Blankenburg. Unglaubliche Geschichten und andere späte Prosa. Der Schuss auf die Kanzel - Hermann Burger - E-Book

Blankenburg. Unglaubliche Geschichten und andere späte Prosa. Der Schuss auf die Kanzel E-Book

Hermann Burger

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Beschreibung

Die in den letzten Jahren seines Lebens erschienenen Prosabände zeigen Hermann Burger, einen der bedeutendsten Schriftsteller der Schweiz, auf der Höhe seiner Erzählkunst. Wie in seinen frühen Erzählungen sind die Helden der Geschichten in „Blankenburg“, „Der Schuss auf die Kanzel“ und in den „Unglaublichen Geschichten“ Sonderlinge, die auf die Seltsamkeit der Welt mit selbst entwickelten Ordnungssystemen reagieren, oder an Leib und Seele erkrankte Wortkünstler, deren Befreiungsversuche keineswegs immer schlecht enden. Wesentlich ist den Erzählungen Burgers stets ein abgründiger Humor, der die Lektüre bei all den traurig-heroischen Schicksalen der Figuren zu einem außergewöhnlichen Vergnügen macht.

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Seitenzahl: 464

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Nagel & Kimche E-Book

Hermann Burger

WERKE IN ACHT BÄNDEN

Herausgegeben von

Simon Zumsteg

Dritter Band

Erzählungen II

Hermann Burger

BLANKENBURG

UNGLAUBLICHE

GESCHICHTEN

und andere späte Prosa

DER SCHUSS

AUF DIE KANZEL

Erzählungen

Mit einem Nachwort von

Ruth Schweikert

Nagel & Kimche

Die Werkausgabe wurde ermöglicht dank der großzügigen Unterstützung durch

den Kanton Aargau

sowie der Unterstützung durch

die UBS Kulturstiftung

die STEO-Stiftung Zürich

die Stadt Zürich Kultur

den Verein zur Förderung des Schweizerischen Literaturarchivs

© 2014 Nagel & Kimche

im Carl Hanser Verlag München

Umschlag: Stefanie Schelleis, München Porträtfoto Hermann Burger: 1985, © Gert Eggenberger

Herstellung: Andrea Mogwitz und Rainald Schwarz

Satz: Satz für Satz. Barbara Reischmann

ISBN Band 3: 978-3-312-00614-4

Unser gesamtes lieferbares Programm

und viele andere Informationen finden Sie unter:

www.hanser-literaturverlage.de

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Datenkonvertierung E-Book:

Kreutzfeldt digital, Hamburg

INHALTSVERZEICHNIS

BLANKENBURG

Erzählungen

Der PuckBlankenburg

Die Wasserfallfinsternis von Badgastein

UNGLAUBLICHE GESCHICHTEN

und andere späte Prosa

Der Zauberer und der Tod

Die totale Cardiostrophe oder Das Verbrechen der Bündner Juristin an einem KaufmannssohnMein Abschied von Gastein

Unglaubliche Geschichten

Dichterin vertreibt Panzerkompanie

Schriftsteller vom Blitz heimgesucht

Ferrari humanum estKohlhaas auf der DampfwalzeWarum so einfach, wenn es kompliziert auch gehtMein erster Preis als Künstler

DER SCHUSS AUF DIE KANZEL

Eine Erzählung

PARERGA

WilhelmUnvermutetes Erwachen aus der Scheintotenstarre

ANHANG

Editorische Notizen

Nachwort von Ruth Schweikert

BLANKENBURG

Erzählungen

DER PUCK

Ein Eismärchen

Nach einer föhnigen ersten Dezemberwoche, die nur Kopfwehschnee gebracht hatte, Kandiszucker an den Straßenrändern, sank das Thermometer und blieb auf zehn Grad minus sitzen. Die Bise trug dazu bei, dass Teiche und Tümpel noch vor Weihnachten zufroren, so dass man bereits am Stephanstag ans Eishockeyspielen denken konnte.

Auf dem Estrich band ich mein Stockblatt mit schwarzem Isolierband ein. Die Klammerschlittschuhe hingen an einer roten Schnur im Gebälk, zwischen Zwiebeln und stiebenden Melissenstauden. Diese Angstgerüche alter Bubenverstecke: Dörrobst, Mottenkugeln und Kernseife. Leider hatte ich wieder keine Hockeystiefel bekommen. Mein Vater, der mit den Kufen über den See gelaufen war, fand, sie täten ihren Dienst noch lange. Ich musste mit dem Winkelschlüssel beinahe die rostigen Gewinde vermurksen, bis sich die Backen bewegten, und nahm mir vor, die Eisen bei Gelegenheit geschickt zu verlieren, denn sie waren wie alles in unserem Haus gut versichert.

Alle hatten Stiefel seit Weihnachten, Luchsinger sogar rote mit Beinstützen. Im Tor konnten sie mich vielleicht dennoch gebrauchen, als Lückenbüßer. Der Puck in der Schuhschachtel: ich wog ihn in der Hand. Sollte er mit? Nein, sagte ich mir, er ging ja doch nur verloren, und dann war ich der Dumme.

Ein grauer Nachmittag. Ich gabelte meine Kufen auf, bei denen es sich nicht einmal mehr lohnte, den Hohlschliff zu erneuern, und schulterte den Stock. Stein und Bein gefroren. Die Bäume in ihren Gichtkronen sahen aus wie verhexte Nebelscheuchen. Ich hatte vor, zur Kiesgrube hinaufzugehen, denn die Lehmwassertümpel auf den Schuttkegeln unterhalb des Schmulzenkopfes waren beliebte Spielfelder. Das Eis über dem gelben Brei war zwar dünn, doch es hielt. Nur wenn man zu hart mit dem Stock schlug, kam es vor, dass einer mal einen Schuh voll Lätt herauszog. Sicher hatten die Burschen schon Mannschaften gewählt und angefangen. Spielten sie nicht in der Grube, dann freilich mussten die alten Feuerweiher auf der Hochebene zugefroren sein. Seit Jahren waren sie nicht mehr freigegeben worden.

Am Ausgang des Maschinenwäldchens verließ ich den harten Fußweg und stieg hinauf zur Straße, wo ich das ganze Kiesareal überblicken konnte. Kein Knochen weit und breit. Die graupeligen Lehmaugen wurden überragt vom Schotterturm, dessen geborstene Bretterverschalung von einer dicken, graugrünlichen Mehlschicht überzogen war. Ein Schrägaufzug mit ausgerenkter Wanne führte bis dicht unters Wellblechdach. Im Innern der abbruchreifen Bude konnte man verschmierte Bestandteile des Schwingsiebs erkennen.

Die Werkstraße führte zwischen den Kiesbergen durch und verlor sich im Abbaugebiet. Zuhinterst eine Baracke, ein festgerammter Löffelbagger. Darüber türmte sich die offene Wand des Schmulzenkopfes. Überhängende Wurzelnester. Es war so still, dass man das Regnen der Steine hörte, die über die Eisbärte auf den Geröllkegel kollerten. Die Wracks der Raupenfahrzeuge und Kamintraktoren wirkten wie Trümmer auf einem Schlachtfeld, als ob die Grubenmannschaft mit ihren ungelenken Sauriern und gezahnten Brechschaufeln unermüdlich gegen die Wand angerannt wäre, bis alle Motoren verreckten.

Die Lust zu einem Spaziergang durch die verlassene Kiesgrube war da, doch dann packte mich wieder das Spielfieber, in Gedanken kombinierte ich schon mit Luchsinger, rote Linie, blaue Linie, obwohl wir die Feldabschnitte nie markierten, dafür war bei uns der Winter zu kurz. Ich nahm den Weg durch den Bleiwald, stapfte den Bach entlang, der dumpf zwischen bizarren Eisknollen gurgelte. Weiter oben trat er aus der mannshohen Röhre, die unter dem Kehrichthügel durchführte. Man nannte den gekrümmten Tunnel Rohrnudel, und er war immer wieder Schauplatz nächtlicher Mutproben. Man konnte ihn nur bezwingen, wenn man sich, mit dem Rücken zur Wand, seitwärts Schritt für Schritt vorantastete auf dem schmalen, glitschigen Rand des Kännels. Rutschte man aus, schwemmte einen der Bach bis zum Tanzenbein hinunter.

Nach einer knappen halben Stunde stand ich oben auf der Straße, die sich schnurgerade von den Berghöfen her zwischen den beiden Weihern durchzog. Unten im Tal die Rangiergeräusche auf dem Güterbahnhof. Puffer klirrten aufeinander. Über der Hochebene lag ein bissiger Rauch von Kälte. Nur als schwache Kulisse erkannte ich den Stierenberger Wald, die Lücke mit dem grauen Reservoir.

Am großen Weiher vorbei, dessen Böschung rechter Hand steil anstieg, eilte ich zum unteren, der die Form eines diagonal abgeschnittenen Ovals hatte und auf der Bösmatt lag, jener Wiese über dem Steilhang des Bleiwaldes, auf der sich die Amateurreiter der Gegend auf die Springkonkurrenzen vorbereiteten. Fragmente eines Stangenoxers im Reiffeld, zwei ausgetretene Trabkreise. Gespielt wurde auf dem unteren Teich, weil der obere des einlaufenden Baches wegen selten ganz zufror. Von weitem schon hörte ich das Knallen des Pucks und sah ich die Mützen und Pullover der Burschen durcheinanderwirbeln.

