Die Künstliche Mutter - Hermann Burger - E-Book

Die Künstliche Mutter E-Book

Hermann Burger

0,0
16,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Nach dem durchschlagenden Erfolg von „Schilten“ erschien 1982 Hermann Burgers zweiter Roman „Die Künstliche Mutter“, seine wohl waghalsigste Phantasie und Konstruktion. Darin reist der Privatdozent Wolfram Schöllkopf, der nach dem Verlust seiner universitären Arbeitsstelle einen Zusammenbruch erleidet, zur Kur in eine aufgelassene militärische Festung im Gotthardmassiv. Schöllkopf wird analysiert und einer abenteuerlichen Therapie unterzogen, an deren Ende die Erkenntnis steht: Erst im Tod ist das Leben endlich genesen. Ein episch-wuchtiger Roman, bitterscharfe Analyse der Schweiz, Satire auf Akademie und Psychologie – und zugleich der grandiose Versuch, mit den Mitteln des Erzählens einen Heilungsprozess in Gang zu setzen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 421

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Nagel & Kimche E-Book

Hermann Burger

WERKE IN ACHT BÄNDEN

Herausgegeben von

Simon Zumsteg

Fünfter Band

Romane II

Hermann Burger

DIE KÜNSTLICHE

MUTTER

Roman

Mit einem Nachwort von

Dieter Bachmann

Nagel & Kimche

Die Werkausgabe wurde ermöglicht dank der großzügigen Unterstützung durch

den Kanton Aargau

sowie der Unterstützung durch

die UBS Kulturstiftung

die STEO-Stiftung Zürich

die Stadt Zürich Kultur

den Verein zur Förderung des Schweizerischen Literaturarchivs

© 2014 Nagel & Kimche

im Carl Hanser Verlag München

Umschlag: Stefanie Schelleis, München

Porträtfoto Hermann Burger: 1982, © Peter Peitsch /peitschphoto.com

Herstellung: Andrea Mogwitz und Rainald Schwarz

Satz: Satz für Satz. Barbara Reischmann

ISBN Band 5: 978-3-312-00616-8

Unser gesamtes lieferbares Programm

und viele andere Informationen finden Sie unter:

www.hanser-literaturverlage.de

Erfahren Sie mehr über uns und unsere Autoren auf www.facebook.com/HanserLiteraturverlage oder folgen Sie uns auf Twitter: www.twitter.com/hanserliteratur

Datenkonvertierung E-Book:

Kreutzfeldt digital, Hamburg

INHALTSVERZEICHNIS

DIE KÜNSTLICHE MUTTER

Roman

I Ermordung eines Privatdozenten

II Kurgast in GöschenenIII Brief an die Mutter

IV Im StollenV Tod in Lugano

PARERGA

Notfallmäßige Selbsteinlieferung in Göschenen

Meine Bob-TaufeDie Glazionauten

DagmarDie Bilder der Seele sind weiblich

ANHANG

Editorische Notizen

Nachwort von Dieter Bachmann

DIE KÜNSTLICHE

MUTTER

Roman

Für Anne Marie

Alle Personen und Örtlichkeiten dieses Romans sind frei erfunden, selbst dort, wo Namen aus der realen Topographie übernommen wurden.

I  ERMORDUNG EINES PRIVATDOZENTEN

1

Nein: ich hatte in dieser zweiten Maiwoche nach dem verhagelten Muttertag, da die Eisheiligen Pancratius, Servatius, Bonifatius und insbesondere die Kalte Sophie ihr glaziales Symposium abhielten, noch nicht, wie vorgesehen, nach Göschenen einrücken können, zuerst musste, nach der skandalösen Semesterkonferenz der Abteilung für Geistes- und Militärwissenschaften der Eidgenössischen Technischen Universität, der Alma Mater Polytechnica Helvetiae, die ETU-Schmach getilgt werden, musste Wolfram Schöllkopf, daselbst Privatdozent für neuere deutsche Literatur und Glaziologie – diese Verbindung eines humanistischen mit einem naturwissenschaftlichen Fach entspricht einer alten Tradition der Fakultativfächerfakultät –, auf die Erdrosselung seines Lehrauftrags durch Dekan Wörner reagieren.

Eine geschlagene Dreiviertelstunde lang stand Schöllkopf, der erbrechend aus der Konferenz gestürzt war, als gerade über die Verteilung von Ehrenadressen zum Anlass des ETU-Jubiläums diskutiert wurde, an der Toggenbalustrade des dritten Stockwerks, zwischen den Marmorbüsten der Schulratspräsidenten Bleuler und Gnehm, und fragte sich: Sollst du, sollst du nicht? Zu Häupten die Kassettendecke, tief unter ihm die Mosaikfliesen des von den Großauditorien umgebenen Pausenhofs, der Gullschen Halle, auch Ehrenhalle genannt, gegenüber der östliche Triumphbogen, der sich über die Estrade vor dem Auditorium Maximum wölbte, wo der mit der Venia Legendi Ausgezeichnete – denn es war tatsächlich eine Gunst, an dieser Höchsten aller Schweizerischen Hochschulen lehren zu dürfen – vor zweihundertdreiundzwanzig Personen seine Antrittsvorlesung über «Die Bedeutung der Gletscher in der Schweizer Gegenwartsliteratur» gehalten hatte.

Stand Privatdozent Wolfram Schöllkopf, unweit vom Vorzimmer des Schulrats, des obersten Aufsichtsorgans, unweit von der Spannteppichresidenz des Präsidenten, immer noch Magensäfte speiend: Sollst du, sollst nicht? Man unterschätzte, von unten zur Decke emporblickend, die Höhe der Gullschen Halle, weil die oberen Stockwerke hinter die doppelgeschossigen Arkaden zurücktraten und somit der rosettengeschmückte Eierkarton frei über dem Hof zu schweben schien. Aber Schöllkopf wusste: fünfundzwanzig Meter genügten, einer bereits zerschmetterten akademischen Existenz den Rest zu geben, und es war richtig, der Kombinierten Abteilung für Geistes- und Militärwissenschaften diese Existenz samt der Venia, die fortan höchstens noch eine Schande des Lehrens sein würde, vor die Füße zu schmeißen. Sollten die Kollegen ihn da unten in der Ehrenhalle vom süßlichen Steinboden kratzen, nachdem das Vernehmlassungsverfahren betreffs Honoris-Causa-Adressen abgeschlossen war!

Es war, und dies kränkte ihn am meisten, eine plumpe Intrige gewesen, welche zur Streichung seines Lehrauftrags in der Höhe von monatlich sechshundertsiebenunddreißig Franken brutto geführt hatte. Professor Stefan Schädelin aus St. Gallen, der neugewählte Militärhistoriker, von Haus aus ein Heer-und-Haus-Spezialist, hatte auf einer Konferenz, an der Schöllkopf krankheitshalber fehlte, den Antrag eingebracht, man müsse diesen Lehrauftrag «überprüfen», und das Wort «überprüfen» hört ein Dekan, der sich in einer chronischen Budgetkrise befindet, immer gern. Natürlich steckten ganz andere als finanzielle Motive hinter dem Schädelinschen Überraschungs-Angriff. Die militärwissenschaftliche Hälfte der Abteilung XIII sah es ungern, dass die Gletscher als topographische Bestandteile des Réduit-Verteidigungskonzeptes der Schweizer Armee von der jüngsten Literatur dieses Landes vereinnahmt und damit in ihrer erdgeschichtlich-strategischen Lage quasi ans Ausland, also an den Feind verraten wurden. Vom Milizhistoriographen Schädelin stammte der Satz: «Die Gletscher sind unsere Gebirgsinfanterie. Hätte Russland über ebenso viel Eis verfügt wie die Schweiz, Hitler hätte den Einmarsch nicht gewagt.»

Wolfram Schöllkopf indessen hatte in seiner Antrittsvorlesung darauf hingewiesen, dass sich in der neueren Schweizer Literatur, welche sich in den sechziger Jahren behaglich am Jurasüdfuß eingerichtet habe, eine Tendenz abzeichne, die erstarrten Packeisfronten in den Alpen von unten her zu schmelzen, und das hatte sich natürlich unter den Militärwissenschaftlern herumgesprochen. Diese subversiven Literaten, so mochte es geheißen haben, unterwühlen nicht nur das Gesellschaftssystem, sondern rühren ans Heiligste: an die Naturabwehrkräfte, die Seine Eminenz, der liebe Gott persönlich, nach dem ja das Zentrum unseres Zentralalpenmassivs, der Gotthard, benannt ist, anlässlich der Erschaffung von Himmel und Erde für die künftige Eidgenossenschaft reserviert hat, exklusiv, streng geheim und vertraulich. Das war der Grund für die handstreichartige Rückeroberung von Wolfram Schöllkopfs Lehrauftragsstellung.

