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Mit einundzwanzig Jahren debütierte Hermann Burger mit Gedichten in den Aargauer Blättern, im Alter von fünfundvierzig Jahren – ein Jahr vor seinem Tod – wurde sein Gedicht „Der Wasserfall von Badgastein“ in der Neuen Zürcher Zeitung abgedruckt. Zwischen diesen Gedichten spannen sich das Leben und Werk des Schriftstellers aus der Schweiz; die Lyrik zeigt auf konzentriertem Raum seine einzigartige Sprachmächtigkeit und seine virtuose Erzählkunst. Zeit seines Lebens hat Burger zwei Bände mit Lyrik veröffentlicht. Viele Gedichte, wie die aus dem geplanten Zyklus „Kindergedichte“, sind nie in Buchform erschienen. Im ersten Band der Werkausgabe sind erstmals alle zu Lebzeiten des Autors veröffentlichten Gedichte versammelt.
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Seitenzahl: 93
Nagel & Kimche E-Book
Hermann Burger
WERKE IN ACHT BÄNDEN
Herausgegeben von
Simon Zumsteg
Erster Band
Gedichte
Hermann Burger
RAUCHSIGNALE
KINDERGEDICHTE
KIRCHBERGER IDYLLEN
Gedichte
Mit einem Nachwort von
Harald Hartung
Nagel & Kimche
Die Werkausgabe wurde ermöglicht dank der großzügigen Unterstützung durch
den Kanton Aargau
sowie der Unterstützung durch
die UBS Kulturstiftung
die STEO-Stiftung Zürich
die Stadt Zürich Kultur
den Verein zur Förderung des Schweizerischen Literaturarchivs
© 2014 Nagel & Kimche
im Carl Hanser Verlag München
Umschlag: Stefanie Schelleis, München
Porträtfoto Hermann Burger: um 1967, Schweizerisches Literaturarchiv (Bern). Foto: privat
Herstellung: Andrea Mogwitz und Rainald Schwarz
Satz: Satz für Satz. Barbara Reischmann
ISBN Band 1: 978-3-312-00612-0
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Datenkonvertierung E-Book:
Kreutzfeldt digital, Hamburg
FRÜHE GEDICHTE
SpätGeliebtes Land
Früher SonntagnachmittagEinkehr
GongErntegewitter
SanduhrDas erste Wort
RAUCHSIGNALE: Gedichte
I
Der stumme BruderGefangenschaft
Landschaft bei AarauSchwerindustrie
UndineSpaziergängeReigen
DichterinMalvenAbend vor dem Dorf
Baum I und IIScherben und Glück
Herzlose AsseEiszeit
II
Mit dem Herbst zu GastWorte
An einem Streichholz entfachtDrachen im HerbstSchlüsselkinderErinnerungLandschaft im WinterJahres-MarktFlamants rosesSommerengelBegegnung
RapunzelBalance
III
MarmoreraTithonien
FrühlingRunenschriftPhlox
Landschaft am SeeGlückVenise
KreuzsonateDrübenSpätnovemberliches
WohnraumNebelgeliebte · Schmerz
KINDERGEDICHTE
Beim Betrachten einer ländlichen Idylle aus den Münchener BilderbogenDas alte Karussell
Turm-Wilhelm
KIRCHBERGER IDYLLEN
1. DUODEZHEFT
StudierstubeNüsperli-LindeSophoren beim EingangKrähenErdbestattung
Auf dem TurmBaumgartenGipsreibi
Erster AugustHortensien
2. DUODEZHEFT
Pfarrhaus-EstrichEidgenössischer Oberst
Chriesbaum beim FriedhofBrunnen
Totengräber-WerkstattTurmhahnDas TälchenSchellenbrückeKrankheit
Gartenhaus
3. DUODEZHEFT
KohlenkellerKoryphäen und Koniferen
ClematisDas WurfgitterLeichentor
NebelkircheKranzdeponieRuine Horen
SilvesternachtWaldterrasse
4. DUODEZHEFT
Bullaugen-AbortHeldengräber
Studierzimmer-BirkeWiggerFriedhof im WinterHochzeitSandplatz
PapiermühleFeierabend im Sommer
Diesseits und jenseits der Mauer
NACHGELASSENE KIRCHBERGER IDYLLEN
ArchivGartensaalKanzelaufstieg
Abendmahls-DienerAbdankung
VERSTREUTE GEDICHTE
An alle Linksextremisten
Der Wasserfall von Badgastein
ANHANG
Editorische Notizen
Nachwort von Harald Hartung
Alphabetisches Register der Gedichttitel
FRÜHE GEDICHTE
Spät im Oktober,
Wenn die primären Tage vorbei sind,
Und abends sich die Wälder
In graue Nebelkulissen stufen –
Wenn die leeren Gehäuse der Züge
Ausfahren
Mit frühen Stirnlichtern besteckt –
Wenn die erleuchteten Schaufenster
Wie Silberplomben
Im Weichbild der Stadt sitzen,
Riecht es da nicht schon
Nach Schnee und älteren Gestirnen?