Doch keiner bemerkte mich, als ich das Bord hinunterschlitterte, durch das verharschte Schilf trat und auf Kauers Tor zuging. Es war mit zwei Steinen markiert. Das Eis dröhnte von den Kufen. Wie erwartet: alle hatten Hockeystiefel an. Luchsinger führte das große Wort. Er hatte den schnellsten Antritt und den härtesten Schuss. Den Torhüter auf der andern Seite erkannte ich nicht, es musste ein Ersatzmann sein. Großartig, wie Luchsinger seine Gegner mit Körpertäuschungen stehen ließ. Er übersetzte links- und rechtsherum, vorwärts und rückwärts kurvend. Rot, seine Mannschaft, lag im Rückstand, wie ich bald erkannte an seiner hastigen Abwehr. Öfter als gewohnt musste er in der Verteidigung aushelfen. Vielleicht lag es nur daran, dass die Blauen einen Mann mehr auf dem Feld hatten. Als der Puck weit neben dem Tor ins Schilf flitzte, schwenkte ich den Stock und rief: «Luchsinger, kann ich mitspielen? Ihr habt doch einen zu wenig!»

Luchsinger kurvte herbei und stoppte dicht vor mir. Eismehl stäubte auf. Er prüfte meine Schlittschuhe. «Mit diesen Großvatereisen? Kommt gar nicht in Frage. Eine Niete auf Entenfüßen hat uns gerade noch gefehlt bei diesem Resultat. Verschwinde! Auf dem Lehmweiher ist genug Platz für Anfänger.»

«Aber im Tor, Luchsinger, spielen doch die Schlittschuhe keine Rolle. Kauer könnte auf dem Feld mehr leisten.»

«Gerade dort», rief der Captain davonschwingend zurück, «kommt es auf einen guten Stand an. Du fällst doch beim ersten Schlagschuss auf den Arsch!»

Der Puck war wieder im Spiel, Luchsinger baute den nächsten Angriff auf. Es war zum Verzweifeln! Weshalb wollte mein Vater nicht endlich einsehen, dass es ohne erstklassige Ausrüstung nicht mehr ging. Wenn ich klönte, Kauer habe Stiefel und Bertschi auch, sagte er gleichgültig: Wir sind nicht Kauers und nicht Bertschis. Immer hieß es: wir sind nicht die andern. Und zu spüren, dass wir nicht die andern waren, bekam ich es, einzig und allein ich. Mit dem Velo war es dasselbe. Alle – oder fast alle – besaßen Halbrenner, während ich Samstag für Samstag eine schwere englische Vorkriegsmaschine auf Hochglanz polierte. Fehlte nur noch, dass sie ein Kleidernetz hatte wie die Damenräder. Radball, ja, aber dafür gab Vater den Klepper nicht her.

Ich stand hinter Kauers Tor, die Schlittschuhe immer noch über die Schulter gehängt, und trat von einem Fuß auf den andern. Eine Bärenkälte. Ich machte Fäuste in den Hosensäcken. Wir nannten den Schmerz Kuhnägeln. Er begann in den Fingerspitzen und bohrte sich durch die Hände, bis sie nichts mehr greifen konnten. Man musste sie zu Hause unters eiskalte Wasser halten, und es fühlte sich lauwarm an.

Weshalb blieb ich da, was hatte ich auf dem Feld noch verloren? Der Augenblick war verpasst, da man einfach abhauen konnte, als ginge einen das Spiel nichts an. Man kämpfte mit den Tränen und machte sich je länger desto lächerlicher. Die Dämmerung begann früh. «Bürgerliche Dämmerung», hatten wir in der Geographie gelernt: solange man Zeitung lesen kann bei Tageslicht. Drüben im Rauch die tiefen Dächer der Berghöfe. In der Scheune brannte ein Licht. Das Reservoir unterhalb der Waldschneise war kaum mehr aus dem Grau herauszulesen.

Da tauchte das laubfleckige Gesicht Konrads wieder auf, sein blutender Mund. Ich erinnerte mich an die Szene nach der Schnitzeljagd. Luchsinger wollte mit dem Bau der Baumhütte beginnen. Konrad, mein Cousin, hatte die Mutprobe, die ihn zum Bandenmitglied gemacht hätte, noch nicht bestanden. Wir lungerten auf dem Flachdach des Wasserreservoirs herum. Luchsinger hatte manchmal herrische Launen. Plötzlich befahl er: Spring hinab, dann bist du dabei! Und als Konrad sich schon bereitmachen wollte: mit verbundenen Augen natürlich. Er selber band ihm das schwarze Tuch um. Konrad sprang, tief ins Gras, kaum hörte man den Aufschrei. Laut rauschte der Betonklotz. Luchsinger rannte die seitliche Böschung hinunter, wir ihm nach. Der Arm war ausgerenkt, schien sogar gebrochen zu sein. Konrad würgte und würgte, als hätte er eine Kröte im Hals. Luchsinger totenbleich: So sag doch, wo tut’s dir weh, so sag doch!

Es gab eine lange Untersuchung. Konrad hatte die Sprache und den Verstand verloren. Er kam ins Spital und später in eine Heilanstalt. Luchsinger hatte Zeugen genug dafür, dass mein Cousin freiwillig gesprungen war. Er habe zur Bande gehören und an der Baumhütte mitbauen wollen. Mich überstimmten sie mit der Faust im Hosensack, bevor ich den Mund aufmachte.

Das Eishockeyspiel wurde immer ruppiger, weil die Blauen den knappen Vorsprung hielten. Wild hieb Luchsinger auf die Stöcke seiner Gegner ein, wenn sie ihm den Puck abnahmen. Die Fehlpässe häuften sich. Das Geschrei der Burschen flaute ab, die Flüche wurden gröber.

Da hörte ich deutlich das leise Summen. Es kam aus dem Weiherhäuschen und war viel leiser als das Rauschen damals, im Reservoir. Fast ein Möhnen, wie man es in Transformatorenhäusern hört. Der Betonschacht, der aus dem Grund des Teiches aufstieg, ragte als Sockel über die Eisdecke und trug die Holzkabine, die mit ihrem runden Wellblechdach einem zu kurz geratenen Güterwagen glich und von der Straße her über einen Steg zugänglich war. Eine kleine, versperrte Tür trug das Schild «Betreten strengstens verboten, Lebensgefahr».

Auch im großen Weiher stand ein solches Häuschen, dicht am Nordufer. Keiner von uns Buben wusste genau, was drin war. Schon mancher hatte aus Neugierde versucht, die Tür aufzubrechen. Man vermutete, das Summen habe etwas mit Elektrizität zu tun, weshalb auch das Gerücht umging, man dürfe in den Weihern nicht baden, weil das Wasser elektrisch sei. Der herausgefischte Tobler, so wollte man gesehen haben, sei wie nach einem Blitzschlag verkohlt gewesen. Ich stellte mir ein System von Schalthebeln und Isolatoren vor. Doch dann hätten auch Drähte wegführen müssen. Vielleicht wurde von diesen Kabinen aus der Wasserstand reguliert; früher hatten die Teiche den Dörfern im Tal als Reservoirs gedient.

Das Summen lockte mich an. Im Sommer konnte man ohne Boot nie so nahe an den Sockel herankommen, in den eine kellerfenstergroße Öffnung eingelassen war. Ich schleifte auf das Loch zu. Womöglich konnte man durch den Holzboden in die Kabine hinaufspähen.

Plötzlich traf mich ein harter Schlag am Fuß. Ich verlor das Gleichgewicht, fiel aber nicht aufs Eis, sondern sah etwas Schwarzes von meinem Schuh weg auf die Luke zuschiefern. Einer schrie noch: «Halte ihn fest!», doch bereits war der Puck im Loch verschwunden. Der Rist schmerzte. Aus dem Spielfeld kamen ein paar Burschen mit schlenkernden Stöcken auf mich zugefahren, Luchsinger allen voran.

«Warum hast du den Puck zum Bunker abgelenkt, Kleiner? Wohl absichtlich, damit wir das Resultat nicht mehr verbessern können!» Die Roten standen im Halbkreis um Luchsinger und mich. Er befahl mit zugekniffenen Augen:

«Eins kann ich dir flüstern: Hole sofort diesen Puck!»

Sprachlos und zitternd vor Wut blickte ich ihn an. Seine Nasenflügel blähten sich. Aus dem Pulloverausschnitt dünstete Wollgeruch und Schweiß, so nahe war er herangekommen. Ich wusste, dass ich ihm genauso ausgeliefert sein würde wie bei Konrads Fall.

«Hörst du, den Puck holen, aber sofort!»

Er fuhr dicht hinter mir her, stieß mir den Stock in die Rippen, als ich, sinnlose Bitten vorbringend, auf den Bunker zuhinkte. Keiner wusste, wie tief er war, was sich unten im Schacht befand. Noch keiner hatte sich hineingewagt. Und Luchsinger konnte so wenig als ich daran zweifeln, dass die Scheibe verloren war.

Ungeschickt, wie ich im Turnen nun einmal war, kroch ich durch die Öffnung. Es roch säuerlich. Das Summen oben in der Kabine schmerzte fast in den Ohren. Ich fand die vereisten Sprossen einer Metallleiter in der Wand und stieg so weit abwärts, dass ich noch aufs Spielfeld sehen konnte. Einen hörte ich im Davonfahren sagen: «Ohne Puck lässt ihn der Luchsi nicht mehr raus.» Die Burschen spielten weiter mit der Ersatzscheibe, er aber machte es sich bequem auf seiner Windjacke. An die Mauer lehnend, gab er seiner Mannschaft knappe Anweisungen, fluchte jeden an, der einen Fehler beging. Ich hatte es längst aufgegeben, ihn mit Versprechungen umstimmen zu wollen – ich kaufe euch einen neuen Puck, usw. –, er wollte keinen Puck, mich wollte er, und ich kauerte in den Sprossen.