Soll ich, soll ich nicht: PD heißt ja nicht nur Privat- und Pendeldozent, sondern auch Pedell und Professoren-Domestike, das absolut Infausteste, was es auf dem akademischen Pflaster gibt; die Herren Lehrstuhlinhaber konnten davon ausgehen, dass sich ein Edelreservist, der darauf angewiesen ist, dass die Venia Legendi alle vier Semester erneuert wird, schon ducken würde und in die Kappe scheißen ließe, aber er, Schöllkopf, nein, er nicht. Es gab zwei Möglichkeiten: diesen Schädelin standrechtlich abzuknallen oder auf den grießgrauen Fliesen der Gullschen Ehrenhalle zu zerschellen, mit dem Pausenläuten, das durch die zwielichtigen Stollengänge der Semperschen Polytechnikums-Festung schrillte, zugrunde zu gehen. Der Diskussion über Ehrenadressen ein vorzeitiges Ende bereiten mit dem Skandal eines Privatdozenten-Suizids. Freilich, so sagte der Germanist in mir und nicht der Glaziologe, wäre es ein Pleonasmus, dem Mord von außen einen Mord von innen folgen zu lassen. Aber wie weiterexistieren, mit der Aussicht auf eine Kur in Göschenen-Kaltbad?

Dekan Wörner, Strafrechtler, hatte sich den Schädelinschen Antrag unterjubeln lassen und ohne jede Vorwarnung in der Traktandenliste, die ohnehin viel zu spät verschickt worden war, in der üblichen Schlamperei jener ETU-Dozenten, welche, mit Nebenämtern überlastet und Nebeneinkünften vergoldet, die Bürde der Abteilungsvorsteher-Würde wider Willen, durch das Anciennitätsprinzip dazu gezwungen, auf sich nahmen, die Konferenz zum Semesterbeginn mit dem Vorschlag überfallen – Herr Kollega Schöllkopf darf ruhig zuhören und im Saal bleiben –, meinen Lehrauftrag im Rahmen der Sparmaßnahmen zu streichen. Alle müssten kürzer treten und den Gürtel enger schnallen et cetera: pikanterweise lag gleichzeitig ein Antrag Schädelins für drei Stellvertretungen auf dem Tisch, denn der knapp Vierzigjährige hatte sich bei seiner Wahl als Provision ein Urlaubssemester eingehandelt, um seine Habilitationsschrift – man höre und staune: Nachhabilitation eines Ordinarius – «Die Dissuasionswirkung der Schweizer Armee im Rahmen der Sicherheitspolitik des Bundes» – in Ruhe, also ohne die lästige Verpflichtung von fünf Wochenstunden, fertigschreiben zu können.

Es gab kein Votum, in eigener Sache zu Wort melden konnte ich mich nicht, verbal befand ich mich im Ausstand und psychisch in einer Katastrophe, ich hätte ohnehin keine Silbe über die Lippen meiner cardialen Gipsmaske gebracht. Man schritt flott zur Abstimmung, und das Resultat, o Wunder und Pech für das Intriganten-Duo Wörner/Schädelin, lautete neun zu sieben gegen den Antrag des Dekans, bei fünf Enthaltungen und einem Dutzend Absenzen, also für Beibehaltung des Schöllkopfschen Engagements, das ohnehin von Semester zu Semester neu bestätigt werden musste. Nach gut demokratischer Gepflogenheit beugte sich Professor Wörner – Schädelin fehlte entschuldigt – der Mehrheit, indem er das Traktandum, das laut Liste keines war, vorläufig zurückstellte, um dann unter Verschiedenes und Umfrage, geschickt vor die Aussprache über Ehrenadressen manövriert, nebenbei zu Protokoll zu geben: Sie haben also, wenn ich das recht verstanden habe, in der Angelegenheit Lehrauftrag Schöllkopf mit neun zu sieben zugestimmt. Allgemeines Kopfnicken der in irgendwelche Gutachterpapiere vertieften Fachifizenzen, plus mal minus ergibt minus; sie hatten aber nicht dem Schachzug des Winkeljuristen, sondern der Prolongierung meiner bezahlten Stunde zugestimmt – minus mal minus gleich plus –, also war mit einem billigen Trick an einer Universität, die berühmt war für ihre Kapazitäten auf dem Gebiet der höheren Mathematik, dieses Lehrauftragsattentat an einem Privatdozenten ins Protokoll hineingeschmuggelt worden.

Mein wichtigster Lehrer und Förderer, Professor Walter Kern, der Gute Gott der ETU genannt, hätte sich dreimal im Grab umgedreht, wenn er diese Gaunerei von seinem Friedhof aus mit angesehen hätte, das Knarren des Sarges wäre durch das dicke Zyklopengemäuer der Nordfassade gedrungen mit den Sgraffitos, welche Aufbau und Aufgaben der Eidgenössischen Technischen Universität allegorisierten: zwei beflügelte Standartenträgerinnen versprachen dem Studenten, der diese Bildungskasematte in mattem Basaltgrün zu sprengen versuchte, dass unter den Auspizien der Eidgenossenschaft in gegenseitigem Einvernehmen von Wissenschaft und Kunst alle Sparten vom Bauingenieurwesen bis zum Militärwesen, ergänzt durch humanistischen Zuckerguss, in interdisziplinärem Föderalismus, für den die Girlanden der Kantonswappen unter dem Dachvorsprung bürgten, sine ira et studio gelehrt werden würden. Über den Fenstern des Erdgeschosses siebzehn Zelebritäten von Homer bis Newton. Und was hatte Seneca, vom gesprengten Segmentgiebel des Nordportals hinuntergrüßend, den Famuli zu sagen? «Non fuerat nasci / nisi ad has»: die Geburt lohnt sich nur dann, wenn man als Wissenschaftler oder als Künstler zur Welt kommt.

Von Epikur aber, Herr Dekan Wörner und Herr Professor Schädelin, ist die Maxime überliefert, der eigene Tod könne einem nichts anhaben, weil dem Zersetzten jede Empfindung fehle, also stand dem Schöllkopfschen Experiment des freien Falles nichts im Wege, umso weniger, als sich der Gute Gott der ETU, der kremiert worden war, als Häuflein Asche nicht in seiner Urne umdrehen konnte. Was war das für eine Schreckensmutter, diese Alma Mater Helvetica, von nähren konnte weder im pekuniären noch im übertragenen Sinn die Rede sein, eher von akademischem Liebesentzug; ein Privatdozent war ja genauso wehrlos wie ein blaugeschriener Säugling, der vergeblich nach der monumentalen Kuppelbrust verlangte, dieser über sechsundzwanzig Meter gespannten, aus dem Kriegsjahr 1918 stammenden, von vierundzwanzig Bogenrippen, einem Fußring, einem Zwischenring und einem Kopfring zusammengehaltenen Dachziegelbrust, deren Laterne ganz Zürich und die umliegende Eidgenossenschaft von Romanshorn bis Genf, von Basel bis Chiasso erleuchten mochte, doch einem Spezialisten für Glaziologie und neuere deutsche Literatur lediglich eine Gratifikation von fünfhundert Franken pro Jahr für die Gunst der unbezahlten Lehrtätigkeit gab.

Hatte Wolfram Schöllkopf denn überhaupt noch eine Wahl? Er war ein chronisch schwerkranker Mann, ein psychosomatisch Frühinvalider, konnte, nachdem die Labortechniker der Schulmedizin so ziemlich alles verpfuscht hatten, was sich mit Hilfe von Chemie, die an dieser Anstalt nicht nur gelehrt, sondern geradezu gehätschelt wurde, ruinieren ließ, nur noch das Kurangebot von Göschenen wahrnehmen, dubios genug, diese Auer-Aplanalpsche Tunneltherapie der Künstlichen Mutter, und wofür, wenn überhaupt, würde der Omnipatient wieder rehabilitiert werden: für die ETU-Schande. Es gab ja in der Tat hochinteressante Parallelen zwischen dem Fort Réduit im Gotthard und dem über und über rustizierten Semper-Gullschen Hochschulsackbahnhof, der auf einer Schanze des ehemaligen Festungsareals der Stadt Zürich thronte: hier biss man auf Granit, dort würde man auf Granit beißen; hienieden ein undurchschaubares Labyrinth von Auditorien, Sammlungen, Zeichensälen, Stichtonnengewölben, Materialkatakomben, Lieferanteneingängen, Senatszimmern, Lichthofkanzeln, Blendarkaden, Säulen-Balustraden – dort, wenn man dem Gerücht über die Existenz einer Heilstollenklinik Glauben schenken durfte, ein nicht minder verwirrendes Carceri-System; der heilige Godehard war sozusagen die Natur gewordene ETU unter besonderer Berücksichtigung der Abteilung für Geologie, Hydrologie und Glaziologie, umgekehrt die Landeslehrstätte ein zum Polytechnikum aufgefächertes Gebirgsmassiv; in Göschenen wie hier herrschte permanente Geistesdämmerung, betrat man an einem gleißenden Frühsommertag die Apsis des Vestibüls, verfinsterte sich der Junimorgen zu einem Dezembernachmittag, und man hielt unwillkürlich Ausschau nach einer heißen Schokolade, wie sie im Bahnhofbuffet Göschenen, so die kulinarische Legende, verabreicht wurde, aus Crémant-Riegeln gestoßen.

