Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Auf der thailändischen Insel Koh Chang treibt ein unsichtbarer Killer sein Unwesen. Eine junge Frau starb im Swimming-Pool an einem Stromschlag. Inspektor Chaichet ermittelt daraufhin in den Luxus-Hotel der Insel. Sonderlich beliebt war die Dame nicht. Doch wer hatte einen Grund, sie zu ermorden? Kurz darauf schlägt der Mörder erneut zu.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 264
Veröffentlichungsjahr: 2020
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Klaus Sebastian
DER ELEFANT UNTER DEM LOTOSBLATT
Ein Thailand-Krimi
Wer sich beständig der Unbeständigkeit gewahr ist, wird vermutlich durch den Tod keinen allzu großen Schock erleiden.
Dalai Lama(*1935), eigentlich Tenzin Gyatso,
14. geistiges und politisches Oberhaupt der Tibeter
Man kann einen Elefanten nicht unter einem Lotosblatt verstecken.
Altes thailändisches Sprichwort
Vorbemerkung
Fast alle Figuren in diesem Roman sind frei erfunden. Allerdings borgte ich mir ganz schamlos einige Sehenswürdigkeiten, Reisebüros und Hotels auf der thailändischen Insel Koh Chang, in denen meine Romangestalten ihre Auftritte haben.
Es versteht sich von selbst, dass in den realen Hotels keine Attentate oder Handlungen, wie sie in diesem Buch beschrieben werden, stattgefunden haben.
Eine Übersetzung der Thai-Wörter, die in diesem Roman vorkommen, befindet sich im Anhang des Buchs.
Alle Rechte vorbehalten.
Copyright © Klaus Sebastian 2016
Covergestaltung: Klaus Sebastian
Inhalt
1 Dem Inspektor fällt das Dach auf den Kopf
2 Ein Blitz aus heiterem Himmel
3 Gesegnete Mopeds
4 Tatort Luxushotel
5 Gift und Hund
6 I Shot The Sheriff
7 Ein Miststück
8 Rad des Lebens
9 Tattoo
10 Frommes Schweinchen
11 Hohle Hasen
12 Entführung
13 Mundharmonika-Streik
14 Waschanlage unter Palmen
15 VIP Mönch
16 Orakelstäbe lügen nicht
17 Piercing Paradies
18 Von der Besserung des Menschen
19 Die Spuren des Rächers
20 Lärmterror
21 Tod am Siam Beach
22 Besuch beim alten Fuchs
23 Chaos Deluxe
24 Der Traum des Gouverneurs
25 Heimatlose Geister
26 Gefährlicher Bambus
27 Ausflug nach Koh Mak
28 Der Pate
29 Mosaiksteine
30 Billabong
31 Unter dem Tempelbaum
1
Dem Inspektor fällt das Dach auf den Kopf
Um vier Uhr nachts schlug die Bombe im Haus von Inspektor Chaichet ein. Der oberste Gesetzeshüter von Koh Chang, einer verträumten Insel im Golf von Thailand, hob wie eine Comicfigur mit allen vier Gliedmaßen von seinem Bett ab und versuchte sich hustend in der von Staub erfüllten Luft zu orientieren. Der Donnerschlag, der noch in seinen Ohren nachhallte, pulverisierte jeden klaren Gedanken. Er tastete nach seinem Smartphone, das stets griffbereit neben seinem Bett lag, drückte den Knopf mit der installierten Taschenlampe und ließ den Lichtstrahl über die Wände wandern. Wie ein Tsunami quoll der Dreck durch den Spalt unter der Schlafzimmertür hervor. Der Inspektor schloss daraus, dass der Sprengkörper im Wohnraum nebenan explodiert sein musste. Chaichet schnappte nach Luft und versuchte die Tür zu öffnen. Irgendein Hindernis lag dort nebenan im Weg und versperrte den Ausgang. Mit seiner rechten Schulter und dem Mut der Verzweiflung warf er sich gegen die blockierte Tür, die sich beim zweiten Versuch ächzend aus den Angeln löste.
Im Wohnzimmer sah es tatsächlich aus wie nach einem Bombenangriff. Der Esstisch lag auf dem Rücken und streckte seine vier Beine wie ein Kadaver in die Höhe. Schränke, Lampen, Bücher, der Laptop und der Fernseher waren unter der vibrierenden Staubschicht nur noch als kubistische Schemen zu erkennen. Chaichet richtete den Strahl der Lampe zur Decke und schlagartig erkannte er die wahre Ursache der Verwüstung. Das halbe Dach war eingebrochen. Balken, Eternitplatten und baumdicke Bambusrohre ragten wie die Speere einer burmesischen Armee in sein ehemals gemütliches Wohnzimmer hinein. Hustend schleppte sich der Inspektor zur Eingangstür, die unversehrt war, öffnete sie und trat in den kleinen Garten hinaus. Während er die frische Luft gierig in seine Lunge sog, nahm er das Trümmerfeld in Augenschein. Der Fall war schnell gelöst: Offensichtlich hatte das Baumhaus, das sein handwerklich untalentierter Nachbar seit einem Jahr unmittelbar an der Grundstücksgrenze hochzog, einem leichten Windstoß nicht standhalten können und war krachend auf Chaichets Dach gestürzt.
Der Inspektor spürte, wie die Wut auf den stümperhaften Architekten in ihm hochstieg und er überlegte, wie er Dampf ablassen konnte.
