Black Moon Party - Klaus Sebastian - E-Book

Black Moon Party E-Book

Klaus Sebastian

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Beschreibung

Angeles City, Philippinen. Die Go-Go-Bars sehen aus wie billige Jahrmarkt-Kulissen. Vorne eine protzige Architektur, dahinter eine Bruchbude mit zerschlissenen Polstersesseln und lustlos auf der Stelle trippelnden Bikinimädchen. Ein harter Ort. Mittendrin der deutsche Schriftsteller Jon. Eigentlich wollte er hier einen realistischen Thriller schreiben. Doch es gibt zu viel Ablenkung in Angeles. Zu viel Sex, Viagra und Rock 'n Roll. Kurz vor dem Absturz wird Jon in einen geheimnisvollen Kriminalfall verwickelt. Eine junge Tänzerin aus seiner Stammbar ist ermordet worden. Der Polizei traut er nicht über den Weg. Da er nichts zu verlieren hat, fängt er an, auf eigene Faust zu recherchieren. Dabei kommt er einer perversen Organisation in die Quere, die keinen Spaß versteht.

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Seitenzahl: 222

Veröffentlichungsjahr: 2016

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BLACK MOON PARTY

Ein Philippinen-Krimi

Es gehört zur Würde und Freiheit eines jeden Menschen, sein Verderben zu wählen.

Wolfgang Döbereiner

Covergestaltung:

Sukyung Yang & Insook Ju

Vorwort

In Angeles City(Philippinen) war bis 1991 die US Air-Force stationiert. Für die Amerikaner war die sogenannte Clark Air Base im Vietnamkrieg ein wichtiger strategischer Ort in Südostasien.

Am 15. Juni 1991 kam es jedoch zur Katastrophe, als plötzlich der ganz in der Nähe gelegene Pinatubo in die Luft flog. Dieser verheerende Vulkanausbruch forderte fast 900 Menschenleben, und eine Viertelmillion Menschen wurden obdachlos.

Die US-Army räumte daraufhin die Base in Angeles City; die Soldaten zogen ab und verließen das Land. Die Infrastruktur und die Wirtschaft von Angeles City war nicht zuletzt durch den Abzug der US-Army zerstört.

Mittlerweile hat sich Angeles wirtschaftlich erholt. Die ehemalige Air Base wurde in eine „Wirtschaftszone“ umgewandelt.

Angeles verfügt nun auch über einen internationalen Flughafen (Clark International Airport).

Auch der Tourismus nimmt wieder zu.

Neben den sogenannten Jeepneys und zahlreichen Fastfood-Restaurants haben die Amerikaner in Angeles City, speziell im Stadtteil Balibago, ein riesiges Vergnügungsviertel hinterlassen.

Auf der Fields Avenue reihen sich auf einer Länge von etwa zwei Kilometern zahllose Gogo-Bars, Kneipen, Biergärten und Hotels. Den größten Boom erlebte Angeles im Jahr 1992, als der regierende Bürgermeister von Manila im Rotlichtviertel Ermita sämtliche Bars schließen ließ.

Diese zogen kurzerhand ins 80 km entfernte Angeles City um.

(Quelle: Wikipedia)

1

Jon stolperte wie ein Betrunkener über die Fields-Avenue. Er konnte die Schlaglöcher auf der mit Öl verschmierten Straße nur verschwommen ausmachen. Es war, als tasteten sich seine Füße über einen rissigen Meeresgrund voran. Von oben - da wo der Wasserspiegel sein musste - fiel grelles Licht in scharfen Streifen herab und zeichnete flimmernde Ovale auf den Boden.

Er schnappte nach Luft und versuchte die Wahnvorstellung abzuschütteln. Das war kein Wasser. Die Luft hier in Angeles war trocken und staubig, längst nicht so feucht wie in Manila. Er spürte die heißen Strahlen auf seiner grünen Baseballkappe, als wären sie durch ein Brennglas gegangen. Betrunken war er nicht. Zum Frühstück hatte er sich mit einer kleinen Flasche San Miguel Light begnügt. Er sah einfach schlecht. Seine Augenlider waren von einem gelblichen Schorf verklebt, die Tränensäcke geschwollen wie nach einem Niederschlag im Boxring.

„Hey Joe! Viagra?“

Er ignorierte die Rufe der Straßenverkäufer und Schlepper und stolperte weiter.