2

Als Privatdozent Wolfram Schöllkopf die Ritterfaust zu spüren begann, die ihm von hinten, wo die marmornen Schulratspräsidenten im Halbrund postamentierten, durch den Rücken und in den Brustkasten griff, um den Herzmuskel zusammenzuquetschen, wusste er, dass er diesen Eidgenössischen Hoch-Schul-Verrat nicht überstehen würde, sich gar nicht über das Balustergeländer zu stürzen brauchte. Zur Poliklinik auf der anderen Seite der Semper-Allee waren es hundertfünfzig Granitstufen und gut zweihundert Schritte, das musste auch ohne Blaulicht zu schaffen sein. Doch diese kombinierte Abteilungs- und Herzattacke war nicht zu unterschätzen. Neben der Reiterstatue von Remo Rossi, welche die fünfundzwanzig Kantone ihrer Alma Mater zur Centenarfeier geschenkt hatten – sein Entdecker, Professor Kern, hatte sie als Rektor, als Magnifizenz eröffnen dürfen –, ging der Infauste zu Boden und blieb liegen bis neun. Die Panzerfaust hatte auch noch Morgensternstacheln, und sie bohrten sich gegen die Schulterblätter hinauf.

Und jetzt ging es darum zu kapieren, dass der Knockout meines Lebens gemeint war, im neununddreißigsten Jahr. Im Dozenten-Boudoir befand sich eine Hausapotheke, doch Nitrolingual würde dort kaum zu finden sein. Noch zwei Treppenarme im düsteren Gewölbe bis zum Hochparterre Nord der Architekturabteilung, wo er vier Semester studiert hatte, und zur Ehrenhalle, dem Pausenparlatorium anstelle des früheren Gipsabgusspavillons. Wie auf einer stotzigen Eisbahn tappte ich die Stufen hinunter, schob mein moribundes Gehäuse von den Gullschen Mosaikfliesen auf den Vestibülbelag, vom Vestibülbelag am Gnehmschen Trinkwasserbrunnen, an den drei Bronzegrazien vorbei über die Barrikade der Portalschwelle auf die Granitplatten des hufeisenförmigen Vorplatzes, wo die Seitenflügel den Druck auf mein Herz verstärkten, raus aus dieser Alma-Mater-Krebszange auf die Semper-Allee, ein Infarkt kam nicht in Frage, nein, ich gönnte diesen Judassen der Abteilung für Geistes- und Militärwissenschaften alles, nur nicht einen Herzinfarkt als Alibi einer natürlichen Todesursache ihres für dreißig Silberlinge verratenen Nachwuchs-Germanisten und -Glaziologen; oben im glarigen Licht die braunrote Kuppel über dem Lesesaal mit den giftgrünen Tischlämpchen, eine enge Wendeltreppe zwischen der äußeren und inneren Schale führte hinauf zur Laterne; wenn schon, dann dort oben verrecken, in der Zitze der Steinbrust, doch zum Greifen nah war die Spitalfassade, ein wildes Mobile von Fertigbauelementen in seinem Blick, Schöllkopf versuchte, mit einer Hand zu fuchteln, um das rotierende Blaulicht zu imitieren, Autoreifen quietschten, ein Tramzug klingelte und knirschte, richtig, die ganze Welt in den Alarmzustand versetzen, wo war der Noteingang, nicht Exit, nein, Exitus auf keinen Fall, die Notaufnahme, Linoleum, kotzbraun gesprenkelt, Gummibäume, kitschig in der Tat, der Abgang, wie die unbefleckte Geburt, er halluzinierte plötzlich an der unbefleckten Geburt herum, Schwester, Hilfe, der Raubritter lässt das Herz nicht mehr los, sprengt endlich diese eiskalt glühende Folterzange, ihr Medizinalbanausen, ihr gottverdammten Notfalldilettanten, ihr …

Starte noch einmal, wie nach Absolvierung der Bobschule in St. Moritz, zur Jungfernfahrt, das erste Mal in einer Podar-Büchse, schwarz wie ein Blechsarg, zwei Mann Gepäck und ein diplomierter Bremser, auf geht’s, toi-toi-toi, erstmals ein Professor für Glaziologie im Olympiaeiskanal, Schlangenkurven, kein Problem, Sunny Corner drittelhoch anfahren und raus, sobald man die Innenbande sieht, geschafft, Nash/Dixon, Schüttelbecher, unten die enge Kehre der Kantonsstraße mit den fotografierenden Zuschauern, die Eiszapfen oben am Horse Shoe, vierfacher Erddruck, der Arsch meldet, wie wir liegen, runterreißen und auf Schienen ins Telefon und in den Shamrock, Schwein gehabt, Devil’s Dyke, brutal an der Sohle bleiben, weil kürzerer Weg, ottimo, viel leichter zu steuern als der Feierabend, Nameless und Tree, was ist das, ein Arzt in der Rinne, weg, du Fachidiot, herrgottsackerment, Fachidiot, wie eine Rakete an die Eigernordwand des Bridge Corners hinauf, Seilzug entglitten, Kippsturz, auf dem Helm in die Bahnunterführung, Sturmböen von Eismehl, aber vor der Fallgrube wieder aufgestellt, Bremser weg, Polster weg, blinde Passagiere weg, hin und her schlagend im Kanonenrohr zum Sachs hinunter, ein Leberhaken, leckt mich doch am Arsch, dieser Sarg ist überhaupt nicht mehr zu kontrollieren, Barriloche, von der argentinischen Schwesterstadt gestiftet, raus, bevor der Sack zu eng wird, und die Arrivato, eine Tortur ohne Ende, zu hoch, du Trottel, nachziehen, raus auf zwei Kufen, drücken, wer bremst eigentlich, he, hallo, wir sind da, ackert die Piste mit dem Rechen auf, nicht wie die Japaner kopfvoran auf dem Lastwagen landen, stopp, stopp, stopp!

Was war unsere Zeit? fragte Schöllkopf den Arzt, der neben seinem Bett stand. Halb sechs, antwortete der in irgendwelche Klosettrollenstreifen vertiefte Schneemann. Sie sind wohl nicht ganz gebacken, nach dem Tree in der Spur zu stehen, das ist lebensgefährlich, die Geschwindigkeit beträgt dort bereits gegen hundert Stundenkilometer, haben Sie denn den Donner nicht gehört aus dem Devil’s Dyke? Nun halten Sie sich mal still, bis das Kardiogramm fertig ist. Na, sieht schon ganz anders aus. Nach der ersten Kurve, die Ihr Herz herauszitterte, leben Sie gar nicht mehr. Der Arzt schnallte mir den gelochten Käseriemen von der Brust, nahm die Kabel mit den Metalltatzen weg und die Klammern von den Armen und Beinen. Bei welcher Krankenkasse sind Sie versichert? Bei der Helvetia. Dann unterschreiben Sie hier, bitte. Das war leichter gesagt als getan, denn von meinen Venen führte ein Gehedder von Schläuchen zu den Flaschen am Kathetergestell. Was ist das für ein Fackel? Wir brauchen die Bestätigung, erläuterte der Arzt im hochgeschlossenen Mantel, dass Sie auf der Privatabteilung liegen und infolgedessen für die Differenz zwischen Kassenleistung und Sonderklassentarif aufkommen, zunächst mit einer Kaution. Schöllkopf wollte sich empört aufrichten, doch der mit einem Stethoskop bewehrte Wärter drückte ihn nieder. Nur die Ruhe kann es bringen, mein Lieber. Das nenne ich Geschäftemacherei, fluchte der Patient, ohne gefragt zu werden in die Luxusetage, habt ihr mir gleich eine Krankenzimmersuite angedreht? Wer auf allen vieren angekrochen kommt, wird nicht mehr lange gefragt, seien Sie froh, dass es beim stenocardialen Kollaps geblieben ist. Kollabieren Sie des Öftern? Was ist das, ein stenocardialer Kollaps?

