9,99 €
Essen: Ein Mann wurde getötet, der Täter ist schnell gefasst. Doch für Deniz Müller, Leiter der Mordkommission, und Staatsanwältin Camilla Lopez beginnt der Fall damit erst. Bei ihren Ermittlungen stoßen sie auf ein Video, das offensichtlich Auslöser des Mordes war. Es zeigt die Frau des Täters beim Sex mit einem nicht identifizierbaren Mann. Bei genauer Betrachtung wird klar, dass der Akt alles andere als einvernehmlich war. Der Täter hatte daraufhin den vermeintlichen Vergewaltiger auf eigene Faust ermittelt – und getötet. Doch er hat sich auf fatale Weise geirrt. Aber wer ist tatsächlich auf dem Video zu sehen? Und wie hängt es mit einem brisanten Fall von Datendiebstahl und Internetbetrug zusammen, dem der Investigativjournalist Alex Rahn auf die Spur gekommen ist?
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 429
Veröffentlichungsjahr: 2025
Essen: Ein Mann wurde getötet, der Täter ist schnell gefasst. Doch für Deniz Müller, Leiter der Mordkommission, und Staatsanwältin Camilla Lopez beginnt der Fall damit erst. Bei ihren Ermittlungen stoßen sie auf ein Video, das offensichtlich Auslöser des Mordes war. Es zeigt die Frau des Täters beim Sex mit einem nicht identifizierbaren Mann. Bei genauer Betrachtung wird klar, dass der Akt alles andere als einvernehmlich war. Der Täter hatte daraufhin den vermeintlichen Vergewaltiger auf eigene Faust ermittelt – und getötet. Doch er hat sich auf fatale Weise geirrt. Aber wer ist tatsächlich auf dem Video zu sehen? Und wie hängt der Mord mit einem brisanten Fall von Datendiebstahl und Internetbetrug zusammen, dem der Investigativjournalist Alex Rahn auf die Spur gekommen ist?
Weitere Informationen zu Norbert Horst sowie zu lieferbaren Titeln des Autors finden Sie am Ende des Buches.
NORBERT HORST
DU BIST NIRGENDS SICHER
Kriminalroman
Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.Inhaltshinweis: In diesem Roman werden Vergewaltigungen thematisiert.Originalausgabe Januar 2025
Copyright © 2025 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
[email protected] (Vorstehende Angaben sind zugleich Pflichtinformationen nach GPSR)
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover
Umschlaggestaltung: semper smile, München
Umschlagmotiv: © Shutterstock/travelview, Ivan Popovych, Wachiwit, Christina Krivonos
Redaktion: Gerhard Seidl
BH · Herstellung: ik
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-31651-8V003
www.goldmann-verlag.de
Für die New Family
Das war der schlimmste Moment.
Deniz drückte das Gespräch weg. Gegen Morgen, auch wenn es sehr früh war, hatte er keine Probleme damit. Auch nachts nicht, selbst wenn er erst zwei oder drei Stunden geschlafen hatte. War auch dann nicht prickelnd, klar, aber erträglich. Wenn er jedoch unmittelbar nach dem Einschlafen alarmiert wurde, fühlte es sich in den ersten Minuten an, als habe er sich mit irgendeiner Droge abgeschossen.
Er setzte sich auf die Bettkante und hoffte, die Trägheit unterliege der Schwerkraft und würde allmählich aus seinem Hirn sickern. Nach einer Minute stand er auf. Das Handy fiepte kurz, die Kollegin von der Leitstelle hatte ihm wie angekündigt den Leichenfundort als Standort geschickt, Laupendahler Landstraße. Irgendwo tief im Essener Süden an der Ruhr und eine ziemlich einsame Gegend, wenn er sich richtig erinnerte.
Er überlegte, ob er Camilla Bescheid geben sollte, weil sich das Ganze schon jetzt danach angehört hatte, dass der Tote nicht freiwillig gegangen und die Staatsanwältin damit im Boot war. Ihr Kontakt verriet ihm, dass sie vor zwei Minuten noch online gewesen war, und er drückte den Button mit dem Hörer.
»Guten Morgen, Frau Lopez. Noch nicht in Morpheus’ oder jemand anderes Armen?«
»Wenn du jetzt anrufst und mit so einer Stimme Unsinn erzählst, heißt das nichts Gutes.«
»Hast du was getrunken, was geraucht, oder kannst du noch fahren?«
»Deniz … Komm, erzähl!«
»Bin eben angerufen worden. Laupendahler Landstraße, unten an der Ruhr, ziemlich einsame Gegend, hat ein Radfahrer an einer Böschung eine Leiche gefunden, männlich. Sie haben sie noch nicht geborgen, aber auf den ersten Blick sind Stiche erkennbar.«
»Und ich wollte grad ins Bett.«
»Kein Problem, dann gute Nacht. Ich kann dich morgen früh bei ’nem Kaffee auf den Stand bringen.«
»Geht’s noch? Ich komme. Wo dort?«
»Ich schicke dir den Standort. Ist etwas abgelegen.«
»Okay, bis gleich.«
Er stand auf, legte die Hand auf die Wasserkanne vom Çay, die nur noch lauwarm war. Er bereitete sich eine Mischung zu, stellte das Glas in die Mikrowelle und ging ins Bad.
Ein Streifenwagen hatte die Laupendahler Straße an einer Abzweigung gesperrt, an der man den Verkehr günstig ableiten konnte, was hier um diese Zeit aber kaum nötig war. Der Kollege stand draußen und rauchte, die Kollegin saß im Wagen. Man kannte sich von flüchtigen Begegnungen im Präsidium.
»Von hier kannst du es nicht sehen, ist hinter der Kurve, sind noch ein paar hundert Meter«, sagte der Kollege, und sein Atem machte kleine weiße Wölkchen. Deniz befürchtete, sich für die falsche Jacke entschieden zu haben.
»Ist die Staatsanwältin schon durch?«
»Ne, nur der Sprinter von der KTU.«
»Dann wird sie gleich kommen. Vom Rest der Mordkommission schon jemand?«
»Solange wir hier stehen, nicht.«
Kurzer Gruß, er fuhr weiter.
Weil schon jemand einen Lichtmast aufgestellt hatte, leuchtete nach der nächsten Biegung weit hinten die Szenerie, und schon aus dieser Entfernung waren in der Kugel aus Licht vor allem die drei Gestalten in weißen Anzügen erkennbar, die nebeneinanderstanden und etwas im Graben neben der Straße betrachteten. Es erinnerte Deniz an die Darstellung in Weihnachtsfilmen, bei der in schwärzester Nacht nur die Szene im Stall beleuchtet war, in der die drei orientalischen Typen meist entrückt auf den Erlöser im Futtertrog fixiert waren. Das Objekt der Aufmerksamkeit war hier nicht ganz dasselbe, fiel ihm auf.
Eine Minute später parkte er am Straßenrand, steckte die kleine Taschenlampe ein und nahm sein Diktiergerät. Das Klemmbrett konnte er immer noch holen.
Erst als er ausgestiegen war, fiel ihm auf, dass die Feuerwehr fünfzig Meter weiter dabei war, im Halbdunkel auf der Straße ein Zelt mit Heizung aufzubauen.
»Morgen«, sagte Mustafa von der KTU, und aus dem weißen Kragen seines Schutzanzugs lugte ein knallroter Schal. Sina und Matthias neben ihm grüßten ebenfalls kurz, Sina hatte sich die Kapuze des Anzugs übergezogen, das gab ihr etwas von einem weißen Plüschtier, nur die Ohren fehlten.
»Wir waren noch nicht an der Leiche, weil wir keine Spuren zerstören wollen, bevor wir wissen, wie wir sie bergen sollen. Der Notarzt ist von oben rechts rangegangen, der hat auch die Kleidung so hinterlassen.«
Der Mann lag mit dem Kopf nach unten zwischen Sträuchern, die es schwierig machten, in seine Nähe zu gelangen. Deniz drückte auf den Knopf seiner Taschenlampe und machte einen Schritt nach vorn, Mustafa hielt ihn am Arm zurück.
