Schilten - Hermann Burger - E-Book

Schilten E-Book

Hermann Burger

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Beschreibung

Unter dem pädagogischen Künstlernamen Armin Schildknecht arbeitet der dreißigjährige Peter Stirner im abgelegenen Dorf Schilten im Kanton Aargau als Lehrer. Allerdings unterrichtet er längst nicht mehr das, was der Lehrplan vorsieht. In der Schule neben dem Friedhof sinniert er in dem Bericht an seinen Vorgesetzten über Pädagogik, Tod, Erziehung und die Lebensphilosophie des Totengräbers. In seinem Debütroman von 1976, einem der wichtigsten Romane der Schweiz der Nachkriegszeit, zeichnet Hermann Burger minutiös eine Obsession und dabei so aberwitzig wie gnadenlos die Absurdität eines maroden Bildungssystems.

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Seitenzahl: 504

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Nagel & Kimche E-Book

Hermann Burger

WERKE IN ACHT BÄNDEN

Herausgegeben von

Simon Zumsteg

Vierter Band

Romane I

Hermann Burger

SCHILTEN

Schulbericht zuhanden der

Inspektorenkonferenz

Roman

Mit einem Nachwort von

Remo H. Largo

Nagel & Kimche

Die Werkausgabe wurde ermöglicht dank der großzügigen Unterstützung durch

den Kanton Aargau

sowie der Unterstützung durch

die UBS Kulturstiftung

die STEO-Stiftung Zürich

die Stadt Zürich Kultur

den Verein zur Förderung des Schweizerischen Literaturarchivs

© 2014 Nagel & Kimche

im Carl Hanser Verlag München

Umschlag: Stefanie Schelleis, München

Porträtfoto Hermann Burger: 1976, © Werner Erne

Herstellung: Andrea Mogwitz und Rainald Schwarz

Satz: Satz für Satz. Barbara Reischmann

ISBN Band 4: 978-3-312-00615-1

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und viele andere Informationen finden Sie unter:

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Datenkonvertierung E-Book:

Kreutzfeldt digital, Hamburg

INHALTSVERZEICHNIS

SCHILTEN

Schulbericht zuhanden der Inspektorenkonferenz

Erstes QuartheftZweites Quartheft

Drittes QuartheftViertes Quartheft

Fünftes QuartheftSechstes Quartheft

Siebtes QuartheftAchtes Quartheft

Neuntes QuartheftZehntes Quartheft

Elftes QuartheftZwölftes Quartheft

Dreizehntes QuartheftVierzehntes Quartheft

Fünfzehntes QuartheftSechzehntes Quartheft

Siebzehntes QuartheftAchtzehntes Quartheft

Neunzehntes QuartheftZwanzigstes Quartheft

Nachwort des Inspektors

PARERGON

Strategien der Verweigerung in Schilten

ANHANG

Editorische Notizen

Nachwort von Remo H. Largo

SCHILTEN

Schulbericht zuhanden der

Inspektorenkonferenz

Roman

Du bist die Aufgabe. Kein Schüler weit und breit.

Franz Kafka

ERSTES QUARTHEFT

Die Schwierigkeit einer exakten Schilderung der Schiltener Lehr- und Lernverhältnisse hängt damit zusammen, dass die Beschreibung des Schulhauses, in dessen Dachstock meine Wohnung eingebaut ist, nahtlos in die Darstellung meines Unterrichts übergehen sollte, Herr Inspektor. So wie ich hier hause, doziere ich auch. Die klare Trennung von Schulsphäre und Privatsphäre existiert nur in den dumpfen Köpfen der Eltern meiner Schüler. Ich will und kann nicht zwei Leben nebeneinander leben. Absonderlichkeiten des Schulhauses sind Absonderlichkeiten des Unterrichts. Der Schulmeister von Schilten ist ein Scholarch.

Ich bedaure, dass Sie meiner wiederholten Einladung, unsere hinterstichige Landturnhalle zu inspizieren – und zwar im Morgengrauen oder an einem trüben Sonntagnachmittag, wie ich ausdrücklich verlangte –, nie Folge geleistet haben, Herr Inspektor. Ansonsten hätten wir nun wenigstens eine gemeinsame Turnhallenbasis. Überhaupt sind Ihre überfallartigen Blitzbesuche, Ihre Unterrichts-Stichproben in den letzten Jahren gänzlich ausgeblieben. Dies war ja Ihr berüchtigtes Vorgehen: an einem x-beliebigen Vormittag des Jahres in einem x-beliebigen Schulhaus Ihrer fetten Inspektions-Pfarre unangemeldet in eine x-beliebige Lektion zu platzen und einen Unterrichts-Pfropfen auszustechen. Gott weiß, womit ich Ihre Vernachlässigung – oder aber Ihr grenzenloses Vertrauen – verdient habe! Item, Sie haben Schilten ausgeklammert, links liegengelassen, und so bin ich auf den schriftlichen Dialog mit Ihnen angewiesen. Die zunehmende Verschriftlichung meiner Existenz ist, so paradox dies klingen mag, durch Ihr Inspektionsvakuum ausgelöst worden. So kommt es, dass Armin Schildknecht, vormaleinst Ihr Schützling in der äußersten pädagogischen Provinz dieses Kantons, jenen Schulbericht, der eigentlich von Ihnen erwartet würde, selber in Angriff nehmen muss, sozusagen als Explorand der hohen Inspektorenkonferenz, und dies umso dringlicher, als ja ein seit Jahren kunstvoll in der Schwebe gehaltenes Disziplinarverfahren gegen mich hängig ist.

Es wäre mir bei der vorgeschlagenen Besichtigung nicht um eine Kritik an den Geräten gegangen, welche diese Bezeichnung freilich kaum mehr verdienen, sondern um einen Stimmungsaugenschein, um eine kurze Stegreifbeurteilung des Geisteszustandes unserer Kleinturnhalle, die, ins Schulhaus eingebaut, immerhin das Gesicht der Nordfassade prägt, weshalb Sie, wenn Sie den steilen Schulstalden von Außerschilten nach Aberschilten hinauffahren, auf den ersten Blick nicht sagen können, ob Sie einen Profan- oder einen Sakralbau vor sich haben. Die fünf gleich großen, dreigeteilten Rundbogenfenster im Erdgeschoss scheinen eher zu einer Kapelle oder zu einem Missionshaus zu gehören als zu einer Lehranstalt. Das Glockentürmchen, das von der Mitte des Dachfirstes leicht gegen den Friedhof vorgerutscht ist, verstärkt diesen Eindruck, und die dunkle Palisadenwand des Schiltwaldes, der das sichelförmige Schilttal gegen Süden abriegelt, trägt das Ihrige zur Verschleierung der Turnhallenfassade bei. Eine Sektenkapelle mit halbamtlichem Einschlag, würde jeder Unvoreingenommene vermuten, ein Klausnerschlösschen. Die Nordseite ist die zwitterhafteste von allen vier Ansichten. Den Rundbogen widersprechen im Obergeschoss fünf hochrechteckige, für ein Unterrichtsgebäude etwas zu aristokratisch geratene Herrenfenster. Erst wenn man näher kommt, verraten die vergraste Weitsprung-Anlage und das durchgerostete Reckgerüst auf der kleinen, von einer zwerghaften Buchsbaumhecke eingefriedeten Turnwiese den wahren Charakter des Raumes, der sich hinter der Kapellenfront verbirgt. Man könnte allerdings von diesem Schindanger früherer, leichtathletischer Aktivitäten mit den beiden gelochten Marterstangen ebenso gut auf eine Leichenhalle schließen. Nicht weit gefehlt, Herr Inspektor, nicht weit gefehlt!