Nur in Unterhose und T-Shirt konnte er sich nicht in sein Fahrzeug setzen. Er brauchte eine Bleibe für den Rest der Nacht - und für die nächsten zwei, drei Wochen. Solange würde es bestimmt dauern, bis sein Haus wieder bewohnbar war. Fluchend bahnte er sich seinen Weg zurück ins Schlafzimmer, zog eine Hose und ein Hemd aus dem Schrank und tappte mit den Kleidungsstücken wieder ins Freie.
Als er sich im Mondlicht angekleidet hatte, schloss er die Tür des Toyota auf, der Buddha sei Dank unversehrt geblieben war. Er startete den Motor, drehte die CD mit der Rockmusik auf volle Lautstärke und fuhr mit finsteren Gedanken vom Hof. Dieser Anschlag würde den lieben Nachbarn eine hübsche Stange Geld kosten - und er wusste schon, wie er die Kosten noch ein wenig in die Höhe treiben konnte.
2
Ein Blitz aus heiterem Himmel
Als Miss Dah sich für eine letzte Bahn in dem 25-Meter-Pool des Coral-Bay-Resorts vom Beckenrand abstieß, fühlte sie sich kein bisschen müde. Im Gegenteil: Das tägliche Schwimmtraining wirkte auf ihren zierlichen Körper wie eine erquickende Verjüngungskur. Und diesen positiven Effekt spürte sie sogar bei ihrer Arbeit als Chefin einer kleinen Touristik-Agentur. Neuerdings erledigte sie ihren Job ohne Anzeichen von Stress oder Erschöpfung.
Die meisten Freunde oder Bekannten stellten sich ihre Tätigkeit ja als wahren Traumjob vor. Arbeiten auf einer tropischen Insel, Touristen betreuen, Ausflüge organisieren und dafür eine Menge Kohle kassieren. Von nervigen, nörgelnden Pauschalreisenden, der Warterei auf verspätete Flugzeuge und Terminstress bei 36 Grad im Schatten machten sich diese Neider keine Vorstellung. Gewiss - es gab weitaus schlimmere Arten, seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Doch ein Zuckerschlecken war die 24-Stunden-Rundum-Betreuung von Urlaubern nun auch nicht.
Dah schwamm jetzt mit einem kräftigen Zug auf das Ende des Beckens zu. Dort angekommen, umfasste sie mit beiden Händen das Geländer der schmalen Metall-Leiter, die den Ausstieg aus dem Pool erleichterte. Im selben Moment spürte sie, wie aus dem Nichts ein gewaltiger Blitz einschlug und ihr kleiner brauner Körper zurück ins Wasser geschleudert wurde. Ihr Gehirn stand augenblicklich unter Strom und es versuchte sich panisch einen Reim auf dieses unwirkliche Wetterphänomen zu machen. Wie konnte das möglich sein, wo der Morgenhimmel über dem Pool doch so blau war wie auf den Kitschpostkarten, die es überall auf der Insel zu kaufen gab. Miss Dah blieb jedoch nicht mehr genug Zeit, das Rätsel zu lösen, denn gleich darauf fiel ihr Energiepegel rasant ab, und noch bevor sie ein letztes Mal nach Luft schnappen konnte, färbte sich der Himmel pechschwarz.
3
Gesegnete Mopeds
Als Chaichet seinen Toyota im Schneckentempo über die waschbrettartigen Bodenwellen im Hof des buddhistischen Tempels von Klong Prao steuerte, wurde er Zeuge einer Zeremonie, die ihn nachdenklich stimmte. Drei Mopeds, die nebeneinander vor der großen Gebetshalle parkten, wurden soeben von einem der Mönche gesegnet. Der kahl geschorene Priester spritzte mit einem Wedel etwas Wasser über die offensichtlich neuen Fahrzeuge und murmelte die üblichen Gebetsformeln. Natürlich war der Inspektor mit diesem Aberglauben vertraut. Sogar die neuen Flugzeuge von Thai Airways wurden in einer ähnlichen Prozedur gegen Abstürze und andere Unfälle geweiht und immun gemacht.
Chaichet hielt nicht viel von diesem Humbug. Mit Buddhismus hatte das ohnehin nichts zu tun. Nach seiner Ansicht wäre es viel sinnvoller gewesen, die lächerlich einfachen Fahrprüfungen zu verschärfen und allen Mopedfahrern, die wie Gehirnamputierte durch die Gegend rasten, den Führerschein abzunehmen. Durch das Einsegnen ihrer Bikes wähnten sich diese zukünftigen Organspender nämlich von allen guten Geistern beschützt und drückten noch mehr auf die Tube.
Als er das Tempelgelände durchquert hatte und sich in den Verkehr auf der Hauptstraße einfädelte, drehte er die Musik wieder lauter. Obwohl ihm erst vor vier Stunden das Dach auf den Kopf gefallen war, fühlte er sich seltsam euphorisch und voller Tatendrang. Er hatte ein Zimmer im CentaraParadise bezogen, einem der teuersten Hotels auf der Insel, das zudem nur fünf Fahrminuten von der Police Station entfernt lag. Die saftige Rechnung würde er an seinen verblödeten Nachbarn weiterleiten.