»Da vorne ist wahrscheinlich Blut«, er zeigte auf den Beginn der Grasnarbe neben dem Asphalt. »Kann sein, dass er an Ort und Stelle getötet und nicht nur abgelegt worden ist. Und wir haben im Seitenstreifen eine Reifenspur, die frisch aussieht. Dort hinten kann man nach unten gehen und zumindest etwas näher rankommen, da wird kein Täter gewesen sein.« Mit ausgestrecktem Arm wies er auf eine Stelle zehn Meter neben dem Toten.
Aus den Augenwinkeln bemerkte Deniz, dass zwei weitere Autos ankamen und die Scheinwerfer ausmachten, er hörte Camillas Stimme und die von Timo aus der MK-Bereitschaft.
An der Stelle, die Mustafa gezeigt hatte, war eine kleine Lücke im Gestrüpp, durch die Deniz nach unten stieg und versuchte, etwas näher Richtung Leiche zu kommen. Etwa einen Meter davor verwehrte ihm ein dorniger Strauch jede weitere Annäherung. Im Lichtkegel der Taschenlampe erkannte er unter dem vom Arzt hochgeschobenen Hoodie deutlich drei Stiche; das Gesicht des Mannes, der vielleicht Ende dreißig sein mochte, war in seine Richtung gewandt und hatte mit den halb geöffneten Augen und den etwas verkrampften Lippen den unverkennbaren Ausdruck des Todes. Deniz fror und wusste nicht, ob es bei diesen Temperaturen an der falschen Jacke lag oder am Anblick der freien Bauchdecke unter der hochgeschobenen Kleidung des Toten.
Er ging zurück und begrüßte Camilla und Timo, die sich beide von Mustafa erklären ließen, was bisher bekannt war. Gefunden hatte den Toten ein angetrunkener Radfahrer, der auf dem späten Heimweg von einer Feier ausgerechnet an der Stelle pinkeln wollte und den Toten im ersten Moment im Licht seiner Fahrradlampe für Müll gehalten hatte.
Camilla hatte einen wadenlangen lila Steppmantel an, trug eine weiße Pudelmütze, die sie mit dem optischen Erbe ihres kubanischen Großvaters aussehen ließ, als würde sie jeden Augenblick anfangen, eine Popballade zu singen.
Beide grüßten Deniz kurz und widmeten sich dann wieder Mustafas Worten.
Einer der Feuerwehrmänner trat aus dem Halbdunkel und sagte, dass das Zelt aufgebaut und in spätestens fünf Minuten erträglich warm sei, und bekam dafür viel gemurmelte Zustimmung und Dank.
Nach einer guten halben Stunde hatten sie die Leiche so spurenschonend wie möglich nach oben gezogen, und der Mann lag rücklings auf einer Folie auf dem kalten Asphalt. Außer ein paar Zetteln, die auf den ersten Blick kaum etwas hergaben, hatte Sina nichts in seinen äußeren und zugänglichen Taschen gefunden, schon gar keinen Ausweis.
Wäre ja auch zu schön gewesen, dachte Deniz und hörte, wie eine Autotür zuschlug und aus dem Dunkel Frau Dr. Köslin-Richter, die Gerichtsmedizinerin, erschien.
»Guten Morgen«, sagte sie mit einem Rundumlächeln, dem man ansah, dass sie schon geschlafen hatte. Ohne weiteres Wort ging sie zur Leiche, blieb aber in deutlichem Abstand stehen, weil Mustafa, der vor dem Toten kniete, die Hand hob.
»Ich würde ihn wegen der DNA gern erst abkleben«, sagte er, »das machen wir aber besser im Obduktionsraum. So lange sollten wir sehr vorsichtig sein, damit die Leiche nicht kontaminiert wird.«
»Natürlich, aber ich würde hier gern schon die Körpertemperatur messen, jetzt, bei der Auffindesituation.«
»Das kriegen wir hin. Wollen Sie sich dafür einen Anzug anziehen, oder sollen wir das machen.«
»Dafür lohnt sich das Gewurschtel mit den Klamotten nicht.«
Sie gab Mustafa das Thermometer, von dem ein Draht mit einem Fühler herabhing. Gemeinsam mit Sina und Matthias drehten sie den Toten auf den Bauch, zogen ihm Hose und Unterhose ein Stück herunter und platzierten den Metallfühler rektal.
»Reicht das so?« Er blickte die Ärztin an, die kurz nickte und sich wieder zu den anderen stellte.
Einen Augenblick herrschte Schweigen, fiel Deniz auf, und er blickte in die Runde. Alle, die dort standen, hatten in ihrem Leben so viele Leichen geborgen oder abtransportiert, untersucht oder aufgeschnitten, dass es trotz allem eine Alltäglichkeit für sie geworden war. Aber vielleicht, dachte er, ließen sie sich von der grausamen Unwürdigkeit eines solchen Augenblicks doch noch berühren, wenn einem Menschen, der in eiskalter Nacht auf offener Straße mit entblößtem Arsch auf einer Plane lag, ein Metallfühler in den Enddarm geschoben wurde.
»Wenn Sie sich wärmen wollen, Frau Doktor, die Feuerwehr hat ein Zelt aufgebaut, da ist es zumindest wärmer als hier.«
»Mal sehen, gleich vielleicht«, die Gerichtsmedizinerin lächelte dankbar.
»Ich sehe ihn mir nachher auf dem Tisch noch etwas genauer an«, an Deniz gewandt, »aber obduzieren kann ich ihn erst morgen, später Vormittag, weil ich vorher noch etwas anderes habe, was sich nicht verschieben lässt. Die Todesursache scheint ja auf den ersten Blick klar zu sein.«
»Schon okay«, sagte Deniz. »Wir versuchen noch, was über ihn rauszukriegen, vor allem, wer er ist. Ansonsten ist hier heut Nacht nicht mehr viel zu machen, jedenfalls nicht für uns. Bei der KTU sieht das anders aus.«
Das Team in Weiß hatte die Hände des Toten vorsichtig mit Tüten umklebt und den Leichnam in einen schwarzen Plastikbeutel verpackt. Sina zog den Reißverschluss zu. Mustafa winkte den beiden Bestattern, die seit ihrer Ankunft etwas abseits mit zwei der Feuerwehrleute gesprochen hatten, man schien sich zu kennen. Einer der beiden ging los und kam mit einer fahrbaren Bahre zurück.
Einige Minuten später wendete Deniz den Wagen und machte sich auf den Weg zur Leichenhalle. Camilla, ein Team der KTU und die Gerichtsmedizinerin waren mit den Bestattern vorgefahren, er hatte mit Mustafa und den beiden anderen aus der MK-Bereitschaft abgesprochen, was jetzt in der Nacht noch getan werden konnte.
Bevor er die erste Kurve erreicht hatte, hielt er mitten auf der leeren Straße an und sah im Rückspiegel noch einmal auf diese Glocke aus Licht in der tiefen Dunkelheit einer mondlosen Nacht. Wieder erinnerte es ihn an den Stall mit dem Kind in irgendeinem Weihnachtsfilm, was ihn wunderte, weil es die ersten sechs Lebensjahre im türkischen Haushalt seiner Mutter zwar Geschenke gegeben hatte, damit er im Kindergarten mitreden konnte, aber wenig weihnachtliches Zeug, schon gar keine Krippe wie später in den Häusern mancher seiner Schulfreunde. Und wieder kam ihm der Gedanke, wie absurd diese Fantasie war, weil bei dem Bild hinter ihm der Tod im Mittelpunkt stand und an Weihnachten doch die Geburt von jemandem, der mit ewigem Leben zu tun haben sollte. Wobei, eine Parallele gab es doch, fiel ihm ein, denn auch den Heiland hatten sie später umgebracht, und wenn er sich richtig erinnerte, als er etwa so alt gewesen war wie ihr Toter.
Er schüttelte den Kopf, lenkte den Wagen durch die Kurve und sah, wie das Licht im Rückspiegel verschwand.
Cola, bitte.
Sie nimmt die Bestellung auf. Wortlos, kein Blickkontakt, nicht mal genickt, jedenfalls nichts gesehen, da war auch nichts, man ist doch nicht blind.