„Sore eyes“ hatte der Doktor im Divine-Sheperd-Hospital die Krankheit genannt. „Übertragung von einer Person auf die andere“, hatte er vieldeutig hinzugefügt. Von Bakterien verursacht.

Jon überlegte seit ein paar Stunden, wo er sich die Seuche geholt haben konnte. Vielleicht bei Angel. Irgendwann landeten alle verzweifelten Seelen bei Angel. Bis vor ein paar Wochen hätte er die Vorstellung, sich mit einer Straßennutte einzulassen, als absurd abgetan. Doch in Angeles City verschoben sich die Perspektiven. Orte können Menschen verändern, das hatte er hier gelernt. Mittlerweile war er sich nicht mehr so sicher, ob dies wirklich der richtige Ort war, um einen Roman zu schreiben. Deshalb war er nämlich vor einem halben Jahr hergekommen.

Die ersten Sätze der Story waren wie von Geisterhand aus seinem Billigkugelschreiber geflossen. Die Figuren und Handlungsorte waren ja alle da - die Bars, die Mädchen, die Ausländer, die Schlepper und Tricyclefahrer, die großen und kleinen Gangster - er musste das alles nur aufzeichnen und in eine plausible Form gießen.

„Warum eigentlich plausibel?“ dachte er. Das Leben war ja auch nicht plausibel. Er wollte einfach drauflos schreiben, die Handlung würde sich dann schon ergeben.

Vor allem hatte er sich vorgenommen, hinter die Kulissen dieser auf Sex und Alkohol gebauten Illusionsmaschine zu schauen.

Die meisten der Go-Go-Bars sahen wirklich aus wie billige Jahrmarkt-Kulissen. Vorne eine protzige Architektur, dahinter eine Bruchbude mit zerschlissenen Polstersesseln, einer Spiegelwand und lustlos auf der Stelle trippelnden Bikinimädchen.

Er drückte die Glastür der Las Vegas Bar nach innen und tastete sich in die Dunkelheit vor. Es roch nach abgestandenem Zigarettenrauch und süßlichem Parfüm. Alles wie immer. Das Vegas war eine der wenigen Bars, die schon morgens geöffnet hatten.

Drei Mädchen in rosafarbenen Badeanzügen hielten sich an den Chromstangen fest, fingen an mit den Beinen zu schlenkern als sie den frühen Gast wahrnahmen.

Jon bahnte sich einen Weg durch die aufdringlichen Hostessen, die ihn auf einen Barhocker festnageln wollten und steuerte den Comfort Room an. Er beugte sich über das Waschbecken und ließ das Wasser aus dem Hahn über sein Gesicht laufen. Seine Augen brannten immer noch. Frankenstein war ein gut aussehender Typ gegen das, was er da im Spiegel erblickte. Er schraubte die Verschlusskappe von dem winzigen Fläschchen mit den Augentropfen, legte den Kopf in den Nacken und träufelte sich die Flüssigkeit in die entzündeten Augen.

Er sollte für ein paar Tage auf Alkohol verzichten, hatte ihm der Doktor geraten. Bakterien lieben Alkohol.

Jon schlurfte zurück in die Bar und bestellte sich ein San Miguel. Eines der Tanzmädchen zwinkerte ihm zu. Für einen Moment spielte er mit dem Gedanken, seine Sonnenbrille abzunehmen und ihr einen Schock zu versetzen. Das Bier erschien auf seinem Tisch. Er nahm einen tiefen Schluck und überlegte, was er mit diesem verfluchten Tag anfangen sollte.

**+**

„Bitte essen Sie nicht die großen Pfefferminzbonbons!“

Der Spruch war gut. Er hing über den Pinkelbecken im Comfort Room der Margarita Station. Rusty betrachtete die dampfenden weißen Klosteine. Anscheinend traute der Inhaber der Bar seinen Besuchern alles zu. Rusty knöpfte seine Jeans zu und nahm sich vor, den Spruch demnächst auch auf dem Klo seiner eigenen Bar anzubringen.

Das Mojito  war zwar kleiner als die Margarita Station, doch er hatte die Hoffnung noch nicht aufgegeben, irgendwann in der ersten Liga mitzuspielen. In der Szene hatte es sich immerhin schon rumgesprochen, dass es bei ihm junge Mädchen und kalte Drinks zu akzeptablen Preisen gab. Anstelle der üblichen Technobeschallung ließ er eine Mischung aus Oldies und solider Rockmusik vom Band laufen.

Rusty wusch sich ausgiebig die Hände. Diesen Waschzwang hatte er erst, seit er auf den Philippinen lebte.

