Brenner 1: Brunsleben. Brenner 2: Menzenmang - Hermann Burger - E-Book

Brenner 1: Brunsleben. Brenner 2: Menzenmang E-Book

Hermann Burger

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Beschreibung

Hermann Burger wollte in seinem auf vier Bände angelegten Roman „Brenner“ die Lebensgeschichte des „verhinderten Tabakfabrikanten“ und Zigarren-Connaisseurs Hermann Arbogast Brenner erzählen. Der erste Band „Brunsleben“ ist zu seinem literarischen Vermächtnis geworden; Burger starb – einen Tag vor Erscheinen des Romans – am 28. Februar 1989 an einer Überdosis Medikamente. Der denkwürdige Schlusssatz dieses ersten Bandes lautet: „Zu Asche sollt ihr werden, denn nirgendwo steht verbrieft, der Mensch habe ein Anrecht auf ein Quentchen Glück.“ Nach den Romanen „Schilten“ und „Die Künstliche Mutter“ ist die Tetralogie „Brenner“ das epische Hauptwerk des Autors aus der Schweiz – oder, wie er im Stil des Tabakunternehmens lieber sagen würde: sein Masterpiece.

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Nagel & Kimche E-Book

Hermann Burger

WERKE IN ACHT BÄNDEN

Herausgegeben von

Simon Zumsteg

Sechster Band

Romane III

Hermann Burger

BRENNER 1

BRUNSLEBEN

BRENNER 2

MENZENMANG

(KAPITEL 1–7)

Roman

Mit einem Nachwort von

Kaspar Villiger

Nagel & Kimche

Die Werkausgabe wurde ermöglicht dank der großzügigen Unterstützung durch

den Kanton Aargau

sowie der Unterstützung durch

die UBS Kulturstiftung

die STEO-Stiftung Zürich

die Stadt Zürich Kultur

den Verein zur Förderung des Schweizerischen Literaturarchivs

© 2014 Nagel & Kimche

im Carl Hanser Verlag München

Umschlag: Stefanie Schelleis, München

Porträtfoto Hermann Burger: 1988, © Andreas Pohlmann

Herstellung: Andrea Mogwitz und Rainald Schwarz

Satz: Satz für Satz. Barbara Reischmann

ISBN Band 6: 978-3-312-00617-5

Unser gesamtes lieferbares Programm

und viele andere Informationen finden Sie unter:

www.hanser-literaturverlage.de

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Datenkonvertierung E-Book:

Kreutzfeldt digital, Hamburg

INHALTSVERZEICHNIS

BRENNER 1

Brunsleben

1. Leonzburg-Combray, Elegantes maduro

2. Schuco-Malaga, Wuhrmann Habana

3. Sandtörtchen Madeleine, Sandblatt Vorstenlanden

4. Pavillon Sonnenberg, Brenner San Luis Rey

5. Kleines Kolleg über den Schnupftabak, Leonzburger Nr. 0

6. Erwachen in Soglio, Brenner Export

7. Der Zauber der Farben, Brenner Export gepresst

8. Besuch aus Java, Vorstenlanden

9. Das Ur-Geräusch im Palazzo Castelmur, Huifkar Trabuco

10. Studien in Soglio, Brenner Braniff, der wilde Cigarillo

11. Menzenmang, Rio Grande Weber Söhne AG

12. Die Pflanze, Havanna Puro

13. Fahrt nach Gormund, Rio 6 für unterwegs

14. Menzenmang Innenarchitektur, Montecristo No. 2 Elefantenfuß

15. Der Höllenfürst Pochhammer, Musterkoffer des Cigariers

16. Frau Irlande, Parisiennes ohne

17. Das Circensische und die Geburt, Hoyo de Monterrey des Dieux

18. Das verschollene Bilderbuch, Tobajara Reales Brasil

19. Forellen-Diner in Gormund, Romeo y Julieta Churchill

20. Menzenmang Gartenarchitektur, Grus

21. Hermann der Tabakgroßvater, Ormond Brasil Jubilé

22. Lehrzeit beim Großvater, Habasuma

23. Kinderheim Amden, Krummer Hund

24. Amden Materialien, Dannemann Fresh Brasil Escuro

25. Abschied von Menzenmang, Punch

BRENNER 2

Menzenmang (Kapitel 1–7)

1. Friedmatt, Rauchverbot

2. Königsfelden, Braniff Golden Label

3. Katathymes Glasbilderleben, Brenner Mocca

4. Hotelgast im Akutspital, Montecristo No. 1

5. Das Wunderkraut als Arznei, Rössli 7 Aromatico

6. Rückkehr nach Menzenmang, Kompletter Stumpenkoffer

7. Ich will Pfarrer werden, Davidoff Château Latour

PARERGA

Unterwegs zum Stumpenroman

Der Tabak in Literatur, Gesellschaft und Geschichte

Die WSB – Wynentaler Schwermuts-Betriebe

ANHANG

Editorische Notizen

Nachwort von Kaspar Villiger

BRENNER

Erster Band

Brunsleben

Für Kaspar Villiger

1  LEONZBURG-COMBRAY, ELEGANTES MADURO

Mein Name ist Hermann Arbogast Brenner, ich bin ein Abkömmling der berühmten Cigarren-Dynastie Brenner Söhne AG im aargauischen Stumpenland. Doch habe ich selbst mit der Fabrikation nichts mehr zu tun, das wie die gesamte Branche in einer tiefen Krise steckende Unternehmen mit immerhin noch 360 Angestellten wird von meinem Cousin zweiten Grades Johann Caspar Brenner geleitet, der zunächst als Nationalrat der Liberalen Partei des Kantons Luzern – denn Pfeffikon, Pfäffike, liegt bereits im katholischen Gau, nordwestlich von Menzenmang –, seit vergangenem Herbst als Ständerat eine glänzende politische Karriere teils vor, teils hinter sich hat, und es ist nicht ausgeschlossen, dass er noch den Sprung in den Bundesrat schafft. Ein Brenner unter den sieben Landesvätern, vielleicht als Vorsteher des Volkswirtschafts-Departements, zweifellos der Höhepunkt unserer Familiengeschichte. Da mein Abervetter, Förderer und Freund zugleich ein geheimer Connaisseur der schönen Literatur ist, pflegt er freilich immer, öppe die, wieder darauf zu verweisen, dass der Untergang der Buddenbrooks mit dem Senatorenamt von Thomas Buddenbrook verknüpft sei, hier wie dort sei die dritte die kritische Generation. Ich sehe, sagte er mir neulich im Büro des Stammhauses, im Augenblick keine Möglichkeit, noch einen genealogischen Ast höher zu klettern, und würde selbstverständlich, steuerte das Geschäft einem Kladderadatsch entgegen – du weißt schon, Dubslav von Stechlins Ausdruck am Wahltag auf der Fahrt nach Rheinsberg –, wohl auch als Politiker unhaltbar. Man kann nicht die Prinzipien der freien Marktwirtschaft, gar in der Schweiz, vertreten und gleichzeitig 360 Angestellten den blauen Brief franco Domizil schicken; das Schallwort übrigens, das er anstelle von «Bankrott» oder «faillissement» verwendete, ist aus «klatsch» über «kladatsch» entstanden und gab auch einer renommierten satirischen Zeitschrift den Namen, welche 1848 aus der Taufe gehoben wurde und 1944 die stehende Wendung «nomen est omen» wahr machte, man bezeichnet damit einen klirrenden Fall ebenso wie eine Aufregung oder einen Skandal, und ein skandau im tau war ja in der Tat, dass im Januar 1982 die Firma Weber Söhne AG in Menzenmang einging nach 144 traditionsreichen Jahren, gegründet als heimzigarri anno 1838 vom Strumpfmacher und ehemaligen Verleger Samuel Weber. Man denke nur an so populäre Marken wie den Rio Grande oder Webstar rund. Die Fusion mit Brenner Söhne AG führte denn auch dazu, dass sich der letzte Mohikaner dieses Familienunternehmens, Samuel Weber V., mit der Armeepistole erschoss, weil er seinem Vater am Sterbebett in die Hand versprochen hatte, ein Debakel dieser Art um jeden Preis zu vermeiden. Und siehst du, sagte mir Johann Caspar, als wir ins sogenannte Musterzimmer hinüberwechselten, wo die vom vielen Proberauchen leicht verbräunte Cuba-Karte hängt, diese Insel mit dem langgezogenen Vogelkopf und den beiden Scheren Yucatan und Florida, welche den Golf von Mexiko bilden, mit den klassischen Anbaugebieten Oriente, Remedios und Partido, mit der Semivuelta und der royalen Vuelta Abajo, die Webersche Liquidation, die im Suizid meines Branchenkollegen Sämi, der übrigens bei uns den Posten eines Betriebsleiters bekommen hätte, ihren traurig-makabren Höhepunkt fand, hat uns nur gerade so viele Marktanteile gebracht, dass wir ein Jahr lang die ständig sinkende Produktionshöhe von 130 Millionen Stumpen, Cigarren und Cigarillos konstant halten konnten. Das sind die wahren Fakten. Da kann ich dich im Grunde nur beneiden. Du residierst auf dem Chaistenberg im Schlossgut Brunsleben, bist dank der Tabakrente bis ans Ende deiner Tage versorgt mit sämtlichen Delikatessen unseres Gewerbes und stellst, inspiriert vom Pneuma der Cohiba, manufakturistisch deinen Kindheits- und Stumpenroman her, kannst genüsslich beschreiben, worum wir täglich kämpfen müssen. Dein Epos, ein Stimulans, das nie ein Kleber mit der Warnung des Bundesamtes für Gesundheitswesen verunzieren wird, ist, sofern wir den nuklearen Omnizid noch etwas hinauszögern können, selbst dann noch auf dem Markt, wenn wir «futschibus» sind.

