Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Die Entdeckung einer bizarr dekorierten Leiche sorgt für Unruhe auf der thailändischen Insel Koh Chang. Inspektor Chaichet findet bald heraus, dass der ermordete Ausländer von großen Hotels als Zeremonienmeister für Traumhochzeiten gebucht wurde. Eine heiße Spur führt nach Kambodscha. Dort existiert eine Agentur, bei der man Auftragskiller buchen kann. Wurde der Mord an dem Hochzeitsredner von Phnom Penh aus organisiert? Da die kambodschanischen Kollegen ihn nicht unterstützen wollen, reist Chaichet auf eigene Faust ins Nachbarland.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 223
Veröffentlichungsjahr: 2017
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Übersetzung von Thai-Wörtern, die in diesem Roman vorkommen:
baakwaan wörtlich:Süßmund. Schmeichler
farang (westlicher) Ausländer
jai jenn kühles Herz (Ruhe bewahren)
jing gewiss, ja wirklich
krap pomm Ausdruck der Zustimmung.Sehr wohl oder jawohl
mai pen rai macht nichts, keine Ursache
wai traditionelle Begrüßungsgeste
wat buddhistisches Tempelgelände
Wat Klong Prao, Buddhistischer Tempel in Koh Chang, neun Uhr morgens.
Die Braut trug ein weißes Kleid, das sie sich in einem Schneiderladen ausgeliehen hatte. Der nervöse Bräutigam war in einem traditionellen thailändischen Anzug erschienen, dessen Hosenbeine nur bis zu den Knien reichten. Die kräftigen Waden wurden von weißen Strümpfen bedeckt. Zum Outfit gehörte auch ein Paar schwarzer Lackschuhe, das er aber vor der Holzschwelle des buddhistischen Wats ausgezogen hatte.
Der ehrwürdige Abt des Tempels thronte vor ihnen auf einem niedrigen Podest. An seiner senffarbenen Mönchskutte steckte ein kleines Namensschild mit der AufschriftSomdet. Der kahl geschorene Mann trug eine Sonnenbrille mit knallgelben Bügeln und er spulte die Zeremonie routiniert, fast lässig und ohne übertriebenes Pathos ab.
Nachdem Somdet endlich mit der monotonen Litanei der Palisprache fertig war, besprenkelte er das Farang-Paar mit gesegnetem Wasser und band ihnen weiße Wollfäden um die Handgelenke. Der Abt ging davon aus, dass die beiden nicht viel über den Buddhismus wussten und dass die Begegnung mit dem Mönch nur Teil eines Hochzeitspakets darstellte, das sie pauschal im Internet gebucht hatten. Dazu gehörte auch eine Trauung am Strand, die vermutlich am Nachmittag stattfinden würde. Nach der Rückkehr in ihr Farang-Land (Somdet hatte vergessen, woher sie kamen. Deutschland? England?) würden sie ihren Freunden und Familienmitgliedern die schönen Fotos und Videos von der Traum-Hochzeit präsentieren. Und dann würde so ein komisches Detail wie die knallgelbe Brille des Abts ganz gewiss für Erheiterung sorgen.
Nachdem er die weißen Bänder verknotet hatte, entließ er das Paar mit einem freundlichen Lächeln und beobachtete, wie es von einem Fotografen begleitet zu dem Kunststoff-Skelett hinüberging. Neben der Gruselpuppe standen zwei Särge und eine Spendenbox. Die Braut warf ein paar Münzen in den Schlitz, worauf das Skelett sich mechanisch verbeugte. Das Spendengeld war für Familienangehörige von Verstorbenen bestimmt, die so arm waren, dass sie sich keinen Sarg leisten konnten. Auch für den Tempel hatte das Farang-Brautpaar eine hübsche Summe gespendet. Und deshalb quälte sich Somdet auch nicht mit Gewissensbissen herum, weil er an dieser Show-Veranstaltung teilgenommen hatte. Es war schließlich für alle Akteure eine Win-win-Situation. Das Paar freute sich über ein exotisches Erlebnis und exquisite Fotos, und der Tempel konnte von den Einnahmen aus solchen Veranstaltungen renoviert werden.
Womöglich wurde der eine oder andere Besucher bei so einem spirituellen Event sogar zum Buddhismus bekehrt, dachte Somdet. Doch als er sich jetzt aus dem Lotossitz erhob und seinen Blick über das ärmliche Ambiente schweifen ließ, glaubte er nicht mehr so recht an diese kühne Vermutung. Räudige Hunde dösten in der Morgensonne, Hühner pickten mit ihren Küken im verdorrten Gras herum. In einer Ecke des Geländes stapelten sich Plastikflaschen, die zum Recycling-Hof transportiert werden mussten.