Danach nahm er wieder seinen Platz an dem ovalen Tresen ein. Das war sein Vormittagsritual. Frühstück in der Station. Er hatte schnell begriffen, dass es in Angeles ohne Regeln und einen festen Ablauf nicht ging. All die abgestürzten, schon am Morgen saufenden Kerle, die genauso zum Bild der Stadt gehörten wie die herumlungernden Tricyclefahrer, erinnerten ihn daran, was mit Leuten geschah, die nicht auf Regeln und Disziplin achteten.

Jon, der im selben Augenblick durch die Klapptür der Station in den Barraum gestolpert kam, zählte für Rusty noch nicht zu den hoffnungslosen Fällen. Aber er stand auf der Kippe.

Er berührte ihn an der Schulter, als er achtlos an ihm vorbeiging.

„Schon so blau, dass du alte Freunde nicht mehr kennst?“

Jon blinzelte ihn über die dunkle Sonnenbrille an.

„Oh mein Gott! Hey, Rusty, sorry. Mit meinen Augen ist was nicht in Ordnung.“

Er nahm die Brille ab und zeigte Rusty das Desaster.

„Oh my Buddha! Das sieht aus wie Beulenpest. Wie ist das denn passiert? Schlägerei?“

„Bakterien. Frag mich nicht, wo ich mir die eingefangen habe.“

Die winzige Bedienung trug eine putzige Nikolausmütze und fragte Jon nach seinen Wünschen.

„Wie man sieht, geht es mal wieder auf Weihnachten zu. Sprite, please!“

Jon wandte sich wieder Rusty zu und deutete auf das Pflaster in seinem Gesicht.

„Du bist ja auch lädiert. Messerstecherei wegen einer Lady?“

Rusty lachte.

„Nein, ich muss dich enttäuschen. Nur beim Rasieren geschnitten.“

„Tja, Alkoholismus macht sich im Frühstadium an zittrigen Händen bemerkbar.“

„Scherzbold. Du weißt ja, dass ich mich im Griff habe. Was man nicht von jedem hier in Angeles behaupten kann. Ich hoffe, ich muss mir keine Sorgen um deine Gesundheit machen.“

„Du siehst doch, dass ich nur noch Softdrinks zu mir nehme.“

„Und - was gibt es Neues in der Szene?“

Jon deutete auf seine Sonnenbrille.

„Keine Ahnung. Mir fehlt zur Zeit der Durchblick.“

Er sah die Räume der Margarita Station wie durch einen Schleier. Der Laden erinnerte mehr an eine Fabrikhalle als an eine Bar. Jede Menge Stahlträger, Rohre und Beton - dekoriert mit Bierreklamen und billigem Weihnachtsschmuck. Das Mobiliar schien noch aus den 60ern zu stammen. Die grauen Polster der verdreckten Stühle waren seit jener Zeit mit unzähligen glühenden Zigaretten in Kontakt gekommen.

„Hab gehört, der Vulkan rührt sich wieder. Hast du nicht gestern Abend auch so ein Rumpeln gehört? Das wäre ein Ding, wenn der hochgeht und dieses Sodom und Gomorrha unter einer fetten Lavaschicht begraben würde.“

Jon seufzte.

„Da wäre ich dann lieber woanders. Kannst du dir das Fiasko vorstellen? Ich meine, zigtausende Filipinos in Jeepneys zu evakuieren? Das Chaos da draußen unterscheidet sich doch jetzt schon kein bisschen von einer Notstandssituation.“

„Bis dahin sollten wir unsere Zelte hier abgebrochen haben. Viel hält mich hier eh nicht mehr.“

„Aha? Was denn - die Mädels?“

Jon zog etwas von der zuckersüßen Sprite durch den Trinkhalm.

„Ob du´s glaubst oder nicht - irgendwie hat das alles an Reiz verloren. Bin vielleicht schon zu lange hier.“

„Wenn ich sehe, wie sich diese 35 Kilo leichten Hühner von unglaublich fetten Amis und Australiern abschleppen lassen, läuft mir auch die Galle über.“

„Der neuste Trend sind ja die Cherry Girls, Jungfrauen.“

Rusty grinste.