Ich weiß nicht, ob mein Cou-Cousin, der übrigens rechtzeitig diversifiziert hat und ins Velogeschäft eingestiegen ist, da nicht etwas zu schwarz, zu oscuro sieht und dem für dritte Unternehmergenerationen typischen Zweckpessimismus huldigt. Gewiss, die Gründer sind die Landerwerber und Architekten, die Söhne, welche die Firma in eine Aktiengesellschaft überführen, die stolzen Bewohner des Baus, die Enkel haben es dann oft nur noch mit Reparaturen zu tun, aber so viel Kaufmannsinstinkt besitze ich noch in meinen späten Brunslebener Jahren, dass ich der «Brennerei», ein Kosename, der sich vom ursprünglichen Tabaktrinken herleitet, eine intakte Kreditwürdigkeit bis über das hundertjährige Jubiläum hinaus garantiere, denn geraucht wird allemal, bleibt nur die Frage, was, wo gepafft wird, kann man ruhig harren, böse Menschen haben nie Cigarren. Ich werde mit diesen bescheidenen Blättern vom Grumpen bis zum Geizen das Meinige dazu beitragen, dass man das Kind nicht mit dem Bad ausschüttet und just in unserer schnelllebigen Zeit erkennt, wie himmelweit der Unterschied zwischen einem reflexartig aus dem Päckchen gezogenen Glimmstengel und einer Por Larrañaga ist, vom Sucht- zum kontemplativen Genussverhalten, das dürfte die Devise sein, allein der teer- und nikotingesättigte Filter – de pariser – des nervös im Ascher zerquetschten Stummels müsste dem Kettenraucher drastisch vor Augen führen, dass er es bei der Parisiennes oder Marlboro, um x-eine Marke zu nennen, nicht mit einem reinen Naturprodukt, sondern mit einem karzinomfördernden Giftspender zu tun hat. Er muss ja seinem tief im Unbewussten verankerten Selbstvernichtungs-Schuldgefühl zufolge die Kippe abtöten, mit dem Absatz auf der Straße einer Werre gleich zertreten, während die Cigarre bereits nach zwei Dritteln gelassen beiseite gelegt wird und eines natürlichen Todes stirbt, indem sie zu atmen aufhört. Eine Tobajara Reales, Cruz das Almas, Bahía, Brasil entfaltet ein derartig würziges Bouquet, dass sie nicht inhaliert zu werden braucht, Nase und Gaumen sind vollauf befriedigt. Das, lieber Johann Caspar Brenner, ist die Zukunft, der Havanna-Import in der Schweiz stieg von 3,8 Millionen Stück in den siebziger Jahren bis 1988 auf 5,6 Millionen, unser Land weist den weltweit höchsten Pro-Kopf-Verbrauch auf, und wenn ich statistisch nüchtern «pro Kopf» sage, passe ich mich der Fasson der Corona und Panatela und Trabuco an, samt und sonders chopfsigarre. Die Kopfcigarre, dies mein Werbevorschlag, für Köpfe, eine Montecristo Nummer 1 mit Brandende und handgeformter Kuppe ist eine Sache des Geistes und des Sentiments und nicht des hektischen Verbrauchs. Wie hieß doch der Spruch, den mein Großvater Hermann Brenner in seiner Wirtschaft Waldau aufgehängt hatte: Tabakpflanzen und die Reben hat der Herrgott uns gegeben, wenn wir weise sie gebrauchen, darfst du trinken und auch rauchen.

Dies möchte ich zu bedenken und zu kosten geben, bevor ich mich, soeben mit dem Zuschneiden einer Hoyo de Monterrey des Dieux beschäftigt, die ich dem Gabun-Cabinet entnehme, wo sie das Aroma mit ihren Schwestern austauscht, die von einem gelbseidenen Band zu einem halben Halbrad gebündelt werden, Flor Extrafina, dem Körper des Elegantes-maduro-Kapitels zuwende, der engen Nachbarschaft von Brunsleben, Menzenmang und Gormund mit Leonzburg-Combray. Zuvörderst wird der geneigte Leser darüber aufzuklären sein, weshalb und wie die nie ganz aus ihrem mittelalterlichen Dämmerschlaf aufwachende, besonders an Hochsommertagen still vor sich hin brütende Bezirksstadt an den Ufern des Aabachs und zu Füßen des Schlossbergs zu ihrem Proustschen Beinamen kommt. Es war mein Logis- und Brotgeber Jérôme von Castelmur-Bondo, der mich bei einem unserer vorabendlichen Tabakskollegien in seinem Fumoir oder Turmzimmer auf die Ähnlichkeit der mittelländischen Landschaft des Aargaus mit der normannischen bei Proust aufmerksam machte. Wir saßen wie immer im Dämmerlicht der metertief ausgebuchteten Biedermeiernische unter den grandguignolhaft gezackten, altkarmesinenen Lambrequins, die wie das Fragment eines gerafften Piccolo-Theatervorhangs oder wie geschürzte Moulin-Rouge-Dessous wirken, freilich durch und durch papieren. Der Emeritus, im Dorf Bruns schlicht de profässer, bequem hingestreckt auf dem Louis-treize-Fauteuil mit dem blassrot gestickten Palazzo-Bondo-Muster, dessen Lehne man mittels gezahnter Eisenbögen verstellen kann, hinter und über ihm das verblichene Maisgelb der Wand mit einem Gehänge von Säbeln, Kokarden und goldbronzierten Epauletten, darunter die rotweiße Ehrenschnur und die Bauchbinde eines Vorfahren, der im 18. Jahrhundert in den Diensten eines Neapolitanischen Regimentes stand, ich meinerseits schräg vis-à-vis auf einem rahmweißen Louis-quinze-Sessel, mit dem Rücken zum ehemaligen Cigarrenschrank seines Vaters, in dem heute, quasi habanoid konserviert, die kostbaren Erstausgaben von Rilke, Thomas Mann und Proust stehen, Letztere in Pergament gebunden, und auf dessen unterstem Tablar in samtenen Schmucketuis die Orden liegen, Officier de la Légion d’Honneur, fünf Kreuze, das silberne Ehrenzeichen für Verdienste um die Republik Österreich, die Medaille der Karls-Universität Prag und, allerdings verschlossen, das von Bundespräsident Karl Carstens überreichte Bundesverdienstkreuz, ich erinnere mich noch, auch mein Kurzzeitgedächtnis beginnt nachzulassen, an den Wortwechsel mit dem Chauffeur, der seinen Corps-Diplomatique-Mercedes, von der Staatskarosse zum Flaggschiff, vor dem inneren Schlosstor parkiert hatte, mir beim Laubet zusah und meinte, Gärtner sei doch nach wie vor der schönste Beruf, eine Rolle, die einem per Zufall angeboten wird, soll man immer annehmen, also erklärte ich ihm die Bepflanzung der drei steil aufragenden, nach italienischem Vorbild errichteten Terrassen, schwärmte von Astern, schwälenden Tagen.

Jérôme – wenn ich ihn mal der Kürze wegen, in der freilich gerade nicht die Würze der Hoyo liegt, vertraulich so nennen darf, was sich für einen eckermännischen Untermieter mitnichten ziemt – und ich haben nach der Erprobung einiger anderer Konstellationen herausgefunden, dass diese Sitzordnung der Konversation, in deren Geist meine Tabakblätter gehalten sein sollen, am förderlichsten sei, zwischen uns stand der Guéridon mit seiner Vorrichtung für Kohlefeuerung, darauf das Rauchzeug und die kühle Flasche Aigle Les Murailles von Badoux, die uns Amorose bereitgestellt hatte, der Schlossherr suckelte in kurzen Abständen an seiner Pfeife, welche inwandig so dick rußummantelt war, dass man hätte glauben können, der Auskratzer sei noch nicht erfunden, ich genoss die Marke des Hauses, Rey del Mundo, und wir hatten, wovon wir eben sprachen, im Rahmen des achtteiligen Stichbogenfensters vor uns, denn über die Kastanienkronen hinweg sah man die Waldung Birch und dahinter das Lind, das sich bis zum Bollhölzchen vor Leonzburg erstreckt, nicht wahr, mon cher, hob Jérôme von Castelmur-Bondo an, indem sein imposanter Schildkröten-Schädel sich gewissermaßen einen Ruck gab, es isch ssso, natürlich ist Prousts Landschaft weniger hügelig als die unsrige, der Côté de Méséglise, wo Swanns Tansonville liegt, mündet ja in eine weite Ebene, jene flirrende Weite, die unser Freund Edmond de Mog an Frankreich so sehr liebt, aber die andere Seite, Côté de Guermantes genannt, ich erinnere an die Skizzen in George D. Painters zweibändiger Biographie, wo bim Unsld erschine isch, ist ja nur über die Abhänge des Vivonne-Tälchens erreichbar, übrigens … Nun, versetzte meine Wenigkeit, haben Sie in Ihrem letzten Werk mit dem schönen Titel «Parler au Papier» Leonzburg als eine helvetische Replik zu Prousts Provinzstädtchen bezeichnet, warum eigentlich? Ja, schauen Sie, ich bin ja nicht schreftschteller, sondern Historiker, der sich nach Aristoteles an das zu halten hat, was war und ist und nicht daran, was sein könnte. Man rühmt mir zwar nach, ich schriebe keinen streng wissenschaftlichen, sondern eher einen literarischen Stil, weshalb der Kritiker Adam Nautilus Rauch denn auch in seiner Laudatio anlässlich der Verleihung des Aargauer Literaturpreises im Aargauer Kunsthaus sagte, ich hätte offenbar lieber mit Dichtern als mit Professoren verkehrt, nun gut, da hat man also ausnahmsweise mal so was wie einen Einfall, Leonzburg als helvetisches Combray, und da kommen Sie, der teilprivatisierende Cigarier, daher und fragen, warum.