Tippt es auf ihrem Handy ein. Rote Fingernägel, braune Hände, ohnehin ziemlich dunkel, keine weißen Gene dazwischen, wahrscheinlich. Südostasien? Ne, andere Augen. Eher Irak oder so, Syrien, Afghanistan, die Gegend. Ehering ist nicht zu sehen oder abgelegt. Allein, vielleicht.
Am Nachbartisch dasselbe, kein Nicken, kein Danke, kein Wort. Aber nicht so ablehnend, längst nicht.
Mit der Kollegin hinterm Tresen ist es was anderes, da wird gesprochen, gescherzt, sogar mit schmalem Lächeln. Hat also nichts mit der Laune zu tun. Hat mit der Person zu tun. Nur damit.
Sie kommt zurück.
Die Cola.
Das war’s. Nichts weiter. Wieder kein Bitte, kein Blickkontakt. Einfach nur »Die Cola«.
Am Nachbartisch »Bitte«. Ach, schau an. Da geht es? Aber hier nicht. Sie kommt zurück, geht am Tisch vorbei, völlige Ignoranz. Nein, keine Ignoranz, Missachtung. Nein, auch nicht Missachtung, das ist Verachtung. Und dann dieses Gesicht.
Durst.
Und Hunger.
Aber mehr Durst bei der Hitze.
Treppe runter, in die Küche, zum Kühlschrank, kalte Cola. Oder kalte Milch.
Abgeschlossen. Die Küchentür ist abgeschlossen. Und kein Schlüssel.
Noch mal probieren. Nein. Tatsächlich abgeschlossen.
Wieso schließt sie die Küche ab? Wo ist sie überhaupt.
Sie liegt im Bett, schläft.
Auf dem weißen Kissen ist die Haut noch dunkler.
Sieht eigentlich schön aus.
Ist aber nicht schön.
Was soll das, wieso weckst du mich?
Ich hab Durst. Und Hunger.
Ja, und?
Die Küche ist abgeschlossen.
Ja, richtig.
Hast du abgeschlossen?
Wer denn sonst?
Ich hab aber Hunger.
Es gibt jetzt nichts zu essen.
Warum nicht?
Überleg mal.
Weiß nicht.
Hast du heute Morgen »Danke« gesagt?
Hab ich vergessen.
Dann merkst du es dir jetzt. Und wieso weckst du mich überhaupt, bist du verrückt geworden, du nervige Kröte?
Ich hab Hunger.
Dann hast du Hunger, und heute Mittag gibt es jetzt auch nichts. Weil du mich geweckt hast.
Und wenn ich Papa …
Dein Vater? Willst du, dass der sich Sorgen macht? Soll ich ihm erzählen, wenn er anruft, was du hier anstellst? Meinst du, dem geht es gut, wenn er weiß, was er für eine undankbare kleine Kröte von Sohn hat? Und jetzt lass mich schlafen, sonst gibt es heute Abend auch nichts.
Und sag Entschuldigung.
Entschuldigung.
Tür zu.
Das Wasser im Bad ist kalt, schmeckt sogar.
Aber der Hunger …
Dasselbe Gesicht, derselbe Ausdruck.
Nervige kleine Kröte. Es gibt nichts zu trinken.
Und jetzt halt’s Maul und verschwinde.
Sonst gibt es nachher auch nichts.
Sie kommt zum Tisch. Schichtwechsel, muss abrechnen.
Zahlen, mit Trinkgeld, mal sehen.
Aber nichts, kein »Bitte«, wieder kein »Danke«, Gruß schon gar nicht.
Du kleine dreckige Kröte.
Wenn dein Vater das wüsste, der würde krank vor Ärger.
Sag Entschuldigung!
Sag bitte!
Sag danke!
Sie geht, verschwindet in einer Tür hinter der Kasse, kommt in einer Jacke und mit Tasche wieder. Abschied von der Kollegin, mit Lächeln. Und Umarmung.
Hinterher. Aber mit Abstand. Kennt ja das Gesicht. Morgen hätte sie es vergessen, heute besser vorsichtig sein.
Zur Straßenbahn. Schwierig, wenig Leute an der Haltestelle. Die Bahn kommt, hat zwei Wagen, gut, sie steigt in den vorderen. Setzt sich nicht, bleibt stehen. Telefoniert, oder? Sieht so aus, als ob sie telefoniert. Macht keine Anstalten auszusteigen. Bei der nächsten auch nicht. Aber sie telefoniert nicht mehr.
Sag danke.
Wenn du tust, was ich sage, gibt es auch Essen.
Hast du mich verstanden?
Ich höre.
So einfach ist das.
Sag Entschuldigung.
Sag danke.
Jetzt geht sie zur Tür. Nächste ist Borbeck-Süd. Steigt aus. Vorsichtig hinterher, aber sie sieht sich nicht um, damit rechnet sie nicht, natürlich nicht.
Über den Parkplatz, wie heißt das hier? Nöggerathstraße. Durch die Unterführung, weiter. Die Häuser werden kleiner, sehr gut. Einfamilienhäuser, mit Gärten, wird immer besser. Ist zu Hause, rot gepflasterte Einfahrt, kein Zugang zum Garten, vielleicht von hinten. Vor der Tür, kramt nach dem Schlüssel. Die Tür öffnet sich, Begrüßung mit Küsschen.
Home sweet Home.
Fuck.
Sie hatte nach dem Termin in der Nacht tatsächlich noch ein paar Stunden tief und fest geschlafen. Zum Glück war heute kein Sitzungstag, und auch sonst warteten keine Termine, sodass sie sich erst zur Obduktion auf den Weg gemacht hatte. Es war sogar noch Zeit für zwei Kaffees gewesen.
Nachdem der Tote in der Nacht zur Leichenhalle gebracht worden war, hatten die Leute von der kriminaltechnischen Untersuchung die Kleidung und die Leiche selbst noch abgeklebt und alle weiteren Spuren genommen. Auch seine Fingerabdrücke waren schon durchs System geschickt worden, was leider nichts daran geändert hatte, dass der Mann weiterhin ein Unbekannter für sie war, der wahrscheinlich schon seit der Nacht zuvor dort lag. Sie dachte daran, wie viele Autofahrer auf dieser Straße gefahren waren, ohne zu wissen, welch grausiger Anblick sich ihnen in wenigen Schritten Entfernung geboten hätte.
Jetzt begann der Assistent der Obduzentin damit, den Torso mit groben Stichen zuzunähen, und Frau Dr. Köslin-Richter konnte auch nach der Leichenöffnung nur bestätigen, was schon beim flüchtigen ersten Blick zwölf Stunden zuvor ihr Eindruck gewesen war. Der Tote hatte fünf tiefe Einstiche, von denen drei für sich allein tödlich gewesen wären. Neben jenem, der eine große innere Arterie verletzt hatte, waren das vor allem zwei, die dicht nebeneinander das Herz getroffen hatten und offensichtlich mit genau dieser Absicht gesetzt wurden. Alle Stiche waren von vorn ausgeführt worden, die todbringenden ziemlich waagerecht, die beiden anderen mit leichter Anstellung von oben.
»So wie die Blutspuren am Tatort ausgesehen haben, ist es wohl auch dort passiert«, sagte die Gerichtsmedizinerin. »Hätte er diese Stiche lange vorher bekommen, wäre dort nicht mehr so viel Blut ausgetreten.«
Deniz nickte, und ihm war anzusehen, dass sein Kopf arbeitete.
»Lange vorher nicht, aber vielleicht kurz vorher. Die Frage ist, ob er das Fahrzeug schon verlassen hatte, als er die Stiche bekam. Denn dass er dorthin transportiert und die Stelle offensichtlich bewusst ausgewählt worden ist, steht wohl außer Frage, oder? Und womit sonst als mit ’nem Auto?«
Niemand widersprach.
»Du meinst, es müsste dann auch noch Blut im oder am Fahrzeug sein, wenn wir Glück haben und es irgendwann finden?«, fragte Camilla.
Er nickte.