Sehen Sie, Herr Dozent Schöllkopf, jetzt nehmen Sie bereits eine Dienstleistung der Privatabteilung in Anspruch, denn ein Herzpatient der allgemeinen Klasse wird nicht sofort, auf Abruf, sondern turnusgemäß bei der Elfuhrvisite aufgeklärt. Haben Sie schon mal was von Angina pectoris gehört? Man nannte das früher Herzbräune, bedingt durch eine gewisse Engbrüstigkeit, Anfälle von heftigen Schmerzen in der linken Brustseite, die gegen den Hals und die Arme ausstrahlen. Kollapserscheinungen, Erblassen, kalter Schweiß, kleiner, frequenter Puls, Todesängste, akute Linksinsuffizienz, im Grund ganz einfach Spasmen der Kranzgefäße, durch hochgradige körperliche Überanstrengungen oder schwere seelische Traumata hervorgerufen, auch eine Tabakvergiftung oder hysterische Nervosität können dazu führen. Sie sind, so entnahmen wir Ihrem ETU-Pendelbusausweis, Privatdozent für deutsche Literatur, Nebengebiet Glaziologie – eine interessante Kombination –: wie viele Stunden haben Sie denn, dass Sie vor der Hochschule zusammenklappen? Seit heute Mittag keine mehr, Herr Doktor … Steinbrück mein Name, Steinbrück – ein interessanter Name –, Unternullwachstum, Ihre Sanifizenz, Zéro-Spiel, aber verloren, verstehen Sie, mit einem Wörnerschen Genickschuss an der Abteilungskonferenz zur Strecke gebracht – Steinbrück, was für ein Name! –, akademisch ins Gras gebissen, abberufen worden, mause, Rabenfutter, reif für die Gipsabgusshalle. Tja, Privatdozent ist kein leichtes Los, der Weg zu einem Ordinariat unübersichtlich, aber Sie sehen mir zum Glück nicht nach einem definitiven Infarkt aus, der Manschetten-Test ist zufriedenstellend ausgefallen, ein Ferment hat uns Sorgen gemacht, die Blutprobe zeigte, dass eine Abteilung Ihres Herzens, wenn ich mich der Terminologie der ETU-Struktur bedienen darf, im Begriff war, zugrunde zu gehen, wir haben keine Zeit verloren und vom Direktschreiber, der dieses perverse Gebirgspanorama als Silhouette produzierte, auf den Kathodenstrahloszillographen umgeschaltet und den Schirm nicht mehr aus den Augen gelassen, und schon, Herr Privatdozent, wenn auch zwangsemeritiert, sind wir wieder da, natürlich unter strenger Observation, zu Ihrer eigenen Sicherheit, das Semester können Sie vergessen.

Es ist ein Ohrenschmaus, Ihren Ausführungen folgen zu dürfen, Herr Chefarzt Delbrück – nur Oberarzt, Oberarzt Steinbrück –, und ich gratuliere Ihnen zu der phänomenalen Leistung auf dem Gebiet der Cardiopsychosomatik, dank der mir nämlich die Freiheit verblieben ist, mich selber zu vergiften, an irgendeiner Überdosis zu krepieren, was an diesem Toxikologischen Institut als einer axialsymmetrischen Annexanstalt zur Abteilung XIII für Geistes- und Militärwissenschaften ennet der Semper-Allee doch wohl noch möglich sein dürfte – an einer Überdosis Kokain gestorben macht sich immer gut in einer Biographie –, nur wird leider das Schicksal eines frontalmeuchlings ermordeten Privatdozenten normalerweise weder biographisch noch bibliographisch erfasst, und als Glaziologe habe ich mich um den Aletschgletscher, meinen Lieblingsfirn, zu wenig – oder zu spät – verdient gemacht, um auch nur in eine Statistik der Versuchsanstalt für Wasserbau, Unterabteilung Séracs, einzugehen – aber, Herr Universitätsprofessor Steinbrück – Oberarzt, wenn ich bitten darf –, mein Problem ist ein anderes, ich kann mir die, wie sagten Sie schon, kollaborative Stenocardiogrammatik der Pumpe gar nicht leisten, weil ich, seit acht Jahren auf einer kapazitären Odyssee von Sprechzimmer zu Sprechzimmer, Labor zu Labor, wobei es immer zwischen Skylla und Charybdis hindurchzuscheitern galt, zwischen dem Orakel: Das ist rein psychischer Natur, und der unverschämten These: Den Schmerz, den Sie zu spüren glauben, gibt es gar nicht, weil ich, um dieser Stafette von Fehl- und Halb-, Pseudo- und Hyperdiagnosen ein Ende zu bereiten, dringend nach Göschenen muss, in die Therapie der Künstlichen Mutter, welche laut den Gerüchten, die aus der Auer-Aplanalpschen Heilstollenklinik auf dem Latrinenweg der Spezialistenfrustranten vom Gotthard ins Unterland gelangen, alle Malästen gestattet, ja sogar anzieht wie der Magnetberg, nur gerade dekompensierte Herz-Kreislauf-Verhältnisse nicht, verstehen Sie?

Doktor Steinbrück setzte das Stethoskop an und befahl: tief atmen, ausatmen. Nochmals tief ein, aus. Jetzt husten, jetzt wieder normal atmen. Tut das weh? Er knetete – ich lag in einer glockenförmigen Anstaltsbluse und in meinen antirheumatoiden Beinlingen aus ultramarinblauer Seide zur Besichtigung da – in meinem Bauch und in der Leistengegend herum. Eben nicht, Herr Doktor, die Unterleibsmigräne hat ihren Sitz zuvorderst in der Penisspitze; dort, wo es nichts zu modellieren gibt, tut es saumäßig weh. Nun gut, eines nach dem andern, zuerst der Körper, Ihr Herz, dann die psychogenitalen Nebenerscheinungen, hier liegen wir auf der Herzstation und freuen uns darüber, dass es nicht mehr die Intensivstation ist. Göschenen, wo es meines Wissens unterirdische Festungsspitäler, aber keine Heilstollenklinik gibt, soll warten. Brauchen Sie ein Schlafmittel? Nein, eine Kurpackung Buscopan gegen das Schwanzgrimmen.

Privatpatient Wolfram Schöllkopf wurde nun seinen Gedanken und den Nachtschwestern überlassen, denen er zwar von seinen Herzens-, aber nicht von lumbalen Nöten erzählen konnte, eigentümlich, wie sich der Mann geniert, einer fremden Frau gegenüber die Invalidität seines Gliedes zu bekennen. Nicht im Traum käme er auf die Idee, eine so attraktive Nachtschwester wie die fuchsrote Ira um einen samariterlichen Liebesdienst zu bitten, dergestalt, dass sie sein Gehänge mit der Wärme ihrer Hand oder ihres Mundes für eine Weile entkrampfen würde. Nein, seine Assoziationen nahmen die gewohnte Bahn zweideutiger Witze: die Tagschwester erzählt der Nachtschwester, der neu eingelieferte Patient habe ein tätowiertes Glied, wenn man genau hinschaue, erkenne man das Wort Adam; doch am andern Morgen kichert die Nachtschwester und belehrt ihre Kollegin, es heiße nicht Adam, sondern Amsterdam.

3

Und es war eine der tödlichen Symmetrien in seinem Leben, dass Schöllkopf mit seiner Stenocardie nun im selben Spital lag, in dem vor fünfzehn Jahren die einzige Frau gestorben war, die seine Frau hätte werden können, Flavia Soguel, durch seine Schuld. Sie hatten sich in einem Kolloquium Professor Kerns kennengelernt, des Guten Gottes der ETU, cand. phil. Wolfram Schöllkopf hatte vor siebzehn Unentwegten ein Referat über Ingeborg Bachmann gehalten, in einem dieser kleinen hohen Seminarräume des D-Bodens mit bananenglacegrau lackiertem Kathedertresen und Blick auf die Linden der Künstlergasse und die Anatomische Sammlung der Universität; «Erklär mir, Liebe» und «An die Sonne» hießen die beiden Gedichte, die er in akademischer Mundart interpretierte zuhanden dieses Häufleins getreuer Zürichbergdamen, abtrünniger Phileiner aus dem Deutschen Seminar und sporadischer Freifachhörer, er hatte von der Liebe als der stärksten Macht der Welt gesprochen und von der Wahrheit, die dem Menschen zumutbar sei, und dabei immer nur sie angeschaut, diese sonnenblumenleuchtende Blondine mit dem leicht satteligen Nasenrücken, der schwindelerregenden, Chauchatschen Augenweite, den schräg nach oben geschnittenen Blaumandeln, den kräftigen Schultern und der sportlichen Postur, eine Skirennfahrerin in der Sommerpause, so saß sie mit übereinandergeschlagenen Beinen halb in der engen Bank, halb auf dem Zwischengang, machte Notizen mit fliegendem Füller, eine Madame Soleil; es war, noch während des Vortrags, Liebe auf den ersten Blick, und als Professor Kern, der ein wenig Jean Gabin glich, Schöllkopfs Referat lobte aufgrund der stenographischen Kürzel auf seiner Karteikarte und einleitend bemerkte, es sei doch ein Jammer, dass solche Leute nicht diesseits, sondern jenseits der Künstlergasse ausgebildet werden müssten, im germanistischen Papageienhaus, hoffte der Laureatus inständig, sie, die einzige Zuhörerin, auf die es ankam, würde sich auch diese Qualifikation merken.