Es isch ssso, ich kann es Ihnen en détail weder erklären noch irgendwie begründen, glaube nur zu wissen – merken Sie, ein Wissenschaftler verwendet das Verb «glauben» –, dass es bei solchen Übertragungen mehr auf das Atmosphärische als auf das Topographische ankommt. Es gibt etwas, was man den pastoralen Zauber der Provinz nennen könnte, ich begegne ihm an der Schützenmattstraße ebenso wie in der Rathausgasse, auf dem Schulhausplatz oder in der Aavorstadt, und erst recht, wenn ich mit meinem Freund aus der Pariser Studienzeit, mit dem Komponisten und Maler Edmond de Mog – schrybe chan er o no –, wir wohnten damals Zimmer an Zimmer im Hotel Foyot, im nachsommerlichen Garten seines Hauses Sonnenberg an der Schlossgasse zu einem Lindenblütentee erwartet werde und wir dann zu der mächtigen Feudalburg emporblicken, kann ich, wie in der Tagebucheintragung vom 17. April 1982 nachzulesen ist, nicht umhin, eine ferne Verwandtschaft zwischen den Grafen von Leoncebourg und Prousts Ducs de Guermantes zu vermuten. Proust sagt ja von der Romanlektüre, sie sei magisch wie ein tiefer Traum, ich habe die Stelle im ersten Teil der «Recherche» erst neulich wieder nachgeschlagen – in der Ausgabe von 1919 mit der Widmung der Marquise de Villeparisis vom 12. Dezember 1925 – sie steht direkt neben der Großherzog Wilhelm Ernst-Ausgabe von Goethes Werken, signifikanterwys in fuchsrotem Leder – ob er, versuchte ich einzuwerfen, wisse, dass «Unsld» die Insel-Bändchen wieder in Feincanvas fadengeheftet und in rotem Ziegenleder von der Buchbinderei Lachenmaier in Reutlingen auflege, aber ich kam nicht zu Wort, tat aus Trotz einen extralangen Rey del Mundo-Zug –, eine Stelle, wo Proust auf die Romane von George Sand zu sprechen kommt, die ihm seine Großmutter schenkte, und an diese Jugendlektüre während der Osterferien in Combray knüpft der Dichter ein paar Reflexionen über das Verhältnis zwischen dem romanhaften und dem wirklichen Erleben an, was mit der erwähnten Magie zu tun hat, er sagt da in etwa – natürlich müsste man sich an das französische Original halten –, dass bei intensiver Vertiefung in ein Buch jede unserer Emotionen verzehnfacht würde, weshalb uns ein großes Werk der littera-tuur wie ein Traum erschüttere, der freilich viel klarer sei als die nächtlichen Träume, die im somnolenten Endstadium nur Sekundenbruchteile dauerten.

Wie das möglich ist, hat die Tiefenpsychologie noch kaum erforscht, da gibt es aber einen Brief Rilkes aus dem Jahr 1914 – er konsultierte den Münchner Psychiater Stauffenberg im Hinblick auf eine psychoanalytische Behandlung –, wo er schreibt, dass sogenannte Nützlichkeitsmenschen – Sie sehen sofort die Parallele zu Musils Wirklichkeits- und Möglichkeitssinn im «Mann ohne Eigenschaften» – ohne weiteres Erleichterung erfahren könnten dadurch, dass man in ihnen einen «geistigen Brechreiz» erzeuge und sie ihre unverdaute Kindheit in Auswürfen von sich gäben, während er, Rainer Maria Rilke, und dies notabäny sagt er in der großen Schaffenskrise nach dem «Malte», gerade auf das angewiesen sei, was nicht lebbar gewesen, weil es zu groß oder vorzeitig oder entsetzlich gewesen sein müsse, sinthemaal … jetz han i dr fade verloore. Und er blickte mich etwas froschäugig an, als ob wir in einem Examen säßen – aha, jjja, er sei darauf angewiesen, das die wonderbar schtell, Engel, Dinge, Tiere und wenn es sein müsse sogar Ungeheuer um das zu Vorzeitige oder zu Entsetzliche herumzubilden. Befriedigt darüber, dass er das gewiss sehr entlegene Briefzitat hatte reparieren können, klopfte Jérôme von Castelmur-Bondo energisch die Pfeife aus und kommentierte: s’isch s’höleglychnisss, um gleich wieder bei Prousts Magie anzuknüpfen. Die Erschütterung muss damit zusammenhängen, dass wir erfundene Figuren, Handlungen, Landschaften und Gespräche als wahrer empfinden als die realen; wahrer, weil sie unter dem Gesetz des Dichters – und nun hob er warnend den Zeigefinger, erscht dieses dich-ters – stehen und vom Zufall befreit sind, er spricht fast wie ein Physiker von den unfasslichen Teilen der Seele, welche der Romancier durch ein Äquivalent von unmateriellen Teilen ersetze, so dass es zur Osmose – oder wenn de lieber willsch, chemi-ker ja, manchmal duzte der Emeritus Hermann Arbogast Brenner unvermittelt, was mir lieb war – kommen kann. Das ist es, was uns die Sprache gerade dann verschlägt, wenn einer wie Proust souverän über alle nüangsce des unendlich schmiegsamen Wortes und Schachzüge der Syntax verfügt, wir verstummen, fühlen uns aber innerlich umso lebendiger, als wir teilnehmen an einer breiten Skala von Gefühlen vom tiefsten Schmerz bis zum reinsten Glück – gewisse Natalie-Dialoge im «Nachsommer», blau wie Aquamarin –, wie sie das Leben nie vermitteln kann, weil die Trägheit, mit der sich diese «emotions» einstellen, die Intensität quasi aufzehrt, es entsteht so etwas wie ein Reibungsverlust, um’s churz z’sägge, was ich mit meinen 87 Jahren in schwerfälliger Sukzessivität erlitten habe und was mich in Entzücken versetzte, durchlaufe ich bei der Romanlektüre mit Siebenmeilenstiefeln, eine Liaison, eine Trennung, sie können in einem Kapitel dargestellt werden. Darum ist das Wort von der Magie des Traumes so zutreffend.

Da Jérôme von Castelmur-Bondo einen Schluck Aigle nahm, wie um das zahnchirurgisch Herausgemeißelte herunterzuspülen, und anschließend seinen arg zerkauten Schmurgel wieder zum Qualmen zu bringen versuchte – warum nur leistete er sich keine Dunhill-Bruyère –, konnte ich ihn mit der Frage unterbrechen, ob er einen synoptischen Sprung zu Hofmannsthals «Ein Traum von großer Magie» gestatte. Wobei der geneigte Leser, dem gegenüber ich nicht genug beteuern kann, dass ich im Vergleich zum Schlossherrn, zu Bert May oder gar Adam Nautilus Rauch der Unbelesensten einer bin, wahrscheinlich als Spätfolge davon, dass unsere Klasse in der Realabteilung der Aargauer Kantonsschule in Aarau ein geschlagenes Jahr lang mit Schillers «Wallenstein» gefoltert wurde, nicht etwa argwöhnen muss, ein solches Poem gehöre zu meinem aktiven Literaturschatz, ich habe es vielmehr in Vorbereitung auf das Gespräch über Leonzburg-Combray, zumal ich von der «Recherche» keinen Buchstaben kenne, abgeschrieben aus einem Taschenbuch, um nicht an Konversationsinsuffizienz leiden zu müssen. Das gehört zu meinem Vertrag in Brunsleben, nicht die Lektüre im Einzelnen mit dem so literaturbewanderten Historiker zu teilen, das wäre zu viel verlangt, aber doch «ansprechbar zu sein auf des Vermieters Lieblingsthemen», so der juristische Wortlaut, denn in der Tat, es ist ein zweischneidiges Schwert. Wer sich, um in die Magie des Traums zu sinken, einem bestimmten Schriftsteller intensiv widmet, befindet sich einerseits in einem Kommunikationsreichtum sondergleichen, er wird auf allen Antennen zugleich bespielt, anderseits aber auch in einer dialogischen Armut, die pathologische Züge annehmen kann, wie anders ließe sich denn das Phänomen erklären, dass professionelle Leser unentwegt über das reden müssen, was sie in der Stille aufgenommen, als ob sie, wenn es uns erlaubt ist, noch eine Weile beim Traum-Bild zu bleiben, die hellseherisch erfassten Fetzen nach jeder Nacht zum Analytiker tragen müssten, mit dem Unterschied, dass sie den Therapeuten dafür zu bezahlen haben, dass er ihnen ablost, einen Freund, Gast, Besucher, Partner aber nicht.

Isch mer nit gägewärtig, erwiderte der tiefer und tiefer in seinen Palazzo-Bondo-Fauteuil sinkende Emeritus mit einem höflich einladenden Nicken, ich meinte, hätti gmeint, die sechste Strophe, wo es vom Magier, dem Ersten, Großen heiße: «Er bückte sich, und seine Finger gingen/Im Boden so, als ob es Wasser wär», riesige Opale ließen sich aus diesem Wasser fischen, sie fielen ab, was ich nicht begriffe, als tönende Ringe, das heiße, korrigierte ich mich ganz verwirrt darüber, so ausgiebig zu einem Votum zu kommen, ich könne die Stelle natürlich in einen Zusammenhang bringen mit meinen bescheidenen Künsten als Gelegenheitszauberer, das eine sei die Durchdringung fester Materie durch feste Materie, das andere mit den Opalringen sowohl die «Wunderbare Vermehrung» als auch eine typische Coin-Magic-Performance, bei der in meiner persönlich bevorzugten Routine ein Einfränkler in einen Zweifränkler, dieser in einen Fünfliber, das Fünffrankenstück in ein Goldvreneli, dieses wiederum in einen Kaiser-Franz-Josef-Dukaten und Letzterer in eine Fünfhundertfrankennote verwandelt würden, welche zum Entsetzen des Zuschauers in der Taubenkasserolle verbrannt und ihm als «Asche auf sein Haupt» gestreut würde. Do dermit het s’zauberhafte gedicht vom Hofmannsthaal, wo übrigens im jaaahr säch-zäh sehr äng mit em Rilke isch befründet gsy, nü-üt z’tue, mon cher, ich mag mi bsinne, dr magier duzt «die längst hinabgeschwundenen Tage», sodass si weder ufedäm-mere, trauervoll und groß, und dann, darin liegt die Parallele zur Zauberkraft des Dichters in der Proust-Stelle, die elfte Terzine, es sind klassi-schi ter-zine, lönd sie mi lo überlege, ahhh jahhh: «Er fühlte traumhaft aller Menschen Los, / So wie er seine eignen Glieder fühlte …», das heißt, er spricht in eines andern Sache, man muss sich vor Augen halten, dass das griechische «magos» – Griechisch, nie gehabt! – ursprünglich die Mitglieder einer medizinischen Priester-Kaste meint und erst viel später den Sinn «Traumdeuter, Zauberer» annimmt, freilich auch, i gibe ihne rä-cht, «Betrüger», die Quelle des aus dem Iranischen stammenden Lehnwortes ist so dunkel wie der Ursprung der Magie selbst, wobei wir ja unterscheiden müssen zwischen Weißer und Schwarzer Magie, Letztere versteht es, sich übersinnliche Kräfte dienstbar zu machen, hebt sich also in mephistophelischer Weise von der «Durchdringung von Materie durch Materie» ab, aber öppis ganz anders, säge zi, de amerikaaner daa, wo chürzli im fern-seeh dur di chine-si-schi muur gschritte isch als wär si luffft, wi isch das mög-lich, da gaaht’s doch um optischi tüü-schi-ge, ma cha ja schnyde. Nein, nein, musste ich dagegen einwenden, sollte sich je herausstellen, dass die Regie etwa mit der Blue Box arbeitet oder dem Schwarzen Kabinett, ist das Thema Zauberei für das Fernsehen erledigt, Herr Professor, gibt es so etwas wie ein akademisches Amtsgeheimnis, können Sie ein solches Geheimnis bewahren? Natür-li chchan i dass. Ich auch, Herr von Castelmur-Bondo, wenn ich Ihnen den alten Houdini-Trick verrate, scheiden wir beide enttäuscht aus diesem Tabakskollegium, Sie, weil Sie damit fertig werden müssen, dass Sie, wenn auch auf amüsante Weise, für dumm verkauft wurden, Sie stürzen in eine Identitätskrise, zweifeln an Ihren fünf Sinnen und an Ihrer Intelligenz, ich, weil ich den Magischen Eid gebrochen habe: Abrakadabra-Simsalabim, bei Dante, Bellachini und Houdini, ich halte geheim, was ich weiß, und nie verrate ich meine Kunst.