Hier sieht es aus wie auf einem herunter gekommenen Bauernhof, dachte der Mönch. Man müsste endlich mal anfangen, für Ordnung zu sorgen.
Er klopfte eine Zigarette aus der Packung und gab sich selbst Feuer. Das Leben war schön.
Er hatte daran mitgewirkt, zwei Menschen einen glücklichen Augenblick zu bescheren. Das war doch schon mal ein achtbarer Anfang für den Tag.
Phnom Penh, Kambodscha.
An der von Stuckornamenten gesäumten Hallendecke rotierten sechs große Ventilatoren so zuverlässig wie Flugzeugpropeller. Doch es half alles nichts.
In derZentrale der Rache kochte die Luft. Die defekte Klimaanlage in dem Fabrikgebäude würde erst morgen durch ein neues Gerät ersetzt werden. Mister Pepe spielte mit dem Gedanken, einfach nach draußen zu gehen, hinunter zum Tonle-Sap-Fluss, wo er sich in seinem Lieblingscafé einen kühlen Zitronensaft mit viel Eis bestellen konnte. Er verwarf die Idee gleich wieder, denn es gab heute noch einiges zu tun.
Er zog sein graues T-Shirt aus und betrachtete sich für einen Moment in dem großen Spiegel, der an der unverputzten Wand lehnte. Sein Waschbrettbauch war im Laufe der Zeit, als Effekt von zu viel Whisky, Rotwein und gutem Essen, unter einer Speckschicht verloren gegangen. Und dennoch konnte er sich mit seinen 55 Jahren durchaus noch sehen lassen.
Da er nicht mehr im Außendienst tätig war, trainierte er seine Muskeln regelmäßig im Fitness-Studio desSofitel-Hotels. Die Trainer in diesem Gym hielten ihn für einen Hochschullehrer und sie wären nie auf die Idee gekommen, dass der Typ mit der runden Brille und den kurz geschnittenen Haaren zu den mächtigsten Gangstern in Phnom Penh gehörte.
Pepe lief mit entblößtem Oberkörper zu seinem antiken Schreibtisch und ließ sich auf dem Bürostuhl nieder.
Er saß hier in einem überhitzten Büro, das an der Haustür mit einem ordentlichen Firmenschild gekennzeichnet war. Auch wenn der Name der Company frei erfunden war - dies alles gehörte noch zur realen Welt. Doch hinter der von einem kambodschanischen Sicherheitsmann bewachten Tür lag dieZentrale - ein Ort, der für die offizielle Wahrnehmung nicht existierte. Sein Arbeitsplatz befand sich tatsächlich in einer Parallelwelt, die er mit den neusten technischen Errungenschaften abschirmte. Winzige, fast unsichtbare Kameras überwachten jeden Winkel der geheimen Zentrale.
Pepe konnte sich immer noch nicht konzentrieren. Er verspürte Lust auf ein Eis. Beinahe wollüstig stellte er sich vor, wie die hübsche Eisverkäuferin an der Promenade mit dem Stahllöffel in die dampfende Masse aus Vanilleeis stieß und eine perfekte weiße Kugel herausschälte. Sogar die kreisrunde Vertiefung in der gefrorenen Oberfläche der Masse erschien jetzt vor seinen Augen, die wie ein kleiner Krater im Eis aussah. Und genau so musste seine Zentrale beschaffen sein: Ein Loch, ein Nichts in einer stinknormalen Realität.
Trotz der unerträglichen Raumtemperatur konnte Pepe das Grinsen nicht unterdrücken, welches sich bei dem schrägen Vergleich einstellte. Offenbar hatte die sehr reale Hitze sein Hirn bereits mürbe gemacht. Er las noch einmal die Nachricht, die 118 ihm gestern gemailt hatte. Das Meeting in Koh Chang würde planmäßig heute Nacht stattfinden. Der Agent war schon an Ort und Stelle. In knappen Worten kündigte er seinen Besuch in der Zentrale an. Morgen würde er die Beweisfotos mitbringen und das vereinbarte Honorar kassieren.
Pepe konnte sich glücklich schätzen, dass dieser Mann für ihn arbeitete. Ein Naturtalent wie 118 war in der Zeit der Mittelmäßigkeit, in der sie seit einigen Jahren leben mussten, äußerst rar geworden.
