GEFLOHEN AUS DARTMOOR - Harry Carmichael - E-Book

GEFLOHEN AUS DARTMOOR E-Book

Harry Carmichael

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Beschreibung

Terence Millwards will prinzipiell keine Menschen töten. Aber bei seiner Flucht aus dem Gefängnis kommt ein Aufsichtsbeamter ums Leben.

Die gnadenlose Hetzjagd auf den Ausbrecher und Mörder bringt es mit sich, dass er noch häufiger seinen Prinzipien untreu wird...

 

Harry Carmichael (eigtl. Hartley Howard/Leopold Horace Ognall - * 20. Juni 1908 in Montreal, Québec; † Großbritannien) war ein britischer Schriftsteller.

Der Roman Geflohen aus Dartmoor erschien erstmals im Jahr 1967; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1970.

Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.

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Veröffentlichungsjahr: 2022

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HARRY CARMICHAEL

 

 

Geflohen aus Dartmoor

 

Roman

 

 

 

 

Apex Crime, Band 276

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

GEFLOHEN AUS DARTMOOR 

Erstes Kapitel 

Zweites Kapitel 

Drittes Kapitel 

Viertes Kapitel 

Fünftes Kapitel 

Sechstes Kapitel 

Siebtes Kapitel 

Achtes Kapitel 

Neuntes Kapitel 

Zehntes Kapitel 

Elftes Kapitel 

Zwölftes Kapitel 

Dreizehntes Kapitel 

Vierzehntes Kapitel 

Fünfzehntes Kapitel 

Sechzehntes Kapitel 

Siebzehntes Kapitel 

Achtzehntes Kapitel 

Neunzehntes Kapitel 

Zwanzigstes Kapitel 

Einundzwanzigstes Kapitel 

Zweiundzwanzigstes Kapitel 

 

 

Das Buch

 

Terence Millwards will prinzipiell keine Menschen töten. Aber bei seiner Flucht aus dem Gefängnis kommt ein Aufsichtsbeamter ums Leben.

Die gnadenlose Hetzjagd auf den Ausbrecher und Mörder bringt es mit sich, dass er noch häufiger seinen Prinzipien untreu wird...

 

Harry Carmichael (eigtl. Hartley Howard/Leopold Horace Ognall - * 20. Juni 1908 in Montreal, Québec; † Großbritannien) war ein britischer Schriftsteller.

Der Roman Geflohen aus Dartmoor erschien erstmals im Jahr 1967; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1970. 

Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.

   GEFLOHEN AUS DARTMOOR

 

 

 

 

 

 

  Erstes Kapitel

 

 

Richter Arnold straffte seine Schultern und beugte sich nach vorn. Sein zerfurchtes Gesicht und seine Eidechsenaugen zeigten keine Gefühlsregung.

Mit einer dünnen, scharfen Stimme sagte er: »Terence Alexander Millward, Sie sind, und völlig zu Recht, der Mithilfe an einem scheußlichen Verbrechen schuldig befunden worden. Das Beweismaterial lässt weder bei den Geschworenen noch, wenn ich das hinzufügen darf, bei mir irgendwelche Zweifel zu. Wir haben genügend Beweise vorliegen, dass Sie mit anderen zusammen, die bis jetzt noch nicht gefasst worden sind, ein schweres Verbrechen begingen, wobei ein brutaler Überfall auf einen unglücklichen Bürger verübt wurde, dessen einziges Vergehen darin bestand, Sie zu stören, als Sie sein Geschäft ausraubten.

Es hilft Ihnen nicht, dass Ihr Verteidiger geltend macht, Sie hätten nicht selbst diesen brutalen Überfall verübt. Sie waren daran beteiligt. Als Anführer dieser Bande von gewalttätigen Männern müssen Sie die volle Verantwortung tragen.«

Millward hatte seine Hände auf das Geländer der Anklagebank gelegt und stand gerade und scheinbar unbewegt da, während er nur mit halbem Ohr zuhörte. Im Verlauf des ganzen Prozesses beschäftigte ihn nur ein Gedanke.

Wenn dieser verfluchte Idiot Humphrey nicht den Kopf verloren hätte, hätten die mich nie erwischt. Dem alten Mann wäre gar keine Zeit geblieben, mich genauer anzusehen. Nun habe ich mein Fett. Und die anderen wird’s nicht groß kümmern.