Ob es aber nicht auch so sei, dass, wenn Jérôme von Castelmur-Bondo, der nur kurz gelacht und bemerkt hatte: schwamm drüber, die Lektüre so hoch einstufe, weil der Romancier über die traumdeuterische Gabe verfüge, uns ganz in seinen Bann zu schlagen, doch auch ein Element des Hinters-Licht-Führens dabei sei, ob der wunderbare Schein, den er erzeuge, nicht auch empfindlich trügen könne. Mir komme da, wenn ich gerade wieder die Erstausgaben von Thomas Mann im weilandigen Cigarrenschrank seines Vaters bewundere – darunter den «Zauberberg», in dem der Held, wie mir zufällig bekannt sei, sage, ein Tag ohne Tabak wäre für ihn der Gipfel der Schalheit, man esse eigentlich nur, um hinterher rauchen zu können –, das Ateliergespräch zwischen Lisaweta Iwanowna und Tonio Kröger in den Sinn. Diese Novelle hätten wir in der Kantonsschule gelesen, es habe, so heiße es da, eine empörend anmaßliche Bewandtnis mit der oberflächlichen Erlösung und Erledigung der Gefühle in der Literatur, wem das Herz zu voll sei, der brauche bloß zum Skribenten zu gehen, der werde seine Angelegenheit analysieren und in die passenden Worte kleiden, ob Herr von Castelmur-Bondo damit einverstanden sei, dass die Parallele zum Störschneider nicht ganz von der Hand gewiesen werden könne, der Betroffene, so Thomas Mann, werde geklärt und gekühlt von dannen ziehen, und Tonio Kröger frage dann Lisaweta, über den eigenen Stand empört, ob sie ernsthaft für diesen eitlen und kalten Scharlatan eintreten wolle, kurz, Hermann Arbogast Brenner sehe in diesem Schamanentum das krasse Gegenteil zu dem, was sein Gesprächspartner über die Magie des Lesens bei Proust ausgeführt habe. Und er finde sich, wenn er auf Hofmannsthal zurückgreifen dürfe, durch diesen Dichter bestätigt, der im Dramolett «Der Tor und der Tod» Claudio sagen lasse: «Wo andre nehmen, andre geben,/Bleib ich beiseit, im Innern stummgeboren/…/Wenn ich von guten Gaben der Natur/Je eine Regung, einen Hauch erfuhr,/So nannte ihn mein überwacher Sinn, / Unfähig des Vergessens, grell beim Namen/…/Und auch das Leid! zerfasert und zerfressen/Vom Denken abgeblaßt und ausgelaugt.»

Jérôme von Castelmur-Bondo, dem die Pfeife im Mund erkaltet war, ließ seinen sinnenden Blick der altrosa-brokatgüldenen Fumoir-Tapete entlangspazieren, die zumal an jener Nahtstelle, wo der Palas in die Bergfriedrundung übergeht, auch unter der madurobraunen Lärchendecke von der Winterfeuchte in den Bruchsteinmauern etwas schadhaft geworden ist. Er schien die einzelnen Wandkerzenhalter, die im Louis-quatorze-Stil gehaltenen Appliquen nachzuzählen, verweilte auf den rissigen Rücken der dicht bei dicht stehenden Scharteken von Treitschke, Ranke, Mommsen, alle aus dem Berliner Semester anfangs der zwanziger Jahre, wo es in seinem Kolleg bereits Couleurbrüder gab, die zum Antworten zackig aufstanden und sich auf die Frage nach ihrer politischen Zugehörigkeit stolz zur NSDAP bekannten, und erst nach diesem Innehalten, nachdem ich die Rey del Mundo absterben ließ, mein schwarzes Calf-Etui zückte und nach einer Bahía-Exporte griff, Alonso Menendez, Originalverpackung rötlich geselchtes Sandelholzkistchen, stempelgrüne Banderole «República Federativa do Brasil», sagte er, ich kann Ihnen, was das zutiefst Dubiose des Magischen in der littera-tuur betrifft, nicht ganz unrecht geben, denken wir nur daran, dass Proust seine «Recherche» unter heftigen Asthmaanfällen schrieb in diesem mit Kork abgedichteten Zimmer, dass er das Tageslicht scheute, und Tonio Kröger, auf den Sie sich berufen, erzählt seiner Freundin denn auch die etwas bizarre Geschichte des Bankiers, der in seiner Freizeit Novellen verfasste, dessen Begabung aber erst zum Durchbruch kam, als er wegen Veruntreuung von Geldern eine Freiheitsstrafe zu verbüßen hatte, woraus der verirrte Bürger, der sich so sehr nach den Wonnen der Gewöhnlichkeit sehnt, den Schluss zieht, dass es vonnöten sei, in irgendeiner Art von Haftanstalt zu Hause zu sein, wenn man zum Dichter werden wolle, traun fürwahr, diese Erkenntnis schmeckt bitter – Jérôme verzog etwas angewidert den Mund, so dass die Goldfüllungen der Zähne aufblitzten –, vielleicht müsste man statt von naiven und sentimentalischen von anständigen und fahrenden Künstlern sprechen, wobei Letztere den Vorzug einer ins Aberhitzige gesteigerten Pikanterie haben. Man denke nur an den Cavaliere Cipolla in Thomas Manns Erzählung «Mario und der Zauberer»; zu dem jungen Italiener, den der Forzatore und Prestidigitatore dazu bringt, dem Publikum die Zunge herauszustrecken, sagt Cipolla: «Du tust, was du willst. Oder hast du schon einmal nicht getan, was du wolltest? Was nicht du wolltest?» Sie merken, wie das Negationswort in der suggestiven Variation der rhetorischen Frage immer näher an das Subjekt herangemogelt wird, der hypnotische Willensentzug ist in der Conférence vorbereitet, präpariert, und wenn der Zauberer hinterher sein Opfer auch noch parodiert: «Bè … das war ich», ergibt sich eine zynische Doppeldeutigkeit, tatsächlich hat er selber mit Hilfe seines Mediums dem Publikum in Torre di Venere die Zunge gezeigt.

So weit kamen wir in Sachen Leonzburg-Combray an diesem frühsommerlichen Spätnachmittag beim Aperitif, denn Amorose schlug den Gong im Treppenhaus, was so viel bedeutete wie, es ist angerichtet, Jérôme von Castelmur-Bondo arbeitete sich aus seinem Sessel hoch, nahm den vollen Aschenbecher und schmiss den Rey del Mundo-Kadaver über die Kastanien-, Eichen- und Ulmen-Kronen aus dem Fenster in die tiefe Dogger-Klus. Dann griff er zum Stock und ließ mir den Vortritt, über die hell ausgetretenen Lindenstufen, jede mit jahrhundertealten Vertiefungen, gelangten wir in den ersten Stock hinunter, wo der Diener in der weißen Uniformjacke und mit den schwarzgefärbten, rötlich schimmernden Haaren vor der Esszimmertür stand, die Hände auf dem Rücken verschränkt, und mich mit einem Lächeln, das schwer zu deuten war, hinauskomplimentierte. Jean-Jacques Amorose heißt er mit vollem Namen, Jérôme ruft ihn meistens Jean, wobei die Modulation der Stimme die Tonfolge c-a-h ergibt. Wir werden auf den Combray-Aspekt von Leonzburg beim Besuch des Komponisten Edmond de Mog in der alten Landweibelei, diesem in einem tief verzauberten Garten schlummernden Berner Patrizierhaus mit dem breit ausladenden, sanft gekrempten Dach zurückkommen, vielleicht beim Anhören des durch Illiers inspirierten dreisätzigen Werkes, das im Auftrag des Dirigenten Paul Sacher entstanden ist, eine nicht als Programm-, sondern als absolute Musik zu verstehende Fantasie, deren erstes keckes Thema den Connaisseur – immer wieder, nicht nur in der Tabakbranche, stoße ich auf diesen Ausdruck – in D-Dur anspringt. Zunächst aber muss ich versuchen, mich der benachbarten Kreisstadt über eine andere Tonalität zu nähern, einen Zauberklang meiner frühesten Kindheit in Menzenmang im aargauischen Stumpenland.