Nun ja, dachte Pepe. Man kann sich die Zeit, in die man zufällig oder schicksalhaft hineingeboren wird, nicht aussuchen. Aber stimmte es etwa nicht? Alles war doch mittelmäßig geworden: Die Politiker, die Musik, die Journalisten sowieso, das Fernsehprogramm - und natürlich auch die Kriminellen. Man musste doch nur aus dem Fenster schauen: All diese angeberischen Lackaffen mit ihren dicken Goldketten, den nuttigen Weibern und den im Studio antrainierten Bizepsen. Keiner von denen hatte echtes Mark in den Knochen - das war nämlich das Entscheidende. Außer Muskelmasse hatten diese Schönlinge nicht viel zu bieten: Kein Hirn, keinen Biss, keinen echten Hass.
Aus diesem Grund war 118 so wichtig. Er war wie ein weißer Elefant, den man hüten, gut füttern und bei Laune halten musste.
Die Bezeichnung 118 war natürlich pure Ironie. Sie hatten bei der Suche nach einem Codenamen an James Bond 007 gedacht und dann spielerisch jeweils eine Ziffer addiert. Diese Vorgehensweise war hinterher auf alle Bereiche der Scheinfirma übertragen worden. Es gab weitere Auftragskiller mit den Nummern 119 und 120, doch die gehörten für Pepe eher in jenen Bereich der Mittelmäßigkeit. Er setzte sie nur im äußersten Notfall ein.
Ein Mord wurde alsMeeting bezeichnet. Eine Beschattung war ein Sonnenschirm, ein Attentat ein Knallfrosch. Wenn eine Leiche entsorgt werden musste, sprach man von Yellow Submarine. Und er selbst, Pepe, war der Schattenkrieger. Der Mann in der Dunkelheit, der hinter den Kulissen Regie führte und der offiziell überhaupt nicht existierte. Das PP leitete sich natürlich vom Ort der Zentrale ab, Phnom Penh. Kein Mitarbeiter der Firma kannte seinen richtigen Namen.
Der besonnene Agent mit der Nummer 118 wäre auch nie auf die Idee gekommen, ihn nach seinem Namen zu fragen. Er war nicht nur diskret, er war ein echtes Juwel. Anfangs machte er sich als Spezialist fürMeetings einen Namen, die nicht nach Mord aussehen durften. Im Laufe der Zeit entwickelte er eine ganze Palette von Techniken und Tricks, mit deren Hilfe er seine Opfer so präparierte, dass die meisten Ärzte Herzversagen oder Hirnschlag als Todesursache in den Totenschein schrieben.
Pepe erinnerte sich noch an das geniale Meisterstück von 118: In einem Nachtbus von Siem Reap nach Phnom Penh hatte er seine Zielperson völlig unbemerkt und lautlos mit einem kleinen Störsender getötet. Der Sender war so konstruiert, dass er den Herzschrittmacher des Opfers mit einem Funksignal außer Betrieb setzen konnte. Kurz nach der Tat hatte der Killer den Bus verlassen. Und das Ableben des scheinbar schlafenden Passagiers war erst an der Endstation bemerkt worden. Diagnose: Tod durch Herzstillstand. Perfekt!
Bei demMeeting in Koh Chang musste 118 sich freilich ein wenig umstellen. Denn der Mord sollte nicht verheimlicht, sondern post mortem regelrecht zelebriert werden.
Pepe schloss das E-Mail-Postfach und fuhr den Rechner herunter. Sein erfahrener Agent würde diesen Auftrag mit links erledigen. Er wischte sich die Schweißperlen von der Stirn und beeilte sich, aus dieser Hölle von Büro herauszukommen. Vor der Tür wartete eine Limousine mit Chauffeur und funktionierender Klimaanlage auf ihn. In zehn Minuten konnte der Fahrer ihn an der Promenade absetzen. Er freute sich auf einen eiskalten Wodka-Tonic, den er in der besten Bar der Stadt genießen würde.
Salakpet, ein verschlafenes Fischernest im Süden der Insel Koh Chang.
Kuddel bockte seine schwarze Honda Rebel in dem kleinen Vorgarten auf. Er sah zum Himmel hinauf und stellte fest, dass die Sonne vor wenigen Minuten untergegangen war. Bis auf einige ausgefranste, violett glühende Federwolken war das Licht verblasst.
Die Tage vergehen so schnell, dachte er. Dann schloss er die Tür des schlichten Steinhauses auf und betrat den großen Wohnraum. Viel mehr hatte dieses Haus im Grunde auch nicht zu bieten: Ein großes Wohnzimmer, das mit einem Kunstledersofa, einem Beistelltisch, Kühlschrank, einem Fernsehgerät und einem riesigen Bett möbliert war. Durch eine Verbindungstür aus Kunststoff gelangte man ins Bad, in dem auf engstem Raum das Klo, ein Waschbecken und eine Handbrause installiert waren. Kurt, oder Kuddel, wie ihn die wenigen Bekannten hier auf der Insel nannten, hatte das Haus gemietet und für seine Bedürfnisse reichte es vollkommen aus. Er brauchte nur einen Platz zum Schlafen, einen Rückzugsort, an dem er sich erholen, seine nächsten Streifzüge planen und in Ruhe nachdenken konnte.
