9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €
Kommissar Steiger wird mit verschiedenen Vermisstenfällen konfrontiert: Nachdem eine Einbrecherbande auf frischer Tat überrascht wird und fliehen kann, verschwindet einer der Täter spurlos. Zur selben Zeit bekommt Steiger einen mysteriösen Hinweis. Das Kind eines Mafia-Clans wurde entführt, aber die Großfamilie will die Angelegenheit wie üblich ohne Einmischung regeln. Und auch das Leben der geheimen Informantin ist in großer Gefahr, sollte sie entdeckt werden. Parallel ermittelt Steigers Kollegin Jana in einem weiteren Fall von Menschenraub: Die Ehefrau eines reichen Unternehmers wurde entführt. Drei vermisste Menschen – und nicht alle werden lebend zu ihren Familien zurückkehren ...
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 446
Veröffentlichungsjahr: 2019
Buch
Kommissar Steiger wird mit verschiedenen Vermisstenfällen konfrontiert: Nachdem eine Einbrecherbande auf frischer Tat überrascht wird und fliehen kann, verschwindet einer der Täter spurlos. Zur selben Zeit bekommt Steiger einen mysteriösen Hinweis. Das Kind eines Mafia-Clans wurde entführt, aber die Großfamilie will die Angelegenheit wie üblich ohne Einmischung regeln. Und auch das Leben der geheimen Informantin ist in großer Gefahr, sollte sie entdeckt werden. Parallel ermittelt Steigers Kollegin Jana in einem weiteren Fall von Menschenraub: Die Ehefrau eines reichen Unternehmers wurde gekidnappt. Drei vermisste Menschen – und nicht alle werden lebend zu ihren Familien zurückkehren …Weitere Informationen zu Norbert Horst sowie zu lieferbaren Titeln des Autors finden Sie am Ende des Buches.
Norbert Horst
––––––––––––––––––———————
Bitterer Zorn
Kriminalroman
Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen. Dieses Buch ist auch als E-Book erhältlich.
Originalausgabe Oktober 2019
Copyright © 2019 by Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH.
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen.
Gestaltung des Umschlags: UNO Werbeagentur München
Umschlagfoto: FinePic®, München
Redaktion: Gerhard Seidl
BH · Herstellung: kw
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN: 978-3-641-24404-0V001
www.goldmann-verlag.deBesuchen Sie den Goldmann Verlag im Netz
Ich widme dieses Buch meinen Freundinnen und Freunden der Bünder Schreibwerkstatt mit großem Dank und in tiefer Verbundenheit.»Nur Mut!«
Montag, Oktober 2018
Kein Licht.
Er schleuderte einen zweiten kurzen Ast auf die Terrasse, aber auch jetzt blieb dort alles so dunkel wie im Rest des Hauses. Soweit die Dunkelheit es zuließ, war auch keine Kamera zu entdecken.
»Los«, sagte er über die Schulter zu Sorin und ging vor, mied dabei die freie Fläche des Rasens und lief gebückt an den Sträuchern entlang.
Kunststoff einfach, wahrscheinlich simple Mechanik und keine Sicherungen, das erkannte er sofort in dem kleinen weißen Lichtkreis der LED-Lampe. Er setzte den breiten Schraubendreher in Schlosshöhe an, hebelte ein-, zweimal, dann hörte er dieses kleine, aber satte Geräusch, wenn ein metallener Schließzapfen mit Druck über den Rand seiner Führung glitt.
In den engen Arbeitshandschuhen fühlte er den Schweiß seiner Hände.
Noch einmal setzte er weiter oben an, und mit demselben Geräusch sprang die Terrassentür auf.
Beide warteten einige Sekunden, und das war der Moment, in dem auch nach all der Zeit, nach all denselben Situationen in jedem Teil seines Körpers ein eigenes Herz zu schlagen schien.
Wie damals im Wald bei seinem Dorf in den Ausläufern der Karpaten, die riesige Buche, deren Stamm so mächtig und glatt war, dass man ihre Krone nur erreichen konnte, wenn man von einem kleineren Ahorn daneben in acht Metern Höhe über einen Ast balancierte, der wie ein einzelnes abstehendes Haar gewachsen war und bei dem es keine Möglichkeit gab, sich festzuhalten. Einen Sommer lang hatte er vor diesem schwankenden Weg über den Abgrund gestanden und war den Ahorn wieder hinabgestiegen, und in seiner Erinnerung war es das erste Mal gewesen, dass er dieses berauschende Zittern in sich gespürt, es ihn völlig ausgefüllt hatte.
Sie warteten ein paar Sekunden, und als nichts geschah, betraten sie das übliche Zimmer, das man durch eine Terrassentür betrat. Sitzecke mit Couch, großer Fernseher, Schrankwand mit Schubladen. Dort zuerst.
Der akustische Alarm traf sie wie ein Stromschlag, und nach einem Moment der Starre rannten sie so schnell Richtung Terrassentür, dass irgendetwas scheppernd umfiel. Draußen stolperte Sorin in der Dunkelheit über einen Gartenstuhl, rappelte sich hastig wieder auf, er überholte ihn, rannte nach rechts über den Rasen, und als er durch die Büsche Lichter auf der Straße sah, bog er wieder nach links ab. Ein Drahtzaun zum Nachbargrundstück war kein Hindernis, auch der zum nächsten Garten nicht. Zweige schlugen ihm ins Gesicht, die er bei der Dunkelheit und dem Tempo nicht sah, und in einem der nächsten Gärten schlug ein Hund an und schien ihn ein Stück zu verfolgen. Er rannte weiter. Eine Bretterwand kostete etwas mehr Mühe, und irgendetwas Spitzes auf der oberen Kante riss seine Hose und die Haut an seinem Oberschenkel auf. Trotz des Schmerzes lief er, so schnell er konnte, weil erste Martinshörner zu hören waren, umkurvte irgendwann einen Gartenteich, den er fast zu spät bemerkte, und musste im nächsten Dickicht erst nach einer Lücke suchen.
Das Blaulicht sah er trotz der Dunkelheit im letzten Moment, bevor er wieder auf die Straße getreten wäre, weil der Streifenwagen mit hoher Geschwindigkeit fuhr. Er hielt es für eine gute Idee, noch in den Büschen zu bleiben und in die entgegengesetzte Richtung zu gehen, obwohl er nicht wusste, wo er war. Ein Mann mit Hund auf dem Gehweg rief etwas und leuchtete mit einer Taschenlampe in seine Richtung durch die Zweige, ging aber nach einer Weile weiter, als er sich nicht rührte und der Hund still blieb.
Auf der gegenüberliegenden Seite sah er irgendwann einen kleinen Park, überquerte eilig die Straße, folgte einem schmalen Weg, der ins Dunkel führte. Die Martinshörner waren jetzt so weit entfernt, dass er sich hinter einem mächtigen Stamm auf den Boden setzte und Atem holte. Der Riss in seinem Bein war tiefer als gedacht, und als er sich in der Panik der Flucht angefühlt hatte. Der Stoff der Hose war blutdurchtränkt, er fand in einer Tasche nur ein altes Papiertaschentuch, das er auf die Wunde drückte.
Sorin war nicht da, das wurde ihm erst jetzt wirklich bewusst, und er hatte keine Ahnung, wo sie sich verloren hatten.
Irgendwann war er über den Ast gegangen damals, und neben der Anerkennung der Jungs und dem Gefühl, jetzt ganz dazuzugehören, war noch dieser heiße, unvergleichliche Kitzel des Triumphs da gewesen.
An einem Tag, es war schon Herbst und etwas windig, hatte Nicolae, der jüngste von ihnen, das Gleichgewicht verloren, und weil er noch versucht hatte, den Ast zu greifen, war er in eine Rotation geraten und so aufgeschlagen, dass auch der federnde Waldboden und das weiche Laub dieses Geräusch nicht verhinderten, als zerbräche jemand überm Knie einen trockenen Ast.
Er nahm das Handy und wählte aus dem Gedächtnis Sorins Nummer. Der Ruf ging raus, aber der Freund nahm nicht ab. Er versuchte es ein zweites Mal ein paar Minuten später – mit demselben Ergebnis.
Dann wählte er, ebenfalls aus dem Gedächtnis, Ions Nummer.