2.  SCHUCO-MALAGA, WUHRMANN HABANA

Es gibt Urphänomene aus dem Reich der Töne, Farben und Gerüche, sie sind oft, unerachtet ihrer Zufälligkeit, dazu prädestiniert, eine Existenz gewissermaßen wie ein Saiteninstrument zu stimmen, und der Erwachsene, wenn er ein Konzert, eine Ausstellung, eine Theateraufführung besucht, forscht, wie nach dem verschollenen Bilderbuch, nach Spuren dieser frühesten magischen Anmutungen. Ich entsinne mich ganz genau eines Nachmittags im großelterlichen Restaurant Waldau, als mir, ich dürfte etwa drei Jahre alt gewesen sein, die obligate, für mich immer quälende Bettruhe verordnet wurde, denn wie in der Ecke des Elternschlafzimmers in der Fabrikantenvilla an der Sandstraße in Menzenmang – fabrikants, der nobelste Genitiv – wurde ich auch im sogenannten Judengemach, das auf die große Terrasse über dem Säli hinausging, mit Gummizügen festgeschnallt, die Tür stand offen, man hörte die Geräusche des Wynentals, die Niethämmer in der Stanzi oder Plaggi, das Rangieren von Rollbock-Güterwagen im Aluminium-Areal, einmal den Pfiff einer Lokomotive, vielleicht, als fernes Kreischen, Schulkinder auf einem Pausenplatz, ansonsten Langeweile, welche tote Fliegen zählte, in der Gaststube Stühleschirken, womöglich ganz leise filzgedämpft das Klicken und Klacken von Billardkugeln, meine Eltern halfen ihren Schwestern und Schwägerinnen oft beim Servieren, wenn besondere Anlässe bevorstanden, sie ischwindu kamen, es ist denkbar, dass im Säli die Tische für den Männerchor Frohsinn gedeckt wurden, denn im Office schlug immer wieder die Schwingtür, in der Kalten Küche herrschte diffuser Betrieb. Das Kind, wenn es angebunden und schlaflos am heiterhellen Tag im Bett liegt, eine Paradoxie sondergleichen, versucht sich zu orientieren, das einzig Freie an ihm sind die Sinnesorgane, und da hörte ich plötzlich ein paar kurz angeschlagene Pianoakkorde, die mir die Tränen in die Augen trieben, so heimwehhaft glitten sie dahin, ein Hauch Silvesterzauber mitten im sommerlichen Alltag; naturgemäß verstand ich als kleiner Stumpen nichts von Musik, aber als ich Jahre später bei der Cousine meines Vaters im Pfendsackschen Haus an der Ölbergstraße Harmonielehre genoss, wurde es mir möglich zu begreifen, was mich ergriffen hatte, diese Klangfolge, in der wie in der Danziger Flasche Goldplättchen zu schwimmen schienen, zu analysieren, es hatte sich um eine absteigende Kadenz von großen und kleinen Sexten gehandelt, die Reihe musste, in C-Dur gedacht, mit dem Intervall g-e begonnen und mit f-d geendet haben, das heißt, sie stieg von der Tonika mit dem Quartsextakkord ohne c über die Dominante in die Subdominante ab, was der Blues-Melancholie entspricht, blieb aber nicht auf a-f stehen, sondern zwei Schritte tiefer in d-Moll.

Nun weiß man, dass der junge Mozart seinen Vater in den Wahnsinn treiben konnte, wenn er eine Septime unaufgelöst ließ, noch viel gallenfördernder war das Verharren auf f-d, welches Intervall mit dem unterzogenen Mollton a nach der G-Septime und der Befreiung durch die Tonika verlangt, und mit dieser Spannung musste ich nicht nur die zwei Ruhestunden im Judenzimmer, musste ich die ganze Pubertät bis zur Harmonielehre überleben, und wenn man bedenkt, dass es vielleicht bloß die Serviertochter Irmeli war, die sich in einer ausgelassenen Laune oder in einem Anfall von Traurigkeit am hundekotbraunen Burger-&-Jacobi-Klavier mit den nikotingelben Tasten versuchte, mag der geneigte Leser dieser Tabakblätter ermessen, welche Zufälle die Kindheit eines Künstlers oder besser Artisten regieren, anderseits wie immens die Macht – und hier durchaus Magie – der Musik über das noch ungebildete Gemüt ist. Weinen musste ich aber auch deshalb, weil mich die absteigende Kadenz g-e, f-d, e-c, d-h, c-a, h-g, a-f, g-e, f-d dazu verführte, an das Kornbild im Säli zu denken, eine in zartem Lila, stumpfem Gold und staubigem Grün gehaltene Landschaftsstudie jenes Strichs unterhalb des Stierenbergs unweit der Waldau, wo die Wachtelwiese bei den drei Eichen, drüeich, von der nach Rickenbach führenden Erlkönigstraße begrenzt wird. Das kleine, stuckweiß gerahmte Ölgemälde zeigte nicht mehr als einen leicht geschwungenen Pfad, der sich im Halmicht eines massig wogenden Ährenfeldes mit Andeutungen von Klatschmohn unter der wehmütig gespannten Ballonseide des Sommerhimmels mit ein paar Gewitterwolkenbäuschen verlor, gleich der Sextenfolge, die fast polkahaft begann, endete die Getreideschneise im Niemandsland und gab dem in der Langeweile schmorenden Kind, das so sehr langizyt nach der Mutter hatte, das Rätsel auf, wie wohl der Weg hinter der Biegung aussehe, ob er in der Bildtiefe überhaupt noch «da» sei. Ich habe Jahrzehnte später in schwerer Krankheit, als mir das autogene Training beigebracht wurde, zur Formel «Atem ruhig, regelmäßig, Stirne kühl umfächelt» immer dieses mauve-güldene Kornfeld halluziniert, auf dem Liegestuhl unter den Kanadischen Silberpappeln auf der Kiesterrasse von Menzenmang das sorgensucherisch wehe Korngemälde, auf der Couch von Doktor Rohnstein in Buchs das Waldauer Bild, überall immer diese eine Landschaft.

Menzenmang, Leonzenmang. Wenn hier so ausschweifend von der ersten Begegnung mit dem Reich der Töne die Rede war, so meiner Gewissheit entsprechend, und nun muss ich zu einem robusten Wuhrmann-Stumpen greifen, Habana, zuckertütenweißes Bundpäckchen, Cigares de Tabacs Supérieurs, «Stumpen» kommt vom französischen «stoump» und meint eine beiderseits gerade geschnittene Rauchrolle, so dass das Brandende mit einem roten «Feu» gekennzeichnet werden muss, tiefstes Madurobraun, ja meiner Erinnerung gemäß, dass wir als Kleinkind nicht aus einem mythologischen Dunkel zu einem chronologisch gegliederten Erleben erwachen, sondern dass es Gerüche, Farben, Klänge sind, an denen sich einzelne Lichtinseln festmachen lassen, Bohrinseln sozusagen, und einer dieser Urklänge war «Malaga». Malaga gab es bestimmt in den Lagern des Waldau-Kellers, in dessen spinnwebenverhangenes karfangenes Tonnengewölbe mich meine Bubenexpeditionen führten, Malaga hat aber in diesem Wuhrmann-Habana-Abschnitt mit Leonzburg-Combray zu tun, dergestalt, dass mich mein Vater, von Beruf Versicherungsinspektor, da ihn weder das Wirten noch der Handel mit Rohtabak zu fesseln vermochten, ab und zu auf seine Expeditionen mitnahm, er sagte dann zur Mutter: i goh hött of d’reis und nehme de hermannli mit, wenn’d nüt derwider hesch, so bin ich schon als Knirps in seinem Rayon zäntomecho, begleitete ich die Friedhofgroßmutter of de löitsch, so meinen Vater auf seinen Dienstreisen, und die erste, an die ich mich erinnern kann, mag, will oder dürfen zu meinen glaube, führte nach Leonzburg-Combray. Mit dem lotusschwarzen englischen Veloziped, das eine Vollverschalung für die immer gut geschmierte Kette und auf dem Gepäckträger einen vernickelten Kindersitz mit zwei Fußtritten hatte, die mich besonders beeindruckten, fuhren wir, den Park der Fabrikantenvilla auf der Südseite verlassend, wo vier steile Pappeln das Tor flankierten, die Zwingstraße ins Dorf hinunter, am Feuerwehrmagazin, an der teeri, am Areal der Kabeltrommeln aus Brugg, am Häuslerhaus und an der Schule, diesem uringelb vermörtelten Tobsuchtswürfel, vorbei, bogen um die Verkehrsinsel, wo die Nachtbuben ihre Beutestücke vom Ersten-Mai-Samstag zur Schau stellten, in die Bahnhofstraße ein, passierten die Webersche Kartonnage, die Konditorei Eichenberger, in der es vielleicht die Madeleine zu kaufen gab, die Papeterie Wildi und die Sattlerei und gelangten so zum leicht erhöht gelegenen Bahnhof SBB, nicht WTB für Wynental-Bahn, wo mein Vater sein Dienstgefährt in den umbragrünen Postwaggon des Seetalers verladen ließ und wir auf knochenharten Drittklassbänken der Dinge harrten, die da kommen sollten.

Wenn es mir vor dem erlösenden Pfiff und dem Kellengruß des rot bemützten Stationsvorstandes Müller zu betonen beliebt, dass wir mit dem See- und nicht mit dem Wynentaler fuhren, halte ich es nicht nur für angezeigt, den immer noch als geneigt vorausgesetzten Leser, dem ich für dieses Kapitel einen Wuhrmann B Habana verschrieben habe, zunächst nur krokimäßig in die Verkehrsgeographie von Menzenmang einzuweihen, sondern muss auch die viel spätere Erkenntnis vorwegnehmen – man sieht, immer wieder chronologische Simultankontraste –, dass mein Vater als Assekuranz-Vertreter für die Bezirke Kulm und Leonzburg, nicht aber für die Kapitale Aarouw zuständig war, dort ackerte sein erfolgreicher Kollege Nöthiger. Solche Zeitsprünge, Vor- und Rückblenden, Parallel-, Diagonal- und Contradictio-in-adjecto-Montagen, kurz Gedächtnis-Klitterungen, mit Mohn angesetzt, liegen in der Natur meiner Aufzeichnungen, weil eine Kindheit sich aus Sprengseln und Partikeln zusammensetzt wie die Cigarreneinlage aus den verschiedensten Tabaksorten von Sumatra, Havanna und Brasil bis zu reinen Würzhäckseln der Provenienzen Kentucky oder Latakia, und inwieweit dieses Arkanum als Wasserzeichen transparent wird, will sagen die von den Testrauchern zusammengestellte Komposition in der Mischbox «heiratet», ist entscheidend für die Qualität des Genusses. Westlich wird das stumpenländische Dorf vom Stierenberg, der höchsten Erhebung im Aargau, begrenzt, östlich vom Kamm des Sonnenberges, der bei Reinach zu einem Sattel, der Böiuwer höchi abfällt, um dann zum gugelhupfförmigen Homberg mit dem vierbeinigen Aussichtsturm und dem beliebten Ausflugs-Restaurant «Echo vom Homberg» aufzusteigen. Südlich Menzenmangs trennt ein Moränenriegel die Mulde von Beromoutier im Luzernischen, nördlich öffnet sich das früher einmal euphorisch ins Auge gefasste Kulmer Kreiszentrum «Rymenzburg», eine Fiktion, die in der Verschleierung der Gemeindegrenzen von Reinach, Menzenmang und Burg durch Weichbild-Wucherobjekte längst traurige Tatsache geworden ist, zum sogenannten Rynecher moos hin. Der schmalspurige Wynentaler, weiland grauweiß-kobaltblau, heute seiner Straßengefährlichkeit wegen signalorange, verbindet die Endstation Menzenmang mit Aarau, ein kurioses Relikt aus der Ära der Südbahn-Wirren, der Seetaler, von Beromoutier kommend, das Industrie-Dorf mit Beinwil, endvokalisierend im Dialekt Beuwu ausgesprochen. Dort, am hellen Hallwilersee, wo wir mit den Velos zum Schwimmen fuhren, wenn uns die braungebeizte baadi auf der Angermatt neben dem Friedhof zu eng wurde, steigt man in den echten Seetaler um, der die Leuchtenstadt Luzern mit Leonzburg verbindet und für den Anschluss an die West-Ost-Transversale Genf–Romanshorn sorgt.