Geliebtes Land, deine Burgen altern.
Im Turmsaal über der Stadt
verschwistern die Stunden
zu grauen Gespinsten;
es wimmelt von Asseln und Faltern.
Von der Wand
fällt das Lorbeerblatt in den Schrein.
Die Erinnerung verwelkt,
orangensüßer Duft entschwindet
mit dem Rauch in der Dämmerung.
Durch die Tore ziehen Sagen ein.
Die Welt ist weiß
und vom Nebel durchbissen.
Die grauen Wälder mit ihren
Reif besetzten Orgelstämmen
bewachen das Schweigen.
Aus entlegenen Dörfern
schicken die Kirchen
den bronzenen Klangfuß übers Land.
Figurengruppen bewegen sich
am Eisweiher vorbei
auf dem gelben Band der Straße.
Friedvoll bäuerliches Spiel
dem Tale zu.
Kehrt ein in den dürren Zelten,
den Oktoberschenken, die
hoch im Winde schaukeln, kehrt ein!
Da gibt es noch einen feuchten
schwarzen Wein von tödlicher Süße,
ein berauschendes Scherbengelächter.
Aber unter uns höhlt das Geschrei
der Raben einen Raum längst vermorschter
Gefühle. Auf den tiefer liegenden
Äckern verherbsten die Brote zu Stein,
und in fernster Tiefe verraucht still
das stürzende Schwarzblut der Wälder.
Der Himmel aus Bronze und
aus Bronze die See, die Sonne
ein nicht lokalisierbares
Glanzlicht und der Nebel
metallische Ausdünstung.
Alles hart und gehämmert,
dass die Öltanker erträglich
werden mit den schwarzen
Rauchfahnen, die starrhalsigen
Kräne über den Werkhallen,
die Blechzigarren in der Luft.
Weckt ja nicht das Lied,
das, nach Eichendorff, in allen
Dingen schläft. Ein Gewitter
grausig golden scherbender
Gongschläge müsste über uns
hereinbrechen.
Burg um Burg hast du erbaut
mit Sommern, Stirnen und Staub,
Stirnenstaub,
vor den Toren spielen Kinder Krieg im Korn,
blutig verrostet der Zinnsoldat.
Vergebens spielen die Kinder Krieg,
keine meiner Wunden löscht der Mohn,
schwarzer Mohn,
die Vogelscheuchen lächeln sich Kopfweh zu,
ein grüner Engel wettert am Horizont.
Die Vogelscheuchen gehen irr durchs Korn,
lautlos rast im Hof das Karussell,
die Orgel tief im Wahn,
die Kinder reiten wild und schreien
nach dem goldnen Ring in deiner Stirn.
Die Kinder schreien nach dem goldnen Ring,
lass die Burgen verrauchen im Herbst,
bitteres Rauchsignal,
in den Wolkenhallen kracht die Erztür zu,
der Engel schmerzt dich, wenn du barfuß sprichst.
In gelben Wolkenhallen kracht die Erztür zu,
Konfetti schneit dir vors Herz,
bunte Silben,
die Schwänin sinkt im Scherbenweiher, trink
ihr aus den Federn den blutigen Mond.
Es rinnt mir aus den Augen
in deine Augen:
Sand, aus dem kein Gold gewaschen wurde.
Nahtlos trennt dein Schatten
sich von meinem Schatten.
Unsere Blindheit trägt kein Zeichen,
nur dies: erschlaffte Gewitter
in aufgeworfenen Armen.
Unaufhörlich rinnt der Sand
aus deinem Haar
in mein bodenloses Herz.
Roter Sand,
aus dem kein Gold gewaschen wurde.
Zu früh gefallen
der erste Schnee
auf jedes Wort.