»Ist nur eine erste Vermutung, klar, aber sonst müsstest du den an dieser Stelle, wo wirklich der Hund begraben ist, aus dem Auto locken und dann erst zustechen. Warum sollte er das machen, also da spätabends oder nachts aussteigen? Da ist nichts, kein Parkplatz, kein Haus, keine Bushaltestelle, gar nichts. Außerdem hat es vorletzte Nacht leicht geregnet.«
»Durch Bedrohung oder mit irgendeinem Vorwand möglicherweise«, sagte Camilla, »oder vielleicht haben sie auch angehalten zum Urinieren, wie der Radfahrer, der ihn gefunden hat. Könnte ja sein, dass die Stelle dazu einlädt, als Frau kann ich da nicht mitreden.«
Die Obduzentin erwiderte solidarisch ihr schmales Lächeln.
»Vielleicht ist er aber auch aus dem Auto gezerrt und festgehalten worden«, sagte der Fotograf, der dabei war, seine Ausrüstung einzupacken.
»Auch das ist möglich, natürlich, an der Leiche haben wir dafür aber keine körperlichen Anzeichen gefunden, oder habe ich die letzten zwei Stunden was überhört?« Camilla blickte zur Obduzentin.
»Nein, aber das muss auch nicht sein. Wenn wir von dieser Möglichkeit ausgehen, könnten sie ihn auch nur an der Kleidung festgehalten haben oder eben so, dass keine Hämatome oder Schürfungen entstanden sind. Das ist durchaus möglich bei alldem, was er anhatte. Jedenfalls hat er keine Abwehrverletzungen oder andere dafür typischen Merkmale.«
»Ja, schon klar«, Deniz winkte ab, »war auch nur so ein erster Gedanke, wenn ich mir vorstelle, wie das passiert sein könnte.« Sein Blick wanderte zur Leiche. »Hätte man ihn nur dort abgelegt, dann wäre alles okay. Aber da wird jemand an einem völlig einsamen Ort getötet, zu dem er sehr wahrscheinlich mit einem Auto gebracht worden ist. Warum ist er da ausgestiegen? Bestimmt nicht, um die Sterne zu bewundern.«
Er sah einen nach dem anderen an.
»Oder er hat den ersten Stich eben schon im Auto bekommen, das meinst du doch? Und sie haben ihn dann rausgezerrt.«
»Ja, das meine ich. Ich halte das für wahrscheinlicher.«
»Die Stiche kamen jedenfalls alle von vorn, wobei der etwas variierende Winkel zweifellos auffallend ist. Die beiden etwas schräg von oben«, die Obduzentin nahm noch einmal eines ihrer Instrumente, umkreiste damit an der Leiche die leicht klaffenden Schlitze unterhalb des Schlüsselbeins, »könnte er durchaus von der Seite oder von hinten bekommen haben.«
Camilla trat näher an den Tisch.
»Vielleicht über die Schulter, von jemandem, der hinter ihm saß«, sie sagte es, ohne den Zeigefinger von den Lippen zu nehmen.
»Schon möglich. Aber ich weise noch mal darauf hin: Das muss unmittelbar vorher passiert sein. Ich bin bei der Menge Blut, die wir gefunden haben, ziemlich sicher, dass er an Ort und Stelle oder aber direkt vor dem Ablegen getötet worden ist.«
»Und wäre das in einem Auto passiert, wäre dann dort Blut zu finden? Allein darum geht es mir«, sagte Deniz.
»Sicher kann man das nie sagen, aber ja, wenn er bei den Verletzungen noch in einem Fahrzeug gesessen hat, auch nur bei den ersten Stichen, werden dort mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlich Blutspuren sein.«
Für einen Moment war nur das Klappern des Assistenten zu hören, der die Instrumente einpackte.
»Denn das kommt ja noch hinzu«, sagte Camilla. »Der oder die Täter müssen hinterher wieder eingestiegen und weggefahren sein, und das ziemlich bald. Und an den Händen, an deren Kleidung, zumindest aber am Messer müsste doch auch Blut gewesen sein.«
»Wenn er es nicht sofort weggeworfen hat, machen ja auch manche. Aber dann findet es die Hundertschaft.« Deniz sah auf die Uhr. »Die müssten jetzt schon dabei sein, den Bereich abzusuchen.«
»Es sei denn, er hat es in die Ruhr geworfen, aber die ist an der Stelle ein ganzes Stück entfernt«, sagte der Fotograf und schulterte seine Tasche.
»Dann hoffen wir mal, dass sich die Realität an die Theorie hält.« Frau Doktor lächelte mit hochgezogenen Brauen und zog sich die Latexhandschuhe aus. »Wäre doch für die Ermittlungen ein günstiger Umstand.«
Der Fotograf grüßte und verließ den Raum, was auch für alle anderen das Signal für das Ende der Hypothesenbildung zu sein schien.
Sie war auf Deniz’ Bitte hin noch mit zum KK 11 gekommen.
Am Morgen hatte er offensichtlich schon einige Aufträge vergeben, weil aber die restlichen Mitglieder der Mordkommission zunächst wie üblich aus den anderen Kommissariaten organisiert werden mussten, fand die konstituierende Besprechung, wie Deniz es nannte, erst am Nachmittag statt.
»Sie mögen es, wenn die Staatsanwaltschaft anwesend ist. Macht immer einen guten Eindruck, und du sowieso«, waren seine Worte gewesen, lächelnd und mit George-Clooney-Miene.
Sie war dem gern nachgekommen, weil sie diese Atmosphäre mochte, die sowohl völlig wuselig als auch absolut konzentriert und zielgerichtet war. Bei der Staatsanwaltschaft kämpften sie für sich allein, führten vielleicht mal ein Gespräch mit einer Kollegin, einem Kollegen, um sich einen Rat zu holen. Hier war es laut, durcheinander und hektisch, dennoch schien sich alles in eine Richtung zu bewegen, weil jeder ausstrahlte, dass er wusste, was zu tun war.
»Menschlich sind sich bei uns auch nicht alle grün, und ein paar Deppen sind schon dabei«, so drückte Deniz es aus, wenn die Rede darauf kam. Aber diese Leute schienen irgendwo einen Persönlichkeitsanteil in sich zu haben, der das ausblenden konnte und funktionierte. Vielleicht deshalb, weil es in ihrem Job Situationen gab, in denen gegenseitiger Verlass lebenswichtig war, vielleicht war das der Grund, dachte sie.
Das Zentrum der Kommission war der große Besprechungsraum am Ende des Flurs, den sie aus früheren Verfahren kannte.
An der Tür klebte schon ein Zettel, auf den jemand mit dickem Filzstift »MK Ruhr« geschrieben hatte, und der riesige Tisch in der Mitte des Raums sah bereits jetzt aus wie der Schreibtisch in einem Teenagerzimmer. Drei der sechs Schreibplätze waren besetzt, daneben lagen Hefter, Klappmappen und Loseblattsammlungen. Zwischen Ordnern in der Mitte des Tischs standen ein paar Kaffeetassen, und es hatte sogar schon jemand eine Plastikbox mit einer Keksauswahl spendiert.
Bei dieser ersten Besprechung fehlte lediglich jenes Team, das mit Hundertschaft und Leichenspürhund am Tatort nach dem Messer suchte, was kein so großes Problem war, weil der Umfang der Infos, die unter die Leute gebracht werden mussten, zu diesem Zeitpunkt noch überschaubar war und die Abläufe eh allen bekannt waren. Nach zehn Minuten war alles gesagt, ihr kurzer Part inklusive.
Außer Anja, der Aktenführerin, und Deniz als Leiter hatte lediglich noch Sascha seinen Arbeitsplatz im eigenen Büro ein Stück den Flur hinunter. Er gehörte zu den Leuten aus der Kommission, die sie noch nicht kannte, sah aus wie ein Student im ersten Semester und kümmerte sich in der Kommission um die Massendaten.
»Ich mach euch mal bekannt«, sagte Deniz, »hab eh ’ne Nachfrage.«
Als sie gemeinsam das Büro betraten, wurde klar, warum der Mann einen separaten Arbeitsplatz brauchte. Er saß vor zwei großen Monitoren, und auf einem seitlichen Tisch stand zusätzlich ein aufgeklapptes Notebook. Auf allen Bildschirmen fand irgendetwas statt.