Die circa einstündige Fahrt ist mir nicht mehr in Erinnerung, das Esbebestrische wird erst aufzutauen sein im Dankensberg-Kapitel, hingegen steigt die erstmals betretene Stadt zwischen Staufberg und Schlossberg, durch das Pneuma eines Wuhrmann B gefördert, im Lichttupfenstrauß eines vorjugendfestlichen, noch kühlen Junimorgens in mir auf, an dem mich der Versicherungsinspektor mit der Visitenkarte Hermann Brenner jun., auf die ich ebenso stolz war wie darauf, gleich zu heißen wie mein Vater, im Hotel Haller in die Obhut der Wirtin oder einer Serviertochter gab, weil er mit einer Police, auch dies ein magisches Wort, die Villa Malaga aufsuchen musste. Vergeblich werde ich gezetert haben, ihn in die Witwenvorstadt begleiten zu dürfen, ich hatte zwar keine Angst, fühlte mich aber dem Neuen, das in dieser Großstadt, ja Weltstadt auf mich einstürmte, nicht gewachsen. Zu diesen Sensationen gehörte ein Rangiermanöver auf dem Seetalplatz, die kurzatmige, putschstirnige Lokomotive, eine Vokabel, die mit «Perspektive» zu tun haben musste, zog einen einzelnen Güterwaggon an der Barriere vorbei und die im schattigen Häusermeer verschwindende Kurve hoch, worauf er nach kurzer Zeit mit einem SBB-Angestellten in blauer Pellerine im Bremserhäuschen wieder zwischen den rotweiß-rotweißen Gitterstangen erschien und selbsttätig über eine Weiche auf das Stumpengeleise rollte. O diese rußig-klumpige Masse des Stellhebels, o der filigran durchbrochene Signalarm mit der roten Kelle, o der verbrämte Schotter zwischen den Eichenschwellen, o diese erstmals beobachtete Doppelbarriere, o die Dachründe des Viehwagens, dies alles war absolut unerhört, auf der Station Menzenmang noch nie gesehen, es konnte nur möglich sein auf einem Bahnhof Stadt, schlicht das Prinzip Ablaufberg. Indessen und im Sinne der exotischen Überraschungen von Leonzburg-Combray faszinierte mich die Villa Malaga des südländischen Klanges, der Zypressen und Zitronenbäume wegen, die in meinem Innern vorgebildet waren, noch mehr, so dass ich das Hotel Haller als Arrestlokal empfand, nicht weit gefehlt, wenn man an die nahe Strafanstalt mit der oktogonalen Überwachungskuppel denkt.

Nun gibt es bekanntlich in der Elternpädagogik zwei Methoden, sperzige Kinder gefügig zu machen, entweder man bestraft oder man beschenkt sie, und mein Vater verblüffte mich denn auch damit, dass er etwas Wunderbares, Bezauberndes, Blendendes, Unikales, Herzentzückendes, Pyramidales, Totelegantes aus seiner Aktenmappe zog. Ein in rosa Ölpapier verpacktes Spielzeugauto, das Spielzeug, das Auto schlechthin, ein funkelnigelnagelneu glänzendes Schuco-Examico-Cabriolet aus dem Sortiment von Onkel Herberts Laden in Burg. In Fritz Ferschls und Peter Kapfhammers großem Schuco-Buch «Die faszinierende Welt des technischen Spielzeugs» heißt es über mein Modell: «Was hat ein richtiges Auto? Vier Gänge, Leerlauf, Kupplung, Rückwärtsgang. Welches Modell-Auto besaß so etwas schon seit 1936?» Der Schuco-Examico. Er war feuerwehrrot, rot gerippte Polster, er hatte eine Zahnstangen-Lenkradsteuerung, aufgemalte Armaturen, die typische Kulissenschaltung mit dem schräg nach unten zeigenden Retourgangschlitz, eine Handbremse, eine Hupe, ein Radio als Minimusikdosenwerk, einen seitlich vor der Tür angebrachten Kupplungshebel, einen richtigen, an das BMW-Vorbild gemahnenden Kühlergrill, zwei Chromzierleisten, ein Windschutzscheibchen und, den Benzinstutzen imitierend, ein Loch mit dem dazu passenden Aufziehschlüssel, die Antriebsräder waren nur als Halbräder zu sehen, die fleetwoodhaft geschweifte Kotflügelpartie zog sich ohne Unterbrechung der ganzen Flanke entlang, die Türen in Form einer Satteltasche – heute heißt ein Restaurant in Leonzburg so – waren eingestanzt, zwei aufgelötete Silberösen markierten die Scheinwerfer, die Heckhaube zierte das schwarze Nummernschild «Schuco», das dreispeichige Lenkrad war mit Griffrippen versehen, die Pneus pirellihaft strukturiert.

Es tut mir leid, meiner beiden Geschwister Klärli und Kari dergestalt Erwähnung zu tun, dass ich sie als allgemeine Verschleiß-, Ramsch- und Verrottungsgesellschaft einführen muss, denn alles Spielzeug, das Hermann Arbogast Brenner, der Älteste, je geschenkt bekommen, gepflegt und gehegt hat, ging nach dem ungesetzlichen Erbrecht von oben nach unten ohne Entschädigung an Klärli und Kari über, wo es demontiert, ruiniert, verloren, am Pflanzplätz begraben oder sonstwie in die Verschollenheit geschickt wurde. Ein böses Trauma, der Anfang vom Ende der Solidarität unter Brüdern und Schwestern. Doch in einem Zürcher Antiquariat für Märklinbahnhöfe, trommelnde Affen und blecherne Schraubendampfer stand, ein halbes Jahr ist es her, mein Modell, haargenau dasselbe, nur in Creme, auf dem Glastablar, und mich reuten die geforderten 750 Franken keineswegs, so dass ich nun während der Niederschrift dieser Episode im Einfingersystem auf der Mietmaschine Hermes 3000 mit der linken Hand das 14 Zentimenter lange und 5½ Zentimeter breite Auto über die dicken Papierwellen des auf Seite 242, Kapitel 8, Absatz 11 betreffs der Begriffe «Lenken, Weg, Richtung» aufgeschlagenen Dornseiff steuern kann, einen Radius von 24 Zentimetern nachmessend. Vom Literaturkritiker Adam Nautilus Rauch habe ich mich darüber belehren lassen, dass man diese Methode in der Romantechnik Restitutionstherapie nennt, wobei ich selbstredend mich niemals als Romancier, bestenfalls als seine Existenz zu Ende rauchender Prosamer verstanden gewusst haben möchte, aber das Verfahren, das ich bei meinen Freunden Irlande von Elbstein-Bruyère und Bert May, ja auch bei Jérôme von Castelmur-Bondo so bewundere, hat etwas Frappantes. Wir begreifen vermittelst der Anschauung den Maßstab vom Kind zum Erwachsenen, so kann ich auch ergänzen, was für den damals Dreijährigen noch nicht entzifferbar war, was auf dem schwarzen Unterboden steht: Schuco-Examico 4001, Patents Applied in England–Schweiz–USA–Japan–Italia.

Und heute, da ich mir, weil die Befristung meiner Existenz auf zwei bis drei Jahre jegliches Sparen, Geizen und Hamstern absurd erscheinen ließe, den vom Schuco-Examico ausgehenden Jugendtraum erfüllt und einen Ferrari 328 GTS mit abnehmbarem Hardtop geleistet habe, rossa corsa, rennrot, Spitzengeschwindigkeit 260 km/h, muss ich gestehen, dass keine noch so legendäre, noch so reinrassige und sogar vom Papst heiliggesprochene Sportwagenmarke an meinen im Hotel Haller in Verkehr gesetzten Schuco-Wagen herankommt, den ich, weil mich die Kundschaft des Vaters so lange beschäftigte, sogleich «Schuco-Malaga» taufte, und dieweil der Versicherungsinspektor Hermann Brenner jun. mit dem damaligen Inhaber der Malaga-Kellereien an der Niederlenzer Straße über so rätselhafte Dinge debattierte wie Lebens-, Alters-, Invaliden-Assekuranzen, Prämien, Risikozusatz und Doppelauszahlung im Todesfall, fuhr ich im Hotel Haller auf dem Parkettboden, die Riemen, diagonal versetzt, als Straßennetz benützend, mein rotes Cabriolet spazieren, entdeckte bald, dass das Stoßen und Steuern von Hand viel interessanter war als das Abschnurren des Federwerks, weil man nämlich stufenlos beschleunigen konnte, und ich befuhr, noch nichts von der Topographie der Schlossstadt ahnend, den Bleichenrain und die Aavorstadt, die Rathausgasse und die Postgasse, schoss den Malagarain hinauf auf den Freiämterplatz, die Handbremse anziehend und den Gegenverkehr durchlassend, der so kurz nach dem Krieg noch nicht sehr groß sein konnte. Ich erwarb meinen vorschulischen Führerschein, dieses spiegelglatt gebohnerte Parkett im Hotel Haller bedeutete mir die Welt, es stellte die härtesten Anforderungen an die Bereifung, einerseits hupend, anderseits Radio hörend – die Melodie «Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt» als Musikdosengeklimper –, funktionierte ich Tische zu Bergen, Teppiche zu Wiesen und eine Ofennische zur Garage um, ein Bügelbrett wurde zur steilen Rampe, ich prüfte den Uhrwerkmotor, und siehe, der rote Flitzer schaffte die Steigung im ersten Gang, Leonzburg-Combray wurde zu meinem Maranello. Ich, der für die Dauer einer Versicherungsberatung Verdingte, war der Commendatore. Ich saß an den Schalthebeln der kindlichen Macht, steuerte die Zeitvernichtungsmaschine auf Rädern, war vor meinem Vater automobilisiert, und selbst als er zwei Jahre später anno 1947 zu Hause an der Sandstraße mit einem spinatgrünen Fiat Topolino vorfuhr, an dem das einzig Attraktive ein Faltdach und die gelben Räder waren, fühlte ich mich als der Überlegene mit meinem Malaga-Cabriolet, ein Magier der Straße, zwei Bauklötze dienten mir als Wagenheber, wenn ich mit meiner Kinderbillettzange und Mutters Nähnadeln Reparaturen ausführte.