»Ja.«
»Dumitru hier. Es ist etwas schiefgegangen.«
»Ich hab’s geahnt. Hab das Gedudel gehört. Wo seid ihr?«
»Ich weiß es nicht. Und ich bin allein.«
»Wie allein?«
»Sorin ist nicht da. Wir mussten abhauen, und er geht nicht ans Handy.«
»Ihr solltet verdammt noch mal aufpassen, Scheiße. Haben sie ihn?«
»Ich weiß es nicht. Ich glaub nicht.«
»Wo bist du?«
»Keine Ahnung. Irgendwo in einem Park.«
»Wir warten noch eine Stunde ab. Dann treffen wir uns auf dem Parkplatz vom Baumarkt, du weißt schon, an der Autobahn, von der wir gekommen sind, den ich euch vorhin gezeigt habe.«
»Ich weiß nicht, wo ich bin.«
»Du machst das schon, kannst doch die Sprache einigermaßen. Ich warte. Pass aber auf und lass dich nicht erwischen.«
»Ich blute.«
»Du machst das schon.«
Ion drückte das Gespräch weg.
Er löschte die Nummer aus dem Speicher, steckte das Handy wieder in die Hosentasche und lehnte sich an den glatten Stamm, der zu einer Buche gehörte, wie er erst jetzt bemerkte.
Viele Wochen später, lange nach dem Moment, ohne Nicolae ins Dorf zurückzukehren, lange nach dem schreienden Weinen, nach der Verzweiflung, die allem ihren Sinn zu nehmen schien, lange nach der Beerdigung war Nicolaes Mutter ihm auf der Dorfstraße begegnet, war vor ihm stehen geblieben und hatte ihn lange angesehen.
»Warum hast du nicht auf ihn aufgepasst?«
Gesagt hatte sie diesen Satz nicht, damals nicht und auch danach nie.
Aber er hatte ihn ab da immer im Ohr gehabt.
Es waren keine Martinshörner mehr zu hören.
Im Rückspiegel waren nur ihre Augen zu sehen. Es waren die Augen ihres Großvaters, und Nour musste keine Sekunde überlegen, woran das lag.
Sie hatten dasselbe dunkle Braun, auch die geschwungene Linie der Wimpern war gleich, und beim Lachen verwandelten sie sich wie bei ihm in zwei Botschafter der Unbeschwertheit. Wenn sie aber gerade in diesem Moment darin so deutlich und klar den Blick ihres Vaters wiederfand, lag das an dem kleinen, ehrlichen Zorn, der in ihnen brannte.
Auch wenn Najim seit vielen Jahren tot war, erkannte Nour diese Eigenschaft sofort und mühelos, weil es bis zu seinem Tod genug Gelegenheiten in ihrem Leben gegeben hatte, in denen sie ihm begegnet war. Damals hatte dieser Zorn sie immer in Angst versetzt, sobald seine ersten Anzeichen aufzogen, meist große Angst, die oft berechtigt gewesen war. An diesem Morgen auf dem Rückweg von der Koranschule musste sie lächeln und sich bemühen, dass Huriye dieses Lächeln nicht bemerkte.
»Wir können ja schauen, ob wir andere bekommen. Vielleicht müssen es gar nicht diese sein.«
Im Rückspiegel zeigte sich in den kleinen dunklen Schlitzen keine Reaktion.
»Was hältst du davon.«
Ein kurzes Schnaufen war die Antwort.
Zwei rote Ampelphasen ließ sie ihrer Tochter Zeit, aber Huriye blieb stumm.
»Du willst mir nicht sagen, was du davon hältst?«
Wieder kein Wort.
Ein paar Momente forderte der Verkehr auf der Münsterstraße Nours Aufmerksamkeit, weil ein röhrender schwarzer Daimler Slalom fuhr und sie schnitt, dann bot ihr der Blick nach hinten dasselbe Bild.
»Andere Mütter sind viel netter zu ihren Kindern.«
»So, sind sie das?«
»Ja, Leylas Mutter hat ihr auch solche gekauft. Die ist viel, viel lieber als du.«
Auch wenn sie der kindlichen Enttäuschung einiges zugutehalten konnte, traf sie dieser Satz mehr, als sie es wollte.
»Mütter sind anders zu ihren Kindern, wenn sie sie lieb haben.«
»Du meinst, sie erfüllen ihnen alle Wünsche?«
»Jedenfalls manchmal.« Huriye machte eine kleine Pause. »Und wenn sie sich etwas sehr wünschen.«
»Ich weiß, dass du es dir sehr wünschst.«
»Nein, weißt du nicht. Weil du mich gar nicht lieb hast.«
Für einen Moment war Nour nicht imstande, etwas zu sagen, so sehr berührte sie die Fähigkeit einer Siebenjährigen, sie zu verletzen, und die Bereitschaft, diese Fähigkeit zu nutzen.
Der Verkehr stockte, und sie musste den Wagen abbremsen, bis er stand. Weiter vorn hörte sie Fahrzeuge hupen.
»Und irgendwann gehe ich auch fort.«
Jetzt blickte Nour über die Schulter.
Huriye hatte die Arme vor der Brust verschränkt und ignorierte, dass ihre Mutter sich ihr zuwandte.
»Du gehst fort?«
Ihre Tochter sah weiter aus dem Seitenfenster.
»Wohin willst du denn, wenn du fortgehst?«
»Weiß ich nicht, weg.«
Vor ihnen war immer noch hin und wieder Hupen zu hören, und in der Ferne ertönte ein Martinshorn, das schnell lauter wurde. Nour sah zuerst im Rückspiegel, wie der Streifenwagen auf dem Bürgersteig näher kam und dann an ihnen vorbeirollte. Kurze Zeit danach erstarb der Alarmton.
»Kleine Kinder können aber nicht einfach weggehen. Wenn die Polizei oder andere Menschen sie finden, bringt man sie wieder zurück zu den Eltern.«
»Ich bin aber kein kleines Kind mehr.«
Jetzt sah Huriye sie für einen Moment an und beugte sich so weit nach vorn, wie der Sicherheitsgurt es zuließ.
Langsam rollte der Verkehr wieder an, und Nour sah nach einer Weile im Vorbeigleiten, wie zwei Streifenwagen den schwarzen Mercedes eingekeilt hatten, zwei arabisch aussehende junge Männer aggressiv gestikulierend mit den Polizisten stritten und ein dritter mit dem Handy telefonierte. Einen der Männer hatte sie schon einmal mit ihrem Mann gesehen, kannte aber seinen Namen nicht. Sie versuchte, im Spiegel die Szene weiter zu verfolgen, was nicht gelang.
»Und mich findet keiner.«
»So, dich findet keiner.«
»Nein.«
»Wo willst du denn schlafen? Was willst du essen, wenn du fortgehst?«
Wieder schwieg Huriye, jetzt aber offensichtlich, weil sie mit der Antwort beschäftigt war.
»Ich finde schon was.«
»Ja? Was denn? Los, sag es! Was willst du essen, wo willst du schlafen? Willst du dich irgendwo draußen auf eine Bank legen?«
»Ich finde schon was!« Wieder lauter und mit kurzem Blickkontakt.
»Ach, Mäuschen, du wirst schon bald dein warmes, schönes Bett vermissen, da bin ich sicher. Und Mamas Kuchen.« Jetzt konnte Nour nicht verhindern, dass ihre Tochter das Lächeln wahrnahm.
»Du lachst mich aus.«
»Ich lache dich nicht aus.«
»Doch, du lachst über mich, weil du mir nicht glaubst. Aber du wirst es schon sehen. Und dann bist du traurig, weil ich weg bin.«
Wieder konnte Nour das Lächeln nicht vermeiden, auch wenn sie wusste, dass Huriye es sah.
»Alte Hure.«
Diese Worte kamen ganz leise, fast unsicher, und Nour war klar, dass das Kind nicht ihre wahre Bedeutung kannte, sie aufgeschnappt hatte, vielleicht in einer Situation, in der sie genau diesen Sinn hatten, zu verletzen oder zu provozieren, aber sie spürte, wie etwas in ihr anschwoll, das dieses Verständnis wegspülte.
»Ich will nicht, dass du so mit mir sprichst.«
»Bist du aber, eine Hure, weil du über mich lachst.«
Nour lenkte den Wagen in die nächste Parkbucht, hielt an und drehte sich nach hinten.
»Ich will nicht, dass du so mit mir sprichst!«
»Und immer schreist du.«
»Ich schreie nicht.«
»Doch, du schreist.«
»Nein, ich schreie nicht.«
Der Satz hatte ihren Mund kaum verlassen, als ihr klar wurde, dass sie doch geschrien hatte.
