Blätterrauschen - Holly-Jane Rahlens - E-Book
SONDERANGEBOT

Blätterrauschen E-Book

Holly-Jane Rahlens

0,0
7,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Als es an einem stürmischen Herbstabend plötzlich an die Hintertür zum Leseclub der Buchhandlung «Blätterrauschen» klopft, ahnen Oliver, Iris und Rosa noch nicht, dass sie bereits mitten in einem großen Abenteuer stecken. Denn der Junge vor der Tür kommt aus der Zukunft. Und er braucht eine Weile, um zu erkennen, dass er sich nicht in einem virtuellen Spiel befindet, sondern gegen seinen Willen in die Vergangenheit gereist ist – ins 21. Jahrhundert. Gemeinsam mit Colin gelangen die Kinder zunächst in eine Parallelwelt und schließlich in die Zukunft – und müssen feststellen, dass sie alle möglicherweise nur Figuren in einem großen Komplott sind, in dem es um nicht weniger geht als um ihr Leben!

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 343

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Holly-Jane Rahlens

Blätterrauschen

Aus dem Englischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Als es an einem stürmischen Herbstabend plötzlich an die Hintertür zum Leseclub der Buchhandlung «Blätterrauschen» klopft, ahnen Oliver, Iris und Rosa noch nicht, dass sie bereits mitten in einem großen Abenteuer stecken. Denn der Junge vor der Tür kommt aus der Zukunft. Und er braucht eine Weile, um zu erkennen, dass er sich nicht in einem virtuellen Spiel befindet, sondern gegen seinen Willen in die Vergangenheit gereist ist – ins 21. Jahrhundert.

Gemeinsam mit Colin gelangen die Kinder zunächst in eine Parallelwelt und schließlich in die Zukunft – und müssen feststellen, dass sie alle möglicherweise nur Figuren in einem großen Komplott sind, in dem es um nicht weniger geht als um ihr Leben!

Über Holly-Jane Rahlens

Holly-Jane Rahlens kam Anfang der siebziger Jahre aus ihrer Heimatstadt New York nach Berlin. Mit Funkerzählungen, Hörspielen und Solo-Bühnenshows machte sie sich dort in den achtziger und neunziger Jahren einen Namen. Außerdem arbeitete sie als Journalistin, Radiomoderatorin und Fernsehautorin. Mit «Becky Bernstein Goes Berlin» debütierte sie 1996 als Buchautorin. Ihr Jugendbuch «Prinz William, Maximilian Minsky und ich» wurde mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet und kam 2007 in einer Drehbuchadaption der Autorin ins Kino.

For Noah his friends their future of course

1. Kapitel Blätterrauschen

Irgendetwas stimmte nicht. Alles war auf einmal so still. Das Rauschen der Blätter an den Bäumen draußen im Hof war verstummt. Ebenso das Stimmengemurmel hinter der Tür zur Buchhandlung. Selbst die Uhr an der Wand tickte nicht mehr. War es nicht schon zehn nach vier gewesen, als er das letzte Mal hingeschaut hatte? Außerdem war es viel kälter im Zimmer.

Oliver lauschte auf Geräusche, irgendwelche Geräusche, egal was – und hatte plötzlich das Gefühl, dass jemand direkt hinter ihm stand und ihm ins Ohr flüsterte. Er fuhr herum. Aber da war niemand. Nichts.

Rosa, die ihm gegenüber am Tisch saß, blickte von ihrem Buch auf. «Was?», sagte sie. «Was ist denn?»

Jemand war im Zimmer, ganz bestimmt. Oliver öffnete den Mund, um Rosa zu warnen, aber da schreckte sie bereits hoch und drehte den Kopf ruckartig zur Seite wie ein Hund, der die Ohren spitzt. Was immer es war, jetzt hatte sie es auch gespürt. Sie umklammerte ihre Stuhllehne.