Mein Vater, der du im Alter von 72 Jahren auf der Innerortsstrecke von Birrwil, Birrbu, von einem Sattelschlepper aus Dürrenäsch gerammt und in deinem Fiat – einmal Fiat, immer Fiat, fiat justitia pereat mundus – so zu Tode gestaucht worden bist, dass man dich mit an die vierzig Frakturen aus dem Wrack schneiden musste, du hast mir damals in Leonzburg-Combray zum Katalogpreis von Fr.7.80 ohne besonderen Anlass, nur um mir die Langeweile überbrücken zu helfen, ein Geschenk gemacht, das mehr wert war als heute ein Testarossa, umso verbrecherischer die heillose Verschrottung der Occasion – en occasioon – durch meine Geschwister, du hattest, ein echter Kaufmannssohn wie dein Hermann, in deinem gewiss nicht idealen Beruf Erfolg, weil du großzügig, kulant und philanthropisch warst, erst einmal investieren, dann kassieren – nicht, sie sehen nichts und ernten doch –: das habe ich seit jenem denkwürdigen vorjugendfestlichen Junisommertag im Hotel Haller von dir gelernt, du hast ganz unten angefangen, Milchflaschen bei Onkel Herbert i de miuchi gespült, gütterlibotze, die kaufmännische Lehre in der ehemaligen Stricki deines Onkels Otto Weber-Brenner, heute Firma Burger Söhne, war dir, ich weiß, ein Greuel, beim Postaustragen versäumtest du die Hälfte eines Bürovormittags, um Häuserskizzen anzufertigen, nach dem Börsenkrach standest du vor dem Nichts, als Versicherungsagent den Kunden nachzureisen, war sicher das Letzte, was du dir in deiner Waldau-Jugend erträumt hattest, ich werde mir als Unterfertigter dieser Aufzeichnungen des Öfteren erlauben, das Wort direkt an dich zu richten, mein Vater.

Übrigens war mein Schuco-Examico-Malaga eine getreue Nachbildung des BMW328 Cabriolet, Bristol Motor, aus der Vorkriegszeit, und eigentlich müsste ich die Rechnung für das cremeweiße Double meinen Geschwistern vorlegen, so teuer kommt euch heute zu stehen, was ihr damals in eurem Unverstand ruiniert habt, doch seit mich meine Familie in Brunsleben verlassen hat, meine Frau Flavia, die Bündner Juristin, und in ihrem Gefolge nolens volens die beiden Söhne Hermann Christian Laurent und Matthias Wolfgang Kaspar, ist auch zu Klärli und Kari jeder Kontakt abgebrochen, das ist verständlich, sie gehen ihre langen Wege, ich den meinen kurzen. Was solls, dass der Älteste schon im Mutterleib die schlechteren Voraussetzungen hatte als die Nachzügler, es hat sie nie gekümmert, man kann das gynäkologisch beweisen, das Becken ist noch eng, der Weg durch den Geburtskanal eine Tortur, zu schweigen von den Ängsten der Patientin im Kreißsaal, von der Panik, die sich auf den Säugling überträgt, wenn der Sauerstoff knapp wird, die Blutversorgung aussetzt, das Gesellinnenstück beinahe scheitert, abverheit, erblickt man im Sturz das Licht der Welt, leidet man zeitlebens an Agoraphobie, das heißt, man meidet weite, sonnenhelle Plätze, sucht Arkaden und Nischen auf, im Falle der Zangengeburt, Forceps, stellt sich Klaustrophobie ein, und was ist mein Winterhobby, der Bobsport, denn anderes als der unter Wiederholungszwang stehende Versuch, den Kanal noch einmal zu bezwingen, präzis und schnell, in den Horse Shoe rein, Druck 4g an der Wand mit dem bleckenden Eiszapfengebiss von «monsieur winter go home», sobald man die Innenbancina vor dem Telephone Corner sieht, mit einem Seilzwick raus, rein, paff, raus, Sturzgeburt auf blankem Eis, eine Katastrophe, man schlittert in der Siorpaes-Büchse, im schwarzen Blechsarg hin und her schlagend, mit dem Helm die Bahn dengelnd bis in die Zielkurve Martineau hinunter. Zwar profitieren die Geschwister ungemein von unserer Pionierleistung, doch wie alle Windschattenverwöhnten, dies nun wieder ein Ausdruck aus dem Automobilrennsport, Ferrari, die roten Renner von Maranello mit dem «cavallo rampante» als Emblem, revanchieren sie sich mit Geiz, Abergeiz und nochmals Geiz, nie käme ihnen eine Geste in den Sinn, da eine Kiste Hoyo de Monterrey des Dieux, einfach dafür, dass es im Streitfall immer hieß, der Ältere hat der Vernünftigere zu sein, dafür, mein lieber Hermann Arbogast, dass du ein wenig für uns gepfadet hast, mit de schnüüzi, oder dafür, dass den Eltern für dich der Holländer aus Holz noch zu teuer, für uns der Puppenwagen mit Verdeck und das metallene Rudervelo eine Selbstverständlichkeit war, anderseits zum Beispiel – ich zähle ja nur x-beliebige Beispiele auf – dafür, dass wir deine Wesa-Liliput-Bahn nicht nur zuschanden demontiert, sondern erst noch an deiner Statt das Märklin-Krokodil samt Schienen und Weichen und Zubehör geschenkt bekamen, dafür etwa, was Klärli betrifft, dass sie dank meiner Fürsprache in Zürich Germanistik studieren, eine Zweizimmerwohnung nehmen durfte, oder hinsichtlich Karis, dass ich der ehrgeizigen Mutter klargemacht habe, ein Schulversagen mit zwölf Jahren sei noch keine Lebenstragödie, auch ein Sekundarschüler – die Crème de la Crème musste ja unbedingt in die bez – könne einen anständigen Beruf erlernen. Dies alles wäre mehr als Grund genug für eine Cognac-Rente, stattdessen wird uns die Bevorzugung dessen aufgerechnet, der alles schon früher verwirklichen durfte als die Nachgeborenen, gibt man uns die Schuld, wenn wir im Beruf etwas Extraordinäres erreichen, sie dagegen Kandidaten der Mittelmäßigkeit bleiben. Was auch nicht stimmt, Kari ist heute einer der gefragtesten Landschaftsarchitekten, aber er «musste» eben, von der Pike auf, während Klärli die gebratenen Tauben in den Mund flogen, Klärli dilettiert mit einem Teilpensum an einem Gymnasium herum, item, ich habe mir den Schuco-Examico zurückerobert, habe meinen Söhnen das Krokodil und den Roten Pfeil von Hag und die braune Lötschberg-Lokomotive und den Rangiertraktor und die Re 4/4 und die attraktivste Dampflok mit Tender und echter Rauchbildung geschenkt, immer den älteren Hermann und den jüngeren Matthias genau gleich behandelnd, gewiss ist mir auch bewusst, dass man aus den Fehlern, die man als lehrplätz erdulden musste, nur insoweit lernen kann, als man sich einen Freiraum für andere Erziehungsirrtümer schafft, aus lauter Märklin-Überdruss werden meine Buben vielleicht einmal ausgerechnet von der inzwischen zu einer teuren Antiquität avancierten Wesa-Liliput schwärmen, Inkwil im Kanton Bern, größte Kletterfähigkeit aller Kleinbahnen, Speisewagen mit Beleuchtung lieferbar.