»Das sagt man nicht zu seiner Mutter, hast du mich verstanden? Das sagt man zu niemandem. Du entschuldigst dich sofort dafür!«
Auch das kam viel lauter, als sie es wollte.
»Entschuldige du dich doch.«
»Du entschuldigst dich sofort!«
»Tue ich nicht. Dann bist du eben keine Hure, dann bist du blöd.«
»Nein, ich bin auch nicht blöd. Du entschuldigst dich dafür, sofort. Sonst …«
Huriye beugte sich wieder nach vorn, und für einen kurzen Moment hatte Nour den Gedanken, dass Zorn selbst einem wunderschönen Kindergesicht etwas Bedrohliches verlieh.
»… sonst gehst du zu Fuß nach Hause.«
»Gut, dann gehe ich eben.«
Huriye löste den Sicherheitsgurt und öffnete die Tür.
»Jetzt ist Schluss. Hör mit diesem Blödsinn auf. Du entschuldigst dich sofort.«
»Ich entschuldige mich nicht. Du entschuldigst dich ja auch nicht.«
Ein paar Atemzüge lang sahen sie sich an, ohne dass ein Wort fiel.
»Gut, dann steig aus.«
Sekunden vergingen, dann stieg Huriye aus und schlug die Wagentür heftig zu. Ohne sich umzusehen, ging sie mit schnellen, kleinen Schritten die zwanzig Meter bis zur nächsten Hausecke und verschwand dahinter.
Schon als sie den Satz sagte, wusste Nour, dass er ein Fehler war, dass sie solch ein Spiel nicht durchhalten würde, noch nie in ihrem Leben hatte sie das gekonnt. Trotzdem hielt sie etwas für ein paar Augenblicke zurück, ihrem Kind zu folgen. Sie kannte ihre Tochter und wusste, dass sie nicht nur den Zorn ihres Großvaters geerbt hatte, sondern auch dessen Willen, solches bis zum Ende auszufechten. Dennoch hatte sie die leise Hoffnung, dass die kleine Gestalt gleich wieder auftauchen würde, dass zumindest ihr Kopf erschiene, um nachzusehen, wo sie bliebe. Aber nichts geschah. Mit einer ersten Welle von Furcht öffnete sie hektisch die Wagentür, hörte zuerst den Schrei und nahm dann den Stoß an der Schulter wahr. Der Radfahrer schlingerte, versuchte, einen Sturz zu vermeiden, und kippte dann doch um.
»Äy, geht’s noch? Wie sieht’s denn mal mit Aufpassen aus?«
»Tut mir leid, ich …«
Nour sah den jungen Mann an, der auf dem Asphalt saß, mit einer behänden Bewegung aufstand und sein Rad aufhob.
»Tut mir furchtbar leid. Ist Ihnen was passiert?«
Der Radfahrer untersuchte seine Hose und sah auch bei seinem Rad nach dem Rechten.
»Tut mir leid, ich wollte … meine kleine Tochter ist … also, sie ist ausgestiegen.«
Erst jetzt blickte Nour wieder zur Hausecke, aber von Huriye war nichts zu sehen.
Der Gestürzte betastete den Lenker und ein paar andere Stellen an seinem Rad.
»Scheint alles in Ordnung zu sein.« Er sagte es wieder leiser und nur noch mit Resten eines Vorwurfs.
»Ich muss grad …«, sie zeigte konfus Richtung Hausecke. »Ich muss grad nach meiner Tochter sehen. Wenn Ihnen was passiert ist, dann … warten Sie einen Moment, geht das?«
Als er keine Reaktion zeigte, die dagegensprach, und weiter das Rad befingerte, lief sie so schnell es ging zur Hausecke und hoffte mit leiser Panik, dass sie sofort die schmale Gestalt entdecken würde, dass Huriye sich vielleicht mit diesem kleinen Sieg begnügt hatte, doch ausgestiegen zu sein, und jetzt dort irgendwo wartete.
»Schon okay«, hörte sie den jungen Mann rufen und sah mit einem flüchtigen Blick zurück, dass er auf sein Rad stieg und losfuhr.
Als sie wenige Meter von der Ecke entfernt war, erschien ein alter Mann mit einem fetten, kleinen Hund, dem sie ausweichen musste, und dann endlich öffnete sich für sie der Blick in die Straße. Aber es war keine Huriye zu sehen.
Sie überquerte die Fahrbahn in der Hoffnung, dass die geparkten Autos auf der gegenüberliegenden Seite nur den Blick auf das Kind verhinderten, aber als sie auch diesen Bürgersteig entlangsehen konnte, war dort nur weiter hinten eine alte Frau, die steifbeinig ihren Rollator vor sich herschob.
Erst mit dem zweiten Blick sah sie am Ende der Straße für einen kurzen Moment die bunten Farben der Kleidung aufleuchten, die sie ihrer Tochter am Morgen zum Anziehen aufs Bett gelegt hatte. Dann schloss sich die Tür des schwarzen Geländewagens, von dem sie nur den hinteren Teil sah, und er fuhr eilig davon.
Nour rannte los, um das Kennzeichen zu sehen, aber als unvermeidbar wie ein Schwall Übelkeit eine Ahnung in ihr aufstieg, war es für einen Moment, als verlangsame sich alles um sie, und sie blieb stehen. Etwas in ihr wehrte sich gegen die Gedanken, die dieses Bild in ihr auslöste, aber es war zwecklos. Sie wusste, was das bedeutete.
Erst langsam, dann immer schneller rannte sie zurück zum Auto, kramte das Handy aus ihrer Tasche und hatte Mühe, mit der zitternden Hand die richtigen Buttons auf dem Display zu drücken.
»Ja?«
Die Stimme ihres Mannes ließ sie zurückkehren in die Wirklichkeit.
»Was ist?«
Keine Antwort.
»Hallo! Warum rufst du mich an?« Mit deutlichem Ärger.
Wieder ließ sie eine Zeit verstreichen, und sie wusste nicht, was schlimmer war, es zu sagen oder es zu hören.
»Huriye …«
Steiger hörte dreimal das Freizeichen.
»Ja, hallo …« Guttural, mit gewollter Verruchtheit, aber nicht zu dick.
»Der Werner ist hier, ist da die Monique?«
»Ja. Hallo, Werner, was kann ich für dich tun?«
»Ich hab deine Fotos im Internet gesehen, und, also … alle Achtung, sehr geil.«
»Danke.«
»Haben mich sehr angesprochen.«
»Wie schön.«
Jana auf dem Beifahrersitz verdrehte die Augen und schmunzelte. Auch wenn sie schon etliche dieser Kontaktaufnahmen mitgemacht und seinen Ton irgendwann »scharfer Handwerker sucht Entspannung am Nachmittag« genannt hatte, amüsierte sie etwas daran immer wieder, und Steiger wusste nicht, was es war.
»Hättest du mal Zeit für mich?«
»Natürlich. Wann?«
»Eigentlich könnte ich ganz spontan gleich bei dir sein. Ich müsste dafür nämlich meine Mittagspause nutzen, du verstehst schon …« Er lachte komplizenhaft.
Sie machte eine kleine Pause.
»Okay, da hast du Glück, es hat jemand abgesagt. Was heißt spontan?«
»Sagen wir in einer Viertelstunde. Ist das machbar für dich?«
»In einer Viertelstunde, das ist sehr spontan, aber okay.«
»Ganz wunderbar«, mit deutlicher Begeisterung. »Wo treffe ich dich?«
Sie nannte ihm die Adresse in Dortmund-Körne. Er kannte die Straße, und sie würden mindestens eine Viertelstunde brauchen.
»Du musst bei ›Büro 3‹ klingeln, dann zweiter Stock.«
Er verabschiedete sich, drückte das Gespräch weg und sah Jana an.
»Na, Werner, dann wollen wir mal was für dein Wohlergehen tun.«
Sie startete den Wagen und fuhr los.