Und dann drehte sich auch Iris, die bis dahin gedankenverloren vor dem Regal mit den Leseexemplaren gestanden hatte, blitzartig herum. Ihre Augen huschten durch den Raum. Selbst sie schien diese merkwürdige Veränderung in der Atmosphäre wahrzunehmen. Iris hatte zwar ein Gehirn von der Leistungsfähigkeit des Genfer Teilchenbeschleunigers, aber wenn es darum ging, die Signale ihres Körpers zu deuten, war sie hoffnungslos unterentwickelt. Doch jetzt hatte sie immerhin gemerkt, dass ihr Herz sehr viel heftiger klopfte als normal, denn sie griff sich an die Brust, als wollte sie es beruhigen, wobei sie das Buch vergaß, das sie noch immer in der Hand hielt. Genau in dem Moment, als es zu Boden fiel, krachte ein Donnerschlag. Ein Blitz erhellte den Raum – kraaack!

Die Kinder fuhren zusammen.

Oliver hörte eilige Schritte. Die Tür flog auf, und der frische, feucht-erdige Geruch der Bonsaibäume aus dem Laden strömte ins Hinterzimmer. Cornelia Eichfeld, die Inhaberin der Buchhandlung BLÄTTERRAUSCHEN, steckte den Kopf herein. Hinter ihr konnte Oliver mehrere Kunden sehen und die zwei Meter hohen, vollgestopften Bücherregale, in denen hier und da Miniaturbäume standen, beleuchtet wie in einer Kunstgalerie, jeder eine eigene kleine Topflandschaft. «Ihr müsst leider ohne mich anfangen», sagte Cornelia. «Bernd hat sich verspätet. Er hat gerade angerufen. Sorry.» Ihre atemlose Art zu sprechen erweckte immer den Eindruck, als wäre sie in Eile. «Muss wieder zu meinen Kunden. Ciao, ciao.» Sie warf den Kindern ein Lächeln zu, doch diese starrten sie nur verstört an. «Hey, alles in Ordnung mit euch?» Cornelias Augen bohrten sich in Oliver.

Oliver nickte, aber als er den Mund öffnete, um zu bejahen, kam nur ein Keuchen heraus.

«Oliver?», fragte Cornelia.

«Alles okay», brachte er mühsam hervor, räusperte sich und griff in seinen Rucksack. Er zog den Mini-Inhalator heraus, den er immer dabeihatte. «Ich bin bloß gegen irgendwas hier im Zimmer allergisch.» Er schob das Mundstück zwischen die Lippen, drückte und inhalierte die Sprühwolke. Er schenkte Cornelia ein munteres Lächeln und wartete darauf, dass seine Brust sich entspannte.

«Ihr drei habt doch wohl keine Angst vor dem kleinen Gewitter da draußen, oder? Weil, wenn doch –»

«Ach, was! Du hast uns bloß überrascht, das ist alles», sagte Iris und hob das Buch auf, das sie fallen gelassen hatte. «Ich war gerade dabei, über die Komplexität von Blitzentladungen nachzudenken, deren Schwingungen sich in der Luft fortsetzen und einen Knall auslösen, gemeinhin als Donner bezeichnet, als du reinkamst und –»

«So, so», sagte Cornelia abgelenkt. Sie schien gar nicht richtig zuzuhören.

Aber Iris, bemerkte Oliver, wollte Cornelia offensichtlich nicht erzählen, dass eben etwas sehr Seltsames im Zimmer geschehen war. Und auch Rosa nicht. Was auch immer da gewesen war, es ging nur sie drei etwas an und niemanden sonst.

«Das kannst du mir später ja noch genauer erklären», sagte Cornelia und lächelte Iris freundlich an. Dabei fiel ihr Blick auf die Mangas und alten Comichefte, die vor Oliver lagen, und auf Rosas Stapel Romantasy-Romane. «Ihr habt ja genug zu lesen, um euch die Zeit zu vertreiben. Heute seid ihr nur zu dritt. Emil hat sich krankgemeldet, und alle anderen sind in den Ferien. Okay?»

Die Kinder nickten brav.