Wenn Sie durch das Hauptportal in den stichtonnengewölbten Schulhauskorridor treten, diesen Angsttunnel von unzähligen Schüler-Generationen, in dem es steinsüßlich und urinsäuerlich riecht, finden Sie linker Hand die Tür zum Unterstufenzimmer, rechts auf gleicher Höhe eine genau gleich große, gleich gestrichene und gleich beschriftete Tür, die einen gleich großen Unterrichtsraum vortäuscht. Öffnen Sie diese Tür unvorbereitet, als Schulhaus-Neuling, in Erwartung von Bankreihen und einer Wandtafel, tappen Sie in die gähnend leere Falle des Schiltener Gymnastiksaals. Sie befinden sich auf einer mit einer Holzbrüstung verschalten, knarrenden Galerie, von der fünf nicht minder knarrende Stufen in den Turnraum hinunterführen, und dieses Knarren ist bereits ein Symptom seiner Gemütskrankheit. Sie müssen sich vorstellen, wie das früher getönt hat, wenn eine Horde losgelassener Schüler diese Treppe hinunterstürmte. Der Blick fällt auf die spärlichen abgewetzten Geräte, welche durch die großen Rundbogenfenster, von denen vier gegen Norden, zwei gegen Osten gehen, viel zu viel Licht bekommen: ein Reckgerüst, vier Kletterstangen, zwei Barren, ein Schwebebalken, eine einteilige Sprossenwand, ein Klettertau, ein Lederpferd, ein wackliger Korbballständer. Das zweite Netz ist an der Galerieverkleidung festgeschraubt. Die drei vergitterten Lampen gemahnen an Arrestanten-Verhöre. Ein dick bandagiertes Rohr zieht sich der Decke entlang und stößt stumpf in die Mauer, hinter der die sogenannte Mörtelkammer liegt, zugänglich durch eine Tür neben der Treppe. Bis auf Fensterhöhe sind die Wände schabzigergrün gestrichen, in der Oberzone ist der ehemals weiße Verputz rauchig eingedunkelt. Der Geruch entspricht nicht etwa dem üblichen Turnhallengeruch, einer Mischung aus vergammeltem Leder, Bodenwichse und Magnesium, es riecht – weshalb, habe ich nie herausgefunden – nach Graphit, nach Abfällen, wie sie beim Bleistiftspitzen entstehen. Schülerspitzen, Bleistiftspitzen. Wer mit einer solchen, in den Proportionen total verrutschten Turnhalle unter einem Dach zusammenlebt, wird mit der Zeit rheumaempfindlich in Bezug auf das Schicksal schizophrener Räume. Der Eindruck von der Galerie aus täuscht. Ein heiteres Landschaftszimmer für Leibesübungen, denkt man, die Aussicht auf den Eisbaumgarten mit einbeziehend. Sobald man aber unten steht, barfuß auf dem grobspleißigen Riemenboden, wenn möglich im Morgengrauen oder an einem tristen Sonntagnachmittag, spürt man die kerkerhafte Enge, ahnt man den verderblichen Einfluss des benachbarten Friedhofs. Und die Schüler, Sie müssen sich in die Schüler hineinversetzen, Herr Inspektor, befinden sich immer unten. Hätten Sie meinem Aufgebot zu einem Stimmungs-Augenschein Folge geleistet, hätte ich Sie mit dem Tamburin in der Hand in die Schülerperspektive hinunterkommandiert, in eine dem Turnungemach angepasste Kauerstellung, und hätte Ihnen dann befohlen, sich an der äußersten der vier Kletterstangen hochzuziehen. Nicht wettkampfmäßig, versteht sich, ganz langsam, so schnell als es Ihr Kletterverschluss noch zugelassen hätte. Alte Turnlehrerweisheit: Mit einem guten Kletterverschluss kommt man durchs Leben! Nachdem Sie, falls überhaupt, oben angelangt wären, nach schülerhafter Klettermanier mit der freien Hand nach der weißen Marke tastend, hätte ich Ihnen vorgeschlagen, einen Blick aus dem Ostfenster zu werfen, um Sie fragen zu können: Was, Herr Inspektor, sehen Sie? Sie, Herr Inspektor, hätten mir zweifellos geantwortet: Den Friedhof. Vielleicht auch ausführlicher, je nach Kondition: Den Pausenplatz, die Güterwaage, die Straße, vier Scheinzypressen, dahinter den Friedhof. Das genügt, hätte ich gesagt und Ihnen erlaubt, wieder hinunterzugleiten, nicht wettkampfmäßig, auch nicht kopfüber, so sachte wie möglich, damit jegliche Blasenbildung an Ihren zarten Inspektorenhänden vermieden worden wäre. In einer von lockeren Freiübungen durchsetzten Turnhallen-Unterredung, Hüpfen, Grätschen, Liegestützen, Rumpfbeuge vorwärts und rückwärts, hätte ich Ihnen, vom Tamburinklopfen rhythmisch unterstützt, erklärt, gezeigt, bewiesen, dass seit Generationen jeder Schüler von Schilten – linkszwei, linkszwei, rechtszwei, rechtszwei, Herr Inspektor, Knie durchstrecken, mit den Fingerspitzen die Zehenspitzen berühren –, jeder Schüler von Schilten, der in den vorgeschriebenen 5,2 Sekunden das obere Ende einer Kletterstange erreicht, der aus der dumpfen grünen Saaldämmerung in die lichte Oberzone hochschnellt, womit belohnt wird? Mit der Aussicht auf den Schiltener Friedhof, den sogenannten Engelhof! Im leichten Laufschritt den abgenützten schäbigen Wänden und verbrauchten Geräten entlang wäre Ihnen sofort, schlagartig klargeworden, was ich meine: dass Turnen in Schilten, gleichviel ob es sich um körperliche oder geistige Ertüchtigung handle, nur ein mühsames Erklettern der Gräberperspektive sein kann. Mehr zu sagen wäre überflüssig gewesen, die landschaftliche und innenräumliche Antithese Friedhof –Turnhalle hätte für sich gesprochen. Es gibt Einsichten, die uns an Ort und Stelle treffen wie ein Blitz, während sie uns von ferne kaum als Wetterleuchten beunruhigen. Und ich hätte Sie so lange an Ort hüpfen lassen, bis Sie gesagt hätten: Sie haben recht, Schildknecht, entweder das Schulhaus oder der Friedhof, beides zusammen, beides nebeneinander geht nicht! Sie haben dermaßen profund recht, dass die Inspektorenkonferenz nicht aufhören wird zu tagen und über dem Traktandum Ihrer Person zu brüten, bis Sie in der Schul- und Gemeinde-Öffentlichkeit vollständig rehabilitiert sind, mehr noch: bis sich aus Ihrer Rehabilitation der süße Zuckerstock eines legendenhaften Nachruhms zu Lebzeiten formt. Da dem nicht so ist, da es mir trotz unzähliger Bitt-, Droh- und Mahn-Briefe nie gelang, Sie in diese Turnhalle zu locken, muss ich nun umgekehrt die Turnhalle samt dem dazugehörigen Schulhaus, muss ich die komplizierte Verfilzung von Friedhof- und Schul-Betrieb in Form eines Rechenschaftsgesuchs in die Inspektorenkonferenz hineintragen, wobei ich weiß, dass alles, was ich vorbringe, jederzeit gegen mich verwendet werden kann. In nervenaufreibender Rechthaberei und Kleinarbeit muss ich Ihnen schwarz auf weiß ausdeutschen, was mit einer kurzen Inaugenscheinnahme festzustellen gewesen wäre. Es ist zum großen Teil Ihre Schuld, wenn ich nun die Konferenz mit diesem Kram belästige, und da ich sie schon einmal belästigen muss, gestatte ich mir, sehr weit auszuholen und mit der Darstellung der hiesigen Abdankungs-Gepflogenheiten zu beginnen. Ich habe für diese Studie, von der für mich Sein oder Nicht-Sein als Schulmeister von Schilten abhängt, das Verfahren gewählt, dass ich zunächst ganz engmaschig berichte, so konkret wie möglich – ein Berufsschreiber würde vermutlich sagen: so, als gäbe es diesen Ort wirklich –, um Sie dann, wenn Sie einmal Boden unter den Füßen haben – freilich nur Friedhofboden –, immer tiefer in schilteske Verhältnisse hineinzulocken. Ich ahne zu Beginn noch ungefähr, wohin mich dieser Schulbericht führen könnte, werde wohl aber im Verlauf der Niederschrift die Übersicht mehr und mehr verlieren. Sie dürfen sich also nicht oberlehrerhaft über kleine Widersprüche aufhalten, sondern müssen jedes Heft so lesen, als sei darin mein Schiltener Aberwissen auf den letzten Stand gebracht. Nichts unfruchtbarer für Sie, als wenn Sie jetzt schon an einzelnen Ausdrücken herumnörgeln und ein Gezeter loslassen, wenn mir im Wettlauf mit der Zeit und dem hängigen Disziplinarverfahren ab und zu ein Satz missrät. Ich brauche die Sprache ja nicht, um mich der Inspektorenkonferenz für höhere narrative Aufgaben zu empfehlen, ich brauche sie aus Notwehr.

In Friedhofkategorien gedacht – und wer in Schilten denkt nicht in Friedhofkategorien! –, ist die schabzigergrüne Turnhalle in erster Linie ein öffentlicher Saal, der sich für Abdankungen eignet. Zwar sind die Schulpflegen laut Schulgesetz verpflichtet, darauf zu achten, dass die Turnhallen so wenig wie möglich für artfremde Zwecke benützt werden. Doch kann man sich hier oben am Ende des Schilttals – der frühere Weiler rund um das Schulhaus und den Gottesacker wird auch Aberschilten genannt – angesichts der friedhöflichen Omnipräsenz darüber streiten, ob die Verwendung bei Trauergottesdiensten artfremd sei. Bruder Stäbli, der Prediger der Erz-Jesu-Gemeinde, der übergangsweise die Amtsgeschäfte eines evangelischen Seelsorgers führt, weil es seit Jahren nicht mehr gelungen ist, einen Pfarrer für dieses gottverlassene, aber sektenreiche Tal zu finden, mein Kollege aus Mooskirch, bekannt für seine knäckebrotspröden Leichenreden, sagt: Die Gemeinde braucht dringend einen Raum in Friedhofnähe, wo die Trauerversammlung im Schmerz über sich hinauswachsen kann. Und welches Lokal käme der routinierten Inbrunst, mit welcher der Betbruder von Mooskirch dem Tod den Stachel nimmt, mehr entgegen als die depressive Zwitterhalle mit den zerbrochenen Fensterscheiben! Sie riecht geradezu nach sektiererischer Hoch-Demut, sie ist, wenn nicht das irdische Jammertal schlechthin, so doch ein wahrer Jammersaal. Wir haben jährlich im Schnitt, sagt Wiederkehr, der Schulhausabwart und Totengräber, zehn bis zwölf Erdbestattungen. Natürlich gibt es magere Jahre mit nur fünf bis sechs, aber auch fette Jahre mit gegen zwei Dutzend Begräbnissen, je nachdem ob der Winter kurz oder lang, hart oder milde ist. Das heißt, dass der Turnsaal ungefähr jeden Monat einmal in eine Abdankungshalle umfunktioniert oder, wenn Sie lieber wollen, die Abdankungskapelle in eine Turnhalle zurückverwandelt werden muss. Diesem Ereignis hat sich, nebenbei gesagt, der ganze Schulbetrieb unterzuordnen. Wenn ich mich auf meinen diagnostischen Turnhallen-Instinkt verlassen darf, würde ich behaupten, dass es das ständige Hin und Her sei, Turnmiene, Trauermiene, Turnmiene, Trauermiene, das diesem überdimensionierten, knarrenden Ungemach das Gemüt geknickt habe.