Das Centara war mit einem 50-Meter-Pool ausgestattet, verfügte über einen exzellenten Zimmerservice und war für sein üppiges Frühstücksbuffet bekannt. Am liebsten hätte er es sich gleich nach seinem Umzug auf einer der bequemen, mit Leder bezogenen Sonnenliegen neben dem Schwimmbecken bequem gemacht. Doch der Ordnung halber musste er sich wenigstens am Morgen kurz im Büro blicken lassen. Viel zu tun gab es in den letzten Wochen nicht. Nur die Zahl der Einbrüche war leicht gestiegen. Auch der Diebstahl von Gasflaschen, die jeder Haushalt und jedes Restaurant zum Kochen benötigte, war derzeit groß in Mode. Auf Chaichets Liste der Verdächtigen standen die kambodschanischen Gastarbeiter an erster Stelle. Sie kamen mit großen Hoffnungen im Gepäck über die Grenze, heuerten auf einer der zahlreichen Baustellen der Insel an und merkten dann bald, dass sie von den Almosen, die sie dort verdienten, kaum überleben konnten. Allein das Pfand für eine große Gasflasche entsprach dem im Baugewerbe üblichen Wochenlohn.
Als er das Büro betrat, saß Captain Jirawan schon hinter ihrem Schreibtisch. Er fragte sich wieder einmal, welche Zaubertricks die Kollegin kannte, denn schon am frühen Morgen sah sie aus wie das blühende Leben. Ihr langes pechschwarz glänzendes Haar trug sie heute nicht offen. Stattdessen umrahmte eine kunstvoll arrangierte Frisur ihr apartes, fein geschnittenes Gesicht wie dunkler Blütenkranz. Es wunderte ihn immer wieder, was Frauen so alles mit ihren Haaren anfangen konnten.
Normalerweise schenkte sie ihm ja ein freundliches Lächeln zur Begrüßung. Doch jetzt empfing ihn nur ein ernstes Gesicht und ein knappes sawadii kaa.
„Was ist los?“ fragte er, während er seine enge Uniformjacke auszog und über den Stuhl warf. „Schlecht geträumt oder schlechte Nachrichten?“
„Ich wollte dich gerade anrufen“, antwortete sie. „Im Coral Bay Resort schwimmt eine weibliche Leiche im Pool. Am besten wir fahren gleich mal rüber.“
Chaichet seufzte, zog sich die Jacke wieder an und hielt der hübschen Kollegin die Tür auf. Na also, sein Wunsch nach einem erfüllten Arbeitstag war prompt in Erfüllung gegangen. Seit längerer Zeit gab es offenbar wieder mal eine Leiche auf Koh Chang. Die Unfallopfer auf den Straßen zählte er in dem Zusammenhang natürlich nicht mit.
4
Tatort Luxushotel
Als sie den Poolbereich betraten, hatte sich bereits eine große Schar von Schaulustigen am Rand des Schwimmbeckens eingefunden. Die eine Hälfte bestand aus den Mitarbeitern des Resorts, die andere aus Urlaubern, die ihren Frühstückskaffee stehen gelassen hatten, aus Sorge, dass sie hier etwas Aufregendes verpassen könnten. Der nur mit einem Bikini bekleidete Körper lag am Rand des Pools und wurde gerade von zwei Sanitätern bearbeitet.
„Sofort alles absperren!“ bellte Chaichet.
Er ging zwar von einem tragischen Badeunfall aus, doch man musste immer mit allem rechnen. Durch die neugierigen Gaffer konnten wichtige Spuren vernichtet werden.
Jirawan holte die Rolle mit dem rotweißen Kunststoffband aus ihrer Bereitschaftstasche und begann damit, die Wiese rings um den Pool großzügig abzusperren. Als Chaichet den Manager des Resorts inmitten seiner Belegschaft entdeckte hatte, wies er ihn an, seine Angestellten sofort vom Unfallort zu entfernen. Der erkannte endlich den Ernst der Situation und gab den Befehl reflexartig weiter: „Habt ihr nichts zu tun?“ fuhr er sein Personal an. „Macht euch an die Arbeit, aber schnell, reo reo!“
Nachdem die Zimmermädchen und das übrige Service-Personal murrend abgezogen waren, nahm sich der Inspektor den Manager vor.
„Ich kenne Sie vom Sehen“, eröffnete er das Gespräch. „Sie sind aus der Schweiz, oder?“
„Ja, genau“, antwortete der adrett gekleidete Mann. „Ich arbeite schon seit einem Jahr hier im Coral Bay. Hannes Oechsli, mein Name.“
„Kennen Sie die junge Frau?“
Die Sanitäter hatten ihre Wiederbelebungsversuche mittlerweile eingestellt und eine graue Decke über den Körper gebreitet.
„Sie kam jeden Morgen hier ins Hotel zum Schwimmen“, antwortete Oechsli. „Sie war also kein Gast bei uns. Aber da sie uns regelmäßig Urlauber vermittelte, durfte sie den Pool kostenlos nutzen.“
Oechsli wischte sich mit einem Papiertaschentuch die kleinen Schweißperlen von der Stirn. Der Leichenfund am frühen Morgen schien ihn völlig aus der Bahn geworfen zu haben. Vom Manager eines Luxus-Hotels hätte Chaichet eigentlich bessere Nerven erwartet. Aber wer weiß: Vielleicht hatte der gute Mann noch nie eine Leiche gesehen.