Seine Augen beobachteten die schmalen Lippen des Richters. Bald würde er es wissen. Diesmal gab’s bestimmt eine lange Zeit Knast – aber wie lange?

Der Richter machte eine Pause, um einen Schluck Wasser zu trinken. Dann fuhr er fort: »Bei zwei früheren Gelegenheiten haben Sie eine milde Strafe erhalten, doch die Zeit ist gekommen, Ihnen endlich klarzumachen, dass man das Gesetz nicht ungestraft bricht.«

Die altgewordene Stimme sprach weiter, ruhig und überlegt, ohne eine Spur von Gefühl.

Warum, zum Teufel, macht er nicht endlich Schluss? Warum muss ich hier stehen und der ganzen Quasselei zuhören? Wie lange? Sonst will ich nichts wissen – wie lange?

Der Richter ergriff seinen Federhalter. Mit einer raueren Stimme sagte er: »Ich würde meine Pflicht nicht erfüllen, wenn ich nicht eine Strafe verhängte, die dem Verbrechen angemessen ist. Eine lange Haft soll Sie lehren, nicht mehr die Allgemeinheit zu berauben, wenn Sie wieder frei sind. Ich verurteile Sie zu sieben Jahren Gefängnis.«

Das plötzliche Hämmern des Pulses in Millwards Kehle erstickte ihn fast. Sein Mund war trocken, und sein Verstand setzte aus. Sieben Jahre waren mehr, als er je befürchtet hatte. Sieben Jahre. Das konnte nicht wahr sein. Selbst wenn man ihn wegen guter Führung früher entließ, bedeutete das doch mindestens fünf Jahre hinter Gittern. Das Gesetz konnte ihn nicht einfach so lange einsperren! Es musste doch etwas geben, was er dagegen tun konnte.

Dann sah er, wie die Anwälte geschäftig ihre Papiere einsammelten. Aus dem Zuschauerraum hinter ihm hörte er Stimmengewirr. Jemand berührte ihn am Arm. Eine Stimme sagte: »Das war’s, Freundchen. Nun mal los!«

Ohne richtig zu begreifen, was er tat, stieg er die gewundenen Stufen von der Anklagebank in einen schmutzigen Korridor hinunter, der zu den Zellen führte. Eines wusste er: Das war nur der Anfang seiner langen Reise. Am anderen Ende lag Dartmoor.

  Zweites Kapitel

 

 

Durch das hohe Fenster sah man die flache und eintönige Landschaft – Kilometer um Kilometer derbes Gras mit einzelnen Farbflecken, wo wilde Blumen in später Blüte standen. Der winterliche Himmel sah grimmig aus. Vor den Toren erstreckte sich die Straße weiß und kahl im Griff eines scharfen Frostes.

Im Zimmer des Gefängnisdirektors brannte ein freundliches Feuer. Kriminalinspektor Bartram drehte sich um, als sich die Tür öffnete. Es würde aufschlussreich sein, wie Millward nach sechs Monaten Gefängnis und mit noch mehr als vier Jahren vor sich inzwischen aussah. Die Eintönigkeit und die Hoffnungslosigkeit veränderten gewöhnlich den Menschen. Einige vertrugen es besser als andere, doch nur wenige zeigten keine Spuren der Haft.

Millward war eine der Ausnahmen. Er sah unverändert aus – breitschultrig, aufrecht und mit einem kaum verhüllten Ausdruck von Arroganz. Ein gutaussehender Mann, dachte der Inspektor. Gutgeschnittener Mund, entschlossenes Kinn und Augen, die gerade und furchtlos blickten. Er sah überhaupt nicht wie ein skrupelloser und intelligenter Verbrecher aus.

Doch wie sieht ein Verbrecher schon aus? Crippen erschien als harmloses kleines Männchen, aber er hatte die Leiche seiner Frau auseinandergeschnitten und unter dem Fußboden vergraben; Palmer war ein angesehener Familienvater gewesen, mit einer schlagfertigen Zunge und einem ungesunden Wissen über Gifte; Rouse war ein einnehmender junger Mann, dessen Freunde entsetzt waren, als er des Mordes überführt wurde, nachdem er sein Opfer in dem brennenden Wrack eines Autos vernichten wollte. Was für ein Mensch war Terence Alexander Millward?