»Frau Staatsanwältin Lopez, unsere Kap-Dezernentin, hast du ja schon gesehen. Das ist Sascha Hilbing, unser Mann für die Daten.«
»Schon viel von Ihnen gehört.«
Er gab ihr die Hand im Sitzen, gemäßigter Händedruck, Surferlächeln.
Obwohl ihr das grundsätzliche Duzen bei der Polizei gefiel, bot sie es meistens nicht bei der ersten Gelegenheit an und beließ es auch jetzt beim »Sie«. Man würde sich schon noch mal über den Weg laufen.
»Sascha macht sonst Drogen, darum ist er in allen Programmen ziemlich beschlagen. Bei ihm ist das also in den besten Händen.«
Sascha zog eine Grimasse.
Ihr obligatorisches »Okay« für die Anträge der Beschlüsse zur Sicherstellung der Verbindungsdaten hatte sie noch in der Nacht gegeben, was eine Formsache war.
»Sind die Daten von den Funkmasten schon da?«, fragte Deniz.
»Gutes Timing, die 25er haben sie tatsächlich vor drei Minuten geschickt, ich wollte in diesem Moment anfangen.« Er öffnete etwas und zeigte auf einen der Bildschirme. »Wir haben Glück, es kommen nur zwei Masten infrage, das hätte auch schlimmer sein können.« Er umkreiste mit dem Cursor zwei Dreiecke auf einer Karte. »Etwas mehr Richtung Kettwig sähe es schon ganz anders aus. Und beim Tatzeitraum gehe ich erst mal von dem aus, was du eben bei der Besprechung gesagt hast, ja?«
Deniz nickte.
»Ja. Vorgestern 23 Uhr bis gestern vier Uhr.«
»Okay, erweitern können wir das immer noch. Wir haben den Zeitraum davor und danach auch noch.«
Kurzer Gruß, sie verließen das Büro.
»Noch einen Kaffee? Der aus unserer Maschine ist der beste in der Behörde. Sagen alle.«
»Gut, aber dann muss ich wieder rüber. Hier ist fürs Erste nichts mehr zu tun … Für mich, meine ich«, hängte sie nach Deniz’ erstauntem Blick noch an.
Sie hoffte, dass in der Box noch einer von den Schokoladenkeksen war.
Wieder im Auto, hörte er sich den Anfang des Interviews noch einmal an und war der Meinung, dass es brauchbar war.
Einen ihrer beiden Sportredakteure im Team hatte am Vortag Corona aus dem Spiel genommen, den anderen vor Tagen die falsche Einschätzung seiner Fähigkeiten beim Mountainbiking. Dieser exklusive Termin mit dem neuen Trainer eines Zweitligisten war jedoch zu kostbar gewesen, um ihn verstreichen zu lassen, und weil der Mann Belgier und des Deutschen noch nicht mächtig war, musste Alex ran.
Fußball. Für Leute, die ihn kannten, hätte das ein veritabler Witz sein können, aber zwei Studiensemester im Vereinigten Königreich machten auch fünfzehn Jahre später sein Englisch noch zum Besten, was die Redaktion da zu bieten hatte, und einem Nachrichtenportal, welches sich Watching the West nannte, stand das gut zu Gesicht, fand die Chefin.
»Darum möchte ich, dass Sie fahren. Wir wollen doch einen professionellen Eindruck machen.«
Obwohl er über Fußball in etwa so viel wusste wie über Molekularbiologie, was auch allen in der Redaktion bekannt war, denn im Pott kam niemand umhin, sich zum Fußball zu positionieren, so oder so, erst recht, wenn man aus Essen kam und den Namen Rahn trug.
Der Kollege hatte ihn telefonisch eingehend gebrieft, und Alex hoffte, der Rest des Gesprächs würde ebenso okay sein wie der Einstieg.
Er checkte noch kurz die News und Anzeigen auf drei Portalen, aber wie es aussah, hatte in der letzten halben Stunde niemand die Welt aus der Umlaufbahn gekickt.
»Keine Noten, kein Quälen, nur Spaß – lerne intuitiv Saxofon.«
Er zögerte einen Moment, dann tippte er die Werbeanzeige an, schüttelte aber nach kurzer Zeit den Kopf über die eigene Dummheit.
Saxofon begeisterte ihn schon immer, erst recht, seit er mit zwanzig den Film Bird gesehen hatte, aber irgendwie war es neben dem Klavier nie dazu gekommen. Vor Tagen war er Teil einer faszinierten Menge gewesen, die in der Fußgängerzone vor der Lichtburg einem rastalockigen Virtuosen nach der Darbietung jubelnd Euroscheine in den Hut legte. Dadurch wieder angestachelt, hatte er in den Tagen danach ein paarmal nachgesehen, ob es in der Nähe jemanden für die ersten Schritte auf diesem Instrument gab. Seitdem erschien auf all seinen Displays alles Mögliche, was damit zusammenhing. Die Anzeigen von Musikalienhändlern oder Posts von Portalen für Vintage-Instrumente nervten nur, wirklich schlimm waren die Werbefilmchen nach dem Motto »Virtuose in einem Monat – ohne lästiges Üben«. Die virtuelle Version von Aale-Dieter oder Käse-Achim auf dem Hamburger Fischmarkt.
Er drückte das Video weg, steckte sich noch eine Selbstgedrehte an und fuhr Richtung Amtsgericht.
Der Vergewaltigungsprozess, der heute eröffnet werden sollte, hatte Verspätung, weil der Fall davor länger dauerte, was nicht die Regel war, aber schon mal vorkam. Er hätte die Zeit für einen Kaffee bei Camilla nutzen können, aber man wusste erstens in solchen Fällen nie genau, wann es weiterging, und zweitens konnte er keineswegs sicher sein, sie anzutreffen.
Er nahm auf einer der Bänke in der Nähe des Saals Platz und packte das unterwegs besorgte Käsecroissant aus.
Im Posteingang seines E-Mail-Accounts war eine Reaktion auf eine Rechercheanfrage, die er seit Tagen erwartete und sofort beantwortete.
Beim Check des Presseportals der Polizei Essen las er von einer Leiche, die in der Nacht im Essener Süden nahe der Ruhr gefunden worden war, und dass eine Mordkommission die Arbeit aufgenommen hatte. Eine Pressekonferenz schien vorerst nicht geplant zu sein.
Er wählte Deniz’ private Handynummer.
»Lass mich raten. Du hast von der Leiche gelesen?«
»Erst mal guten Tag. Und wenn du in der Schule schon so klug gewesen wärst, hättest du bestimmt ein besseres Abi gemacht.«
»Intuition eben, Königsdisziplin für Kriminalisten.«
»Eigenartig, Intuition ist doch eigentlich das Ergebnis von Intelligenz, Erfahrung und Mut, von daher …«
»Dass man sich das von einem Streber sagen lassen muss …«
Alex lachte. »Was ist nun mit eurem Toten?«
»Ich kann dir dazu noch nicht viel sagen, wir sind erst ganz am Anfang. Außerdem hab ich im Augenblick echt kaum Zeit, wie du dir vielleicht vorstellen kannst.«
»Bist du MK-Leiter? Bei euren Pressemitteilungen steht das leider nicht dabei, andere Behörden machen das.«
»Ja, ich bin schon seit heute Nacht am Fliegenfänger.«
»Wann passt es dir besser?«
»Keine Ahnung. Probier es abends noch mal, dann sehen wir vielleicht schon klarer.«
»Welcher Staatsanwalt ist im Rennen?«
Er hoffte, dass es Camilla war.
»Camilla. Sie war eben noch hier, aber sie wird dir auch nicht mehr sagen können.«
»Okay, bis später.«
Als er das Gespräch beendet hatte, sah er noch auf den Presseportalen der anderen Ruhrgebietsbehörden nach, aber dort war nichts, was sein Interesse kitzelte.
Wenn Sie zehn dieser Fragen beantworten können, sind Sie hochbegabt.
Einen Moment zögerte er, dann scrollte er zur ersten Frage, bei der durch Umlegen zweier Streichhölzer aus einer dreistelligen eine fünfstellige Zahl werden sollte. Er sah die Lösung sofort, lächelte mit gutem Gefühl, als über die hauseigene Anlage der Aufruf zu seiner Verhandlung durch den Flur schallte.