«Und streitet euch bitte nicht wegen irgendwelcher Bücher.» Cornelia sah erst Iris an, dann Rosa. «Wie wollt ihr je rausfinden, was euch gefällt, wenn ihr nicht alles mal ausprobiert?» Sie wandte sich zum Gehen, schaute sich dann aber noch mal im Raum um. Oliver glaubte zu sehen, wie sich ihr Gesicht kurz verdunkelte, aber er war sich nicht ganz sicher, weil es so viel in ihrem Gesicht gab, das ihn davon ablenkte. Cornelia hatte Lachfältchen um den Mund, Krähenfüße an den Augen wie Strahlenkränze und Sorgenfalten quer über der Stirn wie eine Bulldogge. Olivers Vater meinte immer, sie sähe genauso aus wie ihre Bonsais – prähistorisch. Er meinte es als Scherz, aber in Wahrheit klang es bloß gemein.

Cornelia rief den Kindern ein letztes «Ciao, ciao» zu, warf sich den langen weißen Zopf auf den Rücken und eilte zurück zu ihren Kunden. Die Tür fiel hinter ihr zu.

Rosa, Oliver und Iris waren wieder allein.

Oder etwa nicht?

Sie warteten auf ein weiteres Zeichen, aber was auch immer sie eben aufgeschreckt hatte, war nicht mehr da. Sie atmeten auf.

«Ihr wisst natürlich», begann Iris, «dass Donner eigentlich –»

«Jaja, wir wissen Bescheid», sagte Oliver, der kein bisschen Bescheid wusste, was Donner anging. Er wollte bloß nicht, dass Iris ihnen wieder einen Vortrag hielt. Sie war ihm unheimlich. Sie redete wie eine Erwachsene. Die Komplexität von Blitzentladungen … Hallo? Konnte sie nicht wie eine Zwölfjährige sprechen? Für ihr Alter wusste sie einfach viel zu viel. Oliver war dreizehn, und sie war trotzdem schon eine Klasse über ihm, was zugegebenermaßen ebenso sehr an ihm lag wie an ihr: Er war einmal sitzengeblieben, in dem Jahr, als er Asthma bekam und jede Menge Unterricht verpasst hatte. Aber er hatte es trotzdem aufs Gymnasium geschafft – sehr zur Überraschung seines Vaters. «Du und Gymnasium?», sagte sein Vater immer, wenn er von seinen Videospielen oder dem fünften Bier oder einem Tippzettel aufsah. «Ha! Das wird doch sowieso nix.»

Oliver fischte einen grünen Gelstift aus seiner Federtasche.

«Es freut mich, dass du dich mit Donner auskennst», sagte Iris zu Oliver. «Dann muss ich dir ja eine Sache weniger erklären.» Sie ließ sich auf ihren Stuhl fallen. Sie war ein pummeliges Kind und ein bisschen tollpatschig, und sie stieß Oliver aus Versehen mit ihrem Bein an. Oliver sah sie so erschrocken an, als wäre sie ein Zombie.

Iris tat so, als hätte sie nichts gemerkt. Solche Blicke erntete sie ständig. Sie kam nicht gut mit anderen Kindern aus. Und diese nicht mit ihr. Vielleicht wäre es einfacher, wenn sie sich anders anziehen würde, dachte Oliver. Aber heute sah sie wieder aus wie ein Papagei: verwaschene rote Cordhose, die ihr zu groß war; lila-orange karierte Bluse, bei der ihm schon vom bloßen Hingucken schwindelig wurde; grüne Daunenweste. Aha – vielleicht japste er deshalb so nach Luft. Daunenfedern. Dagegen war er allergisch.

Oliver fing an, einen Papagei zu zeichnen: den Kopf, den Körper, den –

«Also», sagte Iris und goss sich eine Cola ein. «Was war das eben? Wie ominös.» Sie nahm einen Schluck und rülpste leise.

Keiner sagte etwas – Oliver, weil er überlegte, was «ominös» bedeutete, und Rosa (die wusste, dass es «unheimlich» hieß), weil sie noch zu aufgewühlt war, um zu antworten.