Er legte den Integralhelm auf dem Kühlschrank ab, zog sein T-Shirt aus und ging ins Bad. Dort öffnete er den Wasserhahn, sammelte das lauwarme Wasser in beiden Händen und warf es sich ins Gesicht. Kurz darauf - er saß mittlerweile auf der Kloschüssel - wurde er von einem ungewöhnlichen Laut beim Pinkeln gestört. Das Geräusch kam ohne Frage aus dem Zimmer, welches er gerade eben verlassen hatte. Hier am Ende der Insel Koh Chang war es so ruhig, dass auch geringfügige Störungen der Stille nicht unbemerkt blieben. Es gab eine ganze Palette von Naturgeräuschen: Streitende Affen, schreiende Katzen, das Gebell der verwilderten Hunde und das Zirpen von Grillen und Zikaden. Das Kratzgeräusch hatte sich aber so angehört, als wäre im Wohnzimmer jemand gegen den Tisch gestoßen, worauf dieser mit einem Quietschen über den Boden geschabt war.
Kuddel überlegte fieberhaft, ob er die Haustür von innen verriegelt hatte. Hier im Dorf schloss kaum jemand seine Tür ab. Besucher verirrten sich nur tagsüber in die schläfrige, vor sich hin modernde Ansammlung von Häusern und Holzhütten. Die meisten Familien wohnten schon seit Jahrzehnten in Salakpet und für sie gab es keinen Grund, ihre Häuser abzuschließen.
Doch Kurt war ein Fremder in diesem Ort. Und für ihn gab es sehr wohl einige Gründe, auf der Hut zu sein. Er zog die Cargo-Hose mit den praktischen großen Seitentaschen wieder hoch, dann öffnete er die Kunststofftür nur so weit, dass er einen vorsichtigen Blick in den Wohnraum werfen konnte. Womöglich war ihm eine Katze gefolgt. Er hatte das Tier nicht bemerkt, und jetzt sorgte es für Unruhe in seinem Heim.
Obwohl der Raum hell erleuchtet war, konnte Kuddel nichts Verdächtiges erkennen. Doch - da lag etwas in der Ecke. Eine Plastiktüte. Wie sonderbar. Er konnte sich nämlich nicht daran erinnern, dort etwas abgelegt zu haben. Ob der Hausbesitzer das Zimmer in seiner Abwesenheit betreten hatte? Das kam tatsächlich hin und wieder vor - zum Beispiel wenn das Klo verstopft oder die Klimaanlage kaputt war.
Doch die Klimaanlage war intakt. Sie summte monoton und atmete eiskalte Luft aus. Wie auf einer Fotografie sah alles still und eingefroren aus.
Während Kurt noch darüber nachdachte, ob er sich vielleicht geirrt hatte, bemerkte er, dass die federleichte Badezimmertür ein wenig vibrierte. Von einem Luftzug konnte diese Bewegung nicht ausgehen, denn alle Fenster und die Haustür waren geschlossen. Es gab überhaupt keinen Zweifel: Hinter dieser Tür stand jemand. Doch wer konnte das sein? Ein Einbrecher?
Kuddels Herz schlug ihm mittlerweile bis zum Hals. Wie war der Kerl ins Haus gekommen? Und wo hatte er sich bis vor wenigen Minuten versteckt? Unter dem Bett vielleicht. Eine andere Möglichkeit gab es nicht. Und warum hatte er hier auf ihn gewartet, anstatt das zu klauen, was ihm wertvoll erschien und danach einfach abzuhauen? Eine furchtbare Ahnung tröpfelte in Kurts Bewusstsein, sie perlte in sein Gehirn wie Luftblasen, die vom dunklen Grund des Meeres aufsteigen. Der Eindringling musste es auf ihn selbst abgesehen haben, denn sonst wäre er wohl schon längst in der Dunkelheit verschwunden.