Fünf Minuten nachdem zwei Justizbeamte den Angeklagten in den Saal geführt hatten, ließ man auch die Besucher eintreten, und Alex suchte sich einen Platz, der es ermöglichte, das Gesicht des Mannes zu sehen. Wenn er bei diesem Vorwurf in U-Haft saß, ließ das eine gewisse Qualität seiner Tat erahnen, dachte Alex.
Hinter der Staatsanwaltschaft saß auf den Plätzen für die Nebenklage eine Frau. Sie war in Begleitung eines Anwaltspärchens in schwarzen Roben, und ihr Gesicht sah aus, als versuche sie vergeblich, die Erinnerungen an einen Besuch in der Hölle zu vergessen.
Nach ein paar Minuten mit formaljuristischem Kauderwelsch der Vorsitzenden wurde als Zeuge ein forensischer Psychoanalytiker aus dem Maßregelvollzug aufgerufen, dessen Name Alex aus anderen Verhandlungen ein Begriff war. Der Mann trug ein aussagepsychologisches Gutachten vor und neben einem gehörigen Teil Fachchinesisch war davon noch genug verständlich um zu erfahren, dass die Frau in den fünf Jahren ihrer Ehe die Wohnung nicht verlassen und wie eine Sklavin gelebt hatte. Der gewaltsame Sex, wann immer ihrem Mann danach war, war dabei nur ein Teil der grimmigen Grausamkeiten, denen sie täglich ausgesetzt gewesen war. Das Gesicht des Angeklagten zeigte außer einer eindringlichen Gleichgültigkeit zu keinem Zeitpunkt des Vortrags eine Regung.
Als der Gutachter nach einer Weile auf die Kindheit des Mannes zu sprechen kam, wurde das Entsetzen der Besucher ein zweites Mal angefacht, weil er als Dreijähriger von einem Sadistenpärchen adoptiert worden war, dessen männlicher Teil die jahrelange physische und psychische Quälerei mit dem Leben bezahlt hatte, als die Pubertät dem Angeklagten körperlich dafür die Mittel gegeben hatte. Das alles war viele Jahre her.
Wie so oft in solchen Situationen hatte Alex die Fantasie, dass Grausamkeit eine Parallele zur Physik hatte. Einmal in der Welt, verschwand sie nicht einfach, sondern in dem, was sie bewirkte, wurde sie weitergegeben und löste wo auch immer im Universum wieder etwas aus. Wie eine Energie, die niemals verschwand, selbst dann nicht, wenn sie als Kohle für Millionen Jahre tief in der Erde ruhte. Oder als versteinerte Seele in einem Menschen.
Nach einer Stunde war der Vortrag zu Ende, und weil nichts Interessantes mehr zu kommen schien, verließ Alex den Saal.
Bis zur Redaktionssitzung war noch etwas Zeit, die man jetzt eventuell mit einem Kaffee bei Camilla nutzen konnte. Auf dem Weg zu ihrem Büro bog er in die Toilette ab, und im Vorraum mit den Waschbecken stand ein Mann, der etwas übereilt eine Flasche in seiner Tasche verschwinden ließ, und es war deutlich zu riechen, dass darin kein Apfelsaft war. Das Gesicht kam Alex bekannt vor, und er kramte in seiner Erinnerung nach einem Namen und einer Gelegenheit. Vergeblich. Er hatte in diesem Job einfach mit zu vielen Leuten zu tun.
Als er zurückkam, stützte sich der Trinker mit beiden Händen auf eines der vier Waschbecken und blickte wie in einen bodenlosen Brunnen, ohne davon Notiz zu nehmen, was um ihn herum geschah. Alex wusch sich die Hände, unsicher, was zu tun war. In dem Augenblick, als er die Toilette verließ, fiel ihm ein, woher er diesen Menschen kannte. Er stoppte seinen Schritt und ging zurück.
Wieder war die Nacht sehr kurz gewesen, aber in den ersten Tagen einer Mordkommission konnte man meist froh sein, überhaupt ein wenig Schlaf zu bekommen. Er hatte sich am Abend auf der Bettkante eine Flasche Fiege geöffnet, die heute Morgen noch zur Hälfte gefüllt war, und er fragte sich, ob seine Nacht wegen dieses Restes unruhig gewesen war oder wegen des Teils, der in der Flasche fehlte.
Weil er vor allen anderen im Büro war, hatte es für die Zubereitung eines Çay noch gereicht, und er nahm sich ein Glas mit in die Besprechung.
»Schließ mal bitte die Tür, wenn alle da sind.«
Kalla von den Einbrechern saß am nächsten und erfüllte den Wunsch.
Die Mordkommission war relativ klein, aber mehr war im Moment nicht drin, jedenfalls nach den Worten der Chefin. Sollte sich die Spurenlage ändern, müsse man mit der Führungsstelle neu verhandeln. Da war es ein ziemliches Glückslos, Anja Winter für die Akten dabeizuhaben. Anja war schnell im Kopf, schnell mit den Händen, dabei penibel und dachte meist genau an die Dinge, die ihm durchgingen. Dass sie eine Labertasche war, die wenig Gespür dafür hatte, wann das Gegenüber mal zwei Minuten Ruhe brauchte, nahm er dafür in Kauf. Auch wenn sie sich, wie in einer MK üblich, jetzt ein Büro teilten und sie ihm als Aktenführerin den ganzen Tag gegenübersaß.
Bei den vier Ermittlungsteams gab es nur eine junge Kollegin, die er nicht kannte, die ihm nur schon einmal auf dem Hof oder im Fahrstuhl aufgefallen war. Sie hatte afghanische Wurzeln, hieß Nila, und von Anja hatte er erfahren, dass sie fließend Dari und ein wenig Paschtu sprach. Man wusste nie, wann solche Dinge zu gebrauchen waren.
Sechs der sieben anderen kannte er aus vergangenen Kommissionen, einige seit Jahren, alle waren im grünen Bereich. Eine gute Mischung aus erfahrenen Leuten und jungen Energiebündeln. Lediglich auf Benni Böker, der eigentlich Benjamin hieß, hätte er verzichten können. Sie kannten sich aus der Fachhochschule, was Ewigkeiten her war, aber schon damals wäre der Widerspruch verhalten gewesen, hätte jemand den guten Benni ein respektloses, stiefelleckendes Arschloch genannt. Er hatte sich wegen der Karriere nach Essen versetzen lassen und trieb sich jetzt normalerweise bei der Wirtschaftskriminalität rum. Bis auf eine kurze Begrüßung im Vorbeifahren auf dem Hof hatten sie sich vor der MK noch nicht gesehen.
Aber wie hatte Onkel Kemal immer gesagt? Jeder hat eine zweite Chance verdient, also auch Benni, mit Mühe.
Nachdem Anja der Truppe erklärt hatte, wie sie sich den Aufbau der Spurenvermerke vorstellte, die man ihr nach den Ermittlungen auf den Tisch legte, bat Deniz Timo, von der Suchaktion zu berichten.
»Das vorweg: Gefunden haben wir die Tatwaffe nicht, obwohl wir bis zum Dunkelwerden vor Ort waren. Um mal den Bereich abzustecken, haben wir zuerst ein Messer genommen und es von der Straße aus geworfen. Weiter als zwanzig Meter fliegt so ein Ding nicht, wenn man nicht Olympiateilnehmer ist. So weit sind wir aber nur um den Leichenfundort ins Gelände gegangen. Dann haben wir vom Leichenfundort aus nach Osten und nach Westen den Bereich neben der Straße abgesucht, den man erreicht, wenn man es aus dem fahrenden Auto wirft, und zwar …«, er stand auf und ging zu einem Kartenausschnitt, der am Whiteboard hing, »… bis etwa zu diesen Stellen, wo die Straße sich in beiden Richtungen der Ruhr nähert. Das ist jeweils knapp ein Kilometer und war echt mühsam, weil das Gelände sehr unterschiedlich ist. Meistens dicht bewachsen, oft mit steiler Böschung. War teilweise auch für den Hund schwierig.«
»Und wenn sie es in die Ruhr geworfen haben?« Der dicke Mohning frühstückte nebenbei eine Leberkäsesemmel mit so viel süßem Senf, dass der an der Seite hervorquoll.