„Die junge Frau arbeitete also im Tourismus-Betrieb?“ hakte der Inspektor nach.
„Ja, sie war Inhaberin einer kleinen Agentur hier auf der Insel. Sie betreute hauptsächlich Pauschalurlauber aus Deutschland, die ihre Reise bei TUI oder FTI gebucht hatten.“
„Verstehe. Bleiben Sie bitte in der Nähe, falls wir noch Fragen haben.“
„Selbstverständlich.“
Der Manager machte auf dem Absatz kehrt und marschierte in Richtung des Hauptgebäudes davon.
„Khun Chaichet, schau dir das mal an!“
Jirawan war mit ihrer Absperraktion fertig und lotste den Inspektor zum Beckenrand hin. Chaichet erkannte sofort, welches Detail sie ihm zeigen wollte: Einen dünnen Draht, der kaum erkennbar um das Geländer der Pooltreppe gewickelt war.
„Nicht anfassen!“ flüsterte Chaichet der Kollegin ins Ohr. Er bückte sich und versuchte dem Verlauf des Drahts mit den Augen zu folgen. Zwischen dem Rand des Pools und der Wiese war feiner
Sand aufgeschüttet worden, um so die Illusion eines schmalen Strands herbeizuzaubern. Der Draht verlief unsichtbar unter dieser Sandschicht, bis er nach ungefähr fünf Metern wieder ans Tageslicht kam.
Chaichet richtete sich aus der Hockstellung wieder auf und sah sich die Sache genauer an. Der Draht tauchte aus dem Sand auf und verschwand sogleich wieder in einem Metallschrank, auf dessen Vorderseite ein gelbes Warndreieck mit einem schwarzen Blitz aufgeklebt war. Ein Elektrokasten.
„Bloß nichts anfassen!“ ermahnte er Jirawan noch einmal. „Wir brauchen einen Elektrosachverständigen.“
Gleichzeitig zog der Inspektor sein Smartphone aus der Tasche und wählte die Nummer des Kollegen Pong von der Touristen-Polizei. Das sah nun doch nach einem Mordfall aus, und er würde jede Hilfe gebrauchen können. Das Opfer war zwar eine Thai, aber immerhin hatte sie im Tourismusbetrieb gearbeitet. Also konnte sich auch die Tourist-Police an der Aufklärung dieses Falls beteiligen.
Chaichet erinnerte sich noch gut an die Zusammenarbeit mit Sergeant Pong bei ihrer Suche nach dem Killer mit der Elefantenmaske. Jirawan war damals zur Unterstützung aus Bangkok gekommen, und es war dem Inspektor bis heute gelungen, eine Rückkehr der tüchtigen Polizistin in die thailändische Hauptstadt zu verhindern.
Trotz des furchtbaren Anlasses freute er sich also, dass sein Team nun bald wieder gemeinsam ermitteln würde.
Als Pong eintraf, war der Körper der jungen Frau bereits in einen Leichensack gepackt worden. Die beiden Sanitäter schoben die schwarze Kunststoffhülle über die Verladeklappe des Krankenwagens und schlossen die Türen mit routinierten Handgriffen. Pong begrüßte den Inspektor und die Kollegin Jirawan, von der er immer noch heimlich träumte - in der Nacht und manchmal auch tagsüber. Doch seine Zuneigung wurde von Jirawan immer nur mit einer kumpelhaften Freundlichkeit erwidert. Hin und wieder hatten sie sich zum Abendessen getroffen und nachher einen Cocktail am Strand getrunken. Mehr war nicht passiert, und Pong war kurz davor, sich in sein trauriges Schicksal zu fügen.
„You can't always get what you want“ von den Rolling Stones gehörte neuerdings zu seinen Lieblingssongs. Wenn in seinem tristen Büro nichts los war, hörte er das Lied in einer Endlosschleife über die Kopfhörer seines Smartphones. Und für den Fall, dass er sich so richtig in seinem Selbstmitleid suhlen wollte, hatte er noch Sinead O´Connors Jammerballade „Nothing compares to you“ und „Bed of roses“ von Bon Jovi runtergeladen.
Am besten wäre es also gewesen, dem Objekt der Begierde aus dem Weg zu gehen. Doch dieser Vorsatz hatte nie lange gehalten, denn er freute sich ja nach wie vor, sie zu sehen, sie anzuschauen.
Pong wandte seinen Blick von Jirawan ab, die wie immer zauberhaft aussah - sogar in ihrer strengen Uniform.
„Wer ist das?“ fragte er Chaichet. „Spurensicherung?“
Der Inspektor folgte seinem Blick hin zu dem Elektrokasten, an dessen Rückseite sich ein kleiner Thai zu schaffen machte.
„Nein, die Spurensicherer kommen erst mit der nächsten Fähre. Das ist Khun Zap. Kein Elektrosachverständiger, aber immerhin ein Elektriker, der sich mit der Materie auskennt. Falls hier alles unter Strom steht, dann soll er das erst mal abstellen.“
Kurz darauf verstaute Zap seine Messgeräte in einer großen, kofferartigen Tasche und kam zu den Polizisten rüber.
„Da hat einer rumgefummelt, keine Frage“, lautete seine fachmännische Diagnose.
„Das heißt?“ hakte Jirawan nach.