Zwanzig Minuten später parkte sie am Straßenrand ein paar Häuser vor der Adresse. Sie hatten am Morgen routinemäßig die Prostitutionsportale im Internet durchforstet und sich die Adressen angesehen. Diese hatten sie bisher noch nicht in ihrer Liste. Sie lag nicht im Sperrgebiet, trotzdem konnte man mal nach dem Rechten sehen. Steiger wies mit dem Finger auf die Kamera, die unter dem Dachvorsprung auf den Eingang gerichtet war, Jana blieb zurück. Er brach sich einen Stock von einem Strauch ab, brachte ihn auf eine handliche Länge und ging zur Tür. Mindestens dreißig Sekunden, nachdem er »Büro 3« gedrückt hatte, sprang die Tür ohne weitere Nachfrage über die Anlage auf; der Stock verhinderte, dass sie wieder ins Schloss fiel.
In der zweiten Etage fiel ihm auf, nicht nach der Lage der Wohnung gefragt zu haben, als Monique ihm half, indem sie von allein öffnete. Etwas älter als auf den Fotos im Internet, dachte Steiger, aber mit scheinbar echter Sympathie und einer Leichtigkeit, die ihm in diesem Job immer ein Rätsel bleiben würde. Sie trug kurze blonde Haare, eine rote Korsage und die üblichen höllischen Pumps.
»Hallo.« Sie schloss die Tür hinter ihm.
Die Begrüßung war zurückhaltend und passte zu der leisen Distanz am Telefon. Im roten Licht einer Ballonlampe erkannte Steiger, dass vier weitere Türen vom Wohnungsflur abgingen.
»Wir haben noch gar nicht über den Preis gesprochen.«
»Kommt drauf an, was du möchtest. Extras kosten extra. Anal, SM, Natursekt und Ähnliches gehen nicht. Küssen nur bei Sympathie.«
Das reichte.
»Dann muss ich dich enttäuschen, Monique«, er zückte seinen Dienstausweis und öffnete die Tür, »Thomas Adam, ich bin kein Kunde, sondern von der Polizei, und das …«, Jana trat in den Flur, »… ist meine Kollegin Jana Goll.«
»Okay.« Nichts an ihrem Verhalten verriet, dass sie überrascht war. »Hatte ich länger nicht.«
»Ist sonst noch jemand in der Wohnung?«
»Ja, drei Mädchen, eine hat einen Kunden.«
»Sonst niemand?«
»Nein, sonst niemand.«
»Dann hol mal alle zusammen. Habt ihr einen Raum, den ihr gemeinsam …?«
»Die Küche.«
»Dann dort. Und alle sollen ihre Pässe und Anmeldungen mitbringen.«
Monique stieg von ihren Pumps herab, wechselte zu rosa Plüschpuschen mit Hundegesicht und wickelte sich in einen Bademantel.
»Und der Kunde?«
»Soll hinterher weitermachen«, sagte Steiger.
»Da kriegt Coitus interruptus doch eine ganz neue Bedeutung.« Jana mit hochgezogenen Augenbrauen. »Aber den Ausweis brauchen wir auch von ihm.«
Bevor sie ihre Kolleginnen holte, gab sie Steiger ihre Dokumente. Monique war in Kasachstan geboren, hatte einen deutschen Pass, und die Anmeldung als Prostituierte war gültig.
Von den anderen Frauen kamen zwei aus Bulgarien und eine aus Rumänien, deren Papiere auch in Ordnung waren. Eine der Bulgarinnen war neunzehn, und Jana verschwand mit ihr in einem der Räume. Bei den ganz jungen Ausländerinnen waren sie sich sicher, dass die ihr Geld an einen Beschützer abgeben mussten, und führten immer ein Gespräch unter vier Augen. Meistens brachte das nichts, aber einen Versuch starteten sie jedes Mal.
Der Zeuge blieb im Zimmer, und als Steiger zu ihm ging, überreichte er seinen Ausweis mit der Haltung und dem Gesicht eines Welpen, der auf den Teppich gepinkelt hatte. Der Mann war Mitte sechzig, trug ein Feinripp-Unterhemd und hatte vor Jahren mal jemanden betrogen, sagte der Kollege der Leitstelle, sonst war er sauber. Auch von den Frauen wurde keine gesucht, eine der Bulgarinnen war mal mit einem Ladendiebstahl aufgefallen.
Sie notierten sich noch Telefonnummer und Adresse des Vermieters für die eigenen Akten und fürs Ordnungsamt, dann war der Job erledigt.
Es hatte zu regnen begonnen. Jana fuhr los, und nach einiger Zeit suchte die Leitstelle einen Zivilwagen für einen Einsatz im Bereich Wellinghofen. Steiger meldete sich und bekam eine Adresse genannt.
»Hörte sich an wie ein älterer Mann. Der beobachtet einen jungen Burschen, der sich ziemlich auffällig verhält. Könnt ihr da mal vorbeischauen. Hat dort in letzter Zeit ein paar Einbrüche bei Dämmerung gegeben.«
Die Kollegin von der Leitstelle hatte richtig gehört, Georg Sieker war vierundsiebzig, hager, bewegte sich für sein Alter sehr geschmeidig, und sein Haus roch wie eine Tabakfabrik. Sein grauer Pudel sprang den beiden an den Beinen hoch und ignorierte Herrchens Anweisungen komplett.
»Gut, dass Sie kommen. Schnell, dann sehen wir ihn vielleicht noch.«
Er ging zügig durchs Wohnzimmer in einen Wintergarten vor, nahm ein riesiges Fernglas und lief fast in den Garten. Das Grundstück war mindestens doppelt so groß wie die anderen, mit zwei weiteren Schuppen im hinteren Bereich und dichtem Gebüsch ringsherum.
»Ja, da ist er noch, da hinten.«
An der Grenze zum Nachbargrundstück zeigte der Alte in eine Richtung und reichte Steiger das Fernglas.
»Er ist mir seit einer halben Stunde aufgefallen, als ich mit dem Hund raus war. Ging von der Straße in die Gärten von zwei Häusern, wo kein Licht brannte. Dachte erst, er würde irgendwelches Werbezeug verteilen, aber dann war er plötzlich wie vom Erdboden verschwunden. Bis er hier hinten bei mir wieder auftauchte.«
Das Fernglas hellte die schon deutliche Dämmerung ein wenig auf, und Steiger sah in einem Garten gegenüber einen Jugendlichen, der hinter Büschen Deckung suchte und dabei das Haus im Blick hatte. Er trug eine Jogginghose, Lederjacke und Turnschuhe. Steiger fiel auf, dass in dem Haus alles dunkel blieb, was den Jungen aber nicht veranlasste, sich dem Gebäude zu nähern. Nach einigen Momenten verließ er den Schutz des Strauchs und verschwand aus ihrem Blickfeld.
»Los, jetzt«, Jana ging vor, »das ist doch ein Klauer, da verwette ich wer weiß was drauf.«
Sie liefen so vorsichtig wie möglich in die Richtung, in die er verschwunden war.
»Stopp.« Jana blieb hinter einer Korkenzieherhasel stehen und hielt Steiger mit ausgestrecktem Arm zurück. »Da ist er.« Sie warf einen Blick auf den Alten, der langsam nachgekommen war. »Und Sie bleiben auf Ihrem Grundstück, verstanden!«
Wieder hielt der Junge sich im Schutz von Sträuchern oder Schuppen und sah sich nur um. Nach kurzer Zeit ging er weiter in den nächsten Garten, und Steiger und Jana hatten Mühe, unentdeckt dranzubleiben.
Dort hielt er sich nicht lange auf, weil im Haus Licht brannte und durchs Fenster Leute zu sehen waren, die um einen Tisch saßen. Danach verloren sie ihn für einen Moment aus den Augen. Steiger hatte das Fernglas mitgenommen, aber selbst das half nichts.
Auch wenn der Regen nicht schlimmer geworden war, spürte er, wie seine Jacke langsam den Widerstand aufgab. Mit einiger Mühe überstieg Steiger einen Zaun, und sie hatten ihn danach wieder im Blick. Dieses Mal war er mutiger und ging bis zur unbeleuchteten Veranda, drehte aber auch jetzt ab und schlich wieder Richtung Bäume, obwohl die Tür offensichtlich auf Kipp gestellt war, was einer Einladung gleichkam, wenn er ins Haus wollte.
»Was macht der?« Jana, ohne den Blick von ihm zu nehmen. »Vielleicht baldowert der nur was aus.«
»Kann sein«, sagte Steiger. »Sieht trotzdem eigenartig aus. Hätte hier locker einsteigen können. Komm, wir kaufen uns den. Aber allein wird das schwer, der haut uns hier garantiert ab.«
Er wählte die Nummer der Leitstelle und fragte nach, ob ein Fahrzeug Nähe In den Stammen war, und hatte Glück.