„So neu sind die nicht. Ich bin schon vor einem Jahr an so Eine geraten. In der La Bamba Bar wimmelt es von Cherry Girls. Die machen dich erst heiß, wackeln mit dem Po, und wenn du sie mitnehmen willst, werden sie plötzlich zickig.“

„Was soll das Theater wohl? Warum arbeiten die in einer Go-Go-Bar? Ich meine, wo ist die Geschäftsidee?“

„Tanzen gern.“

Rusty lachte und schob seinen Teller mit den Rühreiresten beiseite.

„I like dancing“, hat mir so ein Mädchen mal gesagt. Wahrscheinlich verdienen sie ein bisschen an den Drinks, die sie von großzügigen Gästen spendiert bekommen. Oder sie hoffen, dass ein Koreaner ihnen 200.000 Pesos für das Erlebnis einer Entjungferung bezahlt.“

„Von dem Gerücht habe ich auch schon gehört“, sagte Jon. „Und was macht der Freier, wenn sich rausstellt, dass die Lady gar keine Jungfrau ist?“

„Er sucht sich einen Anwalt“, antwortete Rusty mit ungerührter Miene. „Nein, im Ernst: Ich glaube, die Dummheit stirbt nie aus“, fuhr er fort. „Manche Leute lassen sich eben gern abzocken.“

Er seufzte, trank noch einen Schluck von dem kalt gewordenen Kaffee und verzog angewidert das Gesicht.

„In meiner Bar gibt es jedenfalls keine Cherry Girls. Du warst übrigens schon lange nicht mehr da.“

„Ja. Wenn der Mist mit meinen Augen behoben ist, komme ich mal wieder rüber.“

Rusty steckte sich eine Camel an. In der hinteren Ecke der Margarita Station faltete ein Nikolausmädchen dünne Papierservietten in eine Dreiecksform.

„Viele Sachen machen sie hier so liebevoll - aber meist sind es die falschen. Wenn sie sich mit ähnlicher Hingabe dem Müll da draußen widmen würden wie dem Falten von Servietten, wäre ja schon einiges gewonnen.“

Jon hatte nicht hingehört. Er starrte auf die Lichterketten mit den winzigen Glühlämpchen, die wie vertrocknete Lianen schlapp von der Decke hingen. Der düstere Laden fing an ihn zu deprimieren. Er verabschiedete sich von Rusty und trat hinaus in die laute, von Abgasen grau gefärbte Luft.

„Boss! Viagra, Sir?“

„Nein danke.“

„Rolex? Shoeshine?“

Jon konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Der Kerl hatte gleich drei Jobs: Schuhputzer, Viagra-Händler und Uhrenverkäufer. Jon warf automatisch einen Blick auf seine Schuhe. Sie hatten sich farblich dem Straßenbelag von Angeles City angeglichen. Es war ein schmutziges Graubraun.

„Was kostet Shoeshine?“

„100 Pesos.“

„Zu teuer.“

Jon ging weiter.

„Okay. 60!“

Er machte kehrt und nahm auf dem Barhocker Platz, den sich der Schuhputzer von der nächstbesten Kneipe ausgeliehen hatte.

Der Mann ging in die Knie, schnappte sich eine Zahnbürste und fing an, Jons Slipper mit einer undefinierbaren Flüssigkeit einzureiben. Als er damit fertig war, erhielt der Schuh eine sanfte Massage mit Lederfett. Weil gerade kein Lappen zur Verfügung stand, trug der Schuhputzer das schmierige Zeug mit der bloßen Hand auf. Zur Unterhaltung des Kunden sang er auch noch einen alten philippinischen Schlager.

Die 60 Pesos haben sich gelohnt, dachte Jon, als er nach fünf Minuten in seine frisch polierten Schuhe schlüpfte.

An der nächsten Ecke, neben der Las-Vegas-Bar, stemmte Cock seine Betonhanteln in die Höhe. Sein Tricycle parkte im Halteverbot am Straßenrand. Als er Jon erkannte, legte er die Gewichte beiseite, wischte sich den Schweiß von der Stirn.

„Wohin soll es gehen, Sir Jon? Oder Schuheputzen?“

„Ich hatte schon Shoeshine.“

„Ah ja, ich sehe.“

Auch Cock war Multi-Unternehmer. Sein Tricycle war ein Taxi, er putzte Passanten die Schuhe, organisierte Ausflugstouren zum Vulkan, konnte alles besorgen, was das Herz der Touristen begehrte: Mädchen, Potenzpillen, Zimmer in Stundenhotels.

„Wohin soll es gehen?“ wiederholte er.

„Das ist die Frage unseres Lebens“, antwortete Jon.

„Yes! Und wir Fahrer helfen dabei, sie zu lösen“, konterte Cock.