Der Direktor sagte: »Kommen Sie herein, Millward. Hier ist jemand, der Sie sprechen möchte. Ich glaube, Sie kennen Inspektor Bartram.«

Millwards Augen ruhten kurz auf dem Gesicht des Inspektors. Ohne jeden Ausdruck sagte er: »Wir sind uns schon begegnet. Und wenn er das will, was ich mir vorstelle, dann verschwendet er seine Zeit.«

Bartram sagte: »Treffen Sie lieber keine voreiligen Entscheidungen.«

»Sie sind nicht voreilig. Ich erwarte Sie schon seit einigen Wochen.«

Er blickte den Inspektor noch mal kurz an und fügte hinzu: »Wenn Sie einen Lockvogel suchen, sind Sie an der falschen Adresse. Ich habe Ihnen nichts zu sagen. Weder jetzt noch später.«

»Ich glaube, Sie machen einen großen Fehler«, sagte Bartram.

»Sieben Jahre sind eine lange Zeit. Selbst wenn man die Zeit abrechnet, die man Ihnen wegen guter Führung erlässt, so sind Sie doch fast fünfundvierzig, wenn Sie hier herauskommen. Es erscheint mir sinnlos, die besten Jahre des Lebens so zu vergeuden.«

»Was ich mit meinem Leben anfange, geht nur mich etwas an. Und wenn ich hier bis fünfundneunzig vergammeln müsste, würde ich keinen verpfeifen.«

Der Direktor räusperte sich und sagte: »Wenn Sie den Überfall auf den Juwelier nicht verübt haben, liegt es nur in Ihrem Interesse, uns zu helfen. Warum sollten Sie die Verantwortung für die Tat eines anderen tragen? Sie sind hier eingesperrt, und er ist draußen und genießt die Früchte des Einbruchs. Es erscheint mir nicht sehr klug, sich die Chance entgehen zu lassen, die Strafe verkürzt zu bekommen. Ich rate Ihnen, es sich zu überlegen.«

Millward schüttelte den Kopf: »Ich hatte sechs Monate zum Überlegen. Ich meine es ernst.«

Von dem Platz, wo er stand, konnte er die lange weiße Straße sehen. Da draußen war die Freiheit. Da draußen war das Leben. Etwas in ihm regte sich wütend, und er fühlte das Zittern seiner Hände. Dann war es vorbei. Eines Tages war er an der Reihe.

Inspektor Bartram lehnte sich in seinem Stuhl zurück und sagte: »Sie enttäuschen mich, Millward. Ich hielt Sie für vernünftig, aber Sie sind auch nur ein Trottel, der sich Vormacht, es gebe so etwas wie Ehre unter Dieben. Der letzte war Johnny Norton. Er bekam fünf Jahre, wurde entlassen und dann von seinen Kumpels hereingelegt. Jetzt hat er zehn Jahre, und bei seiner Gesundheit wird er kaum lange genug leben, um wieder herauszukommen. Der Witz ist, ich weiß, dass er für die Bande sitzt, aber ich kann es nicht beweisen. Während er den Märtyrer spielt, schläft seine Freundin mit einem seiner Kumpels. Schön dumm.«

Mit einer flachen Stimme sagte Millward: »Wenn ich noch weiter hier zuhören muss, tue ich womöglich noch etwas, das mich meine gute Führung kostet. Kann ich gehen?«

Der Gefängnisdirektor seufzte. »Ich hoffe, Sie wissen, was Sie tun. Es wäre schön gewesen, einen Mann mit Ihren Fähigkeiten sein ungesetzliches Leben aufgeben zu sehen, aber ich kann Ihnen nur gute Ratschläge geben, mehr nicht.«

Er drückte den Klingelknopf auf seinem Schreibtisch, und die Tür öffnete sich. Als sich Millward zum Gehen wandte, sagte der Direktor: »Oh, einen Augenblick. Hier ist noch ein Brief für Sie. Nehmen Sie ihn gleich mit.«

Kein Zeichen von Interesse erschien auf Millwards Gesicht, als er den Brief nahm und in seine Tasche steckte. Ohne Bartram anzusehen, ging er hinaus. Sein Rücken war immer noch gerade und arrogant.