Kurt war nicht sicher, ob es tatsächlich Atemzüge waren, die er jetzt von der anderen Seite der Tür wahrnahm. Wenn das zutraf, dann betrug der Abstand zwischen ihm und dem Unbekannten nur zwei oder drei Zentimeter. Das entsprach der Stärke dieser hellblauen Kunststofftür. Und Kurt ahnte, dass er in der Falle saß. Er war nicht bewaffnet. Nebenan im Wohnraum gab es ein paar Utensilien, die er im Notfall zu seiner Verteidigung einsetzen konnte. Doch hier im Bad gab es nichts. Eine Sekunde später musste der Deutsche seine hektischen Gedankengänge beenden. Die Tür prallte ihm hart ins Gesicht. Wie von einem Seil gezogen, flog er nach hinten, sein Steißbein krachte gegen das Waschbecken, und gleich darauf stand der Mann, der die Tür aus den Angeln getreten hatte, über ihm. Er trug eine schwarze Wollmütze, hatte sich aber nicht die Mühe gemacht, sein Gesicht zu verbergen.Das ist kein gutes Zeichen, ging es Kurt durch den Kopf. Doch auch diese Überlegung konnte er nicht weiter verfolgen, denn im selben Augenblick fuhr ein gewaltiger Stromstoß durch seinen Körper. Kuddel war noch nie vom Blitz getroffen worden, doch so ähnlich musste sich das wohl anfühlen. Er sackte schlaff zu Boden wie eine Gummipuppe, seine Muskeln schienen von dem Stromstoß gelähmt zu sein, und doch konnte er noch zwischen den halb geschlossenen Augenlidern erkennen, wie der Angreifer den Taser auf den Boden legte und Kurts erschlaffte Hände mit einem Kabelbinder fesselte.
Klong Prao, Polizeistation.
Die Militärregierung hatte verfügt, dass die Staatstrauer ein Jahr währen sollte und dass alle Beamten - auch die Lehrer - für zwölf Monate schwarze Uniformen tragen mussten.
Inspektor Chaichet blickte durch das kleine Fenster seines Büros auf die belebte Straße hinaus. Nicht nur die Beamten trugen schwarz. Quasi über Nacht hatte sich das fröhliche, lebenslustige Volk der Thais in eine triste Trauergemeinde verwandelt. Fast alle sahen mittlerweile aus wie die strenggläubigen Musliminnen im Süden des Landes, die sich in pechschwarze Burkas hüllten. Eine der wenigen Ausnahmen erkannte der Inspektor in der alten Frau, die jeden Morgen ihre gelben Mangos vor dem 7/11-Laden anbot. Sie trug nach wie vor ihre fadenscheinige hellblaue Bluse mit den grauen Streifen. Vermutlich fehlte ihr das Geld zur Anschaffung der Trauerkleidung.
Die Leiche von König Bhumibol Adulyadej würde für ein Jahr im Königspalast von Bangkok aufbewahrt werden. Da ein König auch nach seinem Tod aufrecht auf dem Thron sitzen muss, wurde der Körper nicht aufgebahrt. Erst nach zwölf Monaten sollte die Verbrennungszeremonie mit allem erdenklichen Prunk über die Bühne gehen.
Chaichet hatte den König gemocht und jetzt tat er ihm leid. Er selbst wollte nach seinem Tod so schnell wie möglich verbrannt werden. Schon bei dem Gedanken, noch als Leiche zwölf Monate auf einem Stuhl sitzen zu müssen, meldete sich sein siebter Rückenwirbel. Das war offenbar die schwache Stelle in seinem älter werdenden Körper. Er musste sich unbedingt mal wieder eine Thaimassage gönnen.
Jetzt, in der Vorsaison, war es noch ruhig auf der Insel Koh Chang. Die Regenzeit hielt in diesem Jahr etwas länger an als gewöhnlich. Immerhin war es schon Anfang November. Und gestern hatte es so gewaltig geschüttet, dass die Elefanten imCamp Kai Bae bis zu den Knien im Wasser gestanden hatten.
Chaichet beschloss einen kleinen Spaziergang zu machen. Momentan gab es nicht viel zu tun. Nach dem Tod des belieben Monarchen hatte die düstere Stimmung das ganze Land wie ein Leichentuch unter sich begraben. Der Inspektor setzte seine Uniformmütze auf und trat vor die Tür der Polizeiwache. Das heftige Gewitter hatte die Luft gereinigt. Am kobaltblauen Himmel schwebten nur ein paar fette weiße Kumuluswolken wie Luftschiffe in einem Traum.Ah - das Leben konnte doch noch angenehm sein! Chaichet war wieder einmal froh darüber, dass er nicht in der von Abgasen und Lärm verseuchten Hauptstadt arbeiten musste.
Noch in der Tür stehend vernahm er das Klingeln des Telefons auf seinem Schreibtisch. Er ging zurück ins Büro, nahm den Hörer ab und wusste schon nach den ersten Worten des Anrufers, dass die angenehme Zeit des Faulenzens abgelaufen war.