»Wenn sie das Ding in die Ruhr geworfen haben, dann eher an dieser Stelle beim Golfplatz«, wieder tippte Timo auf einen Punkt auf der Karte, »weil, hier oben kommst du gar nicht so nah ans Wasser heran, und du kannst den Fluss hier von der Straße aus auch nicht sehen. Und nachts kannst du die Ruhr auch hier unten nicht sehen, obwohl sie da fast neben der Straße fließt und nur von ein paar Bäumen und Gebüsch verdeckt wird. Und hier oben, an dieser Stelle, bist du fast in Werden, da sind schon die ersten Häuser.« Er machte eine Pause. »Aber ich glaube nicht, dass das Ding in der Ruhr liegt.«
»Warum nicht?« Mohning, mit vollem Mund und Senf an der Unterlippe.
»Genau deshalb, wegen der fehlenden Sicht. Du kannst die Ruhr da nachts nicht sehen, obwohl sie ganz nah neben der Straße fließt, das musst du schon wissen. Ich glaube aber, die Täter kannten sich nicht aus. Darum wussten die wahrscheinlich auch nicht, dass es hier eine Stelle gibt, wo ein Fluss ganz in der Nähe ist.«
»Wie kommst du darauf, dass sie sich nicht auskannten?«, fragte Deniz.
»Wegen des Ablageorts.« Wieder tippte Timo auf die Karte. »Die sind einfach rechts ran, haben ihn getötet und dann den kleinen Abhang runtergeworfen. Wenn die sich ausgekannt hätten, gäbe es dafür ganz in der Nähe mehrere Stellen, die wesentlich besser geeignet gewesen wären. Hier und hier sind Buchten, es gibt verschiedene Einfahrten, wo man nicht wie auf dem Präsentierteller steht, und hier und hier«, wieder zeigte er auf die Karte, »gehen sogar kleine Wege oder Straßen ab, wo man in zwanzig Sekunden an einem Platz ist, wo man wesentlich ungestörter wäre. Denn wenn da um die Zeit ein Auto langkommt, bist du vollkommen sichtbar.«
»Das muss man aber im Vorbeifahren auch erst mal checken, dass da einer umgebracht wird, wenn da nur ein beleuchtetes Fahrzeug rumsteht. Kann doch werweißwas sein.«
»Ja, schon klar«, sagte Timo, »aber wenn ich Ortskenntnis habe, würde ich es niemals darauf ankommen lassen, sondern kurz irgendwo reinfahren, und wenn es nur so eine Anhaltebucht ist.«
Kurzes Schweigen, nur Mohning knisterte beim Zusammenpacken des Brötchenpapiers.
»Okay, lassen wir erst mal so stehen«, sagte Deniz, »guter Einwand, behalten wir im Hinterkopf. Sollte das Ding doch im Fluss liegen, ist eh nichts mehr zu machen. Könnte schließlich sein, dass sie über die Brücke Ringstraße gefahren sind. Ist ’ne Ecke weg, klar, aber auch wenn es von der Auffindesituation der Leiche wahrscheinlich ist, dass sie Richtung Werden weggefahren sind, ist das nicht sicher.«
Er blickte in die Runde.
»Gibt’s noch was zu euren Ermittlungen zu sagen? Einige waren ja noch unterwegs.«
Kalla hob den Arm.
»Ganz kurz zur Reifenspur im Erdreich am Tatort: Es handelt sich um einen SUV-Winterreifen, Firestone, Typ blablablubb. So wie die Spur aussah, an der Stelle, könnte das tatsächlich unser Tatfahrzeug gewesen sein. Ob man daraus was zum Fahrzeugtyp ableiten kann, da bleibe ich dran.«
»Danke, Kalla, wichtige Spur, finde ich auch. Noch jemand was?«
Zwei Teams, die Anwohner befragt hatten, schilderten kurz, dass nichts Wesentliches dabei rausgekommen war. Ein Lokal an der Laupendahler Landstraße wollte noch eine Gästeliste des Abends schicken, soweit diese bekannt waren, und auch im Golfclub hatten sie einen schriftlichen Aufruf hinterlassen. Ansonsten war das, was am Beginn einer MK immer sofort getan und auf den Weg gebracht wurde, noch ohne Ergebnis geblieben. Auch die Identität des Toten war noch nicht bekannt.
Deniz beendete die Besprechung, und sofort herrschte Stühlerücken und Aufbruchstimmung.
Gemeinsam mit Anja auf dem Weg zu ihrem Büro, hielt ihn Benjamin Böker kurz davor an der Schulter zurück.
»Ach, Döner, nur eine Sekunde. Ich wollte dich zumindest kurz ganz offiziell begrüßen. Habe ich schon vor, seit ich hier in der Behörde gelandet bin.« Das schmierige, falsche Lächeln war noch dasselbe. »Mein Gott, wie lange ist das her, das wir uns gesehen haben?«
Aus den Augenwinkeln erkannte Deniz ein Fragezeichen in Anjas Gesicht.
»Fünfzehn Jahre ungefähr, wenn ich richtig rechne.«
»Ich dachte, vielleicht hast du ja nicht mitbekommen, dass ich mich auf den Stellvertreter bei der Wikri beworben hatte.«
»Doch, habe ich mitbekommen. Hoffe, es gefällt dir da. Wikri ist ja manchmal etwas dröge Kost, finde ich.«
»Der erste Eindruck war durchaus positiv.« Er schob die Unterlippe vor.
»Dann frohes Schaffen, werden uns ja jetzt öfter sehen. Die nächste Zeit sowieso.«
Deniz versuchte ein Lächeln und folgte Anja in ihr Büro. Als er sich gesetzt hatte, stand sie auf und schloss die Tür.
»Wie hat der dich eben genannt?«, mit zusammengekniffenen Augen.
»Wir waren gemeinsam auf der Fachhochschule, und damals ging es noch nicht so rücksichtsvoll zu. War doch bei euch sicher nicht anders. Jeder wurde an der Stelle attackiert, wo bei ihm das Lindenblatt saß. War doch ein Lindenblatt, oder?«
»Ja, kann sein, Fachhochschule, meinetwegen. Aber hier geht das gar nicht. Döner? Ich dachte, ich hör nicht richtig.«
Erst jetzt spürte Deniz, dass es sich anfühlte wie damals in manchen Situationen. Als atme er heiße Luft, die sich rasch in jedem Winkel seines Körpers verteilte. Auch nach der Fachhochschule hatten ihn einige manchmal noch Döner genannt, was noch verletzender gewesen war als die paar offenen Angriffe einiger älterer Kollegen, die mit einem Türken in der Polizei wenig anfangen konnten, auch wenn der Müller hieß und einen deutschen Vater hatte. Mit der Zeit hatte das nachgelassen. Mitgelacht hatte er auch damals nicht, aber etwas dazu gesagt auch nur in wenigen Situationen. Was schon zu der Zeit ein Fehler gewesen war.
Er stand auf und fand Benjamin Böker an einem der Bildschirme im Besprechungsraum.
»Benni, hast du eine Minute?«
Böker machte ein überraschtes Gesicht, folgte ihm in die kleine Küche. Deniz schloss die Tür.
»Mein Gott, wird das ein Heiratsantrag?«
»Nicht ganz. Muss nur nicht jeder hören, geht uns beide an. Und ich wollte es sofort klären.« Er sah Böker an, bis das Lächeln verschwand. »Ich möchte von dir nicht mehr ›Döner‹ genannt werden, okay?«
Wirkungstreffer. Er zog die Brauen nach oben, brauchte einen Moment.
»Mein Gott, bist du über die Jahre empfindlich geworden?«
»Ich war immer empfindlich, jetzt sage ich es nur.«
»Hat dich doch damals auch nicht gestört, diese Flachserei.«
»Doch, hat es. Ich habe nur nichts gesagt. Und damals waren andere Zeiten.«
Die Wirkung ließ schon wieder nach, und allmählich machte sich die alte Herablassung wieder in seinem Gesicht breit.