„Möchten Sie die technische Version, oder soll ich es für Laien verständlich erklären?“
Chaichet nahm erstaunt zur Kenntnis, dass der Handwerker mitdachte. Solche Menschen gehörten einer aussterbenden Spezies an.
„Laienhaft reicht erst mal.“
„Dann sag ich mal so: Der Strom aus diesem Kasten wurde mit Hilfe des Drahts an das Geländer des Pools geleitet. Im Fachjargon würde man sagen: Es handelt sich um einen bewussten Eingriff in eine Elektroinstallation.“
„Das heißt, die junge Dame ist am Elektroschock gestorben – so ähnlich wie beim Fön, der in die Badewanne fällt?“ fragte Pong.
„Wahrscheinlich hat ihr Herz versagt“, fuhr der Elektriker fort. „Das Symptom wäre dann Herzkammerflimmern. Aber das werden die Experten bei der Obduktion herausfinden. Mit dem Fön in der Wanne hat das aber nichts zu tun. Nur das Metallgeländer konnte den Strom in den Körper der jungen Dame leiten. Wenn sie zum Beispiel am Rand aus dem Becken geklettert wäre, dann hätte sie auch nicht der Schlag getroffen.“
„Verstehe“, sagte Chaichet. „Haben Sie jetzt alles abgeschaltet?“
„Ja, es besteht keine Gefahr mehr.“
„Den Draht lassen wir trotzdem liegen, so wie er ist. Sonst bekommen wir Ärger mit der Spurensicherung.“
Pong machte vorsorglich ein paar Fotos mit seinem Smartphone und kam dann mit einem Vorschlag heraus.
„Wenn ich euch schon bei einem Fall unterstütze, der eigentlich nicht in meinen Zuständigkeitsbereich fällt, dann könntet ihr mich wenigstens zum Essen einladen, oder?“
Jirawan grinste, doch Chaichet blickte ihn mit düsterer Miene an.
„Die junge Frau arbeitete im Touristik-Bereich. Ich buchstabiere: T,O,U...“
„Ja ja, schon gut“, fiel ihm der Sergeant ins Wort. „Ich helfe ja gern. Trotzdem wäre es jetzt Zeit für eine Portion Reis mit pikanten Beilagen.“
„Wir könnten den Manager bitten, zwei seiner Security-Leute hier abzustellen und den Pool zu bewachen, bis die Spurensicherer eingetroffen sind“, schlug Jirawan diplomatisch vor.
„Ich weiß nicht“, murmelte Chaichet und rieb sich sein unrasiertes Kinn. Ihm fiel ein, dass der Rasierapparat irgendwo unter den Trümmern seines Hauses begraben lag.
„Besser wir essen gleich hier im Hotelrestaurant eine Kleinigkeit. Dann können wir den Poolbereich im Auge behalten und vielleicht schon ein paar Befragungen durchführen.“
„Eine weise Entscheidung“, kommentierte Pong, dem der Magen knurrte.
Wieder vereint wie in alten Zeiten verließ das Trio den Tatort und setzte sich an einen der Tische auf der Pool-Terrasse.
Während sie mit dem Verspeisen von Som Tam (Papaya Salat), knusprigen Hähnchenflügeln und Pat Krapao Moo (Schweinefleisch mit Basilikum und Pfefferminzblättern) begannen, gesellte sich der immer noch geschockte Manager zu ihnen.
„Können Sie schon etwas über den Unfall sagen?“ fragte er mit besorgter Miene.
„Sieht nicht nach einem Unfall aus“, antwortete Pong. „Gab es denn keine Aufsicht am Pool? Oder eine Überwachungskamera?“
Herr Oechsli stöhnte.
„Nein, so früh noch nicht. Nach dem Frühstück, so gegen elf, übernimmt ein Junge das Verteilen der Handtücher. Und Kameras sind nur an der Rezeption installiert.“
„Wer hatte denn Zugang zum Poolbereich?“ mischte sich Jirawan ein.
Der Manager legte den Zeigefinger seiner rechten Hand in einer gezierten Geste über seinen Mund. Er schien nachzudenken.
Pong beobachtete ihn kauend und kam zu dem Schluss, dass der Mann ohne jeden Zweifel schwul war.
„Das ist hier kein Hochsicherheitsgefängnis“, erklärte Oechsli.
„Vom Strand her kann im Prinzip jeder an den Pool kommen.“
Chaichet seufzte und schob seinen leeren Teller in die Mitte des Tischs.
„Wir müssen auch herausfinden, ob der Anschlag wirklich der jungen Frau galt, oder ob sie nur zum falschen Zeitpunkt aus dem Schwimmbecken geklettert ist.“
„Um diese Zeit waren die meisten Gäste noch am Frühstücksbuffet. Ein paar Unbelehrbare reservieren sich jeden Morgen die Liegen mit Badetüchern. Aber so früh habe ich eigentlich immer nur Miss Dah im Pool gesehen.“
„Wäre auch unwahrscheinlich“, ergänzte Jirawan. „Der Täter muss ja abgewartet haben, bis sie sich im Becken befand. Erst dann hat er den Draht mit dem Stromkasten verbunden.“
„Sehe ich genauso“, stimmte der Inspektor zu. „Sagen Sie mal, Herr Oechsli, haben Sie in ihrem Resort noch ein Deluxe-Zimmer frei?“
Der Manager hob die Augenbrauen und schaute Chaichet verwundert an.