„In seinem Haus in Salakpet, Herr Inspektor. Also in dem Haus, das der Farang, also die Leiche, gemietet hatte.“
Chaichet erkannte schnell, dass sein Gesprächspartner nicht zu den hellsten Köpfen auf der Insel gehörte. Er war dem Dorfpolizisten Anurak, einem einfachen Constable oder Wachtmeister, ein paar mal bei offiziellen Anlässen begegnet. Offenbar hatte man den braven, einfältigen Polizisten vorsichtshalber in das verschlafene Fischernest Salakpet versetzt, wo er keinen größeren Schaden anrichten konnte. Doch jetzt schien Anurak mit der außergewöhnlichen Situation krass überfordert zu sein, denn seine Stimme überschlug sich fast am Telefon.
„Die Hunde. Also gewissermaßen die Dorf- oder Straßenhunde ohne Eigentum kommen als Finder in Betracht.“
Hunde ohne Besitz? Der Kollege meinte wohl Hunde, die keinen Eigentümer hatten.
Der Inspektor bemerkte, dass der unbeholfene Constable seine Engelsgeduld auf eine harte Probe stellte.
„Na ja, die Hunde haben die halbe Nacht vor der Tür des Hauses geheult, und so fühlte sich der Nachbar veranlasst, einmal nachzuschauen, was da vor sich ging.“
„In Ordnung. Du sorgst jetzt dafür, dass das Haus und das Grundstück abgesperrt werden und niemand in die Nähe des Tatorts kommt. Verstanden?“
Chaichet hatte es vorgezogen, das Gespräch abzukürzen, denn die Beobachtungen des Kollegen brachten ihn ohnehin nicht weiter. Nein, er musste sich so schnell wie möglich selbst auf den Weg machen. Er rief zuerst Jirawan und Sergeant Pong an und gab die Meldung über den Leichenfund dann an die Spurensicherung weiter.
Na also. Das gute alte Team war wieder vereint. Auch wenn der Anlass keinen Grund zum Jubeln rechtfertigte: Chaichet freute sich auf die Zusammenarbeit mit den Kollegen.
Er startete denToyota und fuhr in Richtung Norden. Unterwegs würde er Jirawan abholen. Pong wollte ihnen in ein paar Minuten mit einem Fahrzeug der Tourist Police folgen.
Salakpet, am Tatort.
Der oder die Mörder hatten sich große Mühe gegeben. Der tote Farang sah aus wie ein Schneemann. Er saß aufrecht auf einem schäbigen, senfgelben Ledersessel. In seiner rechten Hand hielt er einen Strohbesen - ein Reinigungsgerät, das in keinem Thaihaushalt fehlte. Der linke Arm der nur mit einer Unterhose bekleideten Leiche ruhte auf einem verbeulten Vogelkäfig. In den Sonnenstrahlen, die in einem flachen Winkel durch die Tür fielen, glitzerte die nackte Haut wie weißes Elfenbein.
„Was ist das für ein weißes Pulver?“ fragte Chaichet den verschüchtert in der Ecke stehenden Anurak. „Ist das Kokain?“
„Nein, das ist Zucker. Der oder die Täter haben ihn mit Zucker überstreut.“
Chaichet trat näher an die Leiche heran. Er überwand den hochkommenden Ekel, befeuchtete seinen Zeigefinger mit der Zunge und tupfte etwas von der weißen Substanz auf seine Fingerspitze. Der Geschmackstest ließ keinen Zweifel zu. Es handelte sich tatsächlich um ganz normalen, raffinierten Zucker.
Der Inspektor trat einen Schritt zurück und nahm das schreckliche Bild noch einmal in sich auf. Er hatte ja schon viel gesehen, doch er spürte, wie ihm bei diesem Anblick ein Schauer über den Rücken lief. Wie der fast nackte Mann dort saß - mit Stricken festgezurrt und mit den toten Augen ins Nichts starrend - woran erinnerte ihn das nur? Blitzartig hatte er ein anderes Bild vor Augen: Die Leiche des verstorbenen Königs. Sie war zwar nicht zur öffentlichen Besichtigung freigegeben, doch es brauchte nicht viel Fantasie um sich vorzustellen, dass der Körper von Bhumibol in einer ähnlichen Position konserviert worden war.
Der tote Farang saß dort also wie ein König auf seinem Thron. Wenn die Täter dies beabsichtigt hatten, würden sie nicht nur wegen Mordes, sondern auch wegen Majestätsbeleidigung vor Gericht kommen.
Den Platz rings um den Sessel, auf dem der unheimliche Tote thronte, hatte der Täter mit weißen Blütenblättern und quadratischen Plastiktütchen dekoriert. Der Inspektor hob eine dieser rosafarbenen Verpackungen auf und stellte fest, dass es sich um ein in Thailand fabriziertes Kondom handelte.
„Das waren Thais“, flüsterte ihm Pong zu, der angesichts der gespenstischen Situation automatisch seine Stimme gesenkt hatte.