Vier Minuten später läutete der erste Streifenwagen durch, nach weiteren zwei Minuten der zweite, und sie meldeten sich per Handy, weil die Kripoleute wieder kein Funkgerät dabeihatten.
Steiger wusste nicht mehr, wo genau sie sich befanden, versuchte, die Gärten zu zählen, die sie schon durchquert hatten, und lotste die Kollegen auf gut Glück auf die andere Seite der Häuser.
Der Bursche hatte sein Tempo verlangsamt und war in einem Garten länger herumgestromert, ohne dass sie den Grund dafür erkannt hätten. Als im Haus das Licht eingeschaltet wurde, kam Steiger aus der Deckung, Jana dicht hinter ihm.
»Hallo, Polizei, stehen bleiben!«
Der Junge brauchte nur einen flüchtigen Blick auf die beiden, dann sprintete er los. In ihre Richtung konnte er nicht, und vielleicht verhinderte die Beleuchtung des Hauses, dass er dort den Weg auf die Straße suchte. Er rannte zum Nachbargrundstück, das ohne jede Abgrenzung erreichbar war, und verschwand hinter der Ecke eines Kinderhauses. Steiger erreichte dieselbe Ecke fünf Sekunden später und sah das Holzscheit zu spät, um den Treffer ganz zu vermeiden, konnte aber verhindern, dass er ihn voll im Gesicht erwischte. Das Holz rutschte über seinen Scheitel, und er hatte das Gefühl, skalpiert zu werden. Nach drei Strauchelschritten stürzte er und rutschte über den nassen Rasen wie ein Bundesligaspieler beim Torjubel. Er konnte noch sehen, wie der Junge danach zwischen Haus und Garage verschwand und Jana dicht hinter ihm war. Dann war nur noch Geschrei zu hören.
So schnell es ging, rappelte Steiger sich auf und folgte den beiden durch den kleinen Gang zwischen den Gebäuden. Der Kollege und die Kollegin in Uniform hatten den Jungen auf dem Boden fixiert, legten ihm die Acht an und stellten ihn dann auf die Beine.
Steiger trat ganz nah an ihn heran, sein Schädel schmerzte, und er fand das Gesicht des Jungen aus der Nähe noch jünger, als es mit dem Fernglas ausgesehen hatte.
»Wir sprechen uns noch«, sagte er nach einigen schweren Atemzügen.
Dann bedankte er sich bei den Kollegen, wartete, bis Jana den Wagen geholt hatte, und sie verfrachteten ihn auf den Rücksitz.
Im Spiegel auf der Toilette sah Steiger sich die Wunde an. Es hatte ihn einige Haare gekostet, grad vorn, wo eh nicht mehr das meiste war. Ansonsten fühlte es sich schlimmer an, als es aussah. Ein Pflaster würde reichen.
In den Räumen des Einsatztrupps saß das Milchgesicht etwas verdreht auf dem Stuhl. Sie hatten ihm nach der erkennungsdienstlichen Behandlung für Steigers Toilettengang die Acht wieder angelegt, obwohl Oliver Kuhlmann, der Neue im Team, noch da war und in seinem Büro bei offener Tür irgendetwas zu Ende schrieb. Aber sicher war sicher. Jetzt nahm Steiger ihm das Eisen wieder ab.
Bisher hatte der Junge geschwiegen. Sein Aussehen war südosteuropäisch, da war er sich sicher, denn seine Haut hatte dieses sandige helle Braun, das kein Solarium der Welt hinbekam.
»Also, du willst nicht mit uns reden?«, sagte Steiger und setzte sich so dicht vor ihm auf die Kante des Computertischs, dass sein Knie ihn berührte. »Uns auch nicht deinen Namen sagen?«
»Wahrscheinlich versteht er uns wirklich nicht«, sagte Jana und drehte ihm den Bildschirm hin, wo sie die Frage in einem Übersetzungsprogramm in Rumänisch formuliert hatte.
Er sah flüchtig und desinteressiert auf den Monitor, danach streifte sein Blick Steiger, und es waren darin Scheu, Unsicherheit, fast etwas Schuldbewusstsein, jedenfalls nichts, was man brauchte, um anderen ein Holzscheit über den Scheitel zu ziehen.
Aber er blieb stumm.
Jana zeigte ihm den Satz auch in Bulgarisch, die Reaktion blieb dieselbe.
»Okay, versuchen wir es morgen noch einmal, ist eh schon spät«, sagte Steiger. »Eine Nacht im Tempel der Besinnung hat noch keinem geschadet. Manche werden danach zu richtigen Labertaschen.«
Oliver Kuhlmann stand auf, sortierte das, was der Drucker ausspuckte, und blieb in der Tür stehen.
»Woher habt ihr das Bürschchen denn?«
»Hat in Wellinghofen in Gärten rumgespeckert«, sagte Jana, »aber ganz eigenartig.«
»Wie, eigenartig?«
»Irgendwie, als wenn er nicht genau wusste, was er wollte.«
»Kennen wir ihn?«
»Ne, hat natürlich nichts dabei«, sagte Steiger, »und seine Finger liegen auch nicht ein, jedenfalls ist er noch nicht erkennungsdienstlich behandelt worden. Bei den Tatortspuren müssen wir morgen abwarten, da wurde eben ein Update aufgespielt. Vielleicht haben wir da ja Glück. Wir lassen ihn mal ’ne Nacht bei uns schlafen.«
Kuhlmann schwieg einen Moment mit einem Gesicht, in dem Steiger ihm beim Denken zusehen konnte.
»War er doch irgendwo drin oder hat es versucht?«
Seit Kuhlmann den Einsatztrupp verstärkte, war es schon ein paarmal passiert, dass er Maßnahmen der Kollegen hinterfragte, und Steiger wusste nicht, was er davon halten sollte.
»Ne, eingestiegen ist er nicht«, Jana kam ihm zuvor, »aber er hat Steiger mit ’nem Holzscheit eins auf die Nuss gegeben. Eine gefährliche Körperverletzung haben wir also in jedem Fall.«
Kuhlmann hob den Kopf und nickte dann mit offenem Mund.
»So war’s nicht gemeint, ich dachte nur …«
»Schon gut«, sagte Steiger, »immer schön rechtmäßig bleiben«, und er hoffte, dass das Lächeln den kratzigen Teil der Botschaft ein wenig entschärfte.
Kuhlmann lächelte kratzig zurück und ging an seinen Schreibtisch.
Im Gewahrsam wischte einer der Kollegen, die Dienst hatten, eine Urinlache vor einer der Zelltüren auf. Steiger kannte Eberhard Gerstorff von der gemeinsamen Zeit auf dem Streifenwagen, die eine halbe Ewigkeit zurücklag. Bei einem Einsatz hatte er einen entflohenen Doppelmörder bis in eine alte Fabrik verfolgt, wo dieser mit gezogener Waffe auf ihn wartete. Hardy war schneller gewesen und hatte den Mann erschossen. Obwohl ihm damals niemand einen Vorwurf machen konnte oder gemacht hätte, nicht rechtlich und auch moralisch nicht, war danach einiges in seinem Innern durcheinandergeraten und der Dienst auf dem Streifenwagen für ihn nicht mehr möglich gewesen. Er hatte es noch ein-, zweimal versucht, dann war die Straße für ihn Vergangenheit.
Immer wenn er ihn sah, hatte Steiger auch die Bilder dieses Nachmittags vor Augen. Fast zwanzig Jahre musste das jetzt her sein, rechnete er nach, und seitdem schloss Eberhard hier in den Katakomben die Zellen auf und zu.
Als Gerstorff das Trio kommen sah, hielt er inne und stützte sich auf den Stiel des Feudels.
»Schon das zweite Mal heute Abend, dass er von innen gegen die Tür pisst, das Arschloch. Und immer gefühlt fünf Liter, muss ’ne Blase wie ein Elefant haben.«
»Stellt ihm doch das Wasser ab.«
»Hab ich schon, aber der scheint vorher ’ne Kiste Bier gesoffen zu haben, ist nämlich auch voll wie ’ne Natter. Aber machen wir erst mal euren Kunden.«
Er stellte den Wischer an die Wand und führte die anderen in den Aufnahmeraum.