Oliver fiel auf, dass die Knöchel von Rosas rechter Hand ganz weiß waren, so fest umklammerte sie die Stuhllehne. Ihre linke Hand dagegen lag still auf der Tischplatte, leblos unter diesem fleischfarbenen gummiartigen Handschuh, den sie immer trug. Er hätte gern gewusst, was darunter war. Wahrscheinlich eine Art mechanische Hand, vermutete er, wie bei Robotern, und der Handschuh sollte sie schützen und aussehen lassen wie eine echte Hand. Das hatte seine Mutter ihm jedenfalls so erklärt, und die wusste fast alles über jeden im Haus. Sie war die Hausmeisterin. Eigentlich war sein Vater der Hausmeister, aber der machte überhaupt nichts mehr im Haus – außer Krach, wenn er von der Eckkneipe nach Hause kam. Oliver und seine Mutter erledigten alle Arbeiten. Oliver hatte sogar einen eigenen Generalschlüssel. Früher hatte auch Thilo manchmal mitgeholfen, aber jetzt war er weg. Keiner wusste, ob er – Nein! Oliver wollte nicht an seinen Bruder denken. Nicht jetzt. Das machte ihn nur wütend. Auf Thilo. Auf seinen Vater. Sogar auf seine Mutter. Und auch auf sich selbst.

Oliver starrte auf Rosas Prothesenhandschuh. Es war eine gute Nachahmung einer Hand, mit Adern, Falten an den Knöcheln und Fingernägeln mit Halbmonden. Aber sie wirkte irgendwie nicht richtig echt, weil sie so leblos war – Oliver hatte noch nie gesehen, wie sie sie benutzte. Er sah Rosa überhaupt nur noch selten, und heute war er erst zum dritten Mal hier im Leseclub. Er fragte sich, ob die Finger richtig beweglich waren – elektronisch, versteht sich. Vielleicht ließ sich sogar das ganze Handgelenk drehen. Es wäre bestimmt cool, die Prothese zu zeichnen.

«Was glotzt du so?», sagte Rosa zu Oliver. Es klang hochnäsig, zornig, genervt, gekränkt, unsicher – eine ganze Reihe von Gefühlen war in diesen einen Satz hineingepresst. Aber vor allem klang sie hochnäsig, zumindest in Olivers Ohren. Sie war schon immer ein bisschen so gewesen, aber seit dem Unfall vor einem Jahr war es noch schlimmer geworden. Eine Heldin mit zwölf! Sie hatte ihre kleine Schwester Lily davor gerettet, von einem Auto überfahren zu werden, indem sie Lily im letzten Moment zur Seite gestoßen hatte. Aber dabei war sie selbst verletzt worden. Die Sache war sogar in den Abendnachrichten gekommen. Vielleicht war es ihr gutes Recht, hochnäsig zu sein. Aber trotzdem.

«Hallo?», sagte Rosa. «Bist du taub? Was glotzt du –»

«’tschuldigung», meinte Oliver. Er wollte sie ganz bestimmt nicht verärgern. Er sah weg und fing wieder an, in seinem Skizzenbuch zu zeichnen.

Eine oder zwei Minuten lang beobachteten Iris und dann auch Rosa, wie sich seine Hand geschickt über das Papier bewegte. Er hatte den Papagei vergessen und malte jetzt einen Blitz mit einem silbernen Gelstift. Die Mädchen schauten zu, wie Oliver K-R-A-A-A-C-K! in fetten Comicbuchstaben über den senkrechten Zickzackstrich schrieb.

KRAAACK!, das war auch der Name, den Oliver seinem Bonsai gegeben hatte. Jedes Mitglied des Leseclubs – zurzeit insgesamt neun – hatte einen Bonsai im Laden. Sie mussten sich um ihren jeweiligen Baum kümmern und erhielten dafür kostenlos Lesefutter. Iris hatte einen Zwergapfel und Rosa einen Rot-Ahorn im Miniformat, schlank und gerade. Oliver hatte sich für ein verwittertes Bäumchen entschieden, das zahllose klitzekleine dunkelgrüne Blätter und einen knorrigen Stamm besaß, der tief nach rechts geneigt war, als hätte der Wind ihn seit mindestens drei Billionen Jahren in diese Richtung gedrückt. Die Rinde war extra ausgehöhlt worden, damit es aussah, als wäre der Baum irgendwann mal vom Blitz getroffen worden. Deshalb hatte er ihn KRAAACK! genannt. Oliver wollte es gar nicht glauben, als Cornelia ihm verriet, dass es ein Olivenbaum war, also ein Namensvetter von ihm! Sie hatte außerdem erklärt, dass Olivenbaum-Bonsais robuste kleine Pflänzchen wären, und gemeint, es wundere sie überhaupt nicht, dass Oliver sich ausgerechnet den ausgesucht hatte.