„Äh, ja, wir sind nicht ausgebucht. Warum?“
„Ich überlege gerade, ob es nicht sinnvoll wäre, wenn ich mich für ein paar Tage hier einquartiere.“
„Wenn Sie meinen, dass das nötig ist, kein Problem! Ich werde das sofort mit der Rezeption klären. Wollen Sie inkognito, also undercover ermitteln, Inspektor?“
In Oechslis Gesicht war jetzt wieder eine gesunde Farbe zurückgekehrt. Wahrscheinlich schaute er gern Krimis im Fernsehen und fand es aufregend, als Zeuge bei einer Mordermittlung dabei zu sein.
„Das wird nicht nötig sein“, erwiderte Chaichet. „Als thailändische Version von James Bond wäre ich eine Fehlbesetzung.“
Jirawan kicherte und deutete auf den großen, prächtigen Pfau, der in der Nähe des Elektrokastens nach etwas Essbarem pickte.
„Das ist Berlusconi, unser Hauspfau. Die Gäste lieben ihn“, erläuterte der Manager.
„Gut, dass er vor einer Stunde nicht über den Draht gestolpert ist. Dann wäre er heute Abend auf dem Grill gelandet“, scherzte Pong.
Er schnappte zwar den bösen Blick des Inspektors auf, konnte sich aber dennoch nicht zurückhalten.
„Pfau soll gut schmecken“, versicherte er mit ernster Miene.
„So, Kinder, genug zum Thema Essen“, beendete Chaichet das Geblödel.
Vor zwei Minuten hatte er eine SMS von der Spurensicherung auf seinem Smartphone empfangen. „Die Kollegen stehen schon auf dem Parkplatz des Hotels. Wir werden hier also nicht mehr gebraucht und sollten darüber nachdenken, welche Personen wir zum Verhör laden müssen.“
„Ich kann mich um die Mitarbeiter in dieser Reiseagentur kümmern“, schlug Pong vor. „Dah wird den Laden bestimmt nicht allein betrieben haben.“
„Okay“, stimmte der Inspektor zu. „Und Jirawan kann inzwischen ermitteln, ob es Familienmitglieder auf der Insel gibt.“
Als sie sich auf den Weg machten, stieß der blaue Pfau einen schrillen Schrei aus und fächerte seine Schwanzfedern zu einem beeindruckenden Rad auf. Chaichet verbuchte das als gutes Omen. Vor seinem erneuten Umzug vom Centara ins Coral Bay Resort wollte er noch einen Abstecher zum Haus oder zur Wohnung der Ermordeten machen.
5
Gift und Hund
„Sawadii krap, ich bin Inspektor Chaichet. Kennst du die Frau, die eine Etage über dir wohnt?“
Chaichet hatte auf gut Glück an alle Türen in dem vierstöckigen Gebäude geklopft, und der spindeldürre Mann im weißen Unterhemd war der Erste, der auf sein energisches Pochen reagiert hatte.
Der dünne Thai kicherte und gab keine Antwort.
„Hast du meine Frage gehört?“ erkundigte sich der Inspektor mit leicht erhobener Stimme. Ihm ging durch den Kopf, dass er es womöglich mit einem Kambodschaner zu tun hatte, der kein Wort Thai verstand.
„Doch, ich hab Sie schon gehört“, erwiderte der Mann nun grinsend. „Es hat mich nur sprachlos gemacht, dass die Polizei endlich auf meine Anzeige reagiert.“
„Was für eine Anzeige?“ platzte Chaichet heraus.
Irgendetwas lief hier schief. Das Grinsen auf dem dunklen Gesicht des Nachbarn verflüchtigte sich.
„Ah, Sie kommen gar nicht wegen der Anzeige?“
„Was denn für eine Anzeige?“
Der Inspektor merkte jetzt, dass seine Laune sich in Lichtgeschwindigkeit verschlechterte. Der Einsturz des Baumhauses, die fehlende Rasur, die Tote im Pool und die Dummheit dieses Zeugen addierten sich zu einer explosiven Mischung. Sein Gegenüber schien den Ernst der Lage auf dem Gesicht des Polizisten abgelesen zu haben, denn er beeilte sich jetzt mit einer Erklärung.
„Dieses Miststück von da oben hat meinen Hund vergiftet, und das habe ich natürlich angezeigt!“
* * * *
Jirawan beobachtete die drei konzentriert arbeitenden Masseurinnen, die sich nahezu synchron über den mit Badetüchern bedeckten Körpern bewegten. Über ihren Arbeitsplatz direkt am Strand konnten sie sich wahrlich nicht beschweren. Eine warme Brise wehte vom Meer herüber, weit und breit war keine Wolke in Sicht. Der Massagebereich wurde von vanillefarbenen Baldachinen vor der Sonne abgeschirmt. Die Polizistin rief sich ihr enges, dunkles Büro im Abgas verseuchten Bangkok in Erinnerung und seufzte. Ob die Masseurinnen wussten, dass sie hier im Paradies arbeiteten?
Andererseits war das kein Job, um den Jirawan sie beneidet hätte. Die Essenz einer Thaimassage bestand aus Drücken, Dehnen und Ziehen. Das war eine körperlich anstrengende Tätigkeit. Und wenn die Prozedur nach einer Stunde abgeschlossen war, stand schon der nächste halbnackte Kunde vor der Liege.