Der Junge legte seinen Gürtel ab und vierunddreißig Euro, Feuerzeug und Kippen auf den Tisch, dann brachten sie ihn zu Zelle 14. Nach Aufforderung zog er seine Schuhe aus, Gerstorff schloss auf und ließ ihn hinein. Als die Tür sich hinter der schlanken Gestalt langsam schloss, blieb der Junge stehen, hielt sie mit der linken Hand einen Moment zurück und sah durch den verbliebenen Spalt Steiger an.
»Tut mir leid, der Kopf«, sagte er, wartete mit scheuem, ernstem Blick Steigers Reaktion ab, dann fiel die schwere Tür ins Schloss. Einen Moment hallte das Geräusch in dem gefliesten Gang nach, und Steiger brauchte einen Moment, um mit der neuen Situation umzugehen. Er sah Jana an.
»Schau an. Er spricht die Sprache der Dichter und Denker. Sollen wir ihn noch mal mit nach oben nehmen?«
»Wenn er jetzt was sagt, redet er nach einer Nacht hier drin ganz sicher.«
»Okay«, sagte Steiger, »ist was dran.«
»Sind eh alles nur Sprüche«, sagte Eberhard Gerstoff, »alles nur Sprüche«, und machte sich wieder daran, die gelbe Lache aufzuwischen.
Jana ging vor, und Steiger blieb noch einen Moment neben ihm stehen, aber Gerstorff wischte gleichmütig und wortlos die gelbe Pfütze auf.
»Noch einen ruhigen Dienst, Hardy«, sagte er schließlich und folgte Jana zum Ausgang.
Sie hatte den Wagen kommen hören, ein Geräusch, so beiläufig, dass sie ihre Arbeit nicht unterbrach. Das leise, kaum wahrnehmbare Wimmern unmittelbar danach berührte ihre Aufmerksamkeit aber in einer Weise, dass sie Messer und Paprikaschote zur Seite legte und aus dem Fenster sah.
Das stählerne Rolltor hatte sich schon wieder ganz geschlossen, die Männer waren auf dem Weg zum Haus, und Yasid hatte das Kind auf dem Arm, dessen bunte Kleidung sich so deutlich vom schwarzen Anzug seines Trägers abhob, dass es in seinem Arm wie ein Fremdkörper aussah. Erst mit dem zweiten Blick erkannte Fuada, warum das Mädchen nur wimmern konnte; sein Mund war mit schwarzem Band verklebt, und auch das gab dem kleinen Gesicht eine fremdartige Künstlichkeit.
Mit schnellen Schritten ging sie durch die Räume zur Haustür, blickte die Treppe hinauf, hörte die anderen Frauen mit ihren Kindern lachen, die offensichtlich nichts mitbekommen hatten.
»Was hat das zu bedeuten?«
Die Männer kamen herein, ließen sie wortlos stehen und öffneten die Kellertür.
»Wer ist das, Tarek? Was ist das für ein Kind?« Sie hielt ihren Mann als Letztem in der Reihe am Ärmel fest und zwang ihn, stehen zu bleiben.
»Frag deinen Bruder, der müsste gleich hier sein.« Er löste seinen Arm aus ihrem Griff und folgte den anderen. »Und wer soll das schon sein, denk mal nach.«
Ein paar Sekunden brauchte Fuada, dann war ihr klar, dass die Worte ihres Mannes ihre erste Ahnung bestätigten.
Sie hörte, wie ein zweites Auto auf den Hof fuhr, wenig später kam Salah zur Tür herein.
»Wo sind sie? Unten?«
»Was ist das für ein Kind, Salah?«
Er ignorierte ihre Frage und stieg die Treppe hinab.
Sie folgte ihm, stolperte fast und fand die Männer in einem der fensterlosen Kellerräume, die als Lager für alles Mögliche genutzt wurden. Das Kind saß auf einer der Plastikkisten, weinte still und zitterte.
»Manchmal muss man Glück haben«, sagte Yasid und grinste. »War so nicht geplant, aber wir hatten unfassbares Glück, hab meinen Augen kam getraut. Wir haben sie gesehen und waren an ihr dran wie abgesprochen, und sie war allein mit dem Kind. Die Hurensöhne hatten Omar und Bilal angehalten, und wir wollten schon dazu. Aber dann hielt sie an, und das Mädchen stieg aus, einfach so, mitten in der Stadt.«
»Wie, einfach so?«, fragte Salah.
»Sie ist einfach rechts rangefahren, und das Kind stieg aus. Wir suchen seit Monaten eine Gelegenheit – und dann das. Sah so aus, als habe es Stress gegeben, und das Kind lief weg. Wir sind um den Block, weil wir sonst aufgeflogen wären, und haben es abgefangen.«
»Okay«, sagte Salah, ohne weiter nachzufragen, »aber hier kann sie nicht bleiben. Sie muss weg, so schnell wie möglich.«
»Was ist los, Salah?«, fragte Fuada.
Ihr Bruder sah sie kurz an, dann beriet er sich wieder mit den anderen über den richtigen Ort.
»Was soll das, Salah?«
Wieder berührte sein Blick sie nur flüchtig.
»Sprich mit mir, was soll das? Ist nicht schon genug passiert?«
»Halt dich da raus, das ist nicht deine Sache.«
»Das ist nicht meine Sache? Nicht meine Sache? Ich habe meinen Sohn verloren in so einer … Sache, ich habe Abadin verloren. Und er ist nicht der Einzige.«
Jetzt wandte er sich ihr zu und fasste sie fest an den Oberarmen. »Nicht nur du hast deinen Sohn verloren«, sagte er nach einer Weile, »wir alle haben ihn verloren, die Familie hat ihn verloren. Hast du das vergessen? Diese Entscheidung ist nicht deine Sache, das ist das Gesetz. Halt dich da raus.«
Wenn er es auf diese Weise sagte, in diesem Ton, wusste sie, dass jedes weitere Wort in diesem Moment vergebens war, schon als sie noch Kinder waren, war das so gewesen.
Fuada ging zu dem Mädchen, setzte sich daneben und legte ihr einen Arm um die zitternden Schultern.
»Du verstehst mich doch, oder?«
Das Nicken war so zurückhaltend, dass es in dem Beben fast unterging.
»Kannst du sprechen?«
Wieder nickte die Kleine schwach, ohne Fuada anzusehen.
»Wenn ich dir jetzt das Band vom Mund nehme, willst du dann sprechen? Und versprichst du mir, nicht laut zu sein?«
»Lass das Band«, hörte sie Yasid sagen und wunderte sich, dass er das Wort ergriff, »wenn sie rumkrakeelt, hilft uns das nicht.«
»Ja, lass das mit dem Band«, wiederholte ihr Mann, »das hat sie nicht umsonst.«
Ohne die Worte der beiden zu beachten, löste sie mit vorsichtigem Zug den schwarzen Streifen von Mund und Wangen des Mädchens, begleitete das mit einem mühsamen Lächeln, um die Angst ein wenig zu vertreiben, aber auch das befreite Gesicht des Kindes behielt den Ausdruck tiefer Verzweiflung.
»Wie heißt du?«
Das Mädchen schwieg.
»Ich bin Fuada, und wie heißt du?«
»Huriye.« Leise, brüchig, mit Verzögerung.
»Für dieses Gerede ist keine Zeit jetzt. Sie muss hier weg«, sagte Salah. »Hier suchen sie sie zuerst.«
»Wir nehmen die Kiste«, sagte Yasid. »Und dann den Kombi, der ist am unauffälligsten.«
»Was heißt das, die Kiste?«, fragte Fuada.
»Wir können sie nicht offen im Auto sitzen lassen, sie darf nicht gesehen werden und darf selbst nichts sehen, das ist zu gefährlich, und sie muss hier weg, so schnell wie möglich.«
Fuada stand auf, ohne die Hand des Kindes loszulassen. »Ihr könnt sie nicht in eine Kiste stecken, Salah. Sieh sie dir an, sie ist ein Kind. Und warum habt ihr sie dann erst hierhergebracht.«
»Es sollte anders laufen, eine andere Möglichkeit gibt es jetzt nicht. Und halt dich da raus, verflucht, ich sag’s nicht noch mal. Außerdem ist es nur für kurze Zeit. Wir fahren zu Issa. Er gehört nicht zur Familie, ihn haben sie nicht auf dem Plan, aber ich vertraue ihm. Dort sehen wir weiter.«
In der kleinen Hand fühlte Fuada das Zittern, und sie wusste nicht, ob es zwischendurch nachgelassen hatte und jetzt, bei Salahs Worten, wieder anschwoll.