„Direkt in die Hölle, was?“

„Yes. Highway to hell.“

Cock lachte laut und schob mit einer automatischen Bewegung sein verschwitztes T-Shirt hoch, so dass sein muskulöser, flacher Bauch sichtbar wurde.

„Henson Clinic!“

„Okay. 100 Pesos.“

„Cock, wie lange kennen wir uns? Was soll das Theater mit dem überhöhten Fahrpreis?“

Cock grinste, wischte mit einem Lappen die Chromstange an dem kleinen Beiwagen des Motorrads sauber und fabrizierte eine übertriebene Geste, die wie die Einladung zu einer Kutschfahrt in einem Vierspänner aussah.

„Weil bald Weihnachten ist. Also gut: 60 Pesos.“

Jon klemmte seine 185 Zentimeter in die winzige Kabine und saß nun auf Auspuffrohrhöhe.

„Dass ich mich hier in deiner Schrottkarre vergiften lasse und dafür auch noch bezahle, ist sowieso ein Witz“, maulte er.

Cock ließ den Motor an, der Auspuff knallte dreimal in ohrenbetäubender Lautstärke, dann setzte sich das Dreirad in Bewegung.

Welcome to the Philippines!, dachte Jon.

**+**

„Was machen die Augen?“

Doktor Santos klopfte seinem ausländischen Patienten jovial auf die Schulter und bat ihn, auf dem Behandlungsstuhl Platz zu nehmen.

Er hob Jons rechtes Augenlid hoch und leuchtete den Augapfel mit einer Lampe aus.

„Immer noch schön blutig. Unsere Bakterien lieben dich, Jon. Feiern eine Party auf deiner Bindehaut.“

Jon mochte die lockere Art des Doktors. Trotzdem war ihm nicht zum Lachen zu Mute. Ein jüngerer Assistenzarzt notierte den Befund auf seinem Klemmbrett.

„Wir Filipinos werden mit dieser Spezies in drei Tagen fertig. Nur ihr Ausländer kommt mit dem fremdartigen Feind nicht zurecht. Hast du die Augentropfen genommen?“

Jon nickte.

„Und Finger weg vom Alkohol!“

Draußen ertönte das Sirenengeheul eines Krankenwagens.

„Bin gleich wieder da“, sagte der Arzt. „Könnte ein Notfall sein.“

Jon rappelte sich aus dem Stuhl hoch und folgte dem Doktor.

Er sah, wie zwei Sanitäter eine Bahre in den Emergency room trugen. Der Körper auf dem altmodischen Tragegestell war mit einem grauen Laken bedeckt. Unten lugten zwei kleine Füße mit rosa lackierten Nägeln heraus.

„Warte hier!“ sagte der Doktor.

Jon nahm auf einer abgeschabten Holzbank Platz. Die Frau neben ihm rückte ein wenig von ihm ab, als sie sein lädiertes Gesicht entdeckte.

An den Wänden gab es nicht viel zu sehen. Ein Plakat warnte vor Aids, ein buntes Poster zeigte einen Bilderbuchstrand auf Boracay.

Nach weniger als fünf Minuten erschien der Doktor wieder in der Tür und winkte Jon heran.

„Das Mädchen ist tot. Wahrscheinlich Opfer eines Verbrechens. Hast du gute Nerven, um dir das anzusehen? Vielleicht kennst du sie zufällig.“

Jon wunderte sich über das Vertrauen, das ihm der Doktor entgegenbrachte. Dass sich sein Herzschlag beschleunigte, während er dem Arzt in den Emergency Room folgte, wunderte ihn hingegen nicht.

Das tote Mädchen lag auf einem Metallwagen in der Mitte des fast kahlen Raums. Ihr Körper war immer noch mit dem hellgrauen Laken bedeckt, doch der Kopf war nun sichtbar.

Jon machte zwei Schritte in den Raum hinein. Seine Knie zitterten als er sich dem Gesicht des Mädchens näherte.

„Du kennst dich doch in der Szene hier aus. Vielleicht ist sie dir schon mal über den Weg gelaufen“, ermunterte ihn der Arzt.

Jon starrte das bleiche Antlitz der Toten an und wandte sich dann rasch ab. Diagonal über das Gesicht verlief eine klaffende Wunde.

„Ich kenne sie“, würgte er hervor.

Er marschierte auf den Ausgang zu, hatte Angst, dass ihm die Sprite hochkam.