Die Hinterbliebenen sitzen auf den zypressengrün lackierten Gartenstühlen, die der Abwart mit Hilfe einer hochspezialisierten Bestuhlungsequipe aus meiner Einheitsförderklasse in zwei Blöcken aufstellt: Block A, Block B. Die betreffenden Schüler nennen sich Abdankungs-Stoßtrupp. Ich, Herr Inspektor, der ich den pädagogischen Künstlernamen Armin Schildknecht gewählt habe, spreche von einer Einheitsförderklasse, weil ich die sogenannten Förderklässler, die Hilfsschüler, und die Oberschüler zusammennehmen musste. Die Sitzengebliebenen und ewig Unverbesserlichen im ehemaligen Unterstufenzimmer zu traktieren und, kaum hat man ihnen einen Satz diktiert, zwei Treppen hoch ins ehemalige Oberstufenzimmer zu rennen, um dort die Verheerung einzudämmen, welche die Oberschüler inzwischen angerichtet haben, wissend, dass nun unten der Teufel los sein würde, das ging einfach nicht mehr. Hinauf, hinunter, hinauf, hinunter, da hetzt man sich ja zu Tode. Warum die Förderklässler abspalten, alle Schüler sind förderungs- und hilfsbedürftig. Wir haben eine Einheitsförderklasse gebildet, die Schüler sind ohne Rang- und Klassenunterschiede Unterrichtnehmer, und damit basta! Bevor aber der Abdankungs-Stoßtrupp mit dem bei der Stuhlerei immer schlechtgelaunten Abwart an der Spitze in Funktion tritt, bohnert die Abwartin, die Schüpfer Elvyra – eine Halbschwester Wiederkehrs –, den Turnhallenboden. Mit Stahlspänen geht sie nur dahinter, wenn der Heimgegangene eine Dorfpersönlichkeit gewesen ist und demzufolge mehr als fünfzig Trauergäste zu erwarten sind. Vier Arbeitsgänge, Aufwaschen, Spänen, Wichsen, Bohnern, für Verstorbene, die es zu etwas gebracht haben, wie man hier sagt, die etwas darstellten; zwei Arbeitsgänge nur, Wichsen und Glänzen, für Gewöhnlichsterbliche. Systematisch beginnt die Schüpferin in der tauben Kletterstangenecke, von wo sie, mit dem prallen Hintern die Friedhofschwermut abwehrend, diagonal bis zur Mörtelkammerecke vorrutscht. Dies, während der Abwart, der an Abdankungstagen so tut, als gehe ihn die Schule überhaupt nichts an, geschäftig zwischen Werkstatt, Friedhof und Turnhalle hin und her schlarpt, die Kränze in Empfang nimmt, die von der Gärtnerei in Schlossheim nach Aberschilten hinauftransportiert werden, das Grab schmückt und die Grube mit den grasgrünen Plachen auskleidet, damit die Trauergemeinde vom Anblick des offenen Lehmschachts verschont bleibe. Plachen in Schilten, Herr Inspektor, sehr rationell, es gibt Gemeinden, wo diese Abdeckungskultur noch in den Kinderschuhen steckt, wo man sich in rührender Einfalt mit Tannenzweigen abmüht. Die Konferenz wird dieses Detail ausnahmsweise zugunsten des Friedhofs zu verbuchen wissen. Nachdem die Schüpfer Elvyra, deren Name ja alles sagt, den Riemenboden auf Hochglanz poliert hat, so dass meine Schüler noch tagelang wie auf einer Schleife an die Geräte heranrudern müssten, wenn das Hallenturnen bei uns nicht längst abgeschafft und durch die Behandlung der Turnhalle ersetzt worden wäre, beginnt die Stuhlschlacht. Unter Paul Haberstich, meinem Vorgänger, war es so, dass die Stühle jedes Mal aus der Versenkung heraufgeholt werden mussten. Der Schiltener Abdankungssaal besitzt eine einmalige Vorrichtung. Auf der Höhe der Sprossenwand befindet sich eine rechteckige, etwa anderthalb Meter tiefe Grube, die man durch das Abheben der losen Bodenbretter öffnen kann. Darin haben sämtliche Klappstühle Platz, wenn man sie kunstgerecht ineinander verzahnt. Paul Haberstich, der die Halle in ihrer ganzen Länge und Breite beturnen wollte, bestand darauf, dass die Stühle nach jeder Abdankung, Zensurfeier und Concordia-Probe in diesem Massengrab versenkt wurden, was den Nachteil hatte, dass die Ritzen durch das häufige Abheben und Zusammenfügen der Bretter für die barfuß antretenden Schüler – wer konnte sich anno dazumal Turnschuhe leisten! – immer heimtückischer wurden. Ich habe dem Abwart gleich nach meinem Amtsantritt erklärt: Schluss mit dieser idiotischen Stuhlbeerdigung! Draußen vor unsern Fenstern werden Leichen verscharrt, meinetwegen, drinnen wollen wir nicht auch noch Mobiliar verscharren. Wie Sie sehen, Herr Inspektor, glaubte ich in meiner anfänglichen Naivität, die Schule sei stark genug, sich der friedhöflichen Infiltration zu entziehen. Heute sage ich: Was ist diese Senkgrube anderes als eine Spionageeinrichtung des Engelhofs, als eine geschickt gestellte Falle, dort wo das Schulhaus am friedhofanfälligsten ist. Item, ich setzte gegen die Starrköpfigkeit Wiederkehrs durch, dass die gebrettelten Gartenstühle nach Gebrauch in einer Ziehharmonikaformation am Fußende der Abdankungshalle ineinandergestellt werden, was, wie sich sehr bald in der Bestuhlungspraxis zeigte, keinen Vorteil bringt gegenüber der schichtweisen Verstauung in der Grube. Das Gezeter und Gezwänge, bis die widerspenstigen Dinger aus ihrer Verkeilung entrenkt sind, ist kaum geringer, und pubertätsgemäß stellen sich die Burschen des Abdankungs-Stoßtrupps absichtlich ungeschickt an. Statt vorsichtig an die verklemmten Klappwracks heranzugehen und sie behutsam aus der Verschränkung zu heben, reißen sie gleich zu Beginn die ganze Reihe um, und der Abwart verwirft fluchend die Hände. Ein Geschrei und Gejohle geht los, als ob eine Festhütte aufgestellt würde. Und wenn man genau hinsieht, ist es just Wiederkehr – das Kind im Manne, sagt die Abwartin –, der sich am unflätigsten gebärdet, der zum Beispiel einen Stuhl, wiewohl er längst befreit ist, über dem Kopf schwingt und schnaubend zu Boden schmettert, als könnte er sich an einem Exemplar ein für alle Mal an der veralteten Konstruktion dieses Modells rächen.

Auch ich, Herr Inspektor, muss meine Vorbereitungen treffen. Mit Hilfe von zwei starken Bengeln schiebe ich das Harmonium aus der Mörtelkammer in die Turnhalle, wo es leicht abgeschrägt in der zugigen Nordwestecke aufgestellt wird, so dass ich sowohl Sichtverbindung mit Bruder Stäbli habe, der von der Galerie aus salbadert, als auch die Trauergemeinde überblicken kann. Da ich weitaus der begabteste Harmoniumspieler in Hinter-, Vorder-, Inner-, Außer- und Aberschilten, wenn nicht im ganzen oberen Schilttal bin – was etwas heißen will, wenn man bedenkt, dass es hier gegen ein Dutzend harmoniumselige Sekten gibt –, und sintemal ich in meiner sogenannten Freizeit ohnehin ständig an der Wimmerkiste sitze, um meine Lektionsvorbereitungen in einer Art von Sprechgesängen oder Präparationselegien in den Mörtelkammerschacht hinauf- und in die Turnsaaldämmerung hinauszudeklamieren, habe ich mich spontan für den musikalischen Untermalungsdienst zur Verfügung gestellt, honorarlos, unter der einen Bedingung, dass ich mich nicht an das Zährenrepertoire der Abdankungsorganisten halten muss, sondern Vorspiel, Zwischenspiele und Ausgangsspiel in freier Improvisation gestalten darf. Bruder Stäbli, unmusikalisch bis ins Steißbein, war grundsätzlich mit dieser Narrenfreiheit einverstanden, brachte lediglich den Wunsch an, dass ich ab und zu ein melodisches Zitat aus einem der Paradestücke «Komm süßer Tod», «So nimm denn meine Hände», «Näher mein Gott zu dir» und «Harre meine Seele» einbauen möge. Allein der Sichtverbindung mit dem Stündeler-Oberhaupt wegen wäre es nicht nötig, das Harmonium in die Turnhalle zu schieben, wo es, auch wenn die stoffbespannte Rückseite des missionsbraunen Kastens mit Trauerkränzen verdeckt wird, nur störend wirken kann. Aber in ländlichen Gegenden, zumal in Stumpen- und Sacktälern, ist es Brauch, dass der Sarg während der Abdankungspredigt in einem Nebenraum der Kapelle aufgebockt wird, aus dem uralten Aberglauben, dass die Lebensgeister des Verstorbenen bei der Nennung seines Namens oder spätestens beim Verlesen seiner Biographie zurückkehren würden, im Fall, dass er nur scheintot gewesen wäre. Nicht alle Trauerfamilien halten sich an diese Vorsichtsmaßnahme, aber die Stockschiltener, die ehemaligen Steckhöfler und Insassen der auf den Höhenzügen verstreuten Hofsiedlungen, beharren darauf, und da die Turnhalle keinen andern Nebenraum hat als die Mörtelkammer, muss das Harmonium weichen. Armin Schildknecht persönlich, der sich im Lauf der Jahre gründlich in die Materie des Scheintodes eingearbeitet hat, hätte es weiter nichts ausgemacht, mit dem Rücken an den Sarg lehnend in der Mörtelkammer zu interludieren, auch wenn einmal der Deckel plötzlich aufgesprungen wäre und ihn eine weiße Hand am Kragen gepackt hätte. Dieses Horror-Risiko muss man in einem Raum wie der Mörtelkammer schon auf sich nehmen. Doch die Gemeinde war dagegen. Man will die trostspendende Kommode und ihren Balgtreter sehen.