Im Anschluss an das Kolloquium saß man noch bei einer Stange Hell auf der Kunsthausterrasse gegenüber dem Schauspielhaus, ihr Verlobter, ein Bauingenieur im siebten Semester, hatte sich zum Glück mitschleppen lassen, der Trunk wäre zwecklos gewesen ohne sie, an die Ingeborg Bachmanns Gesang «An die Sonne» gerichtet war, persönlich und mündlich gewidmet an diesem vorsommerlichen Maiabend: «Ohne die Sonne nimmt auch die Kunst wieder den Schleier … Nichts Schönres unter der Sonne als unter der Sonne zu sein …» Flavia Soguel war Doktor der Jurisprudenz und stammte aus dem Landwassertal, aus Davos, das den tiefblauen Hochwinterhimmel und die goldene Sonne im Wappen führte, eine mutige Neuschneewedlerin, welche auch schon die Lauberhornabfahrt mit dem Hundschopf und der Minschkante gestanden hatte, sie und der Genius Ingeborg Bachmanns verschmolzen zu einem Bild, und die Anwältin aus dem Bündnerland mit dem Rauchquarz in ihrem Dialekt kannte sich obendrein aus in der Antike, Publius Ovidius Naso, geboren dreiundvierzig vor Christus, habe in der Ars amatoria gesagt: mulieribus doctores poetici necessi sunt, die Frauen brauchten poetische Literaturdozenten; Schöllkopf erwiderte, wahrscheinlich heiße es im Originaltext, die Frauen brauchen die Dichter, mulieribus poetarum opus est, was Kafka in einem Brief an Milena sehr bezweifelt habe: «über meine schwachen Kräfte klage ich, über das Geboren-werden klage ich, über das Licht der Sonne klage ich», alles, habe Kafka gesagt, sei herrlich und wunderbar, nur nicht für ihn, nicht für mich, Flavia; doch, sie einigte sich mit mir auf den Gesetzestext «Die Frauen brauchen die Dichter und Wissenschaftler», und ich erwähnte den Seneca-Spruch über dem Nordportal der ETU; siehst du, meinte die Juristin, und im Römischen Recht steht der skandalöse Satz «Mater semper certa est», nur die Mutter ist unzweifelhaft, wenn es zu einem Vaterschaftsprozess kommt, dabei hätte Kafka wahrscheinlich statt zweihundert Briefe an Milena und fünfhundert Briefe an Felice besser einen kardinalen Brief an die Mutter geschrieben. Diese Frau kam draus, das stand fest, und eine Liebeserklärung war fällig, noch an diesem Abend, Schöllkopf nahm seine gelbe Stumpenschachtel mit dem Werbezeichen der Sonnenblume und unterstrich mit dem Füller, was er Flavia Soguel sagen wollte und doch am Tisch nicht laut sagen konnte, die Wörter naturrein, nicht gepudert, feinste Mischung, blond und Söhne-AG, und schob ihr diese Stumpenpost zu, sie steckte sie lachend ins Täschchen, sie hatte verstanden.

Weißgrünlich wie die Milch mit Honig und Aronenschnaps, die der Vater uns Kindern angerührt hatte gegen Husten und Halsweh, das Privatzimmer des Privatdozenten und -patienten Wolfram Schöllkopf, Märklinkataloge, Hafersuppe und Ewigkeit, Blick auf die massiv rustizierte Ostfassade der Eidgenössischen Technischen Landesirrenanstalt ennet der Semper-Allee, wo die Magnifizenzen als Nullifizenzen konferiert hatten, es war ja ein Skandal, dass bei der Renovation und Erweiterung des Zürcher Bundeshauses für Wissenschaft und Kunst während des Ersten Weltkriegs kein Naturstein verwendet werden konnte, weil die Verwitterung des Quaderwerks aus altem Bernersandstein zu weit fortgeschritten war, eine außen wie innen erosionsbedrohte Alma Mater Helvetica, und ein großer Teil der Fugen war nicht einmal vermörtelt gewesen, Hohlräume bis zu dreißig Zentimeter kamen zum Vorschein, so dass die Bossen des Erdgeschosses herausgesprengt werden mussten, eine im Keller installierte Kompressorenanlage ermöglichte diese Abbruch- und Durchbrucharbeiten mit Taglöhnern, die im Akkord bezahlt wurden, eine Fassadenhavarie sondergleichen.

Gull entwickelte durch Zusatz von Chromoxyd und Ocker zum Portlandzement unter Verwendung von weißem Quarzsand einen Kunststein, der dem Natursandstein des alten Baus in Korn und Farbe täuschend ähnlich sah, schichtweise wurden die neuen Quader den zurückgespitzten Witterbrocken im Original-Verband vorgesetzt als Blendwerk im wörtlichsten Sinn. Die Baluster der Terrassenbrüstungen waren derart angefressen, dass sie bei der leisesten Berührung heraus- und hinunterfielen, desgleichen die Postamente aus Bollingerstein, und diese doppelt und dreifach armierte Kasematte auf dem Schanzenareal des ehemaligen Festungszentrums von Zürich sollte Schöllkopf, Stenocardist, Herzbräune, nun noch einmal sprengen und von Grund auf erneuern. Nein, da konnte ihm höchstens eine Eiszeit zu Hilfe kommen, eine glaziale Finsternis, welche über die Zivilisation dieser rationalistischen Hottentotten hereinbrach; was die Heilaussicht vor seinem Fenster versperrte, war der Ödipuskomplex, die Papamnese, er aber hatte es mit der Orestie zu tun, mit einer umfassenden Mamamnese, er musste sich, so leid es ihm tat, von der einen Krankengeschichte für die andere beurlauben lassen, denn der Gute Gott der ETU war tot, der Palazzo legendi erkaltet, auf ihn wartete der Gotthardgranit.

Und wieder verlor er sich, Herzmittel gegen Schmerzmittel vertauschend, in seiner glücklichsten Zeit, welche mit einer Tragödie geendet hatte: This is the balcony of Romeo and Giulietta. Zwei Hochsommermonate lang lebten sie wie im Rausch und schliefen jede Nacht miteinander, was streng verboten war, einerseits war Flavia ja verlobt und teilte die erste oder die zweite Wochenhälfte, je nach Büroplan oder Semesterdruck, die romantische Altstadtwohnung mit dem angehenden Bauingenieur; zweitens hatte Wolfram Schöllkopf seiner Mutter an seinem zwanzigsten Geburtstag am Krankenbett hoch und heilig in die Hand versprechen müssen, nie, da es sie bis ins Grab beleidigen würde, mit einer anderen als der angetrauten Frau zu koitieren – auch nicht zu onanieren, denn Selbstbefriedigung sei Kommunismus. Es war eine schrecklich gute Mutter, immer Tränen in den Augen, immer im Halbdunkel liegend, eine Migräne- und Eismutter. Doch die sonnenstarke, flammende Flavia hatte diesen verbrecherischen Unsinn buchstäblich hinweggeliebt, du bist zwar eine Kohlhaasnatur, hatte sie gesagt, aber ich bin Anwältin, also Fürsprecherin, und gehe für dich nicht nur durchs Feuer, sondern vor die höchste Instanz, wenn es sein muss, bis vors Bundesgericht in diesem Mutterschaftsprozess. Töte sie, indem du mich liebst, wir schaffen sie gemeinsam beiseite in unseren Liebesnächten.

Zürich im Sommerglanz seines blauweißen Wappens, gestohlene Heckenrosen im Briefkasten, glühende Briefe, Tage wie Lohe im Strandbad unter flirrenden Birken, die Liebe als stärkste Macht der Welt. Wie Ingeborg trank Flavia am liebsten Pernod im Select oder Odeon, wo unser Tischchen eine Insel im Strudel der Passanten bildete, ich immer in Panik, ihr Verlobter tauche plötzlich auf, Flavia dagegen ein Abgrund an Unbekümmertheit. Die Menschen, konnte sie sagen, begreifen nicht, dass sie sterblich sind, sonst ließen sie keinen Tag ohne Sonne, keine Nacht ohne Liebe verstreichen; und ich, ich hatte plötzlich Sprache, ich war für diese kurze Spanne taumeligen Glücks der Dichter, den die Frauen – nach Ovid – so dringend brauchten, es sprudelte aus unerschöpflichen Quellen aus mir hervor, ich konnte meiner Geliebten alles zeigen, benennen, in ihrem Sonnenspiegel entzündete sich die Welt. Zürich, die Altstadt, der Limmatquai, das Café de la Terrasse, der Bürkliplatz, die Bahnhofstraße, die Peterhofstatt, wo ihr Ingenieur die Wohnung mit Balkon im dritten Stock gemietet hatte, der Lindenhof, alles täglich blauweißblankpoliert, wie frisch aus dem Baukasten genommen. Wir aßen zusammen im Strohhof, unser Tischchen stand am Zaun, der die Kiesterrasse vom Pfarrgarten trennte, und ich konnte ihr die Magnolie beschreiben, den leicht schief stehenden Schirm entflammter Blütenkerzen. Erklär mir, Liebe! Durch die Haselstauden schimmerte das grelle Tulpenrot, ein Kranz aufgebrochener Lampions in einer Waldlichtung. Und wir lachten über die Gäste, die sich in kulinarischer Feierlichkeit über ihre Suppen beugten, von den aufgeblähten Tischtuchecken eingepackt wie Toastscheiben. Flavia Soguel war das Zauberwort, das Sonnensiegel zur Welt.