Als sich die Tür schloss, sagte der Direktor: »Na, nun haben Sie ihn gesehen. Da Sie nicht erwartet haben, dass er reden würde, haben Sie irgendetwas erfahren, wofür sich Ihre Reise gelohnt hat?«

Inspektor Bartram kratzte sich gedankenverloren am Kinn. Er sagte: »Ich würde ihn an Ihrer Stelle im Auge behalten. Er ist ein übler Bursche – eiskalt und gerissen dazu. Wir werden noch von ihm hören.«

»Mag sein. Aber in den nächsten vier Jahren wird er nichts anstellen können.«

»Wie benimmt er sich? Hat er sich eingelebt?«

»Ein Mustergefangener. Er hält sich von den anderen fern und will nur wenig mit ihnen zu tun haben.«

»Das klingt zu schön, um wahr zu sein!«

»Was sollen wir tun?«

»Das weiß ich auch nicht. Aber ich bin hergekommen, um mir anzusehen, wie er sich verhält, und ich habe das starke Gefühl, dass Sie ihn beobachten müssen. Von wem war der Brief?«

»Von einer Frau namens Maureen Lesley. Je von ihr gehört?«

Inspektor Bartram schüttelte den Kopf. »Muss eine neue sein – er hat so viele Frauen wie Salomon gehabt. Was schreibt sie denn?«

»Nichts Besonderes. Die übliche Sorte Brief, den man von jemand erwartet, der ihn gernhat. Sagt, sie macht sich Sorgen um seine Gesundheit, und hofft, dass er auf sich aufpasst.«

Der Gefängnisdirektor zuckte mit den Schultern. »Komisch, nicht wahr? Egal, wie schlecht ein Mann auch in den Augen der Welt erscheinen mag, da gibt es immer eine Frau, die sich Sorgen um ihn macht.«

Bartram sagte: »Es heißt, Frauen und Hunde haben keine moralischen Prinzipien und beurteilen einen Mann instinktiv. Ich werde es eines Tages beweisen müssen und mir einen netten stubenreinen Hund beschaffen.«

Grinsend fragte der Direktor: »Warum versuchen Sie es nicht mal mit einer netten stubenreinen Frau?«

»Mit fünfzig?« Der Inspektor war leicht amüsiert. »Bis jetzt bin ich der Gefahr entronnen, und es ist ein bisschen spät, mich jetzt noch lächerlich zu machen.«

Er stand auf und schüttelte dem Direktor die Hand. Als er seinen Mantel zuknöpfte, sagte er: »Eine ganz schön kalte Fahrt in die Stadt zurück. So wie es aussieht, wird es vielleicht noch schneien.«

»Hoffentlich hat sich Ihre Reise gelohnt.«

»Oh, ich glaube doch. Hören Sie auf mich und passen Sie besonders gut auf Millward auf. Er verhält sich zu friedlich. Ich habe das Gefühl, er hat etwas vor. Die Hoffnung auf Freiheit und auf einen Anteil an einem Paket gestohlener Juwelen ermutigen einen Mann dieser Sorte nicht, ruhig zu bleiben.«

Der Gefängnisdirektor sagte: »Seien Sie unbesorgt, wir werden ihn schon überwachen. Kommen Sie gut nach Hause.«

Er sah Bartram und seinem Begleiter nach, bis sie das Ende des Korridors erreicht hatten. Dann schloss er die Tür und ging langsam zum Fenster hinüber.

Von hier aus konnte er den Hauptblock des Gefängnisses sehen – endlose Reihen von winzigen vergitterten Fenstern in einer Wand aus grauem Stein, die bis zum Himmel zu reichen schien. Eine dieser Zellen hielt einen Mann namens Terence Alexander Millward gefangen. Plante er wirklich auszubrechen? Und wie würde er es anstellen?

Der Direktor schüttelte sich und ging zu seinem Schreibtisch zurück. Es hatten schon andere Leute versucht, aus Dartmoor auszubrechen; nur wenigen war es trotz ausgeklügelter Pläne gelungen. Die wirklich entkamen, wurden fast immer, früher oder später, zurückgebracht. Die alten Hasen sagten, es sei besser, in dem grauen, finsteren Gefängnis zu sitzen, als sich draußen auf dem öden Moor zu verstecken, als Flüchtling ohne Nahrung und Schutz jedem Menschen ausgeliefert.

Millward bewegten ähnliche Gedanken, als er auf der Bettkante in seiner Zelle saß und den Brief noch mal durchlas. Er sagte ihm nicht viel. Aber was er ihm sagte, genügte, zum ersten Mal seit Monaten einen Hoffnungsschimmer in ihm aufleuchten zu lassen.