Ein weiteres Problem musste gelöst werden: Wo bereitet sich Bruder Stäbli auf seinen Auftritt vor? Die alte Landpfarrerregel adaptierend, wonach der Geistliche nie denselben Ein- und Ausgang benützen soll wie die Gemeinde, lehnte es der Zeremonienmeister des Erz-Jesu-Vereins ab, die Turnhalle von der Turnwiese her, durch die zweiflüglige Tür mit den rubinroten und eukalyptusgrünen Trübglasscheibchen zu betreten. Diese zwei Farbakzente sind übrigens ein dürftiger Ersatz für die fehlenden, inbrunstfördernden Grisaillen und Glasmalereien. Blieben also nur noch die Zugänge vom Korridor und von der Mörtelkammer. Wie aber schmuggelt man einen Schismatiker in einen gefangenen Abstellraum? Noch so gern hätte Bruder Stäbli die Fensterkletterei, ja sogar den obszönen Ruf der Mörtelkammer in Kauf genommen für diesen Überraschungseffekt. Er hätte demütig, mit seitwärts geneigtem Haupt die fünf unter seinen leichten Schritten kaum knarrenden Stufen zur Galerie hinaufsteigen können, von Stufe zu Stufe an Unantastbarkeit gewinnend. Doch haben Wiederkehr und ich, für einmal am selben Strick ziehend, dem wächsernen Oranten, der ja im Schulhaus nur zu Gast ist, diesen Erscheinungsmodus ausgeredet. Einerseits ist die Mörtelkammer an Abdankungstagen so etwas wie eine provisorische Schauzelle, eine bauliche Vorstufe der längst dringend benötigten Leichenhalle, gehört also zum Verantwortungsbereich Wiederkehrs, und schließlich ist es schon vorgekommen, dass Sektenprediger, denen man nie ganz über den Weg trauen darf, Leichenfledderei betrieben, und jedermann muss zugeben, dass die Gelegenheit für Taschen-Leichenfledderer in der Mörtelkammer die allergünstigste wäre; anderseits spricht die Schleimsuppenblässe von Bruder Stäblis Haut, seine geradezu oblatenhafte Transparenz absolut gegen diesen Auftritt. Ließe man ihn im schwarzen Stündeler-Zweireiher aus der blendenden Kalkhelle der Mörtelkammer schweben, würde ihn die Gemeinde unweigerlich für den auferstandenen Scheintoten halten, und dies wäre ein Auferstehungsskandal ohnegleichen in dem ohnehin skandalumwitterten Abstellraum. Gewiss ist es kapellendramaturgisch ein großer Nachteil, sagte ich zu meinem Kollegen aus Mooskirch, wenn wir Sie um den Kanzelaufstieg bringen, ein Opfer an Plastizität im gesamten Bewegungsablauf, das umso schwerer wiegt, als die Galerie ja alles andere als eine schmucke Kanzel ist, zu der man ehrfürchtig emporblickt. Was ist die Galerie? fragte ich Bruder Stäbli. Eine schmale und gefährliche Brücke, über welche die Schüler unter Paul Haberstich vom Kopfturnen zum Bodenturnen gehetzt wurden. Der Auftritt ist also auch verpatzt, wenn Sie vom Korridor her erscheinen, denn die Trauergäste, die Ihnen zu Füßen sitzen, sind alte Haberstichianer. Durch welches Loch auch immer Sie als arme Sektenmaus in diese Abdankungsturnhalle schlüpfen, man wird Sie befremdet anstarren, weil Sie die gesamte Problematik eines Trauergottesdienstes in einer solchen Umgebung verkörpern. Man müsste einmal die Möglichkeit prüfen, von außen durch die offenen Fenster in den Saal hineinzupredigen. Die Heilsbotschaft einmal ganz von der Peripherie her an die Gemeinde herantragen, nicht immer selber das Zentrum darstellen und in der eigenen Lehre herumtrampeln wollen!

Während ich von halb zwei Uhr an am Harmonium sitze und präludiere, pianissimo natürlich, nur das Musette-Register gezogen, das dudelsackähnlich klingt, dekoriert die Abwartin, welche sich der Ärmelschürze entledigt und das Schwarzseidene angezogen hat, die Turnhalle mit jenen Kränzen, die am offenen Grab keinen Platz gefunden haben. In einer Kirche lehnt man die Gebinde an den Taufstein oder flankiert die Kanzeltreppe. In der Schiltener Turnhalle bieten sich alle Geräte gleich lorbeerheischend, gleich schleifensüchtig an, und es braucht viel psychologisches Geschick für die gerechte Verteilung des Trauerschmucks, damit die sanguinischen Kletter- und Reckstangen, das pyknische Sprungpferd, der melancholische Barren und der cholerische Schwebebalken nicht zu unberechenbaren Temperamentausbrüchen gereizt werden. Es hat keinen Sinn, das Harmonium und damit indirekt Armin Schildknecht mit Kränzen zu überhäufen, während das Tau und die Sprossenwand darben müssen. Ich kommentiere die Kunstwerke der Trauerbinderei mit diskreten Kadenzen und Trillern und halte still für mich fest – man muss sich alles notieren, was im Unterricht verwendet werden könnte –, dass just auf dem Lande die künstliche Ware dominiert, dass sich hier die Hinterbliebenen gegenseitig überbieten mit geschuppten, gerömerten Schläuchen, Wachsblumen-Arrangements und goldbedruckten violetten Spruchschleifen, während man vermutlich in den Städten, wo oft kaum mehr ein Tannenzweig aufzutreiben ist, aus purem Trauersnobismus wieder vermehrt zu Waldkränzen Zuflucht nimmt. Item, ich sehe, was ich sehe, und präludiere und denke an Wiederkehr, die unbestrittene Hauptperson der Abdankungs- und Bestattungs-Mannschaft. Im Vergleich zu ihm ist Bruder Stäbli eine entbehrliche gotische Zuckerguss-Krabbe. Wiederkehr steht in seinem schwarzen Sigristen-Anzug, der seine bullige Gestalt vollends in einen Panzerschrank verwandelt, auf dem Schulhausestrich und wartet, bis er Sichtverbindung hat mit dem Leichenzug, denn erst wenn der Wagen unten auf dem steilen Straßenstück ausgangs Innerschilten, in der sogenannten Holunderkurve, zum Vorschein kommt, beginnt er mit dem Bestattungsgeläute, das, nebenbei gesagt, laut Artikel 53 der Schweizerischen Bundesverfassung zu den Minimalanforderungen einer schicklichen Beerdigung gehört. Sichtverbindung ist leichter gesagt als hergestellt, Herr Inspektor, denn das Krüppelwalmdach, unter dem ich horste, hat gegen Norden keine Gauben. Freilich könnte sich Wiederkehr im Lehrerzimmer im ersten Stock postieren. Aber dann sähe er nicht bis zur Holunderkurve hinunter. Warum, habe ich den Abwart schon oft gefragt, wollen Sie um alles in der Welt Sichtverbindung haben mit der Holunderkurve? Wohl nur aus Tradition, weil seit Sigristen-Generationen erst geläutet wird, wenn der Leichenzug die Holunderkurve passiert, die sogenannte Holunderkurve, denn jedes Schulkind weiß, dass am besagten Straßenbord schon längst kein Holunder mehr wächst. Vorbei die Zeiten, als Wigger im Schwick den Kratten voll hatte für seinen Holunderschnaps, genauer: für Ihren Holunderschnaps. Die botanische Wirklichkeit sieht anders aus, Wiederkehr: Brennnesseln und Haselnussgestrüpp. Unerachtet dieser Tatsachen halten Sie unbeirrt an der Holunderkurve fest, obwohl es doch nur der Holunder war, der diese Sichtverbindung attraktiv machte. Das Auftauchen des Leichenzugs in der Holunderkurve löst bei Ihnen automatisch den Griff nach dem Glockenseil aus, und dieses Signal verhindert, dass Sie sich etwas denken müssen, zum Beispiel: Eigentlich ist es ja die Schulhausglocke, die ich für Beerdigungszwecke läute. Um Ihre Sichtverbindung, über die Sie vermutlich noch einmal an einer Jahresversammlung des Schweizerischen Totengräbervereins referieren werden, gegen die Konstruktion des Schulhauses zu erzwingen, demolieren Sie mein Dach und heben einen Ziegel hoch, den meine Schüler prompt Holunderziegel getauft haben und der bestimmt noch einmal einem Trauergast auf den Kopf fallen wird. Wer haftet dann für den möglicherweise doppelten Dachschaden, Sie oder ich? Nicht genug, dass die Turnhalle vom schwarzen Lindwurm überfallen wird, der unter Ihrem Gebimmel den Schulstalden hochkriecht, auch noch ins Krüppelwalmdach muss ein Bestattungsleck gerissen werden! Ahbah, sagt der Abwart in solchen Diskussionen, Sie sind eben kein Hiesiger, sondern ein Zugezogener. Sie verstehen es nicht besser! Im Winter, wenn die Straße vereist ist und man sanden muss, ist die Holunderkurve immer die kritische Stelle. Kommt der Wagen nach mehreren Anläufen nicht über diesen Rank hinaus, gibt mir der Kutscher mit der schwarzweißen Fahne ein Zeichen, das bedeutet: die Holunderkurve ist heute nicht zu nehmen. Dann muss die Beerdigung um eine halbe Stunde verschoben werden, weil der Sarg den alten Totenwasenweg hinaufgebuckelt wird, und das muss ich doch als Erster wissen, Herrgottnochmal, ich habe mein Lebtag noch nie ein Begräbnis falsch eingeläutet.

Tatsächlich war früher in bestimmten Gegenden der Totenweg oder sogenannte Hellweg mit Kräutern und Stauden bepflanzt, welche allfällige Nachzehrer an der Rückkehr ins Dorf und unter die Lebenden hindern sollten, so zum Beispiel mit Holundersträuchern, unter denen die Friesen ihre Toten bestatteten. Aber das sind schon Finessen der allgemeinen Friedhof-Kunde.

ZWEITES QUARTHEFT

In dem Augenblick, da Wiederkehr durch die Dachlücke im Schulhausestrich die hagere Jordibeth, die sogenannte Leichenansagerin, welche die Todesnachricht mündlich von Hof zu Hof verbreitet und die dem Leichenzug immer vorangeht, unten in der Holunderkurve erspäht, rückt er den Ziegel wieder zurecht und beginnt, kräftig am Tau ziehend, zu läuten. Und zwar schellt er so lange, bis die schwarze Demonstration den stotzigen Schulstalden überwunden und den Pausenplatz erreicht hat. Diese Viertelstunde, während der das ganze Schulhaus wie ein kantiger Glockenbecher über meinem Kopf dröhnt, erlaubt mir, die lauteren Register zu ziehen. Vom kühl beherrschten Imitieren von Choralpartien wechsle ich, die Bässe koppelnd, in die tiefsten Lagen meines Instrumentes, lasse nasalen Donner und Kellergrunzen röhren, um gegen das gellende Geläut des Abwarts aufzukommen. Damit die kostbaren Stunden meines Schiltener Moratoriums nicht nutzlos verstreichen, repetiere ich einzelne Sequenzen aus meiner Friedhof- und Todeslektion, stampfe Blockakkorde und Sätze vor mich hin. Einstimmen nennt man das in der Schulmeisterei. Dabei scheint mir außer dem hölzernen, metallenen und ledernen Foltergekröse der trauerversunkenen, ihre Melancholie nach außen stülpenden Landturnhalle nur noch einer zuzuhören: Wigger Stefan, unser großes Friedhof-Faktotum, der sich seinen Platz vorne rechts in der Harmoniumecke bereits gesichert hat, der regelmäßig alle Abdankungen heimsucht, aber zu seinem Leidwesen nie im Leichenzug mitgehen darf, weil er bevormundet ist und weil Mündel und Halbschlaue als schlechtes Omen gelten auf dem Hellweg. Wiggers Todesmusikalität tröstet mich über das wächserne Gehör Bruder Stäblis hinweg. Er wiegt seinen Schädel in Trance, wenn ich ihm, der aufgeregten Abwartin, den tauben Reihen zypressengrün gebrettelter Gartenstühle, den zerbrochenen Fensterscheiben und den Spinnweben hoch unter der Decke des Mörtelkammerschachts ein Potpourri aus Aberglaubenssätzen serviere und predige:

dass bei waschechten, alteingesessenen Stockschiltenern nach dem Wegschaffen der Leiche aus dem Trauerhaus Tische, Stühle und Schemel, auch das Gestell, worauf der Sarg stand, umgestürzt werden;

dass die Leichenansagerin durch das ganze Haus geht und dreimal an jede Tür klopft, damit der Tote nicht wiederkehrt;

dass im Raum, worin der Tote lag, drei Häufchen Salz gestreut und nach dem Aufbruch des Zuges zusammengewischt werden;

dass der Sarg nie durch die Haustür, sondern durch ein Fenster hinausgeschafft wird, und dass es in den früheren Steckhöfen der Gegend ein besonderes Leichentor gab, das nach dem Hinaustragen der Leiche wieder zugemauert oder zugenagelt wurde, auch dies eine Maßnahme, um dem Toten den Rückweg zu verbarrikadieren;

dass der Tote in jedem Fall mit den Füßen voran aus dem Haus befördert werden muss, weil er sonst das Hausglück mit sich nimmt;

dass vor Zeiten jene Nachbarn, die vorwärts, also dem Friedhof zu wohnten, den Leichenwagen und das Gespann stellen mussten;

dass der Kutscher keine Peitsche, sondern einen Holunderstab trägt – Wiederkehr: einen Holunderstab! – und nie alle Münzen des Trinkgeldes vom Teller nehmen darf;

dass es Gegenden gab, wo sich, was leider für Schilten nicht bezeugt ist, die Witwe rittlings auf den Sarg setzte, um dergestalt die wiedererlangte Freiheit zu demonstrieren;

dass die Einheimischen nie im schönsten, sondern immer im verschlissensten Sonntagsgewand, oft sogar in schmutzigen Werktagskleidern, zur Beerdigung gehen, wissend, dass, wer ein neues Kleid oder neue Schuhe zum ersten Mal bei einem Leichenbegängnis anzieht, dieselben in Trauer wird abtragen müssen;

dass der Zug unten bei der Brücke, wo er die Schilt überquert, kurz anhält und dass der Sarg dreimal angehoben wird, damit der Tote von seiner Heimat Abschied nehmen kann;

dass es in Hinterschilten noch Leute gibt, welche die am Hellweg stehenden Bienenstöcke umdrehen, aus Angst, die Bienen könnten sonst malefiziert werden;

dass es Unglück bringt, wenn man die Leidtragenden in einem Zug zählt oder mit den Fingern auf sie zeigt;

dass man den Leichenzug grüßt, indem man den Hut zieht und nachher tüchtig ausspuckt;

dass man, wenn unterwegs Kränze vom Wagen fallen, fürchtet, es sterbe bald jemand in der Trauerfamilie.

Indem ich den schwarzen Kondukt auf meiner Tretschemelkiste herbeiphrasiere, kommt er tatsächlich kurz vor zwei Uhr an, ich kann das Stocken der Prozession beobachten durch die weit offene Turnhallentür, den Rückstau bis zum Transformatorenhäuschen hinunter. Der Abwart und die Abwartin halten sich bereit, Wiederkehr draußen auf dem Schulhausplatz, die Schüpferin als eigentliche Dame des Abdankungshauses drinnen im Saal, bald da, bald dort noch einen Kranz richtend oder sich in eine Ecke drückend, um die verrutschten Strümpfe zurechtzuzupfen. Wigger lauscht, auf seinem Stuhl zusammengesackt, den verröchelnden Harmoniumklängen nach, scheint die Akkorde, die ich ihm geboten habe, wie zähe Karamellen zu lutschen. Und Armin Schildknecht, der frevlerische Turnhallenmissionar mit staubiger Seele, hat seine Register, die braunen Knöpfe mit den roten Filzscheiben und den frakturbeschrifteten Emailschildchen, zurückgestöpselt und lässt seine Hände auf den Tasten ruhen, welche die Farbe von altersgelben Fingernägeln haben. Die Sargträger, von Wiederkehr dirigiert, müssen zuerst um Wigger herumzirkeln, der wie ein Kartoffelsack von seiner Ecke aus den Traueracker Bruder Stäblis besetzt hält, müssen sich dann, indem sie mit dem glatt gebohnerten Turnhallenboden kämpfen, zwischen dem Harmonium und der Galerietreppe durchzwängen, um die ehemals weiß gekälkte Gerätegruft zu erreichen, wo der Tote auf dem Matzenwagen – zum Schiltener Turninventar gehört, ich will ihn nicht unterschlagen, ein Matzenwagen – zur zweitletzten Ruhe abgesetzt wird. Umständlich, nur mit Mühe ihren anerzogenen Respekt vor dem Schulhaus überwindend, drücken sich die Trauergäste über die Schwelle, rosige Kracher und verschrumpelte Weiblein, wurstige Matronen und taprige Schopftintlinge in ihren abgetragenen mattschwarzen Kitteln, Westen und Brusttüchern, ihren speckglänzigen Jupons und filigranen Schleiern. Es sind die Eltern und Großeltern meiner Schüler, eingefleischte Haberstichianer. Ich kenne sie mehr ihren Übernamen als ihren Namen nach, für sie hingegen ist und bleibt Armin Schildknecht der Herr Lehrer, so wie der Pfarrer, gäbe es einen im Dorf, als Herr Pfarrer gegrüßt würde. Die meisten von ihnen haben hier die Schulbank gedrückt, haben in dieser Turnhalle die Kletterstange erklommen, um mit der Aussicht auf den Engelhof belohnt zu werden, haben an einer sogenannten Schlusszensur ihre Abgangszeugnisse erhalten, den arithmetischen Lohn für acht Jahre Bildungsarrest. Sektenbrüderlich und -schwesterlich schnuppern sie in der provisorischen Abdankungshalle herum, mustern mit verstohlenen Blicken die Trauerdekoration, zählen die Kränze und drücken sich in den Seitengängen den Wänden entlang, um sich im Schutz der Geräte irgendwo verschlaufen zu können, immer noch vergelstert von der schrillen Pfeife des Turnlehrers. Die Abwartin hat ihre liebe Mühe, dieses Gedränge in den hinteren Regionen zu bekämpfen, die Duckmäusergrüppchen zu sprengen und den einen oder andern, indem sie ihn am Ärmel zupft oder mit ihrem gepanzerten Busen anpufft, nach vorne zu komplimentieren, im Flüsterton schimpfend, es mache doch keine Gattung, wenn die Trauerfamilie wie auf dem Schandbänklein dasitze. Im Gegensatz zum Leichenzug, wo die strengste Ordnung herrscht, benehmen sich die Beerdigungs-Veteranen, sobald sie Schulhausluft riechen, wie verdatterte Examensschüler. Jeder schiebt den andern vor, am liebsten würden sie in der Stuhlversenkung in Deckung gehen oder sich ineinander verknäueln, ihre Köpfe wie die Rugby-Spieler über einem imaginären Streitobjekt zusammenwuscheln und sich an Armen und Beinen umklammern. Der unvermeidliche Auftritt Bruder Stäblis, von keinem Geringeren als Armin Schildknecht musikalisch inszeniert, überrascht sie bei einer groß angelegten Tarnübung.

Es mag Sie vielleicht befremden, Herr Inspektor, die Schiltener Abdankungen, die zu einer Modell-Abdankung zusammengefasst werden, von einem Schulmeister derart infinitesimal geschildert zu sehen, aus der Perspektive eines unbeteiligten Musikanten. Schließlich, werden Sie sagen, wird da jedes Mal ein persönliches und unverwechselbares Leid ausgetragen, ist da jedes Mal ein heißgeliebter Ätti oder ein heißgeliebtes Müeti aus einer Familie weggestorben. Nun, ich kenne die Schiltener besser als Sie, ich habe mich zehn opferschwere Jahre mit ihnen herumgeschlagen, vornehmlich mit ihren Kindern, während Sie sich nur mit diesen Papieren herumschlagen müssen. Und ich kann Ihnen versichern, dass auf dem Land, in abgelegenen, gar sichelförmigen Seitentälern wie dem Schilttal weniger getrauert als getrotzt wird. Ich habe weiß Gott manche Beerdigung erlebt: Nie habe ich jemanden in dieser Turnhalle weinen sehen, keine einzige Zähre ist unter meiner Harmonium-Aufsicht verdrückt worden. Hart im Geben, hart im Nehmen, lautet die Devise. Man lässt sich nichts schenken und ist niemandem etwas schuldig, und im Grunde empfinden es diese Leute als etwas höchst Unanständiges, wenn sich ein Außenstehender wie Bruder Stäbli in ihren Todesfall einmischt. Dafür übt man dann jahrzehntelange Gräbertreue. Dass dieselben Nussknacker und Friedhofdohlen zehnmal lieber in eine Kapelle als in die Kirche laufen, wo man doch glauben könnte, dass sich nur rührselige Naturen als Stündeler anwerben ließen, hat mit ihrer vertrackten und verstockten Frömmigkeit zu tun. Man kann diese hartgesottenen Gemüter schon erweichen, aber da muss man ganz andere Töne anschlagen als Bruder Stäbli.