„Wie kommst du darauf?“ fragte Chaichet. „Und wieso bist du sicher, dass es mehrere waren?“
„Wir Thais sind doch Weltmeister im Dekorieren“, antwortete Pong. „Egal ob es sich um eine Hochzeit, eine Trauerfeier oder eine Geburtstagstorte handelt.“
Insgeheim stimmte der Inspektor ihm zu. Der Schönheitswahn nahm in Thailand bisweilen neurotische Züge an. Sogar die Elefanten wurden an besonderen Feiertagen bunt bemalt wie Ostereier.
„Na sieh es dir doch an: Der Blütenteppich zu seinen Füßen, die grünen Blätter, die sie ihm unter die Fesseln gesteckt haben - und sein Mund wurde auch noch rot geschminkt.“
Chaichet näherte sich der Leiche und erkannte, dass Sergeant Pong recht hatte. Der Mund des Farangs war mit rotem Lippenstift verschmiert. Er sah aus wie einer jener Horrorclowns, die seit einigen Wochen durch die Medien geisterten.
Doch was hatte diese theatralische Inszenierung zu bedeuten? Sie musste eine Bedeutung haben, denn ansonsten hätten sich die Täter wohl nicht solche Mühe gegeben.
„Was steckt denn da zwischen seinen Zähnen?“ fragte Chaichet.
„Vermutlich ist das ein Stück von seinem linken Ohr, das man ihm vor oder nach dem Sterbefall abgeschnitten hat“, meldete sich Anurak.
Voller Ekel wich er einen Schritt zurück. Er war froh, dass er den Toten nicht anfassen musste. Das konnte er den Jungs von der Spurensicherung überlassen.
„Ich denke, dass es mindestens zwei Täter waren“, fuhr Pong fort. „Die Ermordung, die Positionierung der Leiche, die Dekoration - das könnte man theoretisch allein hinkriegen. Aber es kostet natürlich viel Zeit.“
„Warten wir ab, was die Spurensicherung herausfindet“, schlug Chaichet vor.
Die rätselhafte Bedeutung der bizarren Installation beschäftigte ihn immer noch. Wie beim Anblick eines zeitgenössischen Kunstwerks musste man sich wohl die Frage stellen: Was soll das darstellen?
Der Inspektor verstand nicht viel von moderner Kunst. Doch sie würden die Elemente dieses Tatorts registrieren, analysieren und deuten - so wie ein Archäologe oder ein Kunstwissenschaftler, der ein verschlüsseltes Werk unter die Lupe nahm. Denn der oder die Täter hatten hier etwas verschlüsseln wollen. Das Opfer sollte offenbar zur Schau gestellt und noch im Tod lächerlich gemacht werden.
Kunstwissenschaft und Kriminologie. Zum ersten Mal sah er eine Verwandtschaft zwischen diesen beiden Disziplinen. Vielleicht würde er später seinen Cousin Niti anrufen. Der war Journalist in Bangkok und schrieb hin und wieder auch über Kunstausstellungen.
Als die drei Männer von der Spurensicherung eintrafen, überließ Chaichet ihnen das Terrain. Er trat vor die Tür des schlichten Steinhauses, atmete tief durch und spazierte dann zu Jirawan hinüber, die zusammen mit dem Dorfpolizisten Anurak einige Leute aus der Nachbarschaft befragte.
„Du wohnst gleich hier nebenan?“ fragte Jirawan einen älteren, ausgemergelten Thai, der nur mit einem blau karierten Hüfttuch bekleidet war. Sein Oberkörper war mit schwarzen, mystischen Ornamenten tätowiert, die sich kaum von der in der Sonne gegerbten Haut abhoben.
„Ja, ich bin Khun Daeng, einer der letzten Fischer hier in Salakpet“, antwortete der Mann. Er zauberte ohne zu fragen eine weiche Zigarettenpackung aus dem dicken Knoten seinesSarong hervor und steckte sich einen Glimmstängel zwischen die dünnen Lippen. Anurak gab ihm Feuer, und während dieses beiläufigen Rituals entstand für einen Augenblick eine Art Vertrautheit zwischen dem Polizisten und dem Zeugen.
„Kennen ist zu viel gesagt. Er grüßte freundlich am Morgen, wenn er mit seinem Motorrad wegfuhr.Sawadii krap! Wahrscheinlich hat er ein paar Wörter Thai gekonnt. Da drüben an der Hauswand steht seine Honda.“
Chaichet erkannte, dass es sich um eine schwarze Honda Rebel handelte.