 

Lieber Terry,

hoffentlich bist Du mir nicht böse, weil ich nicht früher geschrieben habe. Ich hatte alle Hände voll zu tun, hier fortzuziehen, und da alles klappt, werde ich wahrscheinlich in meiner neuen Bude sein, bevor der Winter beginnt.

Mach Dir wegen dem Geld keine Sorgen. Ich verdiene gut, und' was Du mir überlassen hast, habe ich kaum angerührt.

Bitte, pass schön auf Dich auf. Mir hat jemand gesagt, dass es sehr feucht und kalt bei Dir ist und dass ihr viel Nebel habt. Ich nehme nicht an, dass ihr ordentliche Unterwäsche kriegt, und so schicke ich Dir so bald wie möglich etwas Warmes. Vielleicht bringe ich es schon mit, wenn ich Dich besuchen komme. In jedem Fall hast Du es, bevor das schlechte Wetter anfängt. Ich fände es grässlich, wenn Du nicht ordentlich angezogen wärst, wenn der erste Nebel kommt.

Falls Du Dir Sorgen machst, dass ich ganz allein von London anreise, will ich Dir nur sagen, ich habe arrangiert, mit dem Auto zu kommen. Der Fahrer sagt, er wartet eine Stunde lang, da haben wir doch genügend Zeit für uns.

Mach Dir keine Sorgen um mich, mir geht’s gut. Benimm Dich anständig und tu, was man Dir sagt. Du musst Dir genügend Bewegung verschaffen, und sie werden Dir zum Beispiel nicht erlauben, draußen zu arbeiten, wenn Du Dich nicht ordentlich aufführst.

Und das ist eigentlich alles. Es kommt Dir vielleicht lang vor, bis Du wieder frei bist, aber es wird Dir nicht so lang erscheinen, wenn Du die Dinge richtig betrachtest. Lass Dich nicht unterkriegen, und Du wirst sehen, so lang ist es eigentlich gar nicht.

Wir gehen vielleicht ins Ausland und fangen noch mal von vorn an, wenn Du wieder draußen bist. Sag mir, wie Du darüber denkst, wenn ich Dich besuchen komme.

 

In Liebe,

 

Maureen

 

Der Absender auf der Rückseite des Umschlags lautete: Miss Maureen Lesley, Y.W.C.A., Swan Street, Clapham, London, S. W. 4. 

 

 

 

 

  Drittes Kapitel

 

 

Der kleine Arbeitstrupp hatte noch fast eine Meile zu laufen, als der Nebel hereinbrach. Schon den ganzen Nachmittag kämpfte die Sonne einen aussichtslosen Kampf gegen die Kälte, die seit den letzten drei Tagen das Land in Besitz genommen hatte. Jetzt war sogar die schwache Wärme der Sonne verschwunden: Das verwelkte Gras wurde durch den Frost immer steifer; der Atem der Männer hing in einer weißen Wolke um ihre Köpfe.

Der Nebel brach herein, feucht und stickig. Einen Augenblick noch zeichnete sich die Gruppe dahinstapfender Figuren gegen den Himmel ab. Im nächsten verschwand alles, was mehr als zwanzig Meter entfernt war.

Millward konnte die heiseren Rufe der Wärter hören. Ein Uniformierter mit seinem Stock in der Armbeuge tauchte auf. »Los, vorwärts, und bleibt in einer Reihe. Schneller! Oder wollt ihr die Nacht im Moor verbringen?«

Ein alter Sträfling mit einem Narbengesicht murmelte, während er weiterstolperte: »Wenn ich zwanzig Jahre jünger wäre, würde ich dem Schwein schon zeigen, wo ich die Nacht verbringen würde.«

Vom Ende der Reihe rief jemand: »Hört auf zu quatschen und bewegt euch!«

Ein anderer Wärter tauchte im Nebel auf; die Nässe tropfte von der Spitze seiner Kapuze. Seine Augen waren unruhig, und er fluchte, als er über einen Wulst auf dem Weg stolperte. Jeder war gereizt. Der feuchte Nebel schien elementare Gefühle befreit zu haben, die dicht unter der Oberfläche lauerten.

Die unregelmäßige Reihe der Männer mühte sich vorwärts, stolpernd und fluchend. Dann glitt der alte Häftling neben Millward aus und fiel auf die Knie.

Als er stürzte, schlug ein Ast sein Gesicht blutig. Er schrie: »Verfluchte Schweinerei, ich bin blind!«

Sein Schrei brachte einen der Wärter zum Laufen. »Helft dem Mann auf und geht weiter!«

Millward drehte sich wütend zu ihm um und sagte: »Hilf ihm doch selber auf! Ich bin doch kein Kindermädchen!«

Für einen Augenblick verschwanden die Männer an der Spitze im Nebel. Die hinter ihnen bildeten eine mürrische Gruppe und redeten untereinander. Der alte Häftling stöhnte, er hätte seinen Knöchel verstaucht.

Dann kam noch ein Wärter keuchend angerannt. »Was ist hier los? Warum geht’s nicht weiter?«

Ein Dutzend Stimmen redete auf ihn ein. Der alte Mann rieb immer noch seinen Knöchel und stöhnte. Entfernte Rufe zeigten, dass die Spitze der Gruppe sich langsam beunruhigte.

Die Wärter berieten einen Augenblick, und dann befahl einer von ihnen: »Zwei von euch helfen ihm hoch und stützen ihn. Passt jetzt besser auf. Der verfluchte Nebel wird schlimmer.«

Der letzte Rest Tageslicht war verschwunden. Ringsherum lag eine zähe, feuchte Decke, die mit jedem Augenblick dicker wurde. Die Sichtweite reichte nur noch zwei bis drei Meter. Nebeltropfen klebten an Haar und Kleidung, und die Kälte griff nach ihren Kehlen.

Sie stampften mit den Füßen und fröstelten. Niemand machte irgendeinen Versuch, dem hingefallenen Mann aufzuhelfen.

Der Wärter schwang seinen Stock. Er zeigte mit einer Bewegung seines Kopfes auf Millward und den Mann neben ihm.

»Du und du, helft ihm auf und beeilt euch... wenn ihr keine Vergünstigungen verlieren wollt.«

Als Millward zögerte, zog der alte Häftling an seinem Hosenbein und jammerte: »Hilf mir hoch, Kumpel, ich frier mich zu Tode.« Die zerrenden Finger drängten.

Millward brummte: »Schon gut, reg dich nicht auf.«

Die beiden Männer fassten den alten Mann unter den Achseln und stellten ihn auf die Füße. Er legte seine Arme um ihre Schultern und ließ sein verletztes Bein hängen. »Ich kann nicht auftreten. Es tut höllisch weh.«

Der zweite Wärter sagte: »Es wird schon gehen.« Er deutete mit seinem Stock auf die anderen: »In Reih und Glied und keine Mätzchen. Bleibt dicht zusammen.«

Sein Kollege ging vor, eine verschwommene Figur in der Dunkelheit. »Okay, nun mal los.«

Sie stolperten weiter; der alte Häftling seufzte und stöhnte jedes Mal, wenn sein verletztes Bein den Boden berührte. Sie kamen nur langsam vorwärts. Der übrige Teil der Männer war schon weitergegangen. Die kleine Gruppe war abgeschnitten und allein in dem dichten Nebel.

Im Schutz des Geräusches der stolpernden Schritte flüsterte der alte Häftling mit seinem Mund nahe an Millwards Ohr: »Das ganze Getue um meinen Knöchel war nur Theater. Ich wollte dir Gelegenheit geben abzuhauen. Wo nur noch zwei von den Kerlen da sind, müsste es gehen. Da wartet jemand auf dich, nicht wahr? Ich hab’ gesehen, wie du dauernd gehorcht hast, seit der Nebel kam.«

Millward warf einen schnellen Blick über seine Schulter und sagte: »Ich weiß nicht. Er müsste da sein, aber ich kann es nicht genau sagen. Wo ist die Straße?«

Der Atem des alten Mannes strich warm über sein Gesicht. »Ungefähr zweihundert Meter rechts. Wenn du losrennst, halt dich immer links, oder du läufst im Kreis und erreichst sie nie. Was für ein Zeichen wollen sie dir denn geben?«

»Keine Ahnung. Ich bin noch nicht mal sicher, ob sie heute kommen. Die Nachricht erwähnte nur den ersten Nebel, und das ist er. Nichts Genaues... und so weiß ich nicht, was ich davon halten soll. Wenn sie nicht bald kommen, versuche ich es auf eigene Faust.«

»Du wärst verdammt blöd, wenn du’s tätest«, flüsterte der alte Mann. »Was glaubst du denn, wie weit du in dieser Gegend kämst? Vor Kälte und Hunger wärst du froh, dich dem ersten besten auszuliefern, dem du in die Arme liefst.« Er grinste Millward an und klopfte ihm auf die Schulter. »Hör auf mich, Kumpel; du landest nur in der Patsche, wenn du drauflosrennst. Immer mit der Ruhe. Es kommen noch andere Tage und noch mehr Nebel. Wenn du noch lange hier bist...«, er räusperte sich und spuckte auf den Boden, »kriegst du den Bauch voll Blut. Schleimiges Zeug. Man verrottet hier richtig.«

Millward hörte ihm nicht mehr zu. Er hatte etwas gehört, das in ihm eine plötzliche Erregung auslöste, und er strengte seine Augen an, um zu sehen, woher es kam.

Es klang wie das Flöten einer Amsel – oder wie eine sehr gute Nachahmung. Und das hieß, Doc Moore musste ganz in der Nähe sein. Nur er konnte so pfeifen. Doc war da draußen in dem wallenden Nebel. Doc war zu ihm gekommen.

Er hatte nur noch einen Gedanken, schüttelte sich von dem alten Mann los und begann zu laufen. Hinter ihm rief jemand: »Wer pfeift da?« Dann erhob sich ein Stimmengewirr, das schnell wieder erstarb. Danach hörte er nichts außer dem Gesang der Amsel.

Blind rannte er weiter und hielt die Arme vor das Gesicht. Das verwachsene Gras zerrte an seinen Füßen, und ein Dornbusch riss ein Loch in seine Jacke. Er war zu allem entschlossen und ohne Furcht. Nichts war jetzt wichtig, außer dass die Freiheit nicht weit war.

Dann ergriff ihn eine plötzliche Panik. Das Pfeifen hatte aufgehört. Ohne diesen Ruf seines Helfers wäre er hoffnungslos verloren. Womöglich lief er schon jetzt im Kreis herum...

Der Gedanke war quälend. Millward riss sich zusammen und versuchte ein Loch in dem Nebel zu finden.

Die Straße musste ganz nahe sein. Er schien schon sehr lange zu laufen. Alles, was er sehen konnte, war ein zerzauster Busch und frostgerändertes Gras.

Die Kälte war heftig, und der Nebel legte sich schmerzhaft auf seine Brust. Er fragte sich, ob er wirklich den Gesang der Amsel gehört hatte. Vielleicht hatte ihm der Nebel einen Streich gespielt. Vielleicht hatte er sich alles nur eingebildet.

Er hockte sich hin und legte seinen Kopf in die Hände, während er wieder zu Atem zu kommen suchte. Dann hörte er das Pfeifen wieder und immer wieder, bis es aus allen Richtungen zu kommen schien. Es war doch wirklich – so wirklich wie der Nebel und das gefrorene Gras und das Geräusch seines Atems.

Er atmete tief ein und pfiff zurück. Für einen Augenblick war es still, und dann rief eine Stimme: »Terry, bist du’s?«

Es war Docs Stimme. Alles war in Ordnung. Doc wartete auf ihn irgendwo in der Nähe.

Ein leichter Wind berührte ihn, und der Nebel wich zurück und wurde so dünn, dass er den Schein von Lichtern gegen die dunkle Masse eines Fahrzeugs sehen konnte. Davor stand ein Mann, der den gelben Strahl einer Taschenlampe umherschwenkte.

Als Millward voller Freude wieder losrannte, hörte er plötzlich Geschrei hinter sich. Er drehte sich ruckartig um und merkte, dass der Wind eine Lücke durch den Nebel gefegt hatte; er sah die Gruppe der Häftlinge unter der Aufsicht eines Wärters. Der andere Wärter raste auf ihn zu und rief: »Bleiben Sie stehen, wo Sie sind, und machen Sie keine Dummheiten. Sie können nicht entkommen.«

Millward blieb nur ein Augenblick, um sich zu entscheiden. Der Wind hatte sich gelegt, und Nebelschwaden schlossen die Lücke wieder. Die Lichter vor ihm waren verschwunden. Die Gestalt des laufenden Wärters war fast verwischt.

Keine Zeit, bis zur Straße zu kommen, dachte Millward, aber ich gehe nicht zurück. Ein lausiger Wärter kann mich jetzt nicht mehr zurückhalten.