Ich, Armin Schildknecht, Scholarch von Schilten, habe es in der Hand, die Register, mit denen der tonsurgeschorene Prediger der Erz-Jesu-Gemeinde liebäugelt, vorwegzuziehen. An mir liegt es, durch unharmonische Modulationen den harmonischen Übergang vom speziellen Todesfall zur allgemeinen Jesusminne zu unterbinden. Mit meinem Vorspiel kann ich die Versammlung einschläfern oder wachrütteln, Trutzmauern abtragen oder verstärken. Der Sermon, der nachher folgt, ist nur noch eine unwillkommene Dreingabe. Ob ich Bourdon ziehe, dumpf und heiser keuchend, oder Salicional, hell und gläsern schneidend, ob ich Basson und Hautbois den Vorzug gebe, der säuselnden Äoline oder der süßlichen Voix céleste, ob ich die Perkussions-Mechanik einschalte oder die Vox humana erklingen lasse –, alle diese Griffe und Registrierkünste präjudizieren – sofern man auf musikalischem Weg etwas präjudizieren kann – Bruder Stäblis Worte. Sein Auftritt ist schlicht, ergreifend. Mit seitwärts geneigtem Kopf tritt er vom Korridor auf die Galerie, eine Abort-Chlorfahne nach sich ziehend, schreitet über den knarrenden Laufsteg bis zur Mitte, legt Bibel und Lebenslauf auf die Balustrade und lässt sein Haupt wie eine Puppe, aus der man die Finger gezogen hat, zum Gebet auf die Brust sinken, was so aussieht, als wolle er von oben einen Korb werfen, denn der Ring mit dem zerfetzten Netz befindet sich genau unter ihm. Hält er seine Grützbirne bereits beim Eintreten so demütig schief, dass ich immer befürchte, sie purzle ihm von der Schulter, wird man erst recht bei seinem Brustspicken die Vorstellung nicht los, Bruder Stäbli beuge sich einer allmächtigen, alttestamentlichen Guillotine. Nach dem Vorspiel, das ich so lange hinauszögere, bis mir der Glaubensstreiter anfangs ermunternd, dann immer ungeduldiger und harmoniumfeindlicher zunickt, folgen das Bibelwort und das Eingangsgebet, zu dem sich die Gemeinde stühlerasselnd erhebt, folgt, als absoluter Höhepunkt der Veranstaltung, der Lebenslauf des Verstorbenen nach den sogenannten Angaben aus dem Trauerhaus. Während des Gebets habe ich darauf aufzupassen, dass meine Kommode keine störenden Geräusche von sich gibt, nicht schnarrt und quietscht und vor allem nicht heult, das heißt, dass nicht einzelne Töne steckenbleiben, die Crux aller Orgel- und Harmoniumspieler. Herrscht beim Bibelwort noch abwartende Räusperruhe im Saal, so kommt meistens bei der Verlesung des Nekrologs ein Gemurmel auf, ausgehend von meiner, der Mörtelkammerecke, weil in diesem Winkel nicht nur der stieräugige Wigger sitzt, der von sich aus nie eine Konterbiographie vom Zaun reißen würde, sondern auch die Leichenansagerin, die gichtgekrümmte Jordibeth mit dem runzligen Schildkrötenhals, den graublonden Ohrenschnecken und der schleppenden, nasalen Aussprache, welche nebst Wiederkehr am besten über das Leben der Verstorbenen und den Hergang der Todesfälle orientiert ist, hat sie doch die Nachricht zigmal mit allem gerüchtehaften Drum und Dran vor Haustüren, Tennstoren und Stallgattern wiederholt. Die Jordibeth besitzt in Innerschilten eine für Stumpentalverhältnisse geradezu kleinstädtisch anmutende Landpapeterie, wo sie, umgeben von verjährten Bestsellern und schnurrenden Katzen, die Kunden, die sich ab und zu in ihre Prismalo-Gemächer verirren, mehr behext als bedient. Sie kann es nicht leiden, dass Bruder Stäbli den Lebenslauf, je nachdem ob die Sonnen- oder die Schlechtwettertage überwogen haben, in jenem alle Schicksalsblitze erdenden, munteren oder leidenden Tonfall verliest, in dem er die Weihnachts- oder die Passionsgeschichte den Sonntagsschülern der Erz-Jesu-Kindergemeinde erzählt. Verheißungsvoll hebt er die Stimme an, um sie kurz vor dem Satzende demütig und tröstlich zugleich zu senken. Stört mich, abgesehen von Bruder Stäblis Todesdeutsch, dieser alles Lebendige einbalsamierende Tonfall am meisten, so verwahrt sich die Jordibeth gegen die fromme Stilisierung der Lebensläufe zu einer biederen Legende und korrigiert und ergänzt halblaut den Nekrolog. Man muss wissen, dass die Leichenansagerin im Dorf so etwas wie eine wandelnde Todesfall-Chronik darstellt. Für sie bedeutet sterben nicht einfach sterben, sie bekleidet ihr Ehrenamt nach dem Motto: Sag mir, wie du gestorben bist, und ich sage dir, wie du gelebt hast! Und aus den Todesumständen weiß sie dornige Rückschlüsse auf die Biographie zu ziehen. Sie hat nicht nur die Aufgabe, die schwarzumränderte Nachricht samt den dazugehörigen Lebensmaterialien mündlich auszutragen, sondern sich auch zum Ziel gesetzt, ihre, die gültige Version von Hof zu Hof zu vervollkommnen und bei dieser Gelegenheit ihre Kondolenzkarten und Kondolenzkuverts loszuwerden, weshalb die drei Tage vom Todesfall bis zur Beerdigung oft kaum ausreichen für die ganze Tournee. Da und dort erfährt sie noch etwas Neues über das Testament oder über die letzte Krankheit oder über den Arzt, der sie behandelt hat, oder über die Anordnungen betreffend das Leichenmahl, und so setzt sich die ganze Geschichte von der Wiege bis zur Bahre und darüber hinaus mosaiksteinartig zusammen, wird erwandert, mit Schweiß bezahlt in einem sukzessiven Vernehmlassungsverfahren, und da kommt dieser Marzipan-Messias von Mooskirch herauf, aus einem Dorf, das geographisch zwar nur wenige Kilometer, mentalitätsmäßig aber meilenweit von Schilten entfernt liegt, und bastelt nach den Angaben aus dem Trauerhaus ein sinnvolles Schicksal zusammen, nie begreifend, dass es auch in einem Säuferleben auf jede Einzelheit, sozusagen auf jeden Schluck ankommt. Der engste Zuhörerkreis der Jordibeth besteht aus Wigger, der Schüpferin und mir, doch die Unruhe, der Konternekrolog pflanzt sich bald von der Mörtelkammerecke aus durch die Weiberreihen fort, ein sich steigerndes Getuschel und Gemauschel, bis der Jordibethsche Kommentar in die Kletterstangen- und in die Barrenecke am Fußende der Turnhalle gefunden hat, wo er wie ein heißes Traktandum einer Gemeindeversammlung in Bass- und Baritonlage, in einem nicht enden wollenden Rabarberrabarber und Marmeramarmera diskutiert wird.

Bruder Stäbli quittiert diesen Aufruhr mit einer unnachahmlichen Duldermiene, und sobald er den akustischen Höhepunkt erreicht hat, ist dies das Zeichen für mich, mit dem Zwischenspiel einzufallen. Armin Schildknecht denkt nicht im Traum daran, die rabiat gewordenen Veteranen und Hinterbänkler abzukühlen. Ich muss mein Stück so wählen und registrieren, dass die Gemeinde möglichst ohne Schaden an ihrer Seele zu nehmen über die nächste Viertelstunde hinwegkommt, und dies gelingt mir am besten, indem ich auf die bewährten Improvisationen «Turnhalle 1» und «Turnhalle 2» zurückgreife, auf zwei speziell für das Sekten-Harmonium zugeschnittene, synkopisch unterwanderte Choral-Fantasien mit Blues-Einschlägen, welche der Zwitterhalle von Aberschilten und einzelnen ihrer Foltergeräte gewidmet sind. Die Variationsfolge «Turnhalle 1–2» ist ein Versuch, den geistigen Zusammenbruch dieses schwer belasteten Raumes nachzuvollziehen. Was ich meinen Schülern immer wieder predige, dass sie noch den Tag erleben werden, an dem ein Turnhallenbeben das Schulhaus in seinen Grundfesten erschüttert, bleue ich, manualiter diktierend, den Erwachsenen ein. Die Abdankungen sind die einzige Gelegenheit, mit ihnen in Kontakt zu kommen. Außer den Pferden des Leichen-Gespanns bringen sie nicht zehn Rosse in diese Anstalt hinein, und wenn ich mal den ersten Schritt mache und einen Hausbesuch ankündige, werde ich sofort mit Naturalien abgefertigt. Geizig sind sie nicht, die Schiltener, aber den Schulmeister scheuen sie wie den Leibhaftigen. Für die Dauer des Zwischenspiels jedoch sind sie meiner Botschaft ausgesetzt. In der ersten Fantasie arbeite ich mit dem einfachen Trick der Panik in geschlossenen Räumen. Mit ein paar Oktavsprüngen greife ich die Proportionen des schabzigergrünen Ungemachs, lasse auch die kühle Gruft der Mörtelkammer in meinem Rücken erstehen, so dass die Trauergäste enger zusammenrücken und ängstlich nach den Ausgängen schielen. Ich kenne die depressiven Launen der Halle aus meiner langjährigen Schiltener Gefangenschaft, ich weiß, welche klingenden Register und Hilfszüge ich ihr verschreiben muss, damit die Geräte ihre Fassung verlieren. Der melancholische Schüttelfrost setzt gleichzeitig an allen vier Wänden ein. Ich schildere Ihnen das Beben, wie ich es meinen Schülern diktiere, um bei dieser Gelegenheit ein paar treffende Ausdrücke zu repetieren: die Kletterstangen vibrieren, die Reckträger schlockern, das Tau schlingert, die Sprossenwand ächzt, das Lederpferd bockt, der Korbballständer wankt, die Hochsprunglatte klötert, doch erst wenn sie fällt, die Barrenholme schwirren wie nach dem Abgang eines Kunstturners, der Schwebebalken quarrt, die Sprungmatzen fauchen, die Schaukelringe klackern, und die Rundlaufspinne würde rotieren, gäbe es hier eine Rundlaufspinne. Dieses Beben des Inventars gilt es harmonisch zu untermalen und in der Melodie zu steigern bis zu jener Reizschwelle, wo der grünbleiche Gymnastiksaal vollends überschnappt. Mag Bruder Stäbli warnend von der Apokalypse sprechen, ich beschwöre sie herauf, mit zehn Fingern in die Tasten greifend und die Bälge vollpumpend. Ein Schwefellicht verdüstert die Oberzone, die Schiltener Hallenfinsternis bricht herein, und wäre da ein Tempelvorhang, er würde entzweigerissen. Erinnerungen an die qualvollste Turnpein werden in den Trauergästen wachgerufen. Haberstich steht vor ihnen im gestreiften Gilet mit der goldenen Uhrkette, mit steifem Hemdkragen und die Ärmel über die knochigen Unterarme hinaufgekrempelt. Er zwickt sie mit der Geißel auf die nackten Füße, damit sie am Tau hängen bleiben wie die Affen. Hört ihr meine Botschaft, ihr Haberstichianer? Das Beben wächst zu einem donnernden Gerätesausen an. Es regnet Verputz von der Decke, der Riemenboden klafft auf, die Wände biegen sich. Der Barren rast wie eine Furie durch die Stuhlreihen und bohrt sich mit den Holmen in die Holzverschalung der Treppengalerie, hinter der sich Bruder Stäbli verschanzt hat. Ein ergötzender Anblick! Die Kletterstangen wie von einem Kraftmenschen in die Knie gestaucht. Die Sprossenwand kippt vornüber, Brennholz für den Abwart. Die Tür zur Mörtelkammer wird aus den Angeln gehoben, und aus dem Geräteraum pfeift ein Geschosshagel von Stoßkugeln, Hanteln und Stafettenstäben. Die Sprungmatzen kommen fliegenden Teppichen gleich angesegelt und klatschen gegen die alles andere als ballsicheren Fensterscheiben. Der Schwebebalken fährt aus und rasiert alles weg, was ihm in die Quere kommt. Das ist Altes Turnhallentestament, Bruder Stäbli! Ich lasse nicht eher ab von meinem Instrument, als bis dem hintersten Störzer das Turnerblut in den Adern gefriert.