»Dass ausgerechnet du jetzt auf political correct machst, ist schon verwunderlich. Du warst damals auch kein Kind von Traurigkeit.«
»Ja, kann sein.«
»Es hat damit zu tun, dass du jetzt Leiter bist, oder?«
»Es hat damit zu tun, dass es mich stört und ich es jetzt sage.«
Er atmete tief durch.
»Könnte man auch locker nehmen mit etwas Selbstbewusstsein.«
»Könnte man, tue ich aber nicht. Lass es einfach, okay?«
Er breitete die Unterarme mit den Handflächen nach oben aus, was wohl so etwas wie Zustimmung bedeuten sollte.
Als Deniz sich wieder an seinem Platz setzte, sah Anja ihn mit gesenktem Kopf über die beiden Schreibtische hinweg an.
»Alles geklärt. Danke für den Anschub.«
»Gut«, sagte sie.
Zweite Chance? Ts…, Arschlecken …
Petersen. Der Mann hieß Hannes Petersen.
Perfekte Übergabe – Dynastien im Ruhrgebiet.
Vor knapp drei Jahren hatte Alex als eines seiner ersten Projekte bei WtW eine Serie gestartet, die den Generationswechsel in alten Familienunternehmen im Pott beleuchtete. Seinen Fokus hatte er dabei bewusst auf die gelingenden Beispiele gerichtet, die seltener waren als angenommen. Die Fälle, in denen der alte Patriarch die Macht nicht aus der arthritischen Hand geben wollte und die Firma lieber mit Starrsinn vor die Wand fuhr, als seine Nachfolger etwas ändern zu lassen, waren gefühlt in der Überzahl gewesen.
Langsam kam Alex’ Erinnerung wieder.
Bei den Petersens war es anders gelaufen. Dreimal hatte in ihrem Bauunternehmen der Vater die Leitung der Geschicke auf einen der Söhne übertragen, und es war in diesen knapp einhundert Jahren stetig bergauf gegangen, wenn Alex sich richtig erinnerte.
Er stellte sich neben den Mann, der weiterhin nach unten starrte und irgendwo anders war, nur nicht im Vorraum einer Toilette der Essener Justizbehörden.
»Herr Petersen?«
Wie eine Schildkröte wandte er den Kopf, sah Alex an, und nach kurzer Zeit verschwand die Falte zwischen seinen Brauen.
»Herr Rahn!?«
»Richtig. Die Serie in Watching the West.«
»Ich erinnere mich. Aus dem Hintergrund müsste Rahn schießen …« Er versuchte ein Lachen, das alsbald notlanden musste.
»Das hatten Sie schon damals bei unserem ersten Treffen gesagt. Geht es Ihnen gut, Herr Petersen? Sieht im Moment nicht danach aus, wenn Sie mir diese Einschätzung erlauben, ohne anmaßend sein zu wollen.«
Endlich löste er die Hände vom Beckenrand, richtete sich ein wenig auf und suchte den Blickkontakt über den Spiegel.
»Ich denke, dafür braucht man keinen Doktor in Menschenkenntnis, oder?«
Sie waren in etwa gleich alt, und Alex hatte die Gespräche zwischen ihnen in guter Erinnerung. In einer Stimmung gegenseitiger Sympathie war damals vor allem der Stolz aus ihm geflossen, die Reihe seiner männlichen Vorgänger fortzusetzen. Der Mann, der jetzt vor ihm stand, wirkte wie die kraftlose, verzweifelte Version seines damaligen Gegenübers.
»Kann ich Ihnen irgendwie helfen?«
Wieder versuchte er ein Lächeln, das nur kurz seinen Kopf durch einen Vorhang trauriger Bitterkeit steckte.
»Mir ist nicht mehr zu helfen.«
Nach einigen Treffen in der Firma hatte es zum Schluss einen gemeinsamen Kneipenabend gegeben, bei dem zu späterer Stunde Themen besprochen wurden, die nicht in seiner Reportage landen sollten. Etwas von dem, was einem über die Jahre an die Seele getackert wird und worauf man nur hin und wieder einen Blick wirft. Ob das an dem Tag Folge seiner schon damals mörderischen Schlagzahl beim Bier gewesen war? Schon möglich. Vielleicht hatte es auch mit diesem beiderseitigen Gefühl zu tun, dass sie miteinander konnten. Jedenfalls lag es nicht nur am beruflichen Ehrenkodex, dass Alex sich natürlich daran gehalten und diese Themen vertraulich behandelt hatte.
»Wollen wir einen Kaffee trinken? Hier um die Ecke kenne ich ein paar Läden, die ganz okay sind.«
Er löste sich aus dem Blickkontakt im Spiegel und sah Alex jetzt direkt an.
»Ein Bier wäre mir lieber.«
Mit diesen Worten zog er den Flachmann wieder aus der Manteltasche, schraubte ihn mit einem schabenden Geräusch auf und nahm einen Schluck.
»Meinetwegen auch das.«
Camilla würde er später anrufen.
Sie entschieden sich für eine Bar, die nah an dem Parkhaus lag, in dem Petersen seinen Wagen geparkt hatte, und Alex hoffte, dass der Mann nicht noch Auto fahren wollte.
Auf dem kurzen Fußweg sprachen sie kaum ein Wort und fanden etwas abseits einen Tisch, der ein wenig Diskretion möglich machte.
»Ich weiß gar nicht, warum ich mitgekommen bin«, sagte er, nachdem sie sich gesetzt hatten, und schüttelte sacht den Kopf. »Wir kennen uns kaum.«
»Vielleicht wollen Sie ein bisschen reden.«
»Reden …«
»Ich möchte nicht anmaßend sein, aber es sah auf der Toilette so aus, als könnten Sie das gebrauchen. Sieht auch jetzt noch so aus.«
»Als ob das noch helfen würde.«
»Und ich habe unsere Gespräche von damals noch in guter, in sehr guter Erinnerung, Herr Petersen, von daher …«
Er zog die Brauen nach oben, nickte kaum wahrnehmbar.
»Damals waren andere Zeiten. Wobei …«, er machte eine Pause, »… genau genommen fing es da schon an.«
Die Bedienung kam, und Hannes Petersen bestellte sich ein großes Fiege Zwickel. Eigentlich auf Kaffee und Wasser eingestellt, orderte Alex aus Solidarität und Taktik ein kleines Bier. Gemeinsam sprechen und gemeinsam trinken waren zwei Geschwister, die sich meist umarmten.
»Geht es um die Firma?«
Wieder machte Petersen eine lange Pause, und Alex fragte sich, ob es die Überwindung war oder der Alkohol, obwohl Petersen zu den Menschen gehörte, denen man kaum ansah, wie viel sie getrunken hatten.
»Die Firma … Die Firma gibt es nicht mehr.«
Obwohl Alex etwas in der Richtung erwartet hatte, wurde sein Mund jetzt trocken.
»Seit wann?«
»Seit ein paar Monaten.«
»Und da ist das letzte Wort schon gesprochen?«
»Das Insolvenzverfahren wird demnächst eröffnet, deshalb war ich heute hier. Wenn nicht noch ein Wunder geschieht. Aber wie das mit Wundern so ist …«
Die Getränke kamen, und sein Gegenüber nahm einen Schluck Bier, kaum dass die Bedienung gegangen war.
»Corona?«, fragte Alex und stellte sein Glas wieder ab.
»Ja, hat auch eine Rolle gespielt, war aber nur das i-Tüpfelchen, das das Fass zum Überlaufen brachte.«
Wieder stellte er sich die Frage, ob dieser metaphorische Lapsus gewollt war oder ein cooler Scherz sein sollte.
»In erster Linie sind falsche Entscheidungen getroffen worden.« Er verzog das Gesicht. »Falsch. Ich«, mit Betonung, »habe ein paar falsche Entscheidungen getroffen. Kleiner Unterschied.«
Er nahm einen großen Schluck.
»Was ist passiert?«
Sein kaufmännisches Wissen war lediglich rudimentär, trotzdem verstand Alex genug von dem, was Hannes Petersen ihm in den nächsten Minuten erzählte, um eine Ahnung davon zu bekommen, was das alles bedeutete.