Und wir räkelten uns in den Liegestühlen auf der Zinne, unter uns die tosende Stadt, das Klingeln der blauweißen Trams, um uns die Ziegel- und Teerlandschaft von Dächern, Kaminen, Lukarnen, luftigen Schrebergärtchen, die flatternde Wäsche, die Gitter mit den lichttoten Reklamebuchstaben, das Geturtel der Tauben, und rings die Kuppeln und Türme, die Sternwarte, grünspanbehelmt der Spanisch-Brötli-Bahn-Aufbau der Universität, wo die Elfuhrmesse St. Emilions über Hofmannsthal und seinen Kreis ohne Wolfram Schöllkopf stattfand, der mockige Turm von St. Peter mit dem größten Zifferblatt der Welt, die Zeiger zwei riesige Brieföffner. Vom Großmünster sah man liegend nur den güldenen Wetterhahn des Dachreiters, und erst im Zurücktreten rückten die gotischen Fenster über den Balustraden gespenstisch nah. Der Tagmond als weißer Melonenschnitz am Himmel. Flavia, schau da, rief ich, Flavia, schau dort! Madame Soleil, Sonnengöttin. Was-ist-das? Wir folgten einem Kinderballon, wie er als dünnglasiger Bonbon im Wind trieb, eine Botschaft am Bindfaden über die Giebelkette tragend. Unser Dach war der Himmel von Zürich. Und ich schwärmte der Bündner Juristin vom Jahrmarktszauber, von allen Budenstädten der Welt. Ja, Sprache wuchs mir zu, ich wusste nicht, woher. Die Zuckerwatte, Flavia, und der klebrige Türkenhonig, die sausenden Schlitten der Himalajabahn im Winterdorf aus Pappe, das Schneetreiben der Lichtreflexe, die asthmatische Drehorgel in der kopfstehenden Kartonpyramide des Rösslispiels, die Quasten und Troddeln im Dachhimmel bordeauxroter Fransenvorhänge, das stumpfe Tangorot der Glühbirnen im Sonnenlicht, der Galgen mit dem goldenen Ring für die Freifahrt. Und wie sie jeden treffenden Satz mit ihren nach oben geschnittenen Mandelaugen belohnte, wie sie lachen konnte, von den Zehen bis zum blonden Scheitel! Städtische Glockenspiele, als ob ganz Zürich als Musikdose unser Zinnenglück vertone!

Du hast mich noch einmal erschaffen, ich liebe dich, denn deine Mutter heißt Eva, nicht Maria! In Kafkas Tagebüchern zeigte ich Flavia Soguel die tabellarische Zusammenstellung alles dessen, was für und gegen die Heirat des Künstlers sprach; Kafka, der auf die Frage, wie einsam er sei, zur Antwort gegeben hatte: So einsam wie Franz Kafka. «Was ich geleistet habe, ist nur ein Erfolg des Alleinseins.» Sie strich den Satz durch mit einem Vulkanausbruch von Küssen. «Die Angst vor der Verbindung, dem Hinüberfließen.» Die Fürsprecherin aus Davos, sie wusste einen Stein zu erweichen. «Furchtlos, bloßgestellt, mächtig, überraschend, ergriffen wie sonst nur beim Schreiben. Wenn ich es durch Vermittlung meiner Frau von allein sein könnte?» Die Liebe, Wolfram, ist die stärkste Macht der Welt. Deine Aufgabe ist nicht, Kafka zu verstehen und, über ihn dissertierend, vor lauter Verständnis zugrunde zu gehen, du sollst mich in deine Arme schließen, dann wirst du nicht ein Leben lang vor dem Lichtspalt des Gesetzes sitzen, wie du als Kind durch die Tapetentür des Elternschlafzimmers die Schmerzhieroglyphen deiner Mutter abhorchtest. Deine Bestimmung ist es nicht, als Suppenkaspar zu verhungern, als Daumenlutscher dich vom bösen Schneider kastrieren zu lassen, nur weil deine Mama befiehlt: Ich bin krank, und du bleibst da; und nicht, als Zappelphilipp dich unter dem Tischtuch zu begraben, während die Mutter stumm auf dem Tisch herumblickt. Denn ich breite meinen Ozean aus für dich, krebse nicht zurück, stürz dich ins Wasser und schwimm mir entgegen!

Hero und Leander, Philemon und Baucis, Romeo und Julia in der Altstadt: in Flavias Gegenwart wurde die Literatur wahr, Mulieribus poetarum opus est, ars amandi, nicht ars moriendi. Ich schwänzte das Seminar für Vorverrückte über «Die Bedeutung des Stroms in der Hochklassik», doch keine einzige Minute Flavia Soguel. Was in den muffigen Bücherkatakomben des Zwischendecks germanistischer Galeerensklaven in der beizenden Körperausdünstung rothaariger höherer Töchter herausgetüftelt wurde, welche den Finger schon aufstreckten, bevor St. Emilion auch nur eine Frage gestellt, geschweige denn eine Halbzeile als Freiwild zur Interpretation aus dem Gehege gelassen hatte, war mir so schnorz wie die Jahresbestleistung im Reißen von Schwergewichten. Hier lag, wenn auch nur aus Dachpappe, von rostigem Geländer umgeben, ein Stück Paradies, und es galt, den Mut aufzubringen, Abel zu erschlagen und Kain zu heißen, in den Apfel zu beißen und die Schlange zu umarmen, die stark war, aber nicht giftig.

Und als der Circus Knie seinen Viermaster am Bellevue aufgeschlagen hatte, auf dem Sechseläutenplatz, saßen wir dreimal in der Vorstellung, und ich konnte Flavias Begeisterung die circensischen Worte unterlegen für den Manegengeruch aus Sägemehl, Raubtierbrunst, Kontorsionistinnenparfüm, Magnesia, Elefantenurin, konnte ihr die Lichtregie erklären, siehst du, das ist ischiasblau, und eukalyptusgrün, und honiggelb, und das ist der Weißclown mit den hochwattierten Schultern im silberblaurot gesprenkelten Paillettenkostüm, und wenn der das Altsaxophon bläst, dass es dir durch die Adern rinnt wie goldener Likör, wählt er für den Schlager «O sole mio» die Tonart Cis-Dur, weil man Circus mit C schreibt und der klassische Circus-Sound ein Arrangement mit Kreuzen verlangt, niemals B-Dur oder Es-Dur; wir saßen im Zaubergewitter unter dem Chapiteau, das uns die Kuppel der Welt bedeutete, und vor Stolz, die blonde Sonnenblumenfrau an meiner Seite zu wissen, die ihr Knie gegen meine Knochen drückte – o wie skelettös war ich mir damals als Vierundzwanzigjähriger schon vorgekommen, wie ausgehungert, wie skorbutisch –, fühlte ich mich als circensischer Dirigent, gab die Einsätze mit Stichworten, ließ das ganze Programm für Flavia ablaufen, die nervenrührigen Trommelwirbel, pass auf, jetzt springt er auf dem Seil, Salto mortale mit verbundenen Augen, pass auf, jetzt springt der Lipizzaner in die Kapriole, jetzt werden die fluoreszierenden Ringe den Jongleurkeulen beigemischt, jetzt explodiert das Sousaphon des dummen Augusts, jetzt, jetzt, jetzt, ein wahres Festival von Augenblickspurzelbäumen, von Schleuderbrettakrobatik, Zehenhängen am Washingtontrapez; wie nur – erklär mir, Liebe – kannst du den Menschen von Grund auf so verwandeln, die Trockenkehle in Humor, die Sandwüste in einen Wasserfall, wo nimmst du, Flavia Soguel, die Glut her, eine absturzbedrohte Gletscherzunge zu schmelzen?