«Turnhalle 2» ist im Vergleich zur apokalyptischen Improvisation ein mildes Stück, eine mezzopiano vorgetragene Fantasie mit an- und abschwellenden Halbtonreihen, aufgebaut auf gekoppelten Bässen, garniert mit jodelnden Klarinetten-Trillern und durchzogen mit Cremona-Schlieren, eine Komposition, in der die Sekunden- und Septimen-Intervalle dominieren. Abwechselnd hält eine Stimme einen Ton fest, während sich die andere in kurzen Notenschritten bewegt, wobei aber Durchgangs- und Synkopen-Dissonanzen nicht, wie es der Kontrapunkt verlangen würde, durch eine Sekunde aufwärts oder abwärts aufgelöst werden. In dieser Variante versuche ich, die Turnhalle in stiller Umnachtung, in einem dahindämmernden Depressionszustand zu zeigen, was mir umso besser gelingt, je diesiger das Licht ist. Also kein Bombardement von Jäger- und Medizinbällen, keine Geräte-Konvulsionen, einzig schwermütige Trance: ein irrenhäuslerisches Gleißen auf den Reckstangen, das somnambule Schaukeln der Korbballnetze, die wahnschaffene Sturheit des Schwebebalkens, die kopfkranke Lethargie der Sprungmatzen, das gallensüchtige Glotzen des Lederpferds, verdrehte Ringe und eine halluzinierende Sprossenwand. Diese indirekte Aufklärung über den Seelenzustand der Abdankungshalle bewirkt weniger Verstörung als eine allgemeine Verunsicherung, die Leute werden von einer Art Juckreiz befallen, beginnen zu schnupfen und zu niesen, sich in den Haaren zu kratzen und auf den Stühlen herumzurutschen. So oder so ist die Gemeinde für die folgende Sektenpredigt verketzert, so oder so habe ich die Haberstichianer aus ihrem unverbindlichen Beileid-Trotz herausgerissen und in die Turnhallen-Opposition getrieben. Worauf hoffend? Dass tatsächlich einmal einer aufstehen und mit flammenden Worten die Aberschiltener Verhältnisse geißeln würde, Bruder Stäbli in seine Kapelle nach Mooskirch hinunter- und mich in die Lehrerwohnung hinauftreibend? Frönte Armin Schildknecht solchen Illusionen, als er sich honorarlos für den Harmoniumdienst zur Verfügung stellte? Wenn er dies länger als eine Bestattungs-Saison lang geglaubt haben sollte – sie dauert in Schilten wie überall von Allerheiligen bis Allerheiligen –, so wurde er gründlich eines Besseren belehrt. Die Inspektorenkonferenz wird sich an den Gedanken gewöhnen müssen, dass in einem solchen Dorf die Friedhofschwerkraft stärker ist als alles, was mit Bildung zu tun hat, und ohne mich jetzt schon rühmen zu wollen, möchte ich doch festhalten: Es bedeutet schon allerhand, wenn es ein Schulmeister wie Armin Schildknecht zumindest fertigbringt, Sand, Kreidestaub im Getriebe des Engelhofs zu sein!

Abdankungspredigten oder sogenannte Leichenreden sind im Allgemeinen nach einem dreiteiligen Schema aufgebaut. Erste Stufe: Eingliederung des speziellen Todesfalls in die generelle Tödlichkeit des Daseins. Zweite Stufe: Die Erschütterung des Glaubens infolge des Todeserlebnisses. Dritte Stufe: Jesus als Überwinder des Todes, als Garant dafür, dass das Schreckliche, Unfassbare seinen Sinn hat. Bruder Stäbli muss natürlich, um die Satzungen seiner Gemeinschaft nicht zu verletzen, dieses Schema nach Erz-Jesu-Manier abwandeln. Hier ist die Frage erlaubt: Was ist, was will die Erz-Jesu-Gemeinde? Wie alle andern religiösen Splittergruppen – im Schilttal gibt es unter anderem Ableger der Gesundbeter und Fußtäufer, der Toten-Stündeler und der Neuapostolischen Gemeinde – hält sie sich für die einzig wahre christliche Gemeinschaft und stellt die Rettung der Seele nur jenen in Aussicht, welche sich gewissermaßen an den von ihr ausgeworfenen Ring klammern. Die Erz-Jesu-Brüder haben nichts zu tun mit den Herz-Jesu-Schwestern und grenzen sich scharf von den Adventisten ab, mit denen sie oft verwechselt werden, weil die Parusie wie bei jenen im Zentrum ihres Glaubens steht. Hervorgegangen aus den amerikanischen Baptisten, haben die Adventisten den Termin für die Wiederkunft Christi nach der Französischen Revolution in Jahrzehnten genau vorausgesagt und beschäftigen sich heute nur noch mit der Frage, ob sie die vom Evangelisten Markus beschriebene Thronwolke, auf der Christus mit seinen Engeln herniederschweben sollte, übersehen haben könnten, das heißt, ob der Messias leibhaftig, aber unsichtbar unter ihnen, natürlich nur unter den Adventisten, weile und sich nur deshalb noch nicht zu erkennen gebe, weil der Kampf mit dem Antichristen noch nicht zu Ende gefochten sei. Die Adventisten stecken also in einer eigentlichen Parusie-Krise, weshalb ihre Mitgliederzahl seit der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts stetig zurückgegangen ist, wovon nun gerade die Erz-Jesulaner profitierten, weil sie, wiewohl auch sie von der angebrochenen Endzeit sprechen, den Termin für die Vorladung zum Jüngsten Gericht nach der Formel «Anzahl Jahre nach Christi Geburt + 100» errechnen, also immer wieder um ein Menschenalter hinausschieben. Der Erz-Jesulaner strebt demzufolge nach der Parusie wie der Esel nach der Rübe, die ihm von seinem Reiter an einer Stange vorgehalten wird. Der wichtigste Unterschied zur evangelischen Landeskirche hingegen besteht darin, dass die Mitglieder dieser Sekte, wie ihr Name sagt, an den absoluten Alleinherrschafts-Anspruch Christi glauben. Er wird der Erste und Höchste sein im endzeitlichen Königreich, Gott selbst kann als Hilfsvorstellung eliminiert oder an der Spitze einer himmlischen Exilregierung gedacht werden. Erz- ist also nicht bloß das steigernde Präfix wie bei Neubildungen vom Typus Erzgauner, Erzlügner usw. Was diese Differenzierung betrifft, nehme ich Bruder Stäblis Verein immer in Schutz, und ich bitte auch die hohe Inspektorenkonferenz, ihm wenigstens auf etymologischer Ebene ein Quentchen Sympathie zu gönnen. Bruder Stäbli empfiehlt Rohkost und Enthaltsamkeit als asketische Vorübung für die Teilhabe am Ewigen Reich, das man sich nach seinen Äußerungen als eine Art permanente Kneippkur vorstellen muss. Dass alle Mitglieder eine Kaution zu hinterlegen haben, die im Jenseits in anderer Währung zurückerstattet wird, stimmt meines Wissens nicht, obwohl es Wiederkehr steif und fest behauptet.

Die Sprache der Erz-Jesu-Prediger ist überraschend bildkräftig und konkret, geradezu diesseitig orientiert. Sie dürfen und können sich vorstellen, Herr Inspektor, dass Bruder Stäbli in seinen Abdankungen oft Zuflucht zu Metaphern aus dem Turnbereich nimmt und so von der Galerie aus auf seine Weise das Inventar strapaziert. Das von mir gebrauchte Adjektiv knäckebrotspröd bezieht sich mehr auf den inneren Gehalt seiner Leichenreden. So spricht er immer wieder von der Grätsche der Demut, von den Medizinbällen der schweren Prüfungen, von der Hocke der Zuversicht und der strammen Riege der Selbstgerechten, vom Seilziehen zwischen den klugen und den törichten Jungfrauen und vom Tamburin der inneren Stimme. Immer wieder ermuntert er die Leidtragenden, sich mit einer Riesenfelge aus der engen Kammer ihrer Verzagtheit hinauszuschwingen und sich, womöglich mit einer Schraubendrehung, der strahlenden Herrlichkeit des Erlösers zuzuwenden, dies immer mit einem Lächeln, das etwa besagt: Eigentlich liegen diese Vergleiche zu nah, aber ihr Dummköpfe versteht eben keine andere Sprache. Den Zweiflern und Pharisäern, auch den weniger bekannten Sadduzäern, den Heiden, Skeptikern und Nihilisten, den Aufklärern, Freidenkern und Materialisten versucht Bruder Stäbli eine sogenannt logische Lebensregel zu verkaufen, die er in Analogie zum Lotteriewesen konstruiert. Er sagt: Bei jeder Lotterie ist es doch so, dass ein paar Glückspilze gewinnen und viele Tausende von Unglücklichen verlieren. Wer seine Hoffnung auf unser Reich, das Reich der Erz-Jesu-Gemeinschaft, setzt, kann gar nicht verlieren. Aufersteht er für das ewige Leben, was wir ihm schriftlich garantieren, haben sich seine Opfer für unsere Kerngemeinde unendlichfach gelohnt. Stellt sich aber heraus, dass das Jenseits nur eine leere Versprechung war, dass auch die Seele zu Staub und Asche wird, dann gibt es auch keine Erinnerung mehr an die versäumten Lebensgenüsse. Drum, Brüder und Schwestern, folget getrost unserem Herrn!