Oliver kannte Cornelia, seit er denken konnte. Sie war immer freundlich zu ihm und lobte seine Zeichnungen. Sie ließ sich bei Olivers Mutter die Haare schneiden, und dort hatte sie die Zeichnungen gesehen, die seine Mutter mit Tesafilm an den Spiegel ihres Frisierplatzes klebte. Monatelang hatte Cornelia versucht, Oliver dazu zu überreden, beim Leseclub mitzumachen, aber er las nicht gern und erfand stets neue Ausreden, nicht hinzugehen. «Die will dich davor bewahren, dass du so wirst wie ich», sagte sein Vater manchmal und lachte dann. Schließlich, als Oliver beim besten Willen keine Ausrede mehr einfiel, willigte er ein, es mal auszuprobieren. Wenn Thilo wüsste, dass er bei einem Leseclub mitmachte, würde er sich bestimmt kaputtlachen.

Draußen im Hinterhof rauschten die Blätter an den Bäumen – braun, rot und gelb – im Herbstwind. Oliver lauschte auf das knisterige Geräusch. Auch das Fenster von seinem Zimmer in der zweiten Etage ging auf den Hof mit den riesigen Eichen hinaus. Er fand es schön, mit ihrem Geraschel im Ohr einzuschlafen.

Das Licht flackerte. Die Kinder blickten ängstlich hoch, horchten gebannt auf ungewöhnliche Geräusche. Eine Fliege summte, das war alles.

Iris sprang auf und huschte durchs Zimmer. Unterwegs verlor sie einen ihrer Clogs. Sie schlüpfte wieder hinein und trat ans Fenster zum Innenhof.

Der Hof war groß und besaß einen blühenden Garten, einen mit Kopfsteinen gepflasterten Weg, der zwischen gestutzten Hecken hindurchführte, altertümliche Gaslampen, einen Geräteschuppen, zwei Bänke, einen Sandkasten und eine Wippe. Eingänge führten in das Gartenhaus und in den rechten und den linken Seitenflügel.

Als Oliver sieben war und wohlhabendere Familien wie die von Rosa die frischsanierten Eigentumswohnungen bezogen, hatte Rosa gelegentlich mit ihm auf der Wippe geschaukelt. Aber das war lange her. Später hatte er sie öfter vom Fenster seines Zimmers aus beobachtet, beim Spielen mit ihren Freundinnen, aber seit dem Unfall kamen sie nicht mehr her.

Am Fenster studierte Iris die fliegenden Blätter. Vermutlich versuchte sie, irgendwelche verborgenen Muster zu entdecken, die sie beim Fallen bildeten. Oder vielleicht waren die schabenden, klopfenden Geräusche, die sie machten, wenn sie gegen das Fenster schlugen, ein Geheimcode, den Iris entschlüsseln musste. Sie drehte sich um. «Tja, was auch immer das war, ein Geist war es jedenfalls nicht! Es gibt keine Geister.»

Oliver glaubte auch nicht an Geister, aber seine Augen suchten den langen Raum trotzdem nach verräterischen Anzeichen für ihre Existenz ab: Er sah Kisten mit Büchern, Regale mit Büchern, einen weiteren Tisch mit Büchern, ein großes Fenster zur Straße, die Tür zum Hauptladen, und ganz hinten, neben dem Fenster zum Hof, noch eine Tür. Sein Blick blieb auf einem Regal hängen, in dem eine moderne Espressomaschine thronte. Das Gerät hatte mehr Knöpfe als ein Flugzeugcockpit.

«Also, wenn es kein Geist war, was war es dann?», fragte Iris.

«Verrat’s uns doch endlich», sagte Rosa. «Du platzt doch gleich deswegen.»

«Na schön», sagte Iris munter, unbeirrt von Rosas barschem Ton, «ich verrat’s euch.»

Rosa schnaubte.

«Der plötzliche Temperaturabfall ist vermutlich durch die undichte Tür zu erklären», sagte Iris und zeigte Richtung Hof.