»Nein, nicht die Kiste, das könnt ihr nicht machen.« Sie blickte zu dem Kind, das ihrem Blick auswich und auf den Boden sah. »Ich fahre mit.«
»Was meinst du damit?«
»Sie fährt mit mir, ich sorge dafür, dass sie ruhig bleibt. Aber nicht in einer Kiste.«
»Es geht nicht anders«, sagte Salah.
»Nicht die Kiste.« Sie nahm all ihre Festigkeit zusammen, die sie sich wie eine glimmende Kugel in ihrem Innern vorstellte, und gab sie ihren Worten mit auf den Weg.
Salah sah kurz zu dem Kind, dann suchte er mit Blicken für einen Moment unstet den Boden ab.
»Okay, wir nehmen den Sprinter, der ist noch unauffälliger«, sagte er, »und dann sorgst du dafür, dass sie keinen Stress macht, verstanden.« Er nickte in sich hinein. »Ist vielleicht ohnehin gar keine so schlechte Idee, wenn die Sache länger dauert. Und jetzt beeilt euch. Sobald ihr vom Hof seid, sage ich ihnen Bescheid, damit sie die Polizei aus dem Spiel lassen. Aber sie werden schon von selbst drauf gekommen sein, wo sie sein könnte.«
Ohne Nachfrage verschwand Yasid und kam wenig später mit dem Schlüssel des Transporters zurück.
Fuada ging in die Hocke und nahm die Hände des Kindes. »Wir machen jetzt noch eine Autofahrt, Huriye, ich fahre dieses Mal mit, du musst keine Angst haben. Aber du musst still sein, okay. Und wir machen ein Spiel. Wir verbinden dir die Augen, und wie das Spiel geht, erkläre ich dir im Auto, ja.«
»Ich will nach Hause.« Wieder waren die Worte kaum zu verstehen, weil auch ihre Stimme zitterte.
Wenig später stand der Wagen mit laufendem Motor vor dem Rolltor. Yasid trommelte mit den Fingern aufs Lenkrad, ihr Mann hatte das Handy am Ohr und wartete auf Salahs »Okay« aus dem Monitorraum.
Das Kind hatte sich auf der Rückbank mit der Augenbinde an sie gedrückt auf scheuer Suche nach etwas Halt, und es zitterte immer noch, weinte aber nicht mehr.
»Gut«, sagte Tarek, gab wortlos ein Zeichen und legte das Handy beiseite. Die stählerne Wand mit dem oberen Dornenrand vor ihnen setzte sich mit einem Ruck in Bewegung, und sie fuhren los, sobald die Lücke groß genug war. Beide Männer warfen noch einmal unruhige Blicke nach beiden Seiten, dann bog der Wagen in die Straße ein, und Yasid gab Gas. Fuada bemerkte, wie er unablässig in den Rückspiegel sah, was erst nachließ, als sie nach ein paar Minuten auf der Hauptstraße im dichteren Verkehr mitrollten.
»Was soll jetzt werden?«, durchbrach Fuada das angespannte Schweigen und wusste im selben Moment, dass es vor dem Kind darauf keine Antwort geben durfte.
Auch Tareks Blick über die Schulter schien das auszudrücken.
»Das ist nicht deine Sache«, sagte er trotzdem.
Doch, ist es, dachte Fuada, fühlte den Körper des Mädchens an ihrer Seite und in sich den glimmenden Ort.
Schon beim Erwachen war Evas Platz neben ihm leer und kalt gewesen. Er wusste, dass sie Zeiten für sich allein brauchte, von Beginn an war das ihre Abmachung gewesen, als sie bei ihm eingezogen war. Wenn man in seinem Alter war und die meiste Zeit seines Lebens allein gelebt hatte, war es keine große Sache, das zu kapieren. Und seit einer Weile machte sie in diesen Zeiten manchmal lange Spaziergänge, immer wenn sie es brauchte. Auch das konnte er verstehen. Aber zuletzt wünschte er sich in diesen Situationen immer häufiger und immer intensiver, sie sei da. Und das nicht, weil sie in ihm ein bisher nie erlebtes Gefühl freigelegt hatte oder weil Gesellschaft einfach angenehm war, so wie man an manchen Abenden sein Bier nicht gern allein trinken mochte im »Totenschädel«. Es war noch etwas anderes. Wenn Eva nicht da war, bekam er ein Gefühl für die Leere in seinen Räumen, das er vorher bei sich nicht kannte, und er wusste nicht, was er davon halten sollte.
Jetzt zeigte die Schalke-Uhr über der Küchentür kurz nach sieben. Steiger stellte seine Tasse nach dem letzten Schluck Kaffee auf die Spüle, zog seine Jacke an und ging aus der Wohnung. Es regnete. Als er den Wagen öffnete, hörte er seinen Namen. Eva kam auf ihn zu und lächelte, von ihrem Gesicht in der ovalen Öffnung der Kapuze liefen Tropfen.
»Schön, dass ich dich noch erwische, das hatte ich mir gewünscht.«
Sie legte ihre rechte Hand auf seine Wange und strich ihm mit dem Daumen über die Lippen. Steiger kannte diese Geste von ihr, sie machte es oft zur Begrüßung, und neben der Berührung genoss er in diesen Momenten immer den Duft ihrer Hände, in dem neben Seife oder Nikotin oder Zwiebel oder Erde immer auch ihr Geruch war.
»Wie lange bist du schon unterwegs?«
»Ich weiß nicht, eine Stunde, vielleicht länger.«
»Du passt schon auf, wohin du gehst und wer dir begegnet, wenn du um die Zeit durch irgendwelche dunklen Ecken spazierst, ja?«
»Ach Steiger«, sie schüttelte ein wenig den Kopf, und es fiel ihr ein Tropfen von der Nase, »ich bin doch schon groß.«
»Ja, ja. Bis nachher. Wollen wir essen gehen, oder so?«
»Mal sehen, nachher ist noch weit. Mach’s gut. Und pass auf dich auf.« Sie blinzelte lächelnd mit einem Auge, was ihr seit dem Koma nicht mehr so leichtfiel, küsste ihn und ging ins Haus.
Weil er in der morgendlichen Parkplatzlotterie in den Straßen ums Präsidium an diesem Morgen eine Niete gezogen hatte, kam Steiger ziemlich nass im Büro an.
»Moin Steiger«, sagte Jana, als er hereinkam. »Übrigens, wenn du heute rausgehst, denk dran, es regnet.«
»Schon mal gleich morgens ein paar an den Hals bekommen?« Er zog seine Jacke aus und hängte sie über einen der Stühle.
»Ich komm jetzt nicht drauf, wie heißen noch mal diese Dinger, ach, Mann … Das sind so bespannte Drahtgestelle mit ’nem Griff, wenn man da auf einen Knopf drückt, gehen die …«
»Du bettelst echt um Prügel heute Morgen. Und Schirme sind was für alte Frauen.«
»Ihr sprecht über mich?« Gisa folgte Steiger unmittelbar, legte ihren Schirm aufgespannt in die Nähe der Heizung. »Kann sein, dass du recht hast, Steiger. Aber die Dinger sind schon praktisch«, sie ging in ihr Büro, »und sie halten trocken. Solltest du dir bei deiner Frisur einfach mal durch den nassen Kopf gehen lassen.«
»Das kann ja ein Tag werden. Wird man gleich morgens von der Chefin beleidigt und dem Stift verarscht.«
»Wer so darum bettelt«, sagte Gisa.
Jana lachte laut. Kuhlmann und Krone kamen herein, grüßten und blickten mit fragenden Mienen in die Runde.
»Werden hier schon Witze erzählt am Morgen?«, fragte Benno Krone, »versaute womöglich.«
»Niemals«, Gisa aus ihrem Büro, »du warst ja noch nicht da.«
Krone schob die Unterlippe nach vorn und zog die Brauen nach oben. »Ich glaub, ich hol mir lieber erst mal ’nen Kaffee.«
Steiger sah, dass Kuhlmann schmunzelte, aber schwieg, und er fragte sich, ob sein Misstrauen gegen ihn berechtigt war, und ob es ihm selbst guttat.
»Soll ich denn mal gut zu dir sein, Steiger?«, fragte Jana. »Die KTU hat schon eine E-Mail an uns weitergeleitet, und unser Freund im Gewahrsam könnte ’ne dicke Nummer sein.«
Steiger nahm sich einen Kaffee mit Milch und Zucker, kam an ihren Schreibtisch und blickte auf ihren Bildschirm.