Während Bruder Stäbli, eine endlose Viertelstunde in Anspruch nehmend, auf der Galerie salbadert, falsch zitierte Bibelworte und Zirkelschlüsse bunt durcheinandermengt, zu einem Arrangement getrockneter Trostblumen zusammensteckt, buchstabiere ich mich durch die Mienen der Zuhörer bis in die Kletterstangenecke und wieder zurück zur Dreiergruppe vor meinem Harmonium, wo ich bei Wigger verweile, den die Jordibeth und die Abwartin in ihre Mitte genommen haben. Er scheint unter all den Verstockten und Verknorzten der Einzige zu sein, der von der Suada ergriffen wird. In der Zange zwischen der panzerbusigen Schüpfer Elvyra und der schlangendürren Leichenansagerin gebärdet er sich wie ein unartiges Kind. Ständig ist sein Kopf, dauernd sind seine Hände in Bewegung. Er reagiert auf die erbaulichen Worte mit einem Wiggerschen Repertoire von Faxen und Grimassen. Mit Leichtigkeit könnte ich aus seinem Mienenspiel den Trost- oder Mahnwert von Bruder Stäblis Phrasen ermitteln. Sobald Wigger merkt, dass er Publikum hat, beginnt er seine Kapriolen zu perfektionieren. So kann er zum Beispiel plötzlich die Augen schließen, den Schädel in den Nacken werfen, den Mund mit den Nagezähnen schlüssellochförmig öffnen und in eine bestimmte Richtung schnuppern, als wittere er ein süßes Odium. Oder er klappt, die Arme von sich gestreckt, die Hände zu einer Falle zusammen, wartet lange, bis er sie öffnet, und folgt der imaginären Fliege mit verzückten Blicken bis zur Decke. Dann wieder bewegt er, halb nickend, halb kreisend, den Kopf, stößt klotzige Kehllaute hervor, die etwa bedeuten: Jaja, so kommt es halt, so muss es kommen. Spricht Bruder Stäbli von Sünde und Schuld, sackt Wigger schwer getroffen in sich zusammen. Oft presst er die Fäuste gegen die Stirn und fängt hemmungslos an zu schluchzen. Die Abwartin reicht ihm dann das mit Kölnischwasser durchtränkte Taschentuch oder bietet ihm Wyberttabletten an aus ihrer silbernen Bonbonniere, die er einzeln in den Mund schlägt und laut schmatzend sückelt. Auch kommt es vor, dass er mitten in einem Satz demonstrativ applaudiert, indem er mit den Fingerspitzen der Rechten lautlos die Handballe der Linken betrillert. Abrupt kann er sich umdrehen und die Frau hinter ihm so lange fixieren, bis sie ihrerseits eine Grimasse schneidet. Oder aber er konzentriert sich in kindlicher Vorfreude auf das Ausgangsspiel, auf das pyramidal bekränzte Harmonium und bedeutet mir mit erhobenen Armen und zappelnden Fingern, ich solle Bruder Stäbli ablösen. O Wigger, treuer Friedhofnarr, was wären die Abdankungsstunden ohne deinen physiognomischen Kommentar! Wigger steht bei den Schülern und mir ganz hoch im Kurs, Herr Inspektor, die Konferenz muss sich darauf gefasst machen, dass ihm Armin Schildknecht nahezu ein halbes Heft widmen wird in seinem Schulbericht. Er bleibt als Einziger während des Ausgangsspiels sitzen, wenn sich die Turnhalle leert und sich die Trauerversammlung drüben auf dem Engelhof um das offene Grab schart, wo Bruder Stäbli das letzte Wort hat. Hier drinnen habe ich es, und ich spiele, ich konzertiere nur noch für Wigger, der sich mit seinem schwammigen Gemüt in die Geheimnisse und Abgründe meines Instrumentes versenkt. Sie müssten gesehen haben, wie er auf das zweite Basson-, das Kontra-Fagott-Register reagiert: wie ein angeschlagenes Rhinozeros, und wenn ich gar die Expression ziehe oder das Grandjeu erklingen lasse, gerät er in eine schwerfällige Ekstase und taumelt wie ein Irrer den Wänden und Geräten entlang, mit auf die Brust gepressten Ellbogen und züngelnden, eine imaginäre Figur betastenden Händen. Auf dem Harmonium, sage ich immer zu Wiederkehr, seinem Vormund, wäre Wigger lenkbar, man müsste ihn therapeutisch bespielen, müsste seinen Schwachsinn mit klug dosierten Modulationen aus ihm herauslöken, müsste seine Hirnverkleisterung mit lang hinausgezögerten Dominant-Septimen aufweichen und ihn allmählich in die Tonika der Vernunft überführen. Allerdings würden wir uns durch diese Heilmethode selber um jenen Aberschiltener bringen, der von den hiesigen Missständen, Zwitterverhältnissen, absurden Raum- und Landschaftszwängen am meisten begriffen hat, der das Schilteske schlechthin nicht nur zu seinem Lebensinhalt, sondern zu seinem Krankheitsinhalt gemacht hat, Herr Inspektor.

DRITTES QUARTHEFT

Die Mörtelkammer, Herr Inspektor. Wer wie der Lehrer von Schilten im Schulhaus wohnt, muss auch diesen Geräteraum, die grauweiße Sakristei unseres Turn- und Betsaals, in sein Leben einbeziehen. Die erlauchte Inspektorenkonferenz wüsste so gut wie nichts über meinen Unterricht, wenn sie nicht zur Kenntnis nähme, dass ich den Gerümpel-Schacht dazu auserwählt habe, einen Großteil meiner Lektionen zu präparieren, aus dem einfachen Grund, weil ich das Harmonium, das ich dafür brauche, an den abdankungsfreien Tagen nicht jedes Mal in die Turnhalle hinausschieben kann. Aber auch der Akustik wegen. Der Raum widerhallt, es kommt zu jenem für die Ohren aller Pädagogen gleich labsamen Echo, das die Klasse nur allzu oft vermissen lässt. Animierend für einen erklärten Feind aller Körper-Ertüchtigungs-Rituale wirkt sich auch der Zustand der hierher abgeschobenen Geräte aus: Sie erinnern eher an den von mir heraufbeschworenen Hallen-Zusammenbruch als an sportliche Wettkämpfe. Ausgefranste und ausgetretene Sprungmatzen haben in meiner Ära keine Hechtrollen und Purzelbäume über sich ergehen lassen müssen. Eine verdrehte, aluminiumstumpfe Hochsprunglatte hat seit Jahren nie mehr Rekorde vereitelnd gescheppert. Der Magnesiumbrocken im Holzkistchen träumt vergeblich von einbandagierten Handgelenken. Das fleckige Tamburin hat es längst verlernt, auf acht zu zählen. Verschwitzte und zerschlissene Spielbändel hängen an den rostigen Zinken des Stabrechens. Wurfkörper, Hanteln und Stoßkugeln wähnen sich auf einem Friedhof für Leichtathletik-Karsumpel. Wenn ich in dieser karfangenen Gruft an meinem mit rheumatischer Heiserkeit auf Luftfeuchtigkeit und Temperaturschwankungen reagierenden Harmonium sitze und meine Präparations-Elegien begleite, wandert mein Blick, wandert auch meine Stimme an der kreideweiß verputzten, mit obszönen Inschriften und ungelenken Zeichnungen verkritzelten Wand empor bis unter die Decke, wo ich nicht müde werde, die winkligen und verkröpften, spinnwebenverhangenen Abwasserrohrstücke zu besingen und in Gedanken zu ergänzen bis in die Mädchentoilette, welche über der Mörtelkammer liegt, und wieder hinunter in die Knabentoilette, die, halbgeschossig versetzt, an den Geräte-Raum angrenzt. Es ist ein einmaliges Latrinen-Gefühl, aus der Perspektive einer Abtritt-Krypta das Schiltener Röhren- und Klosettschüsseln-Labyrinth auf der Tretorgel musikalisch zu unterwandern. Kein Schüler, von dem ich jemals verlangt habe, unsere Abortanlage auswendig im Grundriss und im Schnitt zu skizzieren, hat es zustande gebracht, die Mörtelkammer richtig einzupassen. Zu tief ist der Mörtelkammer-Komplex im Volk verwurzelt. Es fehlt meiner Einheitsförderklasse aber auch an Toilettenmuße. Die Kunst, auf einem Abtritt zu verweilen und den Gedanken nachzuhängen, wird immer mehr vernachlässigt. Dabei, sage ich meinen Schülern, gibt es nirgendwo auf der Welt so schäbige, an Bahnhof-Urinoire und Stehscheißen gemahnende Aborte, auf denen man sich seiner Notdurft unter Choralbegleitung entledigen könnte, wo Verstopfung, selbst in hartnäckigen Fällen, durch Äolinen-Gesäusel gelöst und Durchfall durch die Vox humana gebremst wird; Aborte, sage ich, die, gerade weil sie nicht nur von euch Schülern, sondern auch von den Friedhofbesuchern benützt, um nicht zu sagen verpestet werden, einen zusätzlichen Reiz gewinnen, eine komplementäre Hintertreppen-Laszivität zum tödlichen Ernst des Engelhofs. Mögen auch die schmalen, brillenlosen Klemmschüsseln zwischen den ehemals cremefarben gestrichenen, heute bräunlich verspritzten Kabinenwänden und das teerschwarze Pissoir mit der Aussicht auf den Risiweg und die Berghöfe längst nicht mehr dem schulhausüblichen Klo-Komfort entsprechen, die Nachbarschaft des Harmoniums macht auf musischer Ebene alle hygienischen Nachteile wett. Die Schüler halten sich strikte an das Verbot, während den Abdankungen zu defäzieren, weil man glaubt, dass das Geräusch der Wasserspülung die Andacht der Gemeinde, vor allem aber die Ruhe des auf dem Matzenwagen aufgebahrten Toten stören könnte. Doch haben sie, vielleicht gerade dieser Vorschrift wegen, nie entdeckt, was für ein Hochgenuss es sein könnte, meinem Sprechgesang mit entblößten Hinterbacken zu lauschen, die Sitzzeit hinter verschlossener Tür endlos auszudehnen und, da es sich ja um Unterrichtspassagen handelt, den Stoffwechsel auch im übertragenen Sinn zu erleben. Hätte Armin Schildknecht die Möglichkeit, sich zu verdoppeln, gleichzeitig unten zu spielen und oben, von Hautbois-Klängen umworben, zu höckeln, würde er seine Kabinen-Aufenthalte zu einem Hobby ausbauen.