Mit hohler Hand
deckst du die Flammen,
bengalischrot,
bengalischgrün.
Der eisig behauchte Spiegel
verzerrt den Schimmer,
und dies nur bleibt,
Mehlspeise im Wind:
zu früh gefallen
das erste Wort mit
dem ersten Schnee.
RAUCHSIGNALE
Gedichte
Noch muss ich einen Bruder haben,
der kommt mir entgegen
auf einer verschatteten Straße,
irgendwo in einem Sommer,
irgendwo in einem grünen Land,
ohne Sprache, nackt,
mit verdunkelten Brillengläsern
und die behaarten Arme
von Zornesgebärden erschlafft.
Und er erkennt mich nicht,
weil er den Verstand verlor,
als er von einer Brüstung ins
hüfthohe Gras stürzte.
Mein sprachloser Bruder,
du bist nicht tot.
Zieh dir ein grünes Hemd über,
lehr mich deine Sprachlosigkeit,
grins, wenn ich nicht versteh,
wir wollen schweigen zu zwein.
Aber du erkennst mich nicht.
Gleich mir hat dich eine fremde Mutter
mit einer Sendung von Wünschen
zur Welt geschickt,
wie einen Ochsen vor ihren Stolz gespannt
und hat dir die steinernen Rosinen
aus ihrer Krone zugeworfen.
Dein Hufschlag zermalmt
die Mühle ihres Gebets.
Mein Bruder, mein Gegenblut,
mir ins Fleisch geschrieben,
als wir wie eine Münze hart
in diese Welt geworfen wurden,
lag dein Gesicht unten.
Aber du bist nicht tot.
Gefangene
sind wir im
knöchernen Verlies,
von Nacht durchtränkt,
von bitterem Vergessen
genährt und gefesselt an unsern
Mörder,
den schwarzen Schlaf.
Auf Zehenspitzen tasten
wir uns ans Gitter der Worte.
Draußen fällt
schneeweißes Wissen
und Schweigen über den Hügeln.
An festlichen Julitagen
erwacht die Stadt
im leichten Fahnengewand
und spendet Schatten
auf die grünenden Straßen und Plätze.
Kanonenschüsse springen ins Land.
Der schwarze Adler knattert
über dem Blutbann im Wind.
Mit dem goldenen Degen,
beflaggte Stadt,
und einer weißen Rose
hast du uns geschmückt,
zu Rittern deines Glücks geschlagen.
Der Tag bekränzt sich,
die Ebenen
werden uns hinter die Flüsse tragen.
Später, im Herbst,
wenn alle Türen offenstehn
von den Schwellen am Anfang
bis zu den Schwellen am Ende,
stürzt ein Fahnenträger
durch die entlaubten Alleen
und zerteilt mit dem Schwert
die fallenden Hände.
Sein Gefolge: ein Wind
von Trommelwirbeln.
In der Ferne mischt sich
des Abends Dämmerflor
mit dem Geruch von Schwefel und Blut.
Gegen den Himmel treibt Sand.
Im Ansturm schwärzt sich
der Wolkenverband.
Zehn Fugen ineinanderspielen,
das Gebilde aus Stahl gießen
und tief in den Kopf hineindenken,
bis es so unverrückbar sitzt,
dass die Zahnwurzeln krachen,
es dann herumsausen lassen
ziel- und endlos in gebogenen Schächten,
selber langsam auf einer Scholle treibend,
mit dem Schädel gegen andere Schädel rennen,
ins Wachs beißen, Glas zwischen den Lippen,
gefrorenes Blaugut unter den Augen,
die Hände im Feuer waschen,
die Schlangenhaut nach außen kehren,
das ist immer der Prozess.
Das hauchdünn Herausgestanzte
dann zusammenfalten und dem Tanz
der Winde überlassen.
Undine komm,
komm und wach auf
im weißen Bett meiner Sprache,
tauch auf aus den tödlichen Wassern
und streif die Meerhaut ab.
Geh nicht zugrunde stumm wie ein Fisch,
sink nicht in dich hinein,
in dein Korallenschloss,
sprachlos und versteinert,
ist doch ein Wort noch,
das uns weiterträgt,
wenn auch ein Wort nur
im Schwarm der andern Worte,
aber weißglühender als jedes Wort
stillt’s die blaue Wunde unseres Wesens,
die der Abend aufbricht
und die nahtlose Nacht,
stillt’s den Mund,
die violetten Münder am Vulkan,
löscht’s das Feuer in der Felsburg,
dein Wort, Undine,
Wasser, das dir entströmt,
die Liebe,
komm.