»Seine Fingerspur ist vor einem halben Jahr bei einem Tageswohnungseinbruch in Hörde gesichert worden. Und an dem Abend sind sie da in der Gegend noch in sechs andere Wohnungen eingestiegen, immer mit derselben Masche über Fenster oder Terrassentüren, und haben unter anderem an einem Tatort Uhren im Wert von einundfünfzigtausend Euro mitgehen lassen.« Sie klickte ein paar Seiten weiter und las zwischendurch. »Wobei das nur drei Uhren waren. Meine Güte, müssen ja ziemlich exklusive Dinger gewesen sein.«
»Wenn die Leute so was offen rumliegen lassen. Und Einbruch … dann ist das ja eine Sache für die 13er.« Er bückte sich und sah auf den Bildschirm. »Tanne ist Sachbearbeiter, ich ruf den gleich mal an.«
Er ging zu seinem Schreibtisch und nahm den Hörer ab.
»Was ja wirklich auffallend ist: dass der in seinem Alter kein Handy dabeihatte.«
»Ja, das stimmt«, sagte Jana. »Oder er hat es weggeworfen, und es liegt da irgendwo in den Büschen.«
Steiger wählte die Nummer des Kollegen, hatte aber den Kommissariatsleiter in der Leitung.
»Morgen Steiger, du wolltest Tanne sprechen? Der hat grad eine Haftsache und ist im Gewahrsam.«
»Noch eine? Dann habt ihr ja schon zwei. Wir haben gestern Abend nämlich einen jungen Burschen festgenommen, wahrscheinlich Rumäne oder Bulgare, der in Wellinghofen durch die Gärten zog und wahrscheinlich Häuser ausbaldowert hat. Seine Finger liegen nicht ein, wir wissen auch nicht, wer er ist, weil er nichts sagt, aber wir haben jetzt einen Spurentreffer bei einer Einbruchsserie vor ’nem halben Jahr hier in Dortmund mit ’nem fünfstelligen Diebesgut.«
»Und Tanne ist Sachbearbeiter?«
»Genau.«
»Scheiße … Ne, eigentlich super, aber …« Eine Weile schwieg Melcher ins Telefon. »Das ist nämlich nicht die einzige Haftsache heute Morgen, zwei Mann sind in der Mordkommission, zwei Dauerkranke, ich weiß nicht, wen ich loseisen soll.« Wieder machte er eine Pause. »Das heißt, der hat keinen festen Wohnsitz?«
»Wir kennen ihn bisher jedenfalls nicht. Wie gesagt, sieht aus wie ein Rumäne oder Bulgare und ist noch nicht ed-behandelt worden, es gibt nur diese Fingerspur. Und er spricht etwas Deutsch.«
»Könnte also gut sein, dass der einfährt, wenn wir den anbieten?«
»Na ja, wenn der nicht in Deutschland wohnt, und bei dem Vorwurf ist das sogar wahrscheinlich, oder?«
Wieder schwieg sein Gesprächspartner.
»Ich mach dir einen Vorschlag, Maik«, sagte Steiger, »wir holen ihn uns hoch und schauen mal, was er dazu sagt. Wenn er nichts sagt und auch seinen Namen weiter für sich behält, geht der sicher in U-Haft, aber dann rufe ich dich noch mal an, okay.«
»Das hilft mir sehr, Thomas. Wenn Gisa damit einverstanden ist, danke ich dir sehr.«
Steiger legte auf und sah auf seinem Display, dass Melcher postwendend Gisa anrief, um sich das Okay der Chefin zu holen. Für manche Führungskräfte sind Absprachen mit einfachen Beamten doch nicht dasselbe wie mit Ihresgleichen, dachte Steiger, auch wenn man sich zwanzig Jahre kannte, und Melcher war einer, bei dem ihn das nicht überraschte.
Gisa kam aus ihrem Zimmer.
»Maik vom KK 13 hat mich grad angerufen. Er sagte, es wäre schön, wenn ihr die Sache mit dem Festgenommenen aus Wellinghofen erst mal anleiert, ob das ginge und ob ich damit einverstanden wäre. Ich hab ihm das zugesagt.«
»Ich hatte ihm vorgeschlagen, dass wir das so machen«, sagte Steiger, »aber das Wort eines A11ers reichte offensichtlich nicht.«
»Ach, komm, fühl dich nicht gleich angepisst«, sagte Gisa nach einer Weile und ging wieder in ihr Büro. Aber es klang nach Verständnis.
Eine halbe Stunde später saß der Junge auf dem Stuhl vor Janas Schreibtisch, und wie immer fiel Steiger auf, dass eine Nacht auf einer Kunstledermatratze ohne Kissen auch an einem jungen Gesicht nicht spurlos vorüberging. Er sah aus wie am Morgen nach einem Vollrausch, und seine Haare standen zur Seite ab.
»Du sprichst Deutsch, wie ich seit gestern weiß?«
»Ja, bisschen.« Mit Verzögerung.
»Woher? Bist du Deutscher?«
Er schwieg, sein Blick wanderte über den Boden, dann sah er Steiger wieder an. »Nein.«
»Woher kommst du?«
»Nicht wichtig.«
»Sagst du uns deinen Namen.«
Wieder brauchte er länger für die Antwort. »Dumitru.«
»Und weiter?«
»Nicht weiter.«
Es ging etwas von ihm aus, das nicht zu seiner völligen Verweigerung passte, dachte Steiger. Dass Straftäter bei ihnen nichts sagten, war keine Besonderheit, aber meistens schütteten sie dabei kübelweise Verachtung oder Zorn oder gespielte Gleichgültigkeit aus. Der Junge wirkte wie jemand, der etwas im Kopf hatte, aber nicht sicher war, wie es in die Richtung laufen konnte, was auch zu seinem Verhalten an den Häusern am Abend passte.
»Okay, Dumitru, ich bin Thomas, und das ist Jana.« Er sah auf die Uhr. »Hast du schon gefrühstückt?«
»Nein.«
»Die kriegen gleich erst was im Gewahrsam«, sagte Jana.
»Okay, möchtest du einen Kaffee?«
Er sah Steiger an mit einer Miene wie bei einem Haustürgeschäft.
»Ja.«
Jana stand wortlos auf und ging zur Kaffeemaschine.
»Und dann muss ich dich belehren. Wir sind sicher, dass du vor ein paar Monaten hier in Dortmund eingebrochen bist, in mehrere Häuser, und dass du dabei etwas gestohlen hast. Du bist für uns damit ein Beschuldigter, so nennt sich das im Gesetz, verstehst du das so weit.«
»Ja, ich glaube.« Er nickte.
»Okay, und als Beschuldigter hast du das Recht, bei der Polizei keine Aussage zu machen, du kannst vorher einen Anwalt fragen oder die ganze Sache über einen Anwalt laufen lassen, auch verstanden?«
Wieder nickte er.
»Du kannst auch Beweisanträge stellen, das bedeutet, du kannst uns Hinweise geben, dass wir was ermitteln sollen, was für dich spricht. Das Wichtigste ist aber, dass du über die Sache nicht mit uns reden musst, alles klar?«
»Ja, alles klar.«
»Gut, wie gesagt, wir können beweisen, dass du vor sechs Monaten in mehrere Häuser eingebrochen bist und ziemlich wertvolle Dinge gestohlen hast. Möchtest du dazu was sagen?«
Jana stellte ihm den Kaffee hin.
Er beugte sich nach vorn, stützte sich auf den Knien ab und sah auf den Boden. »Nein, möchte nichts sagen.«
»Gut, möchtest du vorher mit einem Anwalt sprechen?«
»Weiß nicht, Anwalt. Kenne keine Anwalt.«
»Wenn du keinen kennst, können wir dir einen besorgen. Sollen wir das?«
»Weiß nicht. Habe kein Geld für Anwalt.«
»Gut, Dumitru, kannst du dir auch später noch überlegen. Möchtest du uns sagen, wie du heißt und wo du wohnst?«
Wieder ließ er etliche Sekunden verstreichen, verharrte in der Position und schüttelte schließlich den Kopf. Er nahm die Tasse und trank einen Schluck.
Tausende von E-Books und Hörbücher
Ihre Zahl wächst ständig und Sie haben eine Fixpreisgarantie.
Sie haben über uns geschrieben: