr auf die Akte seiner Firma gerichtet, als versuche er, die kopfstehenden Zahlenreihen zu entziffern. Dann meldete sich die Zentrale der Radioelectric Company und verband ihn mit Miss Davidson.
Mit belegter Stimme sagte er: »Ich bin noch hier auf der Bank. Mr. Graham ist noch nicht eingetroffen... Ich dachte, er hätte sich möglicherweise bei Ihnen gemeldet, seit ich dort fortging...«
Aus seinem Gesicht verschwand etwas von der rosigen Farbe, während er sich Miss Davidsons Antwort anhörte. Schließlich sagte er: »Ich verstehe... Nein, ich werde bald zurück sein.«
Er legte auf. Er sah aus wie ein Mann, den ein plötzlicher Schlag bis ins Mark erschüttert hat.
Vom Kamin her fragte Farley: »Nun? Was sagt sie?«
»Seit er die Firma kurz vor zwölf verlassen hat, ist sie ihm nicht wieder begegnet. Sie hat keine Ahnung, wo er sich aufhalten könnte. Vielleicht ist er doch in einen Unfall verwickelt. Ich beginne, mir wirklich Sorgen zu machen.«
»Wenn ihm etwas zugestoßen wäre, wäre die Meldung inzwischen bei Ihnen eingegangen. Ich bezweifle, dass dies die Erklärung für sein Fernbleiben sein könnte.«
»Aber wo, um Himmels willen, soll er sich denn aufhalten?«
»Tja, wo nur?«, sagte Farley lakonisch. Er warf wieder einen Blick auf die Uhr. »Fast zwanzig nach vier. Eine hübsche Zeitspanne seit zwölf Uhr, nicht wahr? Nun, ich habe Ihnen meinen Standpunkt klargelegt. Unter diesen Umständen sehe ich mich nicht veranlasst, Ihrer Firma weitere Kredite einzuräumen.«
Als hätte er überhaupt nicht zugehört, sagte Street schwerfällig: »Irgendetwas muss passiert sein. Ich weigere mich, auch nur für einen Augenblick zu glauben, dass Charles...«
Das Telefon klingelte. Farley ging zum Schreibtisch zurück und hob den Hörer ab, wobei er sich in seinem Sessel niederließ. Währenddessen wandte er den Blick nicht von Streets Gesicht – einen fragenden Blick mit einer Spur von Mitleid.
Er brummte in die Sprechmuschel: »Ja... Ja... Wer?... Ach, sagen Sie ihm, ich sei im Augenblick noch beschäftigt und wäre in einigen Minuten frei... Nein, wenn er lieber vormittags vorbeikommt, passt es mir auch um halb elf.«
Nachdem er den Hörer wieder aufgelegt hatte, lehnte er sich im Sessel zurück und verschränkte die kurzen Finger über dem Bauch. Er sah Street nachdenklich an und sagte: »Bis Graham wiederauftaucht, wird es wenig Sinn haben, die Angelegenheit weiter zu besprechen. Lassen Sie mich wissen, wenn Sie etwas hören, ja?«
»Ja, selbstverständlich«, sagte Street abwesend, stand auf, schüttelte den Kopf und ging zur Tür. Dort drehte er sich um und fragte: »Sie haben nie viel von Charles gehalten?«
Farley entgegnete: »Meine persönliche Zu- oder Abneigung hat mit meinen Pflichten als Leiter dieser Bank nichts zu tun. Wenn Sie das aber interessiert, so muss ich gestehen, dass ich Graham immer für einen sehr angenehmen Menschen hielt. In der Tat bin ich außerordentlich überrascht, dass er ohne Ihr Wissen diese Bargeldabhebungen durchgeführt hat. Sind Sie sicher, dass Sie über seine Transaktionen nicht unterrichtet waren?«
In plötzlichem hilflosem Zorn brüllte Street los: »Ich habe Ihnen doch schon gesagt, dass ich nicht die geringste Ahnung hatte – und ich möchte mich allmählich dagegen verwahren, dass Sie...«
Er brach ab, als sei ihm gerade etwas eingefallen. Er holte tief Luft. Dann fragte er: »Wieviel ist denn in bar abgehoben worden?«
Farley warf einen Blick in die Akte und antwortete: »Sie können es ruhig erfahren: viereinhalbtausend Pfund.«
»Mein Gott!«, entfuhr es Christopher Street. »Kein Wunder, dass die Firma Schwierigkeiten hat. Oh, was bin ich doch für ein Narr...«
Sein plumpes Gesicht sah alt und müde aus; er ging taumelnd zur Tür und stolperte hinaus.
Als Charles Graham um zehn Uhr noch nicht zu Hause eingetroffen war, wandte sich seine Frau an die Polizei. Sie bekam den Bescheid, dass man sich so kurz nach dem Zeitpunkt, zu dem ihr Gatte das letzte Mal gesehen worden sei, amtlicherseits noch nicht einschalten dürfe. Es bestehe alle Aussicht, dass sie von ihm Nachricht erhalten werde, noch ehe die Nacht vorüber sei. Sollte sie jedoch am nächsten Morgen immer noch nichts von ihm gehört haben, dann solle sie sich wieder melden, man werde dann mit den Nachforschungen beginnen. Sie könne jedoch seine Personenbeschreibung gleich durchgeben.
Mrs. Graham wartete bis ein Uhr nachts auf ihren Mann. Danach nahm sie eine Schlaftablette und ging zu Bett; im Vorraum ließ sie das Licht brennen, und im Kamin hatte sie frisch nachgelegt.