So verging eine Ewigkeit. Die aufsteigende Kälte leckte mich blank. Von den Fingerspitzen her bohrte sich der brennende Schmerz durch die Hände bis in die Arme hinauf. Ich wusste nicht, war Feuer oder Eis in mir. In jedem Glied ein rostiger Nagel. Es war bereits so dunkel, dass man die Blauen und die Roten nicht mehr voneinander unterscheiden konnte. Im Schilf zogen sie, einer nach dem andern, ihre Hockeystiefel aus, hängten sie über die Stöcke und machten sich davon. Luchsinger blieb sitzen. Sein breiter Rücken ragte in die Öffnung. Er brauchte sich nur umzudrehen und auf meine Finger zu treten, dann war ich verloren. Wenn ich mich wieder nicht wehrte wie früher in ähnlichen Situationen, erfror ich oder stürzte ich ab. Kein Mensch würde mich aus diesem Schacht herausholen.

Es gab nur noch den mechanischen Gedanken, der eins war mit dem immer stärker werdenden Möhnen: Raus aus dem Loch, schlag ihn nieder! Der Gedanke wurde nicht in meinem Kopf, sondern oben in der Kabine gedacht: Schlag ihn nieder, mit dem Schlittschuh! Meine gefühllosen Finger tasteten nach der roten Schnur an der Schulter, griffen nach dem klebrigen Eisen. Ich spürte kein Gewicht. Langsam zog ich mich hoch, bis der Rücken breit vor meinen Augen flimmerte, und hieb mit der Kufe wuchtig über Luchsingers Nacken. Dumpf fuhr der Schlag zurück, pflanzte sich durch meine Glieder fort. Der Getroffene sackte in sich zusammen, kippte auf die Seite. Im Weiherhaus klickte das Summen aus, es war so still, dass ich hörte, wie ein spinnenbeiniges Knistern durch die Eisdecke lief, und dieses Knistern kitzelte mich, als wäre eine überspannte Trommelhaut zerrissen.

Ich verkrallte mich in seinem Pullover, zog mich aus dem Loch, ließ die Schlittschuhe fallen, als ich quer über den ganzen Weiher rannte. Die Böschung hinauf strauchelte ich und den Steilhang hinunter in den Bleiwald. Ich ließ mich fallen, bis ich unten am Bach vor dem Tunnel stand. Rücklings stellte ich mich an die poröse Innenwand und versuchte, den Atem anzuhalten. Es roch scharf nach Höhle. Stärker als das Rauschen des Baches war das Summen, das nun wieder da war, von weit her zu kommen schien, sich nadelfein in meinen Kopf bohrte, anschwoll, meine Ohren auseinanderriss, zu einem grässlichen Dröhnen wurde und dann plötzlich ausklickte.

In kurzen Abständen wiederholte sich die Qual, aber so, dass ich wie in meinem alten Angsttraum unter dem Gestänge einer höllischen Rotationsmaschine lag, die ich vergebens von der Brust zu stemmen versuchte. Wie der Apparat näher und näher kam, sah ich, ahnte ich vielmehr, dass der flirrende Kessel inwendig mit Nägeln gespickt war. Und das Weißschwarze in der Trommel, das mich anstarrte, war das Gesicht meines Vaters, das kreisende Pechhaar mit dem Mittelscheitel. Abgetrennt vom Rumpf der Kopf und ringsum aufgespießt, und das Bohrgestänge rammte mich in den Boden.

Doch nun hingen meine Glieder, meine Gedanken an elektrisch geladenen Drähten, die in der Kabine über dem Weiherschacht aufgespult wurden und mich hinauszogen aus der Röhre. Ich versuchte zu überlegen: Was ist geschehen? Luchsinger bewusstlos, tot vielleicht, Genickschlag; nur nicht nach Hause, bei Verwandten übernachten, ausreißen, im Wald liegen bleiben. Doch mühelos ging es bergauf, wie an einem Skilift, und als ich oben stand, spürte ich mein Körpergewicht nicht mehr und schien zu schweben.

Die Landschaft war ein Modell, aus blendend weißem Kunststoff gegossen. Darüber gestülpt eine schwarze Kuppel. Das Bomberdröhnen im Kopf hatte nachgelassen, vielmehr war es in ein Singen übergegangen. Die Hügel und der Nachtraum tönten wie die Glocke einer Glasharfe. Und der Weiher, als ich ihn betrat, schimmerte smaragdgrün. Unten mussten Lichter brennen. Auch das Eis klang nach bei jedem Schritt. Das Landschaftsmodell drehte sich um den Mittelpunkt des Teiches. Wo Luchsinger gelegen hatte, war ein kleiner Höcker in der Smaragdfläche zu sehen. Meine Schlittschuhe fand ich nicht mehr. Die Kabine über dem Schacht war schmaler geworden und ganz durchsichtig. Die Wände bestanden aus transparenten Eisplatten. Ich starrte ins Innere: Keine Schalter, keine Isolatoren, keine Drähte, keine Räder – nichts.

Um das kristallene Singen zu durchbrechen, schrie ich in die Kuppel hinauf: «Luchsinger, wo bist du? Ich hole dir den Puck!»

«Hole dir den Puck!», fiel das Echo aus allen Richtungen zurück, «hole dir den Puck!» Doch statt schwächer wurde es jedes Mal stärker, begleitet von einem kurzen, hämischen Gelächter. Ganz nah war die Stimme, dicht unter meinen Füßen. Der Weiher musste hohl sein. Ich folgte dem Ruf. Traumsicher stieg ich in den Schacht ein, auf dessen Grund es grünlich leuchtete. Sprosse um Sprosse kletterte ich abwärts, und immer bengalischer wurde das Licht. Zuunterst fand ich einen offenen Schieber, wie ich ihn mir vorgestellt hatte, nur viel kleiner. Ich musste mich hindurchzwängen.

Auf der andern Seite tat sich ein riesiger Eisdom auf, der hoch oben zur winzigen Smaragddecke zusammenwuchs, die nur noch so groß war wie das Lichtauge einer Kuppel. Der schlüpfrig braune Boden glich einem Höhlengrund mit klaffenden Spalten. Die Säulen trugen den Dom nicht, sondern standen frei als zugespitzte Stalagmiten. Einige wölbten sich zu Torbogen, als sei in diesem Raum einmal eine kleinere Kirche gestanden. Die Stimme rief: «Hole dir den Puck!»

Ich folgte ihr, indem ich auf dem Hintern über die glitschigen Buckel rutschte. Kapellenartige Nischen traten aus dem Dunkel, in die Wände waren grinsende Gesichter eingeknorpelt, Luchsingergesichter mit zwergenhaft verzerrten Zügen. Manchmal leuchtete die Grotte wie eine einzige Tropfsteinmaske. Das Echo der lockenden Stimme überschlug sich in den Apsiden zu einem japsenden Gekicher. Als ich bereits die Orientierung verloren hatte – war der Weiher noch über mir oder schon unter mir? –, geriet ich in einen violett ausgeschliffenen Kännel. In einer sausenden Schussfahrt, welche auch durch den Bachtunnel unten im Bleiwald zu führen schien, schoss ich durch ein Labyrinth von Wellen, Röhren und hochgezogenen Kurvenwänden. Der Kännel spiralte sich ein. Vielleicht schraubte ich mich aber auch nach oben.

Und als ich endlich aus der Bahn geworfen wurde, saß ich in einer niedrigen Krypta, die auf kurzstämmigen, bläulich schimmernden Säulen ruhte. Vor mir sah ich einen Eiswurzelstrunk, dessen Arme sich über den ganzen Boden verzweigten und tief unter mir in einem Wirrwarr von Knoten, Kröpfen und Ästen verloren. Die Schnittfläche des Strunkes war opalglatt, und auf diesem Tisch lag der Puck. Aus ihm kam die Stimme. Er hatte aber nicht das weiche Hartgummischwarz der Scheiben, mit denen wir spielten, sondern ein metallisches. Und die Kanten verrieten pures Gold.

Ich wusste, dass ich sofort erwachen musste, wenn ich nach ihm griff, wie aus dem quälenden Traum mit der rotierenden Vatermaschine. Vorsichtig, als könnte er mir entgleiten, streckte ich die Hand nach dem Puck aus. Wie ich zupackte, verstummte das hämische Lachen, und die Finger krampften sich im Schmerz zusammen. Es war der Kuhnagelschmerz wie draußen an der Kälte, nur viel feuriger. Zentnerschwer wurde die Faust und zog mich nieder auf den Tisch. Ein rasendes Hämmern im ganzen Körper.

Doch dann spürte ich, wie das Gold langsam zu schmelzen begann und von den Fingerspitzen her in die Adern eindrang. Es strömte siedend durch meine Arme, den Rumpf und die Beine bis hinunter in die Zehen, und im Strömen verwandelte sich der höllische Schmerz in eine kühle Lust. Als ich goldschwer ausgegossen war, zog sich das Metall wieder zu einer kleinen Scheibe zusammen, und ich empfand eine tief sättigende Ruhe. Rund wie ein Puck lag ich da, eingelassen in die blanke Fläche des Eiswurzeltisches, eine glaziale Intarsie. So freilich hatte ich mir das Erwachen nicht vorgestellt.

Tag müsste es inzwischen geworden sein, wenn es das überhaupt noch gäbe, Tag und Nacht, und für ein menschliches Gehör wäre irgendwo, weit draußen an der Kugeloberfläche, das Schaben von Schlittschuhkufen vernehmbar gewesen, dünnes Torgeschrei. Vielleicht spielen sie mit dir, hätte ich gedacht, wenn ein Puck noch hätte denken müssen, großer Eismeister.

BLANKENBURG

Zustandsbericht eines Leselosen

I

Liebe Herrin von und zu Blankenburg, Freundin des Herzens, höchste Legistin, Dank zunächst für das fortwährende Lesen, gerade ich, der Leselose, und hiermit ziehe ich einen blutigen Dolch aus tiefem Papier, kann ermessen, was es heißt, im Schlossgut des Simmentals, in der Parkumfriedung, unter Ulmen und Kirbeln, also noch diesseits der Baumgrenze, geschützt vom Wildstrubel und den Spillgerten, kurz in den Büchern zu leben, umso mehr als der Unterfertigte selber einmal Buchstabe war, und die Einladung, in Ihrer Bibliothek zu nächtigen, in Ihrem Innersten, ja dort, dem Blumenparterre gegenüber, die Wasserkunst in den Ohren, mein Krankenlager, mein Siechengeliger aufzuschlagen im Duft des Saffian- und Oasenziegenleders Ihrer Gesamtausgaben, sozusagen angefächelt vom Rockblitzen der Weltliteratur, diese Offerte baronesslicher Großzügigkeit – einschließlich eines als Ambulanz getarnten Büchercamions zur Überführung meiner Pillenleiche nach Blankenburg, o wie klar der Name vor stahlblauem Himmel – hat mich Ihrer Hochwarmherzigkeit entgegengepflügt, dann aber auch nach unten gespatet in den Kerker meiner Leselosigkeit.

Und ich muss Ihnen, Gräfin Frauke von Fürstenfeldt, da ich mich zu Ihren Brieffreunden zählen darf, zuallererst, damit Sie Ihr Angebot verstehen, von Schruns-Grächen berichten, immer im Kontrapunkt zu Blankenburg und davon ausgehend, dass Ihr getreuer Loontien in seinem verwaschenen Brandenburgerblau meine Kassibritäten nicht unterschlägt. Wie alle aus der Mark stammenden Diener fürchtet Loontien sich insgeheim davor, eines Tages mit einem Brief betraut zu werden, dem er nicht gewachsen ist. Es, mein Schreiben, erbricht ihn, den armen Loontien, dabei führt mein Weg, so könnte man meinen, ausschließlich über Ihren Privatsekretär Immanuel Arpagaus. Doch lassen wir, und das ist gescheiter als an eisgrauen Bediensteten und an Instanzendiretissimas zu zupfen, Schruns bei Grächen sprechen, nur so nebenhin, als Gruß nach Blankenburg, zu überbringen von der Montreux–Berner-Oberland-Bahn.

Wenn Sie sich, hochverehrte Gräfin und Fürstin meines versunkenen Kontinents, vorzustellen geruhen, dass Ihr Landsitz, er erinnert mich immer an Bergeller Barock, vielleicht der vielen Ochsenaugen wegen – vergleichen Sie hiezu die Kreiszier an den Simmentaler Bauernhäusern des 18. Jahrhunderts –, eines Nachts von Büchermördern überfallen würde, welche Ihre kostbare Bibliothek von unten nach oben schlitzten, von Literaturfledderern, die alles massakrierten, was Rang und Namen hat, so wäre dies, wiewohl es keine Versicherungsgesellschaft gibt, welche Ihnen die knisternden Erstausgaben mit dem appetitfördernden Schmökerruch ersetzen könnte, weiter nicht schlimm, selbst Loontien würde sich zu fassen wissen müssen. Immer noch könnten Sie sich und ihm sagen: Was schert uns der Plunder, ich, Herrin zu Blankenburg, bin Der Idiot, bin Die Wahlverwandtschaften, bin Der Stechlin, bin Die Recherche, bin Der grüne Heinrich, bin die Sonette an Orpheus, ich habe mir diese Edelsteine des menschlichen Geistes so tief eingeprägt, dass niemand auf der Welt sie aus meinen Seifen und Drusen wird brechen können. Inwendig strahlt der Amethyst, in der Schrunze der Opal, brustverkantet Türkis und Smaragd und Saphir und Rubin.

Was aber ist Ihre Brust, Verehrteste, von den Nächsten auch Frau Menscha gerufen? Kessel, Kaule und Schacht, Schlund, Teufe, Verlies? Gibt es einen Tresor für das Rosenhaus von Stifter, eine umzäunte Weide für Kafkas Verwandlung? Viel schlimmer als der Bücher beraubt – achten Sie auf den Genitiv – wäre es ja wohl, infolge eines Felssturzes, eines Erdbebens von den Folianten und Atlanten begraben zu werden. Mit den Spillgerten ist nicht zu spaßen, auch nicht, wenn man die Obrigkeit von Kastellanen vorschützen kann. Sie schnappten dann vielleicht nach jener Luft, die Ihnen ausgerechnet Körner abschnitte. Der weiße Erstickungstod in der Papierflut. Alles noch bei weitem kein Vergleich zu Schruns-Grächen. Wir leiden unter anderem daran, dass es uns an tauglichen Parallelen fehlt, an Tertia-comparationis-Schwund. Schruns-Grächen tönt nach dem Erfinder einer Krankheit. Krankheitsstifter sind die Vorausmimen aller späteren Träger des Übels, Gräfin Fürstenfeldt, so wie Ihr Duzname Menscha – Arpagaus, zum Beispiel, siezt Sie –, der fraulichste neben Frauke, auf das Bergen und Tragen hindeutet. Stille Tage in Blankenburg.

Horch, es klingelt, fein und zerstäubend wie jeweils am Heiligen Abend – Puderzuckersilber –: eine der vielen Teestunden in Blankenburg. Loontien serviert in falben Handschuhen, Arpagaus unterbricht seine Geschäfte. Man erzählt sich, dass Sie, Gräfin Frauke von Fürstenfeldt, Ihren Diener und Ihren Privatsekretär bei unentschiedener Witterung, wenn Lesen und Spazieren gleicherweise nur matt locken, wenn man nicht weiß, soll man vom Buch in die Landschaft oder von der Landschaft ins Buch blicken, zu folgendem Spiel beiziehen. Ein paar Stapel Franz-, Halbfranz-, Sedez- und Oktavbände werden aus der Bibliothek in den Wintergarten geschafft, darauf wird per Stäbchenziehen ermittelt, wer beginnen darf. Wählt Loontien als Erstes den Heinrich von Ofterdingen, kontern Sie, Gräfin, sofort mit Hofmannsthals Andreas, was Arpagaus beschämt, ja, entlarvt nach Goethes Gesprächen mit Eckermann greifen lässt. Nun überlegt sich der Brandenburger einen raffinierten Zug: Effi Briest. Hat er die Effi, sagen Sie zu Ihrem Sekretär gewandt, nehme ich die Anna Karenina und gebe Ihnen die Chance, sich für die Madame Bovary zu entscheiden. So Zug um Zug. Dann möchte Loontien tauschen: um alles in der Welt will er Die Welt als Wille und Vorstellung. Sie spannen mit Arpagaus zusammen und sind einverstanden, wenn er einerseits Mörikes Briefe, anderseits einen mürbledernen Band von Stifters Studien herausrückt. Bockt der Diener, können Sie auch anders: wie mit einem Croupierrâteau rechen Sie den gesamten Balzac an sich.

So wird im Zwielicht des Blankenburger Wintergartens gespielt, Frau Menscha, werden die erschriebenen Güter verteilt und umverteilt, Sie nennen das Ambraschach, weil zum einen nur an den Büchern geschnuppert wird, es zum andern darum geht, mit der nach und nach aufgebauten Handbibliothek die Gegner mattzusetzen, sei es durch bibliophile oder literarische Übermacht. So kann ein Pergament-Kotzebue einen französisch broschierten Corneille durchaus aus dem Feld schlagen. Wie gerne würde ich mich von der Schrunser Zisterne aus am ambrosischen Wettkampf beteiligen, schöne Herrin von Blankenburg, zumal ich Arpagaus’ Ansicht teile, dass es im Grunde nur darum geht, die Bände in Zirkulation zu halten, vergleichbar der Vierteldrehung, die man den Champagnerflaschen in den Kellereien angedeihen lässt, überfällig zu stehen ist für ein Buch ebenso schädlich wie vergessen zu liegen;

doch was ich Ihnen bisher geschildert habe, ist nur Schruns-Grächen für Anfänger und Außenstehende, ich, der ich einmal Buchstabe war. Hören Sie, pflegen die Nervenärzte wissen zu wollen, manchmal Stimmen? Eben nicht, gnädige Frau, die Bücher- wie Vogel- wie Blumen- wie Baum- wie Steinstimmen sind verstummt. Die schlimme Frage, ja, die üble Nachrede, wie es mir gehe, erinnert mich nur an mein Nebnetloch. Lassen Sie sich doch bitte, weil ich mir davon nichts verspreche, von Loontien unter Berufung auf Arpagaus eine Zisterne beschreiben. Man kann eine Münze hinunterwerfen, was Verliebten Glück bringen soll. Kieselsteine haben eher den Zweck, die Tiefe auszuloten. Ein Senkblei wäre eine andere Methode. Wenn aber das wasserverratende Glucksen ausbleibt? Wenn Sie Ihr Ohr über die Wüste neigen? Genauso horche ich hinauf. Gobigraun, würde man in Blankenburg sagen, und dort hätte dies seine Richtigkeit. Wie ich überhaupt nur von Ihnen aus in die Röhre hinein-, nicht aus ihr herausdenken kann. Sätze klopfen an die Gruft, doch niemand hat die Kraft, sie zu verstehen.

Christoph Wilhelm Hufeland, Der Scheintod, Sammlung der wichtigsten Tatsachen und Bemerkungen in alphabetischer Ordnung, legt eine Tabelle jener Sterbenden vor, die der Gefahr, lebendig begraben zu werden, in besonderem Maße ausgesetzt sind: Angstvolle, Betäubte, Blatternkranke, Convulsivische, Engbrüstige, Entatmete, Entkräftete, Entzückte, Epileptische, Erboste, Erdrosselte, Erdrückte, Erfrorene, Erhängte, Erhitzte (beim Tanzen), Fallsüchtige, Gebärende, Hypochondrische, Hysterische, Keichhustende, Kummervolle, Leidenschaftliche, Phlegmatische, Schlaftrunkene, Pestkranke, Schlagflüssige, Starrsüchtige, Trostlose, Überladene, Verkümmerte, Zernichtete. Leselose sind nicht erwähnt, werte Fürstin, sie müssen sich erst um das grausige Schicksal bewerben. Vergeblich suche ich eine Lücke zwischen Entatmeten und Erfrorenen.

O könnte ich doch einen einzigen Hochsommertag beim Rondell mit der Rhodogyne sitzen und sinnen und däumeln und blättern, und sei es nur, um das glatte Leder einer Großherzog Wilhelm Ernst-Ausgabe zu kneten und das Dünndruckpapier knistern zu hören! Phlox und Rittersporn sind durch das Gesumm und Gesirre in der Luft mit der Simmentaler Steingarten-Flora verbunden, mit der Mont Cenis-Glockenblume, dem Gletscher-Hahnenfuß, dem Täschelkraut. Fern im Ohr stäuben die Simmen-Fälle, und bei umschlagendem Wind tost es von der Weissenburger Schlucht herauf im Generalbass. Proust wäre greifbar, karminrotes Maroquin, aber man überlässt sich im Liegestuhl lieber dem gestochenen Hochsommerblau und erinnert sich an jene Stelle in der Recherche, wo der Knabe das abenteuerliche Lesen im Garten von Combray, in seiner Gedankenhütte beschreibt. Der inwendig gespannte Schirm für die Bilder und die immer näher, immer ferner rückende Natur. Wie die Lektüre draußen Wurzeln schlägt. Wie Combray im Gelesenen, wie die Erinnerung in Blankenburg aufgeht. Dann der Abend auf der Terrasse, das Aufleben des Springbrunnens in der Dunkelheit, der Bordeaux im ziselierten Glas, der nussige Geschmack der Havanna, Romeo y Julieta, Loontiens Brauchen Sie mich noch, Gnädigste, Ihr Wunsch, er möge den Rilke-Band mit dem Ur-Geräusch auf das Frisiertoilettchen legen, die Spillgerten-Schwärze dagegen.

In einer Frau nehmen all diese Namen, Gedanken und Sätze anders Platz als in einem Hirn wie dem unsrigen, und es muss über Blankenburg hinaus auf der ganzen Welt nichts Wärmeres geben, als von einer Frauke, gar einer Gräfin von Fürstenfeldt gelesen, nicht nur gelesen, verschlungen, nicht nur verschlungen, verstanden, nicht nur verstanden, benannt, nicht nur benannt, getauft zu werden. Sie als allerhöchste Legistin könnten unter Umständen Schruns-Grächen sprengen, nicht mit Sätzen, die Kerker spalten, das gibt es nicht. Dem Blut folgen in die Gefäße, sich hineinverirren in die innersten Organwindungen bis zu jener Stelle, wo der Kalauer sitzt. Eine synaptische Lautverschiebung im Körper, das ist alles. Mit einem Leseschock die De-profundis-Legasthenie überwinden. Am Wollen, sehen Sie, hat es der Fachärzteschaft noch nie gefehlt, aber am Glauben, Hilfe könnte aus Bregenz kommen. Ich bräuchte ein Rezept zur Verschriftung meiner Existenz, dass ich von Ihnen gesundgelesen werden könnte.

Ein Spaziergang mit Ihnen, werte Gräfin, durch die Allee, die Sie mir und auch ein bisschen Loontien zuliebe die Grodey-Chaussee heißen wollen, ein solches Wandeln hin und Wandeln her oder auch nur ein Ausstreunen ins Schlossgut, wie es uns Monsieur Robert testamentarisch verfügt hat, setzte voraus, dass mein Kopf als Pagode in die Bücherwelt ragte. Erst durch dieses türmchen- und deckelweise Herabfühlen wird mir die Natur Natur. Das, sage ich dann prima vista, ist eine Weihmutsfichte, dies ein Wesfallgebüsch. Ein jahrhundertealter Arvenstrunk vor einer Schrattenhalde wie ein entstachelter Kaktus in der Prärie. Wir Umwelt-Legastheniker verlieren die Kraft und die Lust zum Wie-Sagen, die linke, und sie trägt die Verantwortung für die Lauterkennung und -unterscheidung, die linke Gehirnhälfte arbeitet nicht mehr mit der rechten zusammen.

Hinter der eierschalenweiß vermörtelten Küchenfront des Nordostflügels von Blankenburg der senkrechte Fels. Wer sein Tun und Trachten im Lesen aufgehoben findet, braucht eine Schutzwand, dies bestätigt die Friedhof- und Parkgeometrie seit Le Nôtre. Einen Denkstein entziffern, ein Holzkreuz herunterlispeln: nur mit einer Thujakulisse im Rücken. Es kann im gelben Salon, der auf die Terrasse geht wie der Wintergarten, zum Beispiel ein lampenschirmseidener Paravent sein, im venezianischroten Gästekabinett eine besonders gelungene Kupferstichecke, im Fumoir Havanna- und Dunhill-Dämpfe, im Schlafzimmer naturgemäß die Gebirgsfinsternis, und schon entfaltet sich lautlos auseinanderklappend, dreidimensionalen Kinderbüchern vergleichbar, das Schopenhauersche Gedankenleporello. Die beste Deckung gewähren uns die Bücherrücken selbst, sie sichern uns gegen das Niedersimmental ab, halten Mannried und Grubenwald, Garstatt und Weissenbach in Schach, während wir Dichtung und Wahrheit in Richtung Wildstrubelmassiv lesen. Es gibt nichts Schöneres als diese Solidarität unter den kunstvoll gebundenen Schriften – oder ist es die Katastrophengemeinschaft wie bei nahenden Hagelwettern? –, auf jeden Fall rücken, wird ein Titel herausgepflückt, die Nachbarn lautlos zusammen, damit windgeschützt die Saat, und sei es eine Silberdistelsaat, aufgehen kann.

Ich aber habe, schöne Herrin von Blankenburg, Zeugnis abzulegen von einer anderen als jener Nacht, in der die Quellentexte leuchten, bald lilalasziv, bald neongrün fluoreszierend, von der Nacht zugeschlagener Pochhammertore in Schruns bei Grächen. Bisse man hier unten wenigstens ins Gras, aber nein, man verkrampft sich ins Pappkissen. Litte man wenigstens bezifferbare Schmerzen, gotische, romanische, ottonische, mitnichten, die Folter liegt darin, dass sich die Torturen nicht mehr um einen kümmern. Alle diese harmlosen lokalen Vorortsleiden haben sich um andere Opfer zu bewerben, in geschäftiger Diplomatie eilen sie von Hospital zu Hospital und verhandeln mit dem Krankengut, erschachern sich einen Moribunden. Man hat mit Spasmen aller Art auf du und du gestanden und wird nun plötzlich buchschneeblind und naturtaub – keine Simmen-Fälle, keine Spillgerten-Arve, kein Schnurenloch – in Schruns liegen gelassen. Wie soll ich die zentrale Botschaft für Blankenburg formulieren? Es gibt ja keinen Schuldigen, kein Subjekt bietet sich an. Dafür muss ich von uns sprechen: wir, die größeren Heere.

Es ist ein Liegengelassenwerden in allen Richtungen, allen Tiefen, überzwerch, amorph, nicht Schlafen, nicht Träumen, Schwerarbeit am Bahrtuch, ein Brasten und Schwitzen, ein Verkanten und Absaufen immer wieder, Federschicht um Federschicht, Grautäfer, Grauschrank, Grauteppich, ein Paternoster umgeschichteter Gedankenfurchen, wiederholte Kreis- und Tulpenzier, aber als Fluch; verbracht, beiseite geworfen, verlegt als Lesebrille, abgestoßen, verwaist und verdingt, eine Stubbenebene; liegen, Gräfin, als flacher Überlebensversuch, Lechzen nach Febrilität, nach der Gnade des Thermometers, und das Pappgrau des Tages in das Grau der Nacht übergehend, das Perpetuum mobile der Vernichtigung, die durchlöcherte Perseität, mit einem Wort: das Nebnetsein.

Und mittenhinein als gedämpfter Schreckschuss die Einladung nach Blankenburg. Auf zu den Firnern, zu den gleißenden Zwickeln, die den französischen Gebirgsgarten bewachen, in dem es Findlinge neben Buchsgemächern, Rondelle und Statuen neben Koppelwiesen gibt. Es ist ein eigentlicher Ruf, der an mich ergeht, Frauke von Fürstenfeldt: sei, Buchstabe, werde Wort und finde zurück zur Schrift, auf dass du nicht ausgetilgt werdest aus dem Buch des Lebens, denn die Natur hat jedem Ding seine Sprache nach seiner Essenz und Gestaltnis gegeben, und aus der Essenz urständet die Sprache oder der Hall, und ein jedes Ding hat seinen Mund zur Offenbarung. Ja, wenn in Schruns-Grächen ein Poet gefangen läge! Die Fürstin von Thurn und Taxis-Hohenlohe wandte sich Rilke zu, Hugo von Hofmannsthal sonnte sich in der Gunst Andrea von Andrians. Es gibt unzählige Beispiele dieser Herzlinien zwischen Poesie und Adel. Man denke an Tasso, an wen auch immer. Aber wir, die größeren Heere?

Dieses grässliche Baum- und Büchersterben im Kopf, behelfen wir uns mit dem Morbus Lexis, er unterbindet den Flüsterkongress, wobei ich damit, verehrte Fürstin meines versunkenen Kontinents, nicht das Gewisper in den Salons meine, nicht die Aperçus auf glattem Parkett, sondern das Elysium der erlesenen Gestalten und Geschehnisse, das über all jenen schwebt, die in ein Buch vertieft sind. In den Mann ohne Eigenschaften und nicht in Schruns-Grächen vertieft. Da begegnet ein russischer Lenz einem französischen, und sie tauschen ihre Erfahrungen mit den Köpfen aus, denen sie entstiegen sind. Ich muss Sie nicht an das Bild Lesender beim Lampenlicht erinnern, es hängt im Vorzimmer zu Ihrer Schlossbibliothek und vergegenwärtigt jedem Benutzer die geforderte Sammlung: der erstarrte Zappelphilipp mit seiner Windstoßfrisur, die eingerollte Landkarte, der lotrechte Klingelzug, die Draperien, ein Kabinett der totalen Stille. Und dann die Lampe vor der kahlgrünlichen Wand und die Schattenbündel, die sich jeder geometrischen Deutung entziehen. Sind es nicht die Spuren, die der Entschwebte hinterlassen hat? Füllt sich nicht der nüchterne Büroraum an mit dem Ersonnenen? Stockfinster draußen, innen lesehell. Oder wirft der Dämon der Langeweile solche Schattenlanzetten? Bemächtigt sich der Weltraum dieser Zelle?

Dieses elysische und sphärische und seraphische und äolische Gespräch über uns ist der Sauerstoff der Büchermenschen, das in unzähligen Entzifferungsgewittern freigesetzte Ozon. Ob wir, vielmehr ob unsere Gesandten daran teilhaben oder nicht, merken wir im Tagesablauf daran, ob wir an einem Satz erwachen, über einem Vers einschlafen. Mag der Traum noch so kubistisch-bildverschlungen und unterseeisch gewesen sein, wir tauchen auf und lernen noch einmal: sprechen, inwendig. Wir radebrechen uns empor, wir knüpfen weiter am Netz, immer weiter am Netz. Xenien als Schlafmittel. Erwachen wir nicht satzbildend, ist es geschehen: eine Streifung, Apoplexie, apoplektischer Insult, Speichelinsuffizienz. Wir werden gelöchert. Ahnen Nebnet, die Deportation ins Zwielicht, unter Tag, über Tag. Strafgefangene, so sagt man, löchern ihre Wärter, wenn sie ihnen zuleide werken. Was ist das für ein grauenerregender Vollzug, du zernichtetes Sieb?

Loontien, die Lampen – ja, Blankenburg, das um Jeserich und Engelke weiß, hält solche Traditionen aufrecht. Stunde der bürgerlichen Dämmerung, das Schloss löst sich aus der fast steirischen Landschaft und sinkt wie eine wuchtige Kate in sich selbst zurück. Die Gutsherrin kehrt von einem langen Spaziergang, auf dem sie Morgen- und Mittagslektüre verdaut hat – Würzacker, Riedwald, Lochflue – heim, hält Einkehr und lässt sich den Kapuzenmantel abnehmen. Nun die Lichter, Loontien, und den Punsch. Erlaubt die Witterung kein Begehen draußen des Gelesenen, lautet die Regel: zehn Seiten, zehn Schritte, zehnmal durchatmen. Im Fumoir am Kamin die Hände geschmeidigreiben, damit sie die hauchdünnen Seiten wenden können. Aus der Simmentaler Gebirgsluft, die kräftig am Organismus zehrt, ins Zauberreich treten.

Ihr Landgut, schriftadelige Frau Menscha, stelle ich mir reich an mannigfaltigen Lampen vor, ein Paradies von individuell abgestimmten Heimleuchten, jeder Autor, jede Epoche verlangt ein anderes Licht. Kein Muranoglas und keine goldlüsteren Kunststoffkugeln, auf den Egermann-Schliff kann Ihresgleichen verzichten, Holzspanschirme und Schleiergraphit wird man vergeblich suchen. Von welcher Beschaffenheit, fragen sich die größeren Heere in der Zisterne, ist das Leselicht? Ich denke, Flämische Renaissance dominiert in den kleinen Salons, im grünen zumal. Die flämische Säule des Leuchters ruht auf der Leibung, und diese geht in die flämische Kugel mit dem Zierknauf über. Der Teller trägt einen doppelköpfigen Adler, der S-förmige Arm ist mit einem Delphinornament geschmückt, die Kerzentüllen ohne Kartuschen. Dazu gehören steife, honiggelbe Pergamentschirme. Loontien obliegt es, in der Dämmerstunde, wo das Gehör besonders scharf ist für ankommende Gäste und Bücherstimmen, von Saal zu Saal, von Nische zu Nische zu schleichen und das Schloss in Lesebereitschaft zu versetzen. Unbedingt am Hegelschen Dreischritt festhalten: einnachten, ausleuchten, aufheben.

Die Halle ziert ein Kongresslüster von reichstem Kristallbrimborium, über und über behangen mit Pendeloques, Rauten-Wachteln, Birneln, Prismen, Rosetten, Waben-Kugeln und Schiefsteinen. Man möchte diese Stücke aus Kaliglas, die das Licht in festliche Facetten brechen, einzeln in den Mund nehmen und zu Ende lutschen. Den ganzen Galaglanz verdankt Blankenburg dem Kongresslüster – früher hing da, wie bekannt, ein deplazierter Maria-Theresia-Leuchter –, seine Intimität dagegen den Tisch-, Ständer- und Wandlampen mit ihren filzgrünen und scharlachroten Schirmen, und diese Innigkeit ist so raffiniert abgestimmt, dass das Parkdunkel nahtlos in eine Kommodenecke an der Außenwand übergeht. Lesen und Lichtregie, ein endloses Thema, Verehrteste. Wir müssen nicht nur auf die eigenen, wir müssen auf Dutzende von Augen Rücksicht nehmen, die uns erspähen wollen. Dostojewskis Dämonen bei hundert Watt, um nur ein Beispiel zu geben.

Wenn ein Kenner der Szene, ein einsamer Simmentalgänger spät nachts über Stock und Stein an Blankenburg vorbeikommt, in gebührender Distanz gehalten durch seine Latifundien, und es springt ihm ein Gartenfenster oder ein Ochsenauge als Mond entgegen, weiß er sofort, hier wird gelesen, wahrscheinlich Nietzsche, wahrscheinlich, dem Licht nach zu schließen, wird Also sprach Zarathustra der Dunkelstaumauer zwischen den Spillgerten und dem Hunsrügg abgetrotzt, und er kann beruhigt weiterstapfen, der Simme entlang Richtung St. Stephan, Grodey, der eigenen Lektüre entgegen. Sie, Gräfin, haben ihm durch die Nacht geleuchtet. Passierte derselbe Wanderer am helllichten Tag Schruns-Grächen, ahnte er, durch uns hindurchstarrend wie durch ein Nachzehrerschemen, allenfalls eine ekelerregende Saugstelle, von der man sich rasch wieder entfernt. Man hat sekundenschnell ein Reptil gesehen und doch nicht gesehen. Geruchlose Verwesung im bleichen Gras.

Alle Lampen der Reihe nach angezündet, so Loontien, gemäß einem uralten, auf Sie, Leseherrin, herabgekommenen Ritual, zuletzt, im Damenkabinett, wo auch der Blüthner steht, Ihr Lieblingsstück, schlicht, dreieckiger Sockel, konkav eingeschweift, auf Klauenfüßen, eine Empiresäule als Schaft, längskanneliert, einem Perlenring entstiegen und von einem Kapitell gekrönt, eine Figurenleuchte mit einem seltenen Diaphanschirm, auf dem griechische Heroen abgebildet sind, die Laterna Magica, so Loontien, Ihrer intimsten Lesungen im Chambre séparée. Wir müde gegerbten und perforierten Häute in Schruns-Grächen, könnte man uns wenigstens als Schirme verwenden! Stattdessen schlagen Sie die Bibliothek vor als Intensivstation, in der es so unauffällig rinderlich nach Leder duftet, und ich würde angeschlossen an den Ausspruch: Es tun mir viele Sachen weh, die andern nur leid tun. Umstellt, umarmt, umsorgt, mitentziffert von so vielen königlichen Sätzen des Weltgeistes, müsste ich doch gesund werden.

Gesund aber auch, wenn es Ihr Ernst ist, in dieser von Geologismen strotzenden Simmentaler Landschaft. Denken Sie an das Trümlihorn, die zerklüftete und poröse Gipfelstockfronalpruine. Aus Tausenden von Felsschichten aufgebaut, ist die ganze Niesenkette ein einziges Konglomerat von Flyschen und Breccien. Die Flysche sind schlecht wasserdurchlässig und daher verantwortlich für die durchnässten Böden im Tal. Dagegen die Karstdecken, die Karrenfelder in den Kalkgesteinen der Spillgerten: eine Runenschrift von Rillen und Schrammen, die das unterirdisch abfließende Wasser herausgeschliffen hat.

Denken Sie an das Schnurenloch, Frau Menscha, diese Altsteinzeithöhle im Felskopf, wo man Hunderte von Skelettresten gefunden hat, Überbleibsel eines paläolithischen Picknicks. Oder die Chilchlihöhle im Stockhorngebiet, ein Totenschädelauge von hundertsechzig Kubikmetern. Arvenstrünke ragen als immense Feuergabeln in die Luft. Und einer weißen Mauer gleich die Gipfel zwischen Wildstrubel und Mittagshorn. Der Hauptkamm der westlichen Berner Alpen riegelt das Tal ab, das sich aus der Weissenburger Schlucht heraufwindet, und der Glacier de la Plaine Morte überblendet alles: Koppelwiesen, Krüppelmatten, von schrattigen Flühen durchsetzt, Wildheuerwege, Findlinge, Bergblumen, Gefleuch und Getier: das Buchbad- und Sanatoriumsklima von Blankenburg. Haben Sie denn nie befürchtet, dass ich mich als Schädling im kostbaren Dünndruckpapier einnisten könnte, als einer dieser kleinen Käfer mit walzigem Körper, den Kopf tief in den Halsschild zurückgezogen, die ihre Larven in die emsig herausgewetzten Gänge legen, Sätze anfressen und Verse, besonders der Buchdrucker, Ips typographus, aber auch ich, der ich Buchstabe war, als sogenannter Kupferstecher?

Frauke und Menscha, Edelste, Arpagaus, Sie Schriftwerkzeug Ihrer Herrin, Loontien, du letzter noch lebender Absolvent der legendären Berliner Dienerschule, wir führen ja gar nichts ins Feld gegen das Herrenhaus der früheren Kastlane. Sogar den Panoramic-Express der Montreux–Berner-Oberland-Bahn lassen wir gelten, der unsere Abgeschiedenheit erschließen möchte. Ja, sogar für diesen privatbähnlerischen Aberglauben auf der Blankenburger Zälg haben wir etwas übrig. Im Schmalspur-Speisewagen vom Genfersee bis zum Wildstrubel, lautet die Devise, vom Waadtländer langsam zum Dôle des Monts konvertieren. Bei welchem Satz, aus welchem Buch, aus welcher Epoche blicken Sie auf, wenn die blaugelbe Schlange in der Kehre girrt?

Wir in Schruns-Grächen, die größeren Heere – Nebnet, Nebnet –, wir wissen, obwohl es kein Zurück gibt, dass solches Leben stattfindet, und wir verbeugen uns davor, tiefer, als uns der Graunachtmahr je drücken konnte, denn das Leben hat recht, wir müssen uns diesem härtesten aller vom Laplaceschen Dämon gefällten Urteile fügen. Der Leselose stumpft als Torso dahin, er ist von allen Strängen abgeschnitten. Eine Rundumamputation. Uns lassen ja nicht nur die Kurländischen Gutsbetriebe Eduard Graf von Keyserlings fallen, sondern die ganze Natur ist uns keine mehr, weil, wie es in der Schrift heißt, alle Dinge gemacht sind durch das Wort, und ohne dasselbe ist nichts gemacht, was gemacht ist. Der Leselose wird an die Materie zurückverliehen, Staub zu Staub, Asche zu Asche. Der Fürst Myschkin-Krater, die K.-Schrunde, das Lenz-Loch.

Es war zum Teil Ihr, zum Teil Arpagausens Vorschlag, mich im Falle eines Falles aus dem inneren Erdreich der Bibliothek zu evakuieren und ins sogenannte Simmetli hinauf zu verfrachten, in dieses frohmattorientierte, braun gebeizte, trocken gewitterte Meisterwerk Obersimmentaler Zimmermannbarocks, vergleichbar nur noch dem Knuttihaus im Därstettener Moos. Schwarz-rot-grüne Kreisornamente, tief gekerbte Antiquasprüche. Im Mittelstübli hätte ich zu liegen, die Rauchfangküche mit der Hälikette im Nacken, und mich von den Schnitzereien umranken zu lassen, von den Würfel-, Rauten- und Halbbatzenbändern, von den Tierköpfen, den Löwen- und Drachenrachen des vorstehenden Gadengebälks. Ein Simmentaler Bauernhaus ist ja ein systematisch von den Kellermauern bis zu den Blockkonsolen und Schneefirsten aufgerichteter Zierschrein. Holzkopflastig, was Gaden und Estrich betrifft. Mit dem Heidenkreuz, mit dem Rillenhobel hat es begonnen, in den Würfelgesimsen und Karnieslinien – dem Gratgezäcke nachempfunden – gipfelte die Zimmermannskunst, in den Überkragschnitzereien hat sie sich überschlagen. Haus Tscharner, Altenried, die wulstigen Tulpen und Vierblattblumen.

Da oben, meinen Fürstin, im Lauinenschutz, aber auch im Rüfenbann der Spillgerten müsste ich, der Leselose, wieder zu mir kommen. Hunger nach Lettern kriegen. Gräfin bauen quasi auf Naturheilmethoden: wenn nicht Bärlapp und Katzenpfötchen, dann die Buchstabenfriese an der Gadenwand. Sie wollen es mir noch einmal einkerben und ausgründen, das Alphabet. Dank, Dank, Frau Menscha, für das Fortlesen im Simmental, denn von den Göttinnen da unten – und manchmal blicken auch Kinder über den Rand der Zisterne und suchen ihren Ball oder glauben an den Zauberbrunnen – kann man nur so lange reden, als Ihre Lampen brennen, sechsundvierzig an der Zahl.

II

Liebe, verehrte Blankenburga, Freude, ein Schimmer, fast ein Montreuxstreif, Sie haben mich, Ihr gräfliches Wasserzeichen verrät es, Sie haben Ihren Leselosen nicht aufgegeben, so wie mich die After-Meinen ab- und kaputtgeschrieben haben, die Ärzte mich dagegen dauernd pschyrembelisieren, auf Fremdwörter betten und umbetten, das Doppelturm-Zinnenburgwappen derer von Blankenburg, ein echtes Büttenpapiersignet, entstanden durch die feinen Drähte, die auf das Schöpfsieb aufgelötet werden und den Papierstoff verdrängen – nicht eine Molette, die sich nur in die nasse Bahn einschleicht –, immer wieder drehe ich Ihre Bogen gegen das Licht, folge ich dem Dreivierteltakt der Damenschrift, errätsle ich den huschenden Inhalt, bevor ich die Spettfrau, die Grosche, die einmal die Woche nach dem Rechten sieht, anflehe, mir Ihren Brief zu rezitieren, ein Wagestück, denn die Laune der Grosche ist die grantigste, weil ihr Ordnungssinn an meinem Kahn scheitert, der nicht angerührt werden darf, nicht umbetten, sage ich zur Spetterin, ich kann nicht mühsam erstrampelte Daunenkuhlen preisgeben und wieder ganz von vorne beginnen, lassen Sie ja meine Zitadelle in Frieden, mein letztes Argument; einerseits scheuche ich die Grosche von mir, anderseits locke ich mit dem Brief, dem fürstlichen Wasserzeichen, da, Manna, da, sie radebricht, es tönt wie knackendes Unterholz, Grächener Akzent, Stockrot, Waldwelsch, immerhin entnehme ich dem Zungengeklapper, dass Sie, hochwarmherzige Gräfin, mich, den Leselosen, für die Dauer meines Zögerns betreffs Blankenburg zum Schattenminister Ihrer Bücher, zu Ihrem Abgrundbibliothekar ernennen. Administrativ, was immer das heißen mag, sei ich Arpagaus unterstellt. Unerachtet der Würde meines Amtes möge ich fortfahren mit meinem Bericht.

Für heute nur so viel: der Nebel, der seit Wochen Schruns umlagert wie eine Haube, steckt voller Dämonen. Das Dezemberklöpfen, man hört die Buben mit ihren Geißeln, als würden mit der Axt kleine Stämme glattgespitzt, sie zwicken den Nikolaus aus dem Schlossberg und jagen die Wintergeister durch die Lüfte, die Nachzehrer, die den Lebenden auf der Seele knien nach Martini, wenn die Erde sich öffnet voller Gebeine; o dieser Nebelalb rings um mein Siechtum, dieses fraufeuchte Nüstern und Feixen und Frotzeln, spinnende Hexen hocken im Einschlag und lassen ihre Rocken fahren, Haistalte geistern durch den todbringenden Odem, der als Hairauch auf der Lunge brennt, die gichtbehangenen Bäume erstarren zu Stacheldrahtfratzen, das Gras ist gelb und ausgetreten, als hätten Bahrtücher darauf übersömmert, der Brodem leckt und schmatzt, und fern in der Brühe das Bellen einer Schiffsglocke. Seenot, verhockt, wispernde Nebelmären um mein Kissen, das ich pflüge und pflüge, Einbett, Wurbett und Wilbett heißen die Nornen, die Nebelkunkeln, bitte, Frau Menscha, lassen Sie die Kerze für mich brennen im Bücherreich.

Hier einige Regeln, wie man Scheintote ins Leben zurückbefördert, sie gelten nach Hufeland für Erdrosselte ebenso wie für Starrsüchtige. Man lege den Pulslosen in ein handwarmes Aschenbett, binde um den Hals einen Strumpf, mit zerriebenem Salz gefüllt, streue auch Holzkohlenasche auf sein Haupt. Ermangelt es dessen, so kann man den nackten Körper mit Pferdemist belegen, wobei das Gesicht frei bleiben muss. Unbedeckt, die facies hippocratica, unbedeckt. Man öffne die Medianader, doch nicht mit dem Schnepper, sondern mit einer Lanzette, und die Stelle, wo der Aderlass geschehen soll, muss mit warmen nassen Schwämmen behandelt werden. Will man den Scheintoten zum Brechen reizen, was sich besonders empfiehlt, kitzle man den Schlund mit einem Buchzeichen, oder man fahre mit einem Büschel Haare in die Kehle. Zugleich muss man die Herzgrube reiben. Auch kann man ihn zum Niesen erregen, indem man Salmiakgeist, Kampfer oder Hirschhorngeist unter die Nase hält. Als Abführmittel bietet sich Glaubersalz oder Tamarindenmark an. Glaubersalz, Gräfin, haben Sie dieses Mittel stichfrömmlerischer Damen in Ihrer Hausapotheke? Wie auch immer, man muss den Kranken warmkneten, aus Lehm noch einmal erschaffen. Tamarindenmark, dass ich nicht lache, aber woher nähme ich auch die Kraft dazu.

Auf dem tiefsten Grund von Schruns, dort, wo man am Bodensatz krepieren müsste – aber es gibt keinen Bodensatz –, sage ich mir immer, Frau Frauke, wenn ich gesund bin, ja, wenn die Genesung, oder sagen wir bescheidener eine Genesung auch nur in Sicht ist, wenn sich Grenzwerte der Rekonvaleszenz abzeichnen am Horizont, komme ich nach Blankenburg, gestalte ich meine Reise übermütig, indem ich vorher zu Bachforellen im Schlafrock in der Weissenburger Krone einkehre. Das Meursaultherz auf dem blendend weißen Tischtuch. Beim Stäuben der Simme die Bäcklein herausfilieren. In einer Schlucht zu speisen, zehrt gewaltig am Organismus. Man mache die Probe aufs Exempel mit einem Landjäger in der Viamala. Der Sonntagsglast im hell getäferten Kronenstübli. Der kragensteif geschlagene Berner Oberländer-Rahm. Wenn, dann. Allein schon diesen Appetit muss ich mir einblasen. Die Ärzte, die sich immer nur kollektiv um mich kümmern, schütteln den Kopf. Wer als Rumpf auf die Rehabilitationsmedizin angewiesen ist, hat nichts zu fordern. Das wäre noch schöner, wenn ein Hüftinvalider sagen würde: kann ich ein Stück weit ohne Krücken gehen, dann nehme ich die Krücken. Du willst von Blankenburg aus das Nebelmeer überblicken und behaupten: in dieser Suppe, als diese Suppe lag ich darnieder, kroch ich zu keinem Kreuz mehr. Du willst dich an deinen eigenen Haaren aus dem Sumpf ziehen, statt dich mit verbundenen Augen den Bibliostrahlen der Gräfin zu überlassen. Mit knirschenden Schuhen willst du Einzug halten in Blankenburg, nicht per Ambulanz.

Wir wissen – denn das Ich zersetzt sich zu einer leidenden Mehrheit –, dass Loontien Sie bei jeder Lektüre unterbrechen und hinaus zum Fahnensöller begleiten darf, wo auch ein Tuch mit dem Lesewappen knattert, dem Alpha-und-Omega-Buch, wenn das Simmental in Watte liegt. Wie viele Asylanten haben sich schon an diesem Anblick ergötzt: knubelhubelweich die dampfende Zunge, cirrostratös, cumulusnimbushaft, alle drei Wolkenstockwerke ineinanderverpappt, Därstetten verschollen, Boltigen verbölstert, um die Kirche von Erlenbach lagern Nebelknaster paffende Riesen, die Simmen-Fälle von Decken erstickt, und wie arktische Fossile schwimmen die blauen Grate obenauf. Wenn Sie die Augen zukneifen, denken Sie daran, dass der Talgrund während der Würm-Vereisung bis hinunter zur Port bei Wimmis vom Simmegletscher ausgefüllt war, der am Talausgang auf den Kandergletscher aufglitt. Das Nebelmeer: Weichwürm, Weichwürm. Hier steht die Herrin in der strahlenden Sonne und erklärt ihren Gästen: dort, dieses kieloben treibende Schiff ist nicht die Kaiseregg, sondern der Geist Montaignes. Nicht das Stockhorn sehen Sie aus dem Wolkenbett ragen, sondern Joseph Görres. Sie grüßen den Hunsrügg und das Bäderhorn, indem Sie die Herren willkommen heißen in Ihrem Lesepark. Uz-Gleim-Gellert, das tönt wie eine Seiltänzerroute von Aussichtspunkt zu Aussichtspunkt. Lessing als Gandlouenegrat blinkt, Zweisimmen brodelt. Könnte ich wenigstens als Elbst durch Ihre Landschaft geistern, aber mein Brot ist das Nebnet-Sein.

Wussten Sie, vielmehr weiß man in Ihrer Schlossbibliothek, dass der Pestdrache in alten Sagen im Nebelkleid auftritt? Dass der schwarze Tod sich als Hairauch verbreitet? Im Reißtal gibt es eine unterwühlte Stelle, die das böse Ufer heißt. Ein Mann aus dem benachbarten Dorf hatte den ganzen Tag Holz gefällt. Als der Abend nahte, ging er seiner Hütte zu. Da sah er plötzlich, wie über die Heide hin ein langer weißer Nebelstreif gerade auf ihn los zog. Er beflügelte seine Schritte, aber das Gespinst war schneller als er und legte sich gleich einer langen, weiß gekleideten Menschengestalt auf seine Schultern. Da erkannte der Mann, dass es die Pest war. Er kehrte zum bösen Ufer zurück, da er die Seuche nicht ins Dorf einschleppen wollte, und kam elendiglich zäh zu Tode.

Tauchen Sie hinein, Blankenburga im Kapuzenmantel, stapfen Sie der Simme entlang, schlagen Sie sich durch bis zu uns, den größeren Heeren! Das Krankengut umweht Sie wie Soffitten. Loontien mit der blakenden Nebelleuchte voran, Arpagaus mit einer Schubkarre voll einschlägiger Nebneta hintendrein. Teilen Sie die graue Waberlohe! Lassen Sie mich die rehbraune Allongefrisur kosten! Um einem Scheintoten Luft einzublasen, wickelt man um die Röhre des Blasbalgs ein Stück nasse Leinwand, steckt die Spitze in den Mund, presst Lippen und Nasenlöcher zu und beginnt sanft zu fauchen, auf dass der Kunstodem die Lungen aufpumpt. Der gräfliche, der weibliche Kunstodem, Frau Menscha. Wer weiß, vielleicht könnte man den Patienten auch mit dem Druckluft-Harmonium bearbeiten, frömmelnd heisere Weisen tretend! Seien Sie meine Heilräthin und Pestpatronin, wickeln Sie Ihre nie zu bändigenden Locken um meinen kleinen Finger, ziehen Sie, ziehen Sie, lesen Sie mich heraus!

Blankenburg ist eine strahlende Bastion gegen den siechen Brodem. Aber hat nicht Arpagaus, nein, haben nicht Sie, dem Privatsekretär Ihre Geheimnisse diktierend, das Nebellesen erfunden? Haben Sie nicht im Simmentaler Boten angeregt, der berneroberländische Tag des Buches sollte in einem klassischen Nebelloch, in Thierachern-Uebeschi stattfinden? Die Buchstaben, so höre ich Sie noch in weiter Ferne dozieren, müssen von der grauen Aura umgeben sein. In Thierachern-Uebeschi soll der Büchergalan zuerst einmal die Nebelbilder entziffern, die bizarren Ornamente des Rauhreifs, die Verästelungen der Baumlungen, den Nebelhof und Nebelschein, den Nebelflor, das Nebelgrauen, Nebelinseln und -säulen, den Nebelspuk der Nebelzüge, soll er Nebelwörter bilden wie Nicht-Strunk, Nicht-Zaun, Nicht-Weg, und begreifen lernen, was Herder meinte mit der Nebellosung Sogleich umfloß sie Nebelwahn vom neuen Weisheitsbaume. Bevor er in Blankenburg in Ossians Nibbelkämpfe eintaucht, soll der Hospitant das Ernebelte speichern. Was man im Waschküchendunst aufnimmt, prägt sich doppelt und dreifach ein. Hat man dergestalt Aus der Mappe meines Urgroßvaters eingehaucht, ausgehaucht – ja, im Atemholen sind zweierlei Gnaden –, koste man in tiefen Lungenzügen Stifter. Wo Sie gehen und stehen, Gräfin, das reinste Literaturinhalatorium.

Ist es dem glücklichen Verstand gelungen, der Nebel Vorurteile zu durchdringen, Hagedorn, entziffere man mit dem Zeigfinger die Schriften der Natur, die Vogelstaffeln, die porösen Strukturen der Niesenflysche, die Schnittkanten der Breccien, die Nummuliten-Gehäuse, die Versteinerungen der Nerinea-Schnecken, die klaftertiefen Karren, die Schrattenkalke am Wildstrubel, das Klingelloch am Fromattgrat, die Karst-Hydrogeologie im Gebiet des Rawilpasses. Denn alles, so Böhme in De signatura rerum oder von der Geburt und Bezeichnung aller Wesen, haben Sie Arpagaus diktiert, alles, was von Gott geredet, geschrieben oder gelehret wird, ohne die Erkenntnis der Signatur, das ist stumm und ohne Verstand; denn es kommt nur aus einem historischen Wahn, von einem andern Mund, daran der Geist ohne Erkenntnis stumm ist: so ihm aber der Geist die Signatur eröffnet, so verstehet er des Andern Mund, und verstehet ferner, wie sich der Geist aus der Essenz durchs Principium im Hall mit der Stimme hat offenbaret. Denn mit dem Hall oder Sprache zeichnet sich die Gestalt in eines andern Gestaltniß ein, ein gleicher Klang fänget und beweget den andern, und im Hall zeichnet der Geist seine eigene Gestaltniß, welcher in der Essenz geschöpfet hat, und hat sie im Principio zur Form gebracht, daß man im Wort verstehen kann, worinnen sich der Geist geschöpfet hat, im Bösen oder Guten; und mit derselben Bezeichnung gehet er in eines andern Menschen Gestaltniß, und wecket in einem andern auch eine solche Form in der Signatur auf, daß also beider Gestaltnisse in einer Form miteinander inqualiren, alsdann ists Ein Begriff, Ein Wille und Ein Geist, auch Ein Verstand.