«Aber ich hab irgendwen, irgendwas gespürt, hier im Zimmer», sagte Oliver. «Direkt hinter mir. Ich hab was gehört.»

Iris senkte dramatisch die Stimme. «Das kann durch eine niederfrequente Schallwelle ausgelöst werden. Oder durch ein Magnetfeld.» Sie strahlte ihn an, und dabei kamen zwei Frontzähne so groß wie Moses’ steinerne Gesetzestafeln zum Vorschein. Einer davon stand vor wie ein Reißzahn. Bei diesem Anblick hätte Oliver fast gelacht, aber das wäre gemein gewesen. Stattdessen fragte er: «Wieso weißt du das alles?»

«Weil ich lese», antwortete Iris. Sie blickte auf das Manga, das aufgeschlagen vor Oliver lag. Und dann auf Rosas Liebesromane. «Richtige Bücher.»

Rosa schnaubte erneut.

«Ein Magnetfeld?», fragte Oliver, ohne sich die Beleidigung zu Herzen zu nehmen.

«Das kann durch elektronische Geräte erzeugt werden.»

«Aber hier im Raum sind bloß Bücher», sagte Rosa.

Iris zeigte auf die Espressomaschine. «In dem Ding dadrüben stecken so viele elektronische Teile, mit denen könnte man die Internationale Raumstation noch mindestens zehn Jahre in der Umlaufbahn halten.»

Es war ein Witz, aber keiner lachte, denn genau in diesem Moment verdunkelte sich draußen der Himmel – als hätte ihn jemand im Vorbeigehen auf Nachtbetrieb gestellt. Die Kinder standen auf und traten ans Fenster zur Straße. Dicke, fette Regentropfen klatschten gegen die Scheibe. Vielleicht war es –

Kraaack! Ein ohrenbetäubender Donnerschlag. Ein Blitz ließ den Himmel taghell aufleuchten. Die Kinder fuhren zurück, als hätten sie einen Stromschlag bekommen.

Und dann hörten sie ein Klopfen – an der Hintertür. Ein sehr lautes und beharrliches Klopfen. Sie wirbelten herum.

Die Hintertür wurde niemals benutzt, von niemandem. Aber offensichtlich war da draußen im Hof jetzt jemand. Jemand, der im strömenden Regen wie ein streunender Hund darauf wartete, hereingelassen zu werden.

Die Kinder eilten zum Hoffenster neben der Tür und spähten hinaus in die Dunkelheit. Aber sie sahen bloß ihr eigenes Spiegelbild. Oliver sprang zum Schalter und knipste das Licht aus.

Jetzt konnten sie einen Jungen vor der Tür sehen. Er war sehr groß und sah etwas älter aus als sie. Er trug ein dunkles T-Shirt, Jeans, eine dünne, burgunderrote Jacke und eine Baseballmütze. Erstaunlicherweise war er vollkommen trocken.

Der Fremde betrachtete die Kinder durch das Fenster mit einem Blick echter Verwunderung. «Hi there!», rief er mit breitem Lächeln. «How are you?»

Die Kinder glotzten mit offenem Mund.

Der Junge klopfte ans Fenster. Es rappelte.

Der Wind heulte, und das Rauschen der Blätter an den Bäumen war sehr laut.

Die Kinder starrten weiter.

Der Junge klopfte erneut, diesmal lauter. «Open the door!», forderte er. «Now!»

Die Kinder brauchten keine Übersetzung, um zu begreifen, dass hier gerade etwas ganz Außergewöhnliches geschah.

Oliver öffnete die Tür und ließ den Jungen herein.

2. Kapitel So beautiful

«Thanks!», sagte der fremde Junge und trat in das Hinterzimmer der Buchhandlung. Er schaute sich mit großen verwunderten Augen um. «This. Is. So. Totally. Cool.»

Oliver schloss die Tür mit dem Generalschlüssel ab, der mit einer Kette an seinem Rucksack befestigt war.

Der Neuankömmling grinste. «Fantastic! Absolutely brilliant!» Er nahm ein Buch in die Hand, schnupperte daran, blätterte die Seiten durch. «I love it!», rief er. Dann drehte er sich zu Rosa, Oliver und Iris um. «And you! –You’re perfect!» Sein Blick fiel auf Rosa, und sie wurde rot. «You’re so beautiful!», sagte er.