Die Schwester von Dah arbeitete in der Mitte des Trios. Sie hieß Noi, war genau so hübsch und zierlich wie Dah, schien aber dennoch kräftig genug für diesen anstrengenden Job zu sein. Noi warf der Polizistin fragende Blicke zu, während sie die Schulterblätter einer übergewichtigen Russin bearbeitete. Jirawan wollte sie nur ungern bei der Massage stören. Andererseits hatte sie weder Zeit noch Lust, die nächste halbe Stunde untätig verstreichen zu lassen. Sie wandte sich an ein Mädchen, das gerade Pause machte und gelangweilt mit seinem Smartphone spielte.
„Kannst du Noi für zehn Minuten ablösen?“ fragte sie.
Die Kleine bemerkte erst jetzt die goldene Polizeimarke an Jirawans Bluse und sprang eilfertig von ihrem Hocker auf. Sie knipste ein batteriebetriebenes Lächeln an und verbeugte sich knapp.
„Ja, kein Problem. Das machen wir im fließenden Wechsel. Die Kundin kriegt das gar nicht mit.“
Sekunden später hockte sie neben Noi und machte sich mit geübten Griffen über die Oberschenkel der im Nirwana treibenden Russin her.
„Ist etwas passiert?“ fragte Noi. Ihr Gesicht zeigte einen offenen und besorgten Ausdruck.
„Gehen wir dort hinüber“, schlug Jirawan vor.
Sie führte die junge Frau zu einer Holzbank, auf der frische Badetücher bereitlagen.
„Ist was mit meiner Mutter?“
„Nein, es geht um deine Schwester. Sie hatte einen Unfall.“
„Mit dem Motorrad?“
„Nein. Du musst jetzt sehr tapfer sein. Es tut mir so leid. Sie ist in einem Swimming Pool ertrunken.“
Jirawan hielt es für sinnvoll, zunächst nicht von einem Mord zu sprechen. Die Kleine würde schon genug damit zu tun haben, den Tod ihrer Schwester zu realisieren.
„Das glaube ich nicht. Das kann doch nicht wahr sein. Dah war doch so eine gute Schwimmerin.“
Sie bedeckte jetzt ihr kleines Gesicht mit den Händen und begann leise zu schluchzen. Jirawan legte ihr den Arm um die Schultern und gab ihr Zeit. Sie wusste, dass hier nicht der geeignete Ort war, um Noi ausführlich zu befragen.
„Kannst du in einer Stunde zur Polizeistation kommen? Ich muss dir natürlich noch ein paar Fragen stellen.“
Die Masseurin nickte stumm und wischte sich ihre Tränen mit einem der Badetücher aus dem Gesicht.
Jirawan wandte sich zum Meer hin, wo vier kleine Boote mit weißen Segeln fröhlich auf den Wellen schaukelten. Wie schön und sorglos das Leben sein konnte, dachte sie und überlegte zum tausendsten Mal, ob sie sich wirklich für den richtigen Beruf entschieden hatte.
6
I Shot The Sheriff
Als Pong den kleinen Geschäftsraum der Reiseagentur Team-Travel betrat, war nur die Putzfrau anwesend. Sie kam aus Kambodscha, sprach aber so viel Thai, dass eine Unterhaltung möglich war. Nachdem die recht hübsche Frau begriffen hatte, dass der Polizist sie nicht nach ihrem Ausweis oder einer Arbeitserlaubnis fragen wollte, wirkte sie wie erlöst und plapperte munter drauf los.
Ja, es gab noch einen Mitarbeiter in dem Büro, einen Russen namens Rocco. Nein, der ist zurzeit auf einer Inselrundfahrt. Eine Tour für russische Urlauber. Ja, einen Fahrer gibt es auch noch. Ein Thai. Nein, vor siebzehn Uhr sind die nicht zurück. Handynummer? Ja, die könnte sie ihm geben.
Pong überlegte, ob er diesen Rocco gleich verständigen sollte oder ob es klüger wäre, um siebzehn Uhr noch mal zurückzukommen. Grundsätzlich war es ihm lieber, wenn er den Menschen ihre Reaktion auf so eine Nachricht am Gesicht ablesen konnte. Er ließ sein Handy in der Brusttasche stecken und beschloss, am späten Nachmittag wiederzukommen. Er rief der Kambodschanerin einen Abschiedsgruß zu, doch sie hatte sich große Kopfhörer über die Ohren gestülpt und war schon wieder in ihre Arbeit vertieft. Der jaulende Staubsauger produzierte einen Höllenlärm, und Pong war froh, als er wieder draußen an der warmen Luft war. In diesem Büro hatte er eine bedrückende Atmosphäre gespürt. Er hätte aber nicht sagen können, woran das lag.
Da er noch etwas Zeit hatte und es keine Unfallmeldungen gab, steuerte er das Gym-Fitness-Studio an. Es lag ohnehin auf dem Weg, und Pong fühlte sich nach ein paar Klimmzügen und dem Arbeiten an den Geräten niemals müde, sondern regelrecht erfrischt. Außerdem hatte er den Plan gefasst, sich seine schlanke Linie so lange wie möglich zu erhalten. In dieser Hinsicht sah er Chaichet, der ein paar Jahre älter war und mindestens fünf Kilos zuviel mit sich rumschleppte, nicht als sein Vorbild an. Pong wollte gesund alt werden, um dann mit Frau und Kind seine Pension zu genießen. Doch bis dahin lag noch ein langer Weg vor ihm. Vor allem fehlte ihm nach wie vor die passende Frau.