Auf Spaziergängen im Herbst,
da wird mein Vogel wach
im goldenen Käfig,
die Einsamsel, und singt
aus zerbrochener Kehle.
Ich lass sie flattern und trinken
von der Trauer in den Triften.
Wie ihr Gefieder metallisch
erglänzt und sich steift über
den gescheckten Wäldern,
über dem Lapislazuliauge des Teichs!
Im Flug streift sie kreisend
den Hügel mit trockenem Burgentrost.
In den Weilern wird ein
Knarren laut, als lösten sich
verwrackte Archen vom Tau.
Die Landschaft schifft sich ein
für eine Sturmfahrt übers braune Meer.
Schwarze Segel hissen die Tannenmasten.
Da stürzt meine Amsel,
zerschnitten von Horizonten
und von Fernweh getroffen,
ab über der Straße des Erlkönigs.
Stumm zieht der Nebeltross.
Die schwarz befrackten Schergen
zerhacken ihr das Gefieder,
eine Flaumspur führt zur Mördergrube.
Folg ihr nicht,
im Käfig wächst bald ein
anderer Vogel nach,
der sich befreit und getötet wird,
und dann ein anderer Vogel,
befreit und getötet,
immerzu dies:
befreit und
getötet.
Nonnen,
leichte Figuren
aus schwarzem Wachs
durchtanzen den düsteren
Hain, in den Reigen welkender
Blätter mischt sich weiches Geriesel,
Regen,
der Regen
wäscht das Wachs
ihrer Gesichter aus den
Schalen der Hauben, die schwarzen
Flammen verzückter Augen löscht der Wind.
Reigen.
Dünne Fäden
schwärzlichen Rauchs
steigen auf ins Gespinst
der Äste. Reigen faulender Blätter
und Nonnen im Regen, im düster welkenden Hain.
Das schwere Bündel heilloser Wunden,
das dir die Schulter schnürt
und deine Fersen schändet, wirf
es nicht weg. Es könnte sein, dass tausend
ungerächte Flämmchen dir nachtanzen
und ihr Gelächter alle gangbaren Tunnel
herzwärts zerfrisst.
Kein Wassertropfen löscht den Schweiß
auf der Stirn, keine Träne das Salz im Blut,
und die Schleuder der Flüche hängt lahm.
Aber noch heute, noch eh diese mit Leitern
verstellte Nacht zu kreisen beginnt,
wird dir das Fahnentuch zugemessen,
und im leichten Faltenüberwurf ersteigst
du dieser Erde Sockelgeschoss.
Weich blüht wieder das Wort
und graurosa in meinem Gehirn,
Schlangen zieht es nach sich,
die aus heißen Gemäuernischen fahren,
staubige Wege
und sterbende Gartenräume.
Was soll ich mit Malven?
Auf meinem Schreibtisch häufen sich
herbstliche Aufträge.
In Verse schneiden,
gepuderte Malvenverse?
Malvenvers,
ein neues Wort,
herbarisiert schon und
geeignet für ein gebräuntes Albumblatt.
Weich, graurosa blüht das Wort Malven
in meinem Gehirn und vergilbt zu Versen.
Auf dem Schreibtisch häufen sich
herbstliche Aufträge.
So still. –
Das Dorf im Abendsonnenschein,
ländlich, eingefriedet von Baum- und Hügelzügen.
Mais im Vordergrund, Blaukraut,
Schüttergras und Streifen Ackers, Feuernelken.
Etwas tiefer eingesenkt: die Narbe
eines Flussbettes mit Birken,
Weidenwitwen auch. Zwischen
den Stämmen Schatten, und wo
schattenhaft sich Tieferes noch findet,
kühl, gemäuernah,
da stand die Mühle einst
vor einem Wehr …
Nun längst verrottet,
so still. –
Kirchturm, die Glocke schlägt,
einmal nur. Zimmermannsgerufe.
Auch diese Frage geht verloren.
In tief gezogene Dächer eingezargt
die Pfarrhaus-Stirnwand, weiß,
für Storchenblicke. Dann Reben,
Gelände, einer Fahne müdes Rot,
wie letzte Auszeichnung des Sommers.
Aber in der Nähe wird getreckt,
Nationalstraßenbau.