Und ich frage mich gerade eingedenk des Proust-Gesprächs mit Jérôme von Castelmur-Bondo, weshalb uns solche Erinnerungsträger aus der Kindheit so wichtig sind, weshalb wir in weitesten Bögen und ins Unendliche ästelnden Hyperbeln zu unserer Suche nach der verlorenen Zeit ansetzen, auf das ganze Spektrum der Gegenwart sogar ad interim zu verzichten gewillt sind zugunsten einer einzigen, aber kirchenfensterhaft inglasig rubinrot oder honiggelb brennenden Farbe der Vergangenheit. Ich frage und möchte mit Benn, den Bert May so hasst, sagen, ich weiß es auch heute nicht und muss mich nun reisefertig machen, Spielzeugen der Zeit, Anker-Bausteine, Meccano-Zahnräder, Wesa-Bahnhof Arosa mit echten Miniaturzeitungen am Kiosk, der «Kleine Alchimist», Lackmuspapier, das verschollene Bilderbuch «Aus Kinderwelt und Märchenwald», ich denke, wir werden, so viele Examicos wir auch vor uns aufbauen, niemals wieder fühlen, was uns damals göttlich entzückt oder tödlich gekränkt hat – auch in der Urschrei-Therapie bei Frau Doktor Jana Jesenska Kiehl nicht, die ich im Interesse meiner Notizen vor einem Jahr abgebrochen habe, der Urschrei ist niemals der Schrei nach der schönen Mama hinter den sieben Bergen im Kinderheim-KZ hoch über dem Qualensee, denn wir sind Geschöpfe der Zeit – nur manchmal, bei einem tiefen Zug Hoyo des Dieux wätterleinets am Horizont. Vielleicht ist der cremeweiße Schuco-Examico mit dem karussellroten Blechpolster bloß ein Fetisch, und erst wenn ich ihn in Havanna-, Sumatra- oder Brasil-Nebel hülle, ersteht er für musikdosenglückliche Sekunden noch einmal so, wie er damals «wirklich» war im Hotel Haller, rosso corsa, die wahreren Zeugen sind meine eigenen Kinder Hermann und Matthias, denn schmerzlich würgt mich die Vergegenwärtigung der ersten Laute, die sie von sich gaben, nicht Mama, nicht Papa, sondern äte für Auto, dann gagga für Traktor, dann äde für Räder, später kombinatorisch gaggaäde für die großen Hinterräder von Traktoren, ätegingge für Autotransporter, babauzi für Dampfwalze, und kaum hatte ich entdeckt, dass eine DDR-Firma wieder einzelne Schuco-Modelle nachbaut, nämlich den Mercedes-Silberpfeil mit abschraubbaren Rädern, dazugehörigem Werkzeug, Außenspiegeln und Auspuffblende, führte ich sie zu ihrem Sigismund Markus, in das Spielwarengeschäft Hemmeler in Aarau, das die Gattin meines Freundes Adam Nautilus Rauch leitet, doch sie entschieden sich für einen Ergänzungssatz Playmobil, man stelle sich vor, Plastik anstelle von gestanztem Blech; Adam Nautilus Rauch, Literaturredakteur der Schweizer Monatshefte, braucht von seinem Dachstudio in der Hinteren Vorstadt, wo an die 30 000 Bücher alphabetisch geordnet und Jahr für Jahr vom Leseinstitut Legissima neu gestimmt die Regale füllen, nur mit dem Lift in den ersten Stock hinunterzufahren, und schon befindet er sich mitten im Paradies für Furka-Oberalp-Bahnen und Wilesco-Dampfwalzen, ach, wie habe ich die Besuche mit meinen beiden Buben genossen in der immer etwas musealen, von Taubengurren erfüllten, den Obertorturmtrotz auf Dachründen übertragenden, mit der Wasserkunst im Casino-Park schläfrig plätschernden, von Carillonglöckchen erhellten Katzenaugenpflasterstadt, wenn es darum ging, den Stokys-Kasten um das Getriebesortiment G2 zu ergänzen oder für Matthias’ Fastnachtsauftritt eine Gorillamaske anzuprobieren, wie habe ich keinen Augenblick gezögert, zum grünen auch noch das maikäferbraune Krokodil Ce III2 hinzuzukaufen, um unsere Gotthardanlage in der Bibliothek von Brunsleben mit zwei gegenläufigen Güterzügen Basel–Chiasso zu bereichern, und in der Scheidungsklage meiner geliebten Frau steht schwarz auf weiß, ich hätte mich nie einen Deut um unsere Kinder gekümmert.

Kurz, mein Freund und Förderer dieser Tabakblätter, Adam Nautilus Rauch, nennt unweit von Leonzburg-Combray am Hallwilersee ein bequemes Wochenendhaus sein eigen, auf dem weit ausladenden Holzbalkon haben wir, er seine Charatan-Pfeife, ich den unsterblichen Brenner-Mocca aus dem mauve emblematisierten Silberbundpäckli rauchend, schon oft ebendiese Fragen erörtert, was Erinnerung, was Gegenwart, was Zukunft sei, und er plädierte stets rabauzig für das «carpe diem» und erlaubte sich, Prousts Diktum vom magisch Traumhaften der Lektüre, darin Jérôme von Castelmur-Bondo widersprechend, von dem keineswegs klar sei, öb er äine isch, dergestalt zu modifizieren, dass er, «indem ich lesend bin», ein Wort Ernst Jandls abwandelte. Was heißt das, fragte er neulich bei einem Krug Bier, in die Seepappeln blinzelnd mit seinen asiatisch zugeschnittenen Augen im coloradobraunen Seglergesicht, das will keineswegs bedeuten, Hermann, dass ich das Hier und Jetzt, was meine nächste Umgebung, meine zeitgenössische Wachsamkeit betrifft, verpasse, ich flüchte mich nicht in Hildesheimers «Marbot», in Kleists Streit mit Goethe, ich schärfe meinen Blick – und tatsächlich hat er etwas Bussardhaftes – für die Gegenwart, Lesen hat mit Optik mehr zu tun als mit Germanistik, jähhe, schau dir den See an, de see, wenn er glatt wie eine Walfischhaut daliegt oder wenn ihm der Föhn Schaumkronen aufsetzt, merke – salii Carlo, damit meinte er den Papagei im Käfig neben der französischen Schaukel – die Farbtöne, Aquamarin, Smaragd, Türkis, Bleigrau, das sind beileibe nicht Studien, wie sie der Hesse der «Lauscher»-Zeit in seinem Kahn auf dem Vierwaldstättersee trieb, dort findest du ja einen Ästhetizismus bis zum Überdruss – Adam Nautilus saugte bestimmt an seinem Schmurgel –, was ich sagen will, du kannst dir auch bei unausgesetzter Lektüre, wie ich sie berufshalber pflegen muss, wirf nur einen Blick auf das Pult, was sich da allein an Suhrkampereien alles stapelt, die unmittelbare Goethesche Anschauung bewahren, den Ernst des Lebensgenusses, und was die magische Traumtiefe der Lektüre betrifft, so möchte ich den Emeritus – er cha jo nid ände – doch etwas korrigieren, denn sobald Zauberei im Spiel ist, wirkt auch der Circus herein, das heißt für mich der Literaturbetrieb, Jongleure und Tigerdressuren sind etwas Wunderbares für die Manege, nur darf man das Sägemehl nicht mit dem Gras verwechseln, auf das es gestreut wird, den Hochseilakt nicht mit Kunst, den stillen Zweikampf mit einem Buch nicht mit dem scheinwerferbestrahlten Betrieb, jäh wäisch, wenn ich in einer Schauspielhauspremiere sitze, nehme ich hinterher Abstand von chellarfeze, ich überdenke das Geschaute und Gehörte, mache mir kaum Notizen, sitze aber am Sonntagmorgen um sieben an der Schreibmaschine, den Heinz oder Rüedi und diese Brüder persönlich zu treffen, die ganze Mafia, ist Gesellschafts-Hoffart, auf die unsereins nicht angewiesen ist, die Aufgabe des Kritikers besteht darin zu urteilen, und je weniger man da herumtutoyiert, desto eigenständiger fällt die Meinung aus. Siehst du, worauf ich hinauswill, spricht man von Magie und Traum, ist das Träumerische und Schwärmerische nicht mehr fern, Adorantentum, verschtohsch, saliii Carlo, saliii, Devotionalienkult, da halte ich es lieber mit Brecht, Distanz, Verfremdung, kritick, nimmsch no n’es pier, frösch vom fass.

Meine Wenigkeit, Hermann Arbogast Brenner, der von Cigarren einiges, von Literatur so gut wie nichts versteht – wobei der zweite Vorname bezeichnenderweise meint «der vom Erbe Getrennte» –, kam wieder einmal kaum zu Wort, man müsste Schach-Uhren aufstellen, was aber weiter nicht tragisch ist, sondern nur beweist, dass es auch mündliche Autoren, Redesteller gibt – und, dass der Ernst des Lebensgenusses nicht genügt, man braucht ein Publikum, dem man demonstrieren kann, wie vorzüglich die Calamares waren –, und gar ein Bernhard-Spezialist wie Adam Nautilus Rauch ist gegen das Suadeske nicht immer gefeit, weshalb er einem Jérôme von Castelmur-Bondo die Solistenrolle neidet, jede Gesellschaft erträgt nur einen Erzähler. Nur erlaubte ich mir den Zwischengedanken, dass die Dominanz der Erinnerung wahrscheinlich gegen das Lebensende hin zunimmt, aber als ich dem Freund mein Gefühl mitzuteilen versuchte, dass mein U-Boot sinke und sinke und der Tiefenmesser nicht zum Stillstand komme, meinte Adam Nautilus in seiner abweisenden Bärbeißigkeit, es sei ja wohl nicht mit Sicherheit festzustellen, wer von uns beiden solch nautischen Unternehmungen, womit er auf die Überquerung des Styx anspielte, näher stehe, sicher er, was das sportliche Handwerk des Segelns auf dem Mittelmeer betrifft, seine Yacht liegt ständig auslaufbereit in San Remo, indessen durchaus ich, der um zwanzig Jahre Jüngere hinsichtlich der infausten Prognose. Es ist, dachte ich kurz leer schluckend, bevor er von seinem letzten Turn zu schwärmen begann, sehr wohl festzustellen, man braucht nur einen Blick auf die Röntgenbilder zu werfen, aber das Leben ist ja zum Glück so eingerichtet, dass sich die Kranken bei den unheilbar Gesunden entschuldigen müssen, nicht umgekehrt, Rücksicht wird von den Benachteiligten, nicht von den Schicksalsverwöhnten gefordert, es ist der Moribundus, der sich um das Ergehen seines Besuchers am Sterbebett zu erkundigen hat, und dieser Freund, der ein paar Kranzblumen deponiert hat, wobei ich nun nicht in concreto Adam Nautilus Rauch meine, der würde die Schwelle eines Hospitals schon gar nie betreten, entblödet sich nicht, angesichts des terminalen Falles ausschweifend von seiner Migräne oder seiner letzten Zahnkontrolle zu reden, derart verrutscht sind die Proportionen, kurz, es gibt aus dem Dasein heraus keine Verhältnismäßigkeit zum Tod, wer an der Reihe ist, hat sich möglichst ohne Störung der Nachtruhe davonzuschleichen, woraus unter anderem auch resultiert, dass der eine apodiktisch erklärt, er habe keine Zeit, sich mit der Erinnerung an einen Schuco-Examico zu beschäftigen, der andere dagegen, es sei ihm nicht vergönnt, drei Wochen lang auf dem Mittelmeer herumzuschippern, nichts gegen Seglerbräune und San Remo, nur hat Poseidon, der auf dem Grund der Meere rechnet und rechnet, vor dem Weltuntergang keine Möglichkeit mehr, an die Oberfläche zu tauchen, und siehst du, Adam Nautilus Rauch, das ist es, mein U-Boot sinkt und sinkt, und alles Fluten nützt nichts mehr. Wer von beiden hat nun recht? Vielleicht doch jene Sonnenuhr in Südbayern, auf deren Spruchband steht: Meine Zeit ist nicht deine Zeit. Und trotzdem war der eine des anderen Zeitgenosse. Lo doo, de Hetz chunnt!

3.  SANDTÖRTCHEN MADELEINE, SANDBLATT VORSTENLANDEN