Und hier diese Siechenhausquarantäne des Privatpatienten und -dozenten, auf den man ein akademisch fein säuberlich getarntes Attentat verübt hatte, so dass seinem Herzmuskel nichts anderes übrigblieb, als dem Sprung in die Gullsche Ehrenhalle mit einem stenocardialen Suizidversuch zuvorzukommen, eine Herzattacke ohne Absprache mit den übrigen Organen, und dabei war es die Unterleibsmigräne, die mich mit ihren Penisspasmen seit Jahren fast um den Verstand brachte, auch ohne Rücksicht auf Verluste der benachbarten Innereien, etwa der Niere oder der Leber, welche buchstäblich medikamentös gegeneinander ausgespielt worden waren; was Schöllkopf an Urgenin und Spasmocibalgin, an Baralgin, Buscopan und Ircodenyl bis hin zu den Sister-Morphin-Giftcocktails alles geschluckt und gestöpselt, gespritzt und wieder ausgeschieden hatte, ging auf keine Menschenhaut. Und die Mutter blickte stumm auf dem Tisch herum, ihre Sorge war das Taschengeld der Tochter und dass ihr vergötztes Klärli ja schick genug angezogen war für den Polyball, eine Klärlisekte hatte sie errichtet innerhalb der Familie, eine sogenannte Kerngemeinde, während der verlorene Sohn, der um ein Linsengericht an Zuneigung bettelte, zum internistisch verseuchten Showfreak verkam, zum Lachartisten, denn wenn das Kammerkonzert irreversibler Schmerzen den Höhepunkt, die Coda erreicht, bleibt einem nur noch das Gelächter übrig, ein herzzerreißendes Gelächter als totale Mutterfinsternis, ein Schädelstättenscherbeln, ein wortloses In-sich-Hineinfluchen, das sich von außen wie ein japsendes Gewieher anhört.

4

Flavia Soguel, warum habe ich dich in jener einzigen Augustnacht, in der es um alles oder nichts ging, verlassen? War es wegen des Mein-Eides, den ich vor meiner Mutter abgelegt hatte? Ich war wohl nicht bei Trost gewesen, doch ich hatte es getan, aus Rücksicht, um ihre Schilddrüse zu schonen, um der Erziehung zur absoluten Reinheit die Krone aufzusetzen. Aber du, Flavia, hast mich zu dir genommen, mich mit deinen Schenkeln umschlungen und gesagt: Vergiss diesen Quatsch, kreuzige sie! Und dennoch hatte die Mater dolorosa recht behalten mit den angehexten Gliedschmerzen. Ein Nachbarsbub, mit dem mir der Umgang verboten war, ohne elterliche Begründung, einfach so, hatte mich in die Dunkelheit des achteckigen Laubsägepavillons im Park am Schlossgraben gezogen, wir hatten voreinander die Hosen runtergelassen, und Jeanpierre belehrte mich, die drei schönsten Dinge im Leben seien das Fudi, das Schnäbelchen und der Bauchnabel. Die Mutter hatte, als ich wieder einmal wie ein Sträfling eine geschlagene Stunde vor den erkalteten Grießtötschli saß, gefragt, was wir im Gartenhaus getrieben hätten. Ich schwieg. Habt ihr euch denn nicht nackt ausgezogen? Schweigen. Siehst du, der liebe Gott beobachtet alles, und er hat es mir sofort gemeldet. Der liebe Gott, im wörtlichsten Sinn, als Verkehrs-Polizist! In der Mitte des Springbrunnens, auf einem Sockel, stand eine wunderschöne Frauenplastik, eine griechische Göttin, eine Schulter leicht vorgedreht, ein Knie angewinkelt, steinblinde Augenlider, langer Nasenrücken, schmale Oberlippe, herrliche Brüste – die Mutter gab keine Ruhe, bis der Vater diese ungeschämige Venus im Fabrikhof mit Hammer und Spaltkeil zertrümmerte, und ich weinte in meiner Fliederecke.

Flavia und ich hatten an diesem heißen Nachmittag des Ersten Augusts in Zürich heimlich unsere Verlobung gefeiert, mit Pfirsichen und Küssen, ich hatte sie durch die winkligen Gassen der Altstadt bis zum gewitterschwarzen Abbruchhaus mit dem schmiedeeisernen Balkon begleitet, auf dem wir so oft zu dritt gesessen waren in den warmen Nächten, ihr Zukünftiger und ihr Geliebter, der eine ahnungslos, der andere mit Gewissensbissen, und wo ich ihnen Novalis vorgelesen hatte aus meinem Oktavband in türkisfarbenem Leder: «Welcher Lebendige, / Sinnbegabte, / Liebt nicht vor allen / Wundererscheinungen / Des verbreiteten Raums um ihn / Das allerfreuliche Licht – / Mit seinen Strahlen und Wogen / Seinen Farben, / Seiner milden Allgegenwart / Im Tage.» Wie in einer Freiluftloge saßen wir hinter den Blumenkisten, in denen Flavia versucht hatte, Sonnenblumen und Tomaten zu ziehen, und blickten auf den opernhaften Platz der Peterhofstatt mit der Linde, dem breiten Treppenaufgang zur Peterskirche, den kleinen Boutiquen, auf diese Montmartre-Insel im Herzen von Zürich, welche zum obligatorischen Programm aller Sightseeing-Kapitäne gehörte. Und immer wieder blieben die Rudel nightclubdurstiger Touristen stehen auf dem Trottoir vor dem Eckhaus, und der Fremdenführer erklärte: This, ladies and gentlemen, is the balcony of Romeo and Giulietta. Darüber hatten wir jedes Mal laut gelacht im Flackerschein der roten und blauen Kerzenbecherchen, the balcony of Romeo and Juliet in town, indeed; Flavia und ich, wir lachten in unserer Liebesverschwörung, und der Bauingenieur, ein Homo faber mit Sinn für das Romantische, hatte keinen Schimmer, dass es ein Dreieckslachen war. Der unhaltbare Zustand quälte mich, und wir hatten an diesem schwülen Ersten August im Select beschlossen, dass es so nicht weitergehen könne, dass wir alle offen miteinander reden müssten, Flavia mit ihrem Verlobten und ich mit meinen Eltern, dann, wenn das möglich wäre, wir drei untereinander. Ich spüre, dass ich zu dir gehöre, nicht zu ihm.

Und Wolfram Schöllkopf? Er hielt sich immer noch an diese verheerende Kafka-Tabelle aus den Fragmenten, links die Rubrik «Rein bleiben, Junggeselle»; rechts «Verheiratetsein, Ehemann, rein?» Doch Flavia Soguel mit dem blaugelben Sonnenwappen im Gemüt, die erste Blondfrau, an der ich nicht gescheitert war als Tonio-Kröger-Spezialist, hatte diese Rechnung auf den Kopf gestellt. Ob sie Kaugummiballons blies oder mit ihren braunen Armen kraulend in den Zürichsee hinausschwamm, ob sie Bossanova tanzte oder Ingeborg Bachmann las, ob sie einen sogenannten Triebverbrecher vor Gericht verteidigte, weil ihr der Zusammenhang klar war zwischen dem Kapitalverbrechen der Sexualerziehung, wie unsere Generation sie genossen hatte, und den Folgen: immer tat sie es mit der Glut derer, die durch den brennenden Pechreifen springen, die für einen durchs Feuer gehen – und ich hatte mir vorgenommen, zu Hause eine Erklärung abzugeben, der Mutter, egal ob sie gerade krank war oder nicht, ins Gesicht zu schleudern: Das Reinheitsversprechen, ich habe es gebrochen und bin stolz darauf, du hast mir diesbezüglich keine Vorschriften mehr zu machen. Doch es kam nicht dazu, und stattdessen schrillte am andern Morgen, als ich vor dem Teich mit der zertrümmerten Venus im Kiesrondell saß und für das literarische Akzessexamen, an dem die Kenntnis der Weltliteratur von Homer bis Kafka gefordert wurde, Stifters «Brigitta» las, das Telefon, und die zur Totenblässe verstellte Stimme des Bauingenieurstudenten aus Zürich meldete: Komm sofort her, es ist etwas Schreckliches passiert. Was, um Gottes willen? Flavia ist heute Nacht über den Balkon gesprungen und liegt im Spital, in der Poliklinik. Sie hat mir, zerschmettert auf dem Pflaster liegend, nur noch deinen Namen nennen können: Wolfram, bitte, Wolfram!