Doktor Santos lotste ihn zu seinem Büro, wartete bis er auf dem Besucherstuhl zur Ruhe gekommen war.

„Ich dachte, du schreibst Krimis. Das darf dich eigentlich nicht umwerfen“, stichelte der Arzt.

„Ja. Aber ich kenne sie tatsächlich. Sie hat in der Bar von einem Freund getanzt. Mein Gott, was ist denn passiert? Und was ist das für eine Wunde auf ihrem Gesicht?“

„Wenn mich mein erster Eindruck nicht täuscht, wurde sie vergewaltigt und danach erwürgt. Wir müssen natürlich die Ergebnisse der Obduktion abwarten. Die Wunde auf ihrem Gesicht stammt von einem Messer. Ein sehr brutaler Schnitt. Ihr Mund und ihre Handgelenke waren mit Paketklebeband verschnürt. Aber - das zu interpretieren, ist Sache der Polizei.“

„Glauben Sie wirklich, die stellt eine Sonderkommission zusammen, nur weil es jetzt ein Barmädchen weniger gibt?“ lästerte Jon. Die Limonade stieß ihm süßlich auf.

„Wohl kaum. Sie werden ein wenig herumfragen und den Fall dann zu den Akten legen. Deshalb habe ich es dir ja zugemutet, einen Blick auf die Tote zu werfen. Vielleicht kannst du etwas herausfinden.“

„Die Bullen werden sich bedanken, wenn ich mich als privater Ermittler in ihre Angelegenheiten einmische.“

„Soweit ich mich erinnere, wolltest du doch einen authentischen Krimi schreiben, oder? Jetzt liefert dir das Schicksal einen Fall frei Haus, und was machst du? Suchst nach Ausflüchten?“

Jon schwieg. Er wusste, dass der Doktor recht hatte. Er musste sich zusammenreißen und seine Feigheit überwinden.

Das Mädchen hieß Rose. Sie war höchstens 22 und hatte in Rustys Bar gearbeitet. Er würde Rusty noch heute aufsuchen und mit ihm reden.

Er bildete sich nicht ein, diesen Mordfall aufklären zu können. Aber der bizarre Vorschlag des Doktors hatte sein Interesse geweckt. Es konnte bestimmt nicht schaden, wenn er sich ein wenig umhörte. Vielleicht fand er etwas über die Umstände der Ermordung heraus. Und wenn nicht - dann hatte er immerhin einen echten Tatbestand, den er als Basis für seinen Roman verwenden konnte.

„Also gut. Ihre Schocktherapie hat mich wachgerüttelt, Doktor. Ich werde mich ein wenig umhören.“

Jon erhob sich seufzend aus dem Besucherstuhl und winkte dem Arzt zu.

„Ich gebe Ihnen besser nicht die Hand, bin ansteckend“, scherzte er.

„Vergiss nicht, deine Augentropfen zu nehmen! Und halt mich auf dem Laufenden, wenn du etwas erfährst.“

„Okay.“

Auf der Außentreppe der Klinik kamen Jon zwei Polizisten in graublauen Uniformen entgegen. Sie schienen es nicht besonders eilig zu haben.

* * *

Angel lungerte an der Baustelle neben dem Swiss Garden Hotel herum. Sie brauchte dringend einen Kunden.

„Hello Mister, Blowjob? Very cheap, billig, billig.“

Doch die meisten Männer beschleunigten ihre Schritte, wenn sie die schäbige Erscheinung am Straßenrand wahrnahmen. Es gab genug Mädchen hier in Angeles. Mädchen, die nicht an der Nadel hingen, Mädchen, die sich mehrmals täglich duschen konnten.

Angel träumte immer noch davon, dass ein Freier sie mal mitnahm in dieses neue Nobel-Hotel, dessen Luxuszimmer über eigene Whirlpools verfügten. Aber bislang war es bei Straßenjobs oder kurzen Short-Times in billigen Gästezimmern geblieben.

Sie hatte sich sogar schon vor diesem Angeles-Palace auf die Lauer gelegt. Doch die meisten Gäste fuhren in teuren Limousinen vor, deren Fenster dunkel verspiegelt waren. Angel hatte nicht mal die Chance gehabt, einen Blick auf die reiche Kundschaft zu werfen.

Wenn die Kerle erstmal auf ihren Zimmern waren, bestellten sie sich die Mädchen frei Haus, um mit ihnen im Jacuzzi zu plantschen.