Zu diesem Zeitpunkt waren seit dem Verschwinden von Charles Graham dreizehneinhalb Stunden vergangen. Erst später, viel später wurde deutlich, dass er sich darauf verlassen hatte, die Polizei werde kaum vor dem nächsten Morgen nach ihm forschen.
Mit diesem Vorsprung musste er darauf vertrauen, aus seinem bisherigen Lebenskreis verschwinden zu können, ohne auch nur eine Spur zu hinterlassen. Seinen ganzen Plan hatte er auf dieses Ziel ausgerichtet. Bis in die letzten Einzelheiten hatte er alles vorbereitet – alle Fehlerquellen waren ausgeschaltet. Als er am 8. Januar um zwölf Uhr mittags sein Büro verließ, waren seine Vorbereitungen abgeschlossen. Im Laufe der folgenden Stunde konnte Charles Graham aufhören zu existieren.
Sein Plan schien narrensicher. Bis auf einen Faktor, von dem er keine Ahnung haben konnte. Ihn zu berücksichtigen, konnte niemand von Graham erwarten – doch als er seinen Fehler bemerkte, war es zu spät. Fünfundvierzig Minuten nachdem er das Gebäude der Radioelectric Company verlassen hatte, sah er das Hindernis, an dem seine Hoffnungen zerschellten. Doch nun war die Frist, die er sich gesetzt hatte, abgelaufen. Es gab keinen Weg zurück.
Während der folgenden zwei Tage fahndete die Polizei mit den üblichen Methoden nach einem Mann namens Charles Graham, der vermisst wurde. Alter: vierundvierzig, Größe: ein Meter dreiundsiebzig, schlank, schmaler Schnurrbart, blonde Haare mit grauen Schläfen, Mitinhaber der Radioelectric Company, einer elektrotechnischen Großhandelsfirma mit Sitz in Knightsbridge.
Seine Personenbeschreibung wurde allen Polizeirevieren in London und auf den britischen Inseln mit der Bitte zugeleitet, sie den Streifenbeamten durchzugeben. Sollte über seinen Verbleib etwas bekannt werden, wurde angeordnet, die Vermisstenzentrale von Scotland Yard sofort zu verständigen.
Bei diesem Stand der Ermittlungen lag für die Polizei noch kein Grund vor, besonderen Verdacht zu schöpfen. Ihrer Erfahrung nach handelte es sich um nichts Ernsthafteres, wahrscheinlich nur um einen Fall von Gedächtnisschwund oder um die üblichen Nachwirkungen eines Familienstreits.
Christopher Street zögerte noch immer, den Verdacht zu äußern, dass sein Partner Unterschlagungen begangen und sich aus dem Staube gemacht haben könnte. Seine Freundestreue gebot es ihm, noch eine Weile zu warten, bevor er die erforderlichen Schritte einleitete, die unweigerlich zum öffentlichen Skandal führen mussten.
Doch die ganze Zeit über kannte er die Wahrheit. Charles hatte ihr Unternehmen ausgeplündert... Charles hatte einen minuziösen Plan ausgearbeitet, nach dem er sich mit der Beute in Sicherheit brachte, während er seinen Geschäftspartner und seine Frau ihrem Schicksal überließ.
Street empfand Mitleid für Katherine. Um ihre Ehe konnte man sie gewiss nicht beneiden. Womöglich hatte sie dieses Ende schon lange vorausgeahnt.
Er erklärte Farley, dass ihn schon der Gedanke an das, was Charles ihm angetan habe, krank mache. Das Schicksal seiner Firma sei für ihn von zweitrangiger Bedeutung – ob er genug Geld auftreiben könne oder nicht, um den Betrieb am Leben zu erhalten, bekümmere ihn nicht so sehr. Der an ihm verübte Verrat bedrücke ihn viel mehr.
Späterhin wurde Farley sich dieser leisen Zweifel bewusst, die ihn während des Gesprächs beschlichen hatten. Er selbst hatte den Vorgang mit den viereinhalbtausend Pfund Barabhebung ins Gespräch gebracht – Street wusste davon nichts. Das hatte er jedenfalls behauptet...
Farley fand neuen Stoff zum Nachdenken, als er erfuhr, dass die Polizei im Fall Charles Graham bereits Ermittlungen anstellte. Der Direktor der City & Suburban Bank in Knightsbridge kam zu dem Schluss, die Lage lasse nur noch eine Deutung zu.
So etwas ereignete sich nicht zum ersten Mal. Er kannte zumindest einen gleichen Fall aus eigener Erfahrung. Als ihm unter dem Druck der Ereignisse schließlich eine Entscheidung abgefordert wurde, blieb ihm keine andere Wahl, als sich der Polizei anzuvertrauen.
Am späten Nachmittag des zehnten Januar kehrten Mr. und Mrs. Alan Ward von der Hochzeitsreise zurück. Ihre kleine Wohnung lag im Yeoman’s-Viertel, ein paar Schritte von der Brompton Street. Beide waren noch sehr jung, sehr verliebt und genossen das Gefühl der ersten Heimkehr in die eigene Wohnung.
Hand in Hand stiegen sie die Treppe empor – ohne zu ahnen, dass Charles Graham seinen dunklen Schatten über ihr junges Glück fallenlassen würde. Bis zu diesem Abend hatten sie noch nie etwas von einem gewissen Charles Graham gehört; von diesem Abend an sollten sie ihn nie mehr vergessen.