Der Vater war unterwegs, das Auto nicht in der Garage, die Mutter da, aber nicht ansprechbar, also rannte ich ins Dorf hinunter zum Schulhausplatz, und den erstbesten Bekannten haute ich an: Kannst du mir deinen Wagen leihen, ich muss dringend nach Zürich, Alarmstufe unendlich, verstehst du, alles Weitere später. Dieser Mensch, ein bleicher und verzärtelter Playboy, der schon etliche Boliden zu Schrott gefahren hatte, merkte instinktiv, was los war, nicht was, natürlich, aber dass es brannte, er händigte mir die Schlüssel ohne Wenn und Aber aus und gestattete sich nur die Bemerkung: Wolfram, was auch immer passiert ist, lieber zehn Minuten zu spät in Zürich als ein Leben zu früh auf dem Friedhof … Jajaja, verdammt noch mal, her mit der Kiste, der schnellsten, die du im Stall hast, wahrscheinlich werde ich ein Menschenleben zu spät im Spital sein, wo der Anlasser, wo der Rückwärtsgang, es war ein Alfa Romeo Giulietta Sprint Veloce, rosso, Spitzengeschwindigkeit zweihundert, ich war mein Lebtag noch nie in einer solchen Büchse gesessen, aber ich zischte aus der Boxe, als hätte ich eine Runde durch Reifenwechsel verloren, und drückte die Zweilitermaschine in die Kurven des Bremgarter Waldes, dass mir am laufenden Band der Vogel gezeigt und Lichthupenkonzerte geboten wurden, schnurz, was schert mich Volvo, was schert mich Nash, draufbleiben auf dem Knebel, es gab damals noch keine Innerortsbeschränkung, wie die Hühner stob das Volk auseinander, und am Mutschellen legte ich ein Bergrennen hin, an dem der Stumpen-Herbie, der vernickelte Müller, seine Freude gehabt hätte, alle Kurven geschnitten, powerslide, eine Buickschnauze stellte sich mir frontal in den Weg, also nahm ich die Abkürzung über die Wiese, und als ich den Alfa vor der Poliklinik parkierte, absolutes Halteverbot, qualmte er aus dem Kühlergrill und den Ritzen der Motorhaube, quantité négligeable, piepe, ich fragte am Informationsschalter nach der Notfallpatientin Soguel, wer sind Sie, Sie können jetzt nicht zu ihr, nur die engsten Angehörigen; genau das bin ich, Schwester, der engste Angehörige, wir sind verlobt, halt, Sie, wo rennen Sie hin, den Schildern nach, natürlich, Operationssäle, Souterrain, Carceri, Labyrinth, ich muss zu meiner Frau, mein Jawort soll sie haben, sofort, einen Pfleger mit Schiebebett hätte ich beinahe überrannt, hier wird en masse operiert, aber nur ein Schragen, auf dem meine Flavia liegt, wo, dove, warum hast du keinen Ariadnefaden abgespult, Blutstropfen auf dem korkbraunen Linoleum, Gespenster mit grünen Gesichtsmasken, Ätherschwaden, heilandsack, so helft mir doch weiter, es darf nicht zu spät sein, um alles in der Welt nicht, gebt mir eine Chance, eine Gnadenfrist, zum zweiten Mal verscherze ich sie nicht, meine Frau, Trauung in der Intensivstation, ohne Bibel und Pfarrer … und ich schaffte es in blinder Wut, ich drang durch bis in den Notfalloperationssaal, gegen den Widerstand der aseptischen Masken-Erinnyen, den assistierenden Chor steriler Klageweiber, ich sah den Ring, der den Tisch hermetisch umschloss, und war gewillt, auch ihn zu sprengen, doch in diesem Augenblick ging das stakkatoartige Pip-pip-pip in das fiepende Ostinato über, jenem Fernsehton vergleichbar, der mit dem Signet ausgestrahlt wird, wenn kein Programm läuft, sah ich auf dem Monitor des Oszillographen die Zickzackausschläge des Herzens zur unendlichen Geraden des Todes verflachen, und ich schrie: Nein, nein, nein; und der Chirurg, der die Instrumente niedergelegt hatte, die Handschuhe abstreifte, begegnete mir mit einem Blick, der alles sagte und mich mitten entzweiriss: Ex!

This was the balcony of Romeo und Juliet, du unwahrscheinlicher Trottel von einem Privatpatienten und Lehrberechtigten für deutsche Literatur und Glaziologie im Nebenfach: Wolfram Schöllkopf, der Stenocardist und von der Unterleibsmigräne Gefolterte erlebte noch einmal alles haarklein wie vor fünfzehn Jahren; als ob es sich um eine verlorene Schachpartie handle, bei der die Königin, nicht der König draufgegangen war, rekonstruierte er Zug um Zug, und es kam ihm das blöde Kommaregelexempel in den Sinn: Ein einziger falscher Ton verdirbt die Melodie; er aber hatte einen einzigen falschen Schritt getan, zurückgekrebst war er in die elterliche Villa am Schlossberg, statt Flavia Soguel an jenem Ersten August keine Sekunde mehr aus den Augen und aus den Armen zu lassen, er hatte nicht gemerkt, dass sie, gerade weil sie keinen Menschen, kein Tier, keine Blume, keine Kreatur leiden sehen konnte, in ein schreckliches Dilemma geraten war, auch sie entzweigerissen in die Liebe zu Schöllkopf und in das Mitleid mit ihrem Verlobten, der Sympathikus war getroffen, und ich konnte ihren Sprung vom Balkon nur so deuten, dass sie in diesem Zweikampf auf Tod und Leben nicht abseits stehen, sondern, als Juristin par cœur, mit einer salomonischen Tat vorausgehen wollte. Den einen Mann zur Nichtigkeit verurteilt, den andern – auf Kosten des Negierten – lebenslänglich freisprechen durch die Wahl, die ihr Herz getroffen hatte, das wollte sie nicht, dagegen rebellierte gewissermaßen ihr humanjuristisches Mitgefühl, ihr Gerechtigkeitssinn, ihre unteilbare Wärme, ihr Mut, für beide Parteien durchs Feuer zu gehen, de jure und de facto; diese so kluge Frau tat etwas völlig Irrationales: ich springe zuerst, dann habe ich mein Teil geleistet, auf Leben und Tod. Bleibt mir das eine, ist der Fall klar, tritt das andere ein, hat eine höhere Instanz entschieden. Wie viel größer, stärker, tiefer, echter war dieses Sonnengold als die verlogene christliche Nächstenliebe, welche demütig dienend über Leichen geht, wenn es gilt, den Gottesegoismus gegen die elementaren Bedürfnisse von Leib und Seele durchzusetzen. Natürlich, wie konnte es denn anders sein, legten sich die in ihrem Masochrismus Hinterbliebenen die klassische Dreiecksgeschichte zurecht: das kommt davon. Ich aber sage euch: in drei Teufels Namen nein, ein Skandal, wenn schon, ist eure Dreiecksgeschichte mit Jesus, dass ihr nur miteinander umgehen könnt, wenn ständig ein Dritter dazwischenfunkt, dass ihr euren Nächsten nicht lieben könnt wie euch selbst, sondern wie es Gott befohlen, und eure humane Energie an ein Phantom eurer Lebensuntauglichkeit verschwendet, ja, den Himmel heizt, der es am allerwenigsten nötig hat.

Die Mutter, sie war nicht schuld an der Tragödie. Aber sie hatte insofern triumphiert, als ihr keine Flavia Soguel ihren Stiefsohn geraubt hatte. Der Eid war gebrochen, das schon, doch was es gekostet hatte, stand als Denkmal auf dem Friedhof, stand in der Zeitung als schwarzer Kasten. Der Preis ließ sich öffentlich vorzeigen, der Beweis im Bestattungsritual erbringen und mit gerömerten Kränzen garnieren, dass man nicht ungestraft den Versuch wagt, ein Mensch zu werden, der körperliche Liebe braucht wie die tägliche Nahrung, wie Brot und Wein. Dies, verehrter Herr Doktor Steinbrück, ist Schöllkopfs Kardiogramm. Ich konnte nach drei Wochen in das Rehabilitationszentrum Mammern am Bodensee entlassen werden, um mich dort – wer soll das bezahlen? – vom sekundären Siechtum zu erholen und Kräfte zu sammeln für das primäre: die Kur in Göschenen, die Stollentherapie der Künstlichen Mutter.

II  KURGAST IN GÖSCHENEN

1

Es war Spätherbst geworden, als Privatdozent und Omnipatient Wolfram Schöllkopf aus der cardialen Beobachtungsstation Mammern am Bodensee entlassen wurde und um zweiundzwanzig Uhr siebenundvierzig im Hauptbahnhof Zürich eintraf, so weit rehabilitiert, dass er aus dem Waggon stürzen, auf Perron zwei hinüberhasten und gerade noch den bereits abgefertigten Amsterdam–Rom-Express erreichen konnte, eine dieser stahlvioletten Carrozzen der Ferrovie dello Stato, die man in einer Geländerstangen-Kletterpartie knacken musste. Das Wintersemester an der Eidgenössischen Technischen Universität auf dem Schanzenberg hatte längst begonnen, in der Gullschen Halle, in der Anschlagsvitrine der Abteilung XIII versprach ein A5-Blättchen mit den Fakultätsinsignien neben dem senkrecht schraffierten Schweizerwappen, diesem heraldischen Zeichen für ein Lehrklima des Dauerregens, eine Schöllkopfsche Einführung in die moderne Gebirgs-Dramatik mit besonderer Berücksichtigung der panalpinen Solidarität Österreichs und der Eidgenossenschaft, von Friedrich Dürrenmatts Komödie «Der Alpenkönig», die in einem eisblumenverzierten Bernina-Hospiz angesiedelt war, bis zum epochalen Einakter «Die Bergsteiger» von Eduard Maria Steiner, worin sich drei Gipfelstürmer auf der nadelspitzen Fiamma der Cima di Castello begegnen und über das Phänomen unterhalten, dass der eine rote, der zweite blaue und der dritte gelbe Socken trägt, hingegen alle haargenau dasselbe Zopfmuster aufweisen.