Sogar die Motorräder tragen jetzt schwarz, ging es ihm durch den Kopf. Die Honda war mit dem Auspuff zur Wand geparkt worden. Dem Inspektor fiel ein, dass die Mitglieder von Rocker- und Motorradgangs immer darauf achteten, ihre Maschinen in dieser günstigen Position abzustellen. Wer es eilig hatte oder Besuch von der Polizei erwartete, konnte sich so schneller, ohne umständliches Rangieren aus dem Staub machen. Doch die Rocker in Bangkok oder Pattaya fuhren in der Regel schwere Harley-Davidson-Maschinen. Die Honda Rebel war eher etwas für Anfänger.
„Meist kam er erst abends zurück. Wie gesagt - viel gesprochen wurde nicht.“
„Weißt du, ob er eine Freundin hatte?“ hakte Anurak nach.
Der Fischer nahm einen tiefen Zug aus seiner dünnen Zigarette und ließ den Rauch zwischen den Lippen entweichen.
„Da haben schon mal Mädchen bei ihm übernachtet, doch. Also schwul war er bestimmt nicht. Aber ob er eine feste Freundin hatte, das kann ich beim besten Willen nicht sagen.“
„Na gut. Ist dir sonst etwas aufgefallen - irgendetwas Außergewöhnliches?“
„Jetzt wenn Sie mich fragen, doch, ja, krap. Alle paar Wochen sah er aus, als würde er zu einer Feier, vielleicht zu einer Hochzeit oder so fahren. Dann war er herausgeputzt wie ein Thai. In so einem hellgrünen Hemd aus Seide mit Stehkragen. Meine Frau und ich, wir haben uns dann immer angeguckt und gefragt, wieso der so oft eingeladen wird. Sehr merkwürdig.“
„Aha, das ist interessant“, mischte sich Chaichet ein. „Vielleicht finden wir diese Feiertagskleidung ja in seinem Haus. Vielen Dank lieber Khun Daeng. Gestern Abend hast du nichts Verdächtiges gehört?“
„Nein. Ich gehe immer früh schlafen, weil ich schon vor Sonnenaufgang draußen auf dem Meer sein muss.“
Der Fischer deutete einen Wai an und schlurfte davon.
„Den Nachbarn, der die Polizei verständigt hat, habe ich auch schon befragt“, wandte sich Jirawan an Chaichet. „Er hat nichts Auffälliges bemerkt. Nur das Heulen der Hunde vor der Tür des Tatorts hat ihn alarmiert.“
„Na schön. Mit den Verhören machen wir später oder morgen weiter.“
Als Chaichet sah, dass ein Mann von der Spurensicherung aus dem Haus trat, winkte er ihn zu sich herüber.
„Kommt Leute, wir müssen uns zur Erholung von diesem Horrorfilm eine kleine Pause gönnen. Am besten gleich hier nebenan in dem kleinen Restaurant.“
„Gute Idee“, pflichtete Pong ihm bei, dem schon der Magen knurrte. Offenbar konnte sogar der Anblick einer bizarr dekorierten Leiche seinem Appetit nichts anhaben.
Nachdem die vier Polizisten und der Kollege von der Spurensicherung sich auf den Plastikstühlen niedergelassen hatten, legte ein junges Mädchen ihnen eine vergilbte Speisekarte auf den Tisch. Es wirkte angesichts der Uniformen eingeschüchtert und nahm die Bestellung mit unterwürfigem Kopfnicken entgegen.
„Also - was sagst du zu der perversen Installation?“ sprach Chaichet den Tatortexperten an. Er hieß Jay, und sie waren sich bei einer früheren Ermittlung schon einmal über den Weg gelaufen.
„Ehrlich gesagt: nein. Mir ist kein Tatort in Erinnerung, an dem man sich solche Mühe mit der Verzierung des Opfers gegeben hat.“
„Kannst du mir schon sagen, wie er umgekommen ist? Immerhin könnte er ja auch einen Herzschlag erlitten haben, und nachher hat sich jemand einen bösen Scherz mit ihm erlaubt.“
Jay wartete mit seiner Antwort, bis die junge Bedienung die Getränke auf dem Tisch abgestellt hatte.
„Hören Sie, Chaichet! Wir sind nur die Spurensicherung. Wir sichern mögliche Indizien, holen unsere Kameras raus und versuchen alles fotografisch zu konservieren. Die Deutung des Ganzen überlassen wir gern dem Pathologen und der Polizei. Ah, wenn man vom Teufel spricht.“
Der graue Jeep von Doktor Tan rollte in diesem Moment auf den Parkplatz des Restaurants. Der Doktor aus Chantaburi winkte den Kollegen beim Aussteigen zu und marschierte dann ohne weitere Verzögerung zu dem abgesperrten Haus hinüber.