Keine Agentur würde eine Drogensüchtige unter Vertrag nehmen. Angel hatte noch ein paar Wünsche und Hoffnungen, doch selbst ihr vernebeltes Bewusstsein musste zur Kenntnis nehmen, dass sie derzeit auf der untersten Stufe angelangt war.

Gestern Nacht hatte sie beobachtet, wie zwei muskelbepackte Filipinos in grauen Anzügen einen schwarzen Plastiksack durch den Hinterausgang dieses Luxus-Hotels geschleppt hatten. Die Typen hatten sich ziemlich nervös angestellt, in alle Richtungen gepeilt, als wäre es verboten, einen Müllsack aus einem Hotel zu klauen und ihn dann im Kofferraum eines Toyota zu verstauen.

Das Gehabe der Kerle war ihr seltsam vorgekommen, aber die Geschichte ging sie nichts an. Sie hatte sich unter einer Bananenstaude stöhnend wieder auf die Seite gelegt und war nach zwei Minuten eingeschlafen.

* * *

In Rustys Mojito Bar war am frühen Abend noch nicht viel los. Immerhin: Happy Hour. Alle Drinks zum Billigpreis. Jon orderte ein San Mig Light und fragte die niedliche Bedienung, ob der Boss schon anwesend sei.

„Yes. Ich sag ihm Bescheid“, antwortete sie.

Sie trug ein kariertes Röckchen über ihren muskulösen, kurzen Beinen.

Schulmädchen-Look, dachte Jon.

Aus den Lautsprechern dröhnte irgendwas von BON JOVI. Die vier Tanzmäuse von der Frühschicht zappelten nur ein wenig mit den Beinen, als hätten sie Angst, für jede Bewegung bestraft zu werden.

Jon registrierte, dass der Laden ziemlich heruntergekommen war. Die Lederbezüge der Sofas waren verschlissen und rissig, die Scheinwerfer über der Tanzfläche sahen aus, als stammten sie aus der frühen Disko-Ära. Entweder stand Rusty kurz vor der Pleite oder er sparte sich die Kosten für eine Renovierung, weil er woanders was Größeres aufziehen wollte.

Über der Bar hing eine Tafel, auf der die Zutaten für einen Mojito-Cocktail aufgelistet waren.

MOJITO:

1 Limette

2 Teelöffel brauner Zucker

4 cl weißer Rum

2 cl Soda

Minzblätter

Zerstoßenes Eis

Jon konnte sich nicht vorstellen, dass hier jeden Tag teure Mojito-Cocktails bestellt wurden. Vielleicht brauchte der Barmixer das Rezept als Gedächtnisstütze.

Plötzlich kam Bewegung in die Tanztruppe. Der Boss näherte sich, und die Go-Go-Girls wollten ihm zeigen, dass sie nicht nur zum Herumstehen engagiert waren.

„Surprise, surprise! Welch eine Überraschung. Ich hätte nicht damit gerechnet, dass du mich schon so bald in meinem bescheidenen Etablissement aufsuchst“, begrüßte Rusty den frühen Gast.

„Mit Sonnenbrille erschrecke ich ja niemanden“, antwortete Jon.

Rusty fuhr sich mit einer automatischen Bewegung durch seine schütteren rostroten Haare, denen er offensichtlich seinen Spitznamen verdankte. Dann nahm er neben Jon Platz und beobachtete das Treiben auf der Bühne.

„An das Niveau vom CAMELOT reicht das Getrippel meiner Girls noch nicht ran, dafür sind sie jünger und unverbrauchter. Fresh from the farm!“

Rusty lachte und prostete Jon zu.

„Was führt dich denn so früh hierher? Sexueller Notstand?“

Jon stellte sein San Miguel ab und setzte eine ernste Miene auf.

„Das ist vielleicht seltsam, dass ich dir diese Mitteilung machen muss, aber eines deiner Mädchen ist ermordet worden.“

Rustys Gesichtsausdruck verfinsterte sich. Er starrte Jon mit skeptischer Miene an.

„Was soll das denn heißen?“

„Die kleine Rose hat doch hier gearbeitet, oder? So eine niedliche mit Kurzhaarfrisur, rote Strähnchen. Ich hab ihr vor vier, fünf Wochen mal ein paar Drinks spendiert. Erinnerst du dich?“

Rusty legte seine Stirn in Falten, schien über ein kompliziertes Problem nachzudenken.