* * * *
„So so, sie hat also deinen Hund vergiftet. Und was macht dich so sicher, dass es Miss Dah gewesen ist?“
„Oh my Buddha! Sie hat sich doch ständig darüber beschwert, dass Ochit, also mein Hund, zu laut bellt. Dabei hat er nur angeschlagen, wenn sich Fremde dem Haus genähert haben. Einen besseren Wachhund konnte man sich gar nicht wünschen.“
Der Spindeldürre zog sich seine Jogginghose über die hervorstehenden Hüftknochen und blickte dem Inspektor trotzig ins Gesicht. Aufgrund seiner Gesichtsfarbe schätzte Chaichet ihn als Choleriker ein. Die Thai bezeichneten solche Typen als jai roon. Menschen mit einem „heißen Herz“ neigten dazu, in Stress-Situationen die Kontrolle über ihre Gefühle und ihre Handlungen zu verlieren.
„Der Hund war in der Wohnung?“
„Nein, natürlich nicht. Er hielt sich meist unten im Vorgarten auf. An einem Morgen vor ungefähr vier Wochen habe ich ihn dort tot aufgefunden - neben einem vergifteten Stück Hähnchenfleisch.“
„Du hast das analysieren lassen?“
„Nein, für sowas hab ich kein Budget. Aber die Tierärztin bestätigte mir, dass Ochit typische Vergiftungssymptome hatte.“
„Wie heißt du überhaupt?“ fragte Chaichet.
„Sie können mich Daeng nennen.“
„Wo warst du denn heute Morgen, Khun Daeng?“
„Na, hier im Bett. Was soll denn diese Fragerei eigentlich? Ist der Tierhasserin etwas passiert?“
Der Inspektor überlegte kurz, ob es sinnvoll wäre, die Katze jetzt schon aus dem Sack zu lassen. Die Nachricht vom Tod der jungen Frau würde sich ohnehin schnell herumsprechen.
„Deine Nachbarin ist tot und wurde vermutlich ermordet.“
Jetzt verlor Daeng tatsächlich die Kontrolle über seine Gesichtsmuskulatur. Die Kinnlade fiel ihm herunter und er starrte den Polizisten mit vor Schreck weit aufgerissenen Augen an.
„Deshalb sind Sie hier!“ stieß er hervor. „Sie glauben, dass ich mich wegen dem vergifteten Ochit an ihr gerächt habe. Oh my Buddha, das darf doch nicht wahr sein. Hören Sie, Inspektor: Niemand in diesem Haus konnte diese kaltherzige Dame leiden. Aber deshalb wird man doch nicht gleich zum Mörder!“
„Jedenfalls hast du deinen Hund geliebt und du hast kein Alibi“, erwiderte Chaichet kühl. „Was machst du denn beruflich?“
Daeng seufzte und griff nach der Türklinke. Sein dünner Körper zitterte, und er sah aus, als würde er gleich in Ohnmacht fallen.
„Ich bin Autoelektriker. Aber im Moment arbeitslos.“
„Okay. Du bleibst in den nächsten Tagen auf der Insel, verstanden?“
„Ja, krap.“
„Und morgen früh um neun meldest du dich auf der Polizeiwache!“
Chaichet stieg noch einmal die Treppe zum nächsten Stockwerk hoch, in dem auch Dahs Wohnung lag. Unterwegs ließ er sich die Theorie von dem Mord wegen eines getöteten Tiers durch den Kopf gehen. So etwas kam tatsächlich vor. Manche Leute liebten ihre Tiere mehr als ihre menschlichen Artgenossen. Sein Job als Autoelektriker machte Daeng zusätzlich verdächtig. Andererseits besaß Chaichet so viel Menschenkenntnis, dass er unterscheiden konnte, ob die Reaktion auf eine Todesnachricht echt oder gespielt war. Und der dürre Mister Daeng zeigte eindeutig wenig Talent für das Theaterspiel. Für den Inspektor machte es auch keinen Sinn, dass ein Mörder zuerst per Anzeige den offiziellen Weg einschlug. Da konnte er eigentlich gleich auf der Wache erscheinen und um Handschellen bitten.
Im oberen Stockwerk, hinter der ersten Tür rechts ertönten laute Reggae-Klänge. Chaichet mochte diese relaxte Musik. Als Polizist war ihm aber bewusst, dass Reggae und Drogenkonsum zusammen gehörten wie Papayasalat und Chili. Er hob seine Nase und schnüffelte wie ein Spürhund nach einem verdächtigen Duft. Nein, da war nichts. Er roch nur eine Mischung aus Knoblauch und Fischsoße. Einige Hausbewohner hatten ihren Müll einfach neben den Wohnungstüren abgestellt, und der Inhalt dieser Plastikbeutel verströmte den scharfen Geruch.
Chaichet klopfte energisch gegen die Wohnungstür. Gleich darauf flog die Tür auf, und die wuchtigen Bässe des Reggae-Songs erwischten den Inspektor wie die Tritte eines Thaiboxers in der Magengrube. Vor ihm stand ein hoch gewachsener Farang, der ein T-Shirt mit der Flagge von Jamaika, eine Surferhose und Havaianas