„Rose, Rose. Ja, ich erinnere mich. Die arbeitet aber schon länger nicht mehr hier. Hat glaub ich die Bar gewechselt. Wollte sich finanziell verbessern. Ein ehrgeiziges Mädchen. Aber wieso ist sie ermordet worden?“

„Das weiß noch keiner. Ich war zufällig dabei, als sie ihren Körper im Hospital eingeliefert haben. Anscheinend ist sie erwürgt worden.“

„Mein Gott, das ist echt zum Kotzen. Angeles City ist wohl immer noch der Wilde Osten, stöhnte Rusty.

„Aber was geht dich das eigentlich an? Sie war doch nicht deine Freundin, oder?“

„Nein. Aber es geht mir doch irgendwie nahe. Wir haben uns gut unterhalten. Ich kann mich erinnern, dass sie studieren wollte, irgendwas mit Fotografie oder so. Von einem Barwechsel hat sie mir damals nichts erzählt.“

„Vielleicht wollte sie in einer größeren Go-Go arbeiten, damit sie ihr Studium schneller finanzieren konnte“, schlug Rusty vor.

„Meinst du, ich kann ein paar von deinen Mädchen befragen?“

„Von mir aus.“

Rusty machte eine hilflose Geste.

„Aber viel wirst du von denen bestimmt nicht erfahren. Die meisten sind neu, werden sich nicht mal an Rose erinnern. An deiner Stelle wäre ich übrigens vorsichtig. Vielleicht ist das Mädchen in irgendeine dubiose Sache hineingeraten, und dann könnte es gefährlich sein, wenn du zu viel Staub aufwirbelst. Warum überlässt du den Fall nicht der Polizei?“

“Die werden sich bestimmt kein Bein ausreißen wegen so einem Tanzmädchen.“

Rusty rieb sich das Kinn und starrte mit leerem Blick auf die Bühne des Mojito. Jon fiel erst jetzt auf, wie müde und verbraucht er aussah.

„Na gut, du musst ja wissen was du tust“, fuhr Rusty fort. „Aber das hier ist nicht Hannover oder Paderborn. Hier gelten Gesetze, die nicht einmal vom philippinischen Parlament abgesegnet wurden. Und ich hab keine Lust, schon wieder auf die Beerdigung eines Freundes zu gehen.“

Rusty klopfte Jon väterlich auf die Schulter und erhob sich.

„Also, sei besser vorsichtig. Ich bin im Büro. Du kannst mich ja auf dem Laufenden halten, wenn du was Neues erfährst. Versteh mich bitte nicht falsch: Ich bin natürlich auf deiner Seite, aber ich hab auch kein Interesse daran, eines morgens vor den qualmenden Trümmern meiner Bar zu stehen.“

„Schon verstanden.“

Als Rusty zurück in sein Büro schlurfte, winkte Jon die Bedienung heran und gab ihr zu verstehen, dass er dem Mädchen mit der Nummer Sechs einen Drink spendieren wollte.

Als das laufende Musikstück verklungen war, sprang die Sechs vom Podest und nahm neben Jon Platz.

„Thank you, Sir!“ 

Sie zupfte ihren Bikini zurecht, nahm einen Schluck von dem Orangensaft und prostete ihrem Gönner zu.

„Wie heißt du?“ fragte Jon.

„Evajen. Und du?“

„Jon. Nice to meet you.“

Jon hatte keine Lust auf überflüssigen Small Talk und kam gleich zur Sache.

„Wie lange arbeitest du schon hier, Evajen?“

„Drei Wochen. Warum?“

Sie sah an ihm vorbei, gelangweilt, die Augen blicklos. Er war nur ein weiterer Gast, ein einsamer oder geiler Ausländer, der jemanden zum Quatschen oder Bumsen suchte.

„Ich suche nach einem Mädchen, Rose, kurze Haare, rote Strähnen im Haar. Hat hier gearbeitet. Kennst du sie zufällig?“

Evajen spitzte die rot geschminkten Lippen. Ihre Art, Nachdenklichkeit auszudrücken.

„Ja, die Rose kenne ich. Ist aber länger nicht mehr hier gewesen. Ich glaube, die lief immer mit einer Kamera rum. Hat den Vulkan fotografiert, aber auch die Leute draußen. Schuhputzer, Taxifahrer, Touristen, alles.“

„Genau, die ist es. Leider ist sie jetzt tot. Ermordet worden.“

Jon hatte sich für diese Schockmethode entschieden. Vielleicht würde es ihm so gelingen, das Mädchen aus seiner Lethargie zu wecken.