Das stimmte: Rosa war schön. Ihr Gesicht, dachte Oliver, hätte eine von diesen alten Kamee-Broschen zieren können, die er in dem Schmuckgeschäft ein Stück die Straße runter gesehen hatte: zart modellierte Züge, goldblond gelocktes, welliges Haar, das ihr bis auf die Schultern fiel, große grünbraune Augen, Wangen, so rosig und zart wie ein Sonnenaufgang im Frühling, eine Nase, die Dr. Zöllner, der Schönheitschirurg im Vorderhaus, sicher gern mal nachbilden würde. Ja, sie war schön. Deshalb war das Kompliment des fremden Jungen durchaus berechtigt. Aber war es auch in Ordnung, das so laut auszusprechen? Nein! Absolut nicht!

Der Junge starrte Rosa an. «So beautiful», seufzte er. Rosa wich erschrocken einen Schritt zurück, doch der Junge folgte ihr. Er hob die Hand, um ihre Haare zu berühren, stolperte aber über ein Lampenkabel, ehe er nah genug war.

Gut so, dachte Oliver.

Irritiert betrachtete der Junge das Lampenkabel einen Moment, folgte ihm mit den Augen bis zum Stecker in der Steckdose. «Oh! Electricity!», rief er begeistert. «Wow!»

Rosa, die ein paar Wochen älter war als Oliver, meinte offenbar, sie müsse die Sache in die Hand nehmen. «Entschuldigung», sagte sie mit der herrischen Stimme, die sie sich angewöhnt hatte, seit sie vor ein paar Monaten dreizehn geworden war, «willst du zum Leseclub?»

Der Junge sah einen Moment verwirrt aus, doch dann sagte er: «Oh, right, I get it. You’re programmed to speak German.»

«Programmed?», sagte Oliver. Er wandte sich an Iris und Rosa. «Wovon redet der?»

«Er hat gesagt, wir wären programmiert, Deutsch zu sprechen», antwortete Iris. «Er spricht nämlich Englisch.»

«Wir wissen, welche Sprache er spricht, Iris», sagte Rosa genervt.

Oliver versuchte sich zu erinnern, ob seine Mutter irgendwas davon gesagt hatte, dass bei irgendjemandem im Haus Leute zu Besuch waren. Er kramte sein bestes Schulenglisch hervor. «You visit someone?», sagte er. «Here in the house?»

«Okay, okay», sagte der Junge, ohne Oliver zu beachten. «Schon verstanden. Ich soll also Deutsch reden. Seht ihr? Kann ich. Fließend. Können wir alle.»

Und tatsächlich, jetzt sprach er perfekt Deutsch, aber mit einem Akzent, der irgendwie ulkig klang.

Eine Bewegung draußen auf der Straße fesselte die Aufmerksamkeit des Jungen, und er lief zum Fenster. Ein Mann stieg aus einem Taxi. «Oh, wow! Ein Mercedes E 200!» Er schnupperte. «Und fossiler Brennstoff!» Dann fiel sein Blick auf die Espressomaschine. Er hob den Deckel von dem Behälter mit Kaffeebohnen und nahm eine Nase voll. «Hmm», sagte er. «Tolles Aroma.»

«Hallo?», sagte Oliver zu dem Jungen. «Bist du bei jemandem hier im Haus zu Besuch?»

Der Junge, der wirklich sehr groß war, blickte von ziemlich weit oben auf Oliver herab. Oliver war daran gewöhnt, dass Leute auf ihn herabblickten, Erwachsene und seit einer Weile auch seine Altersgenossen. Er wartete geduldig darauf, endlich auch zu wachsen.

«Und wer bist du, junger Mann?», fragte der fremde Junge mit dieser seltsam hohen Singstimme, die Erwachsene immer für kleine Kinder bereithalten. Er streckte die Hand aus, als wollte er Olivers linken Arm packen, aber Oliver schubste ihn weg. Damit hatte der Junge nicht gerechnet und stolperte rückwärts gegen ein Bücherregal. Zugegeben, Oliver war klein, er besaß die sanfte Seele eines Künstlers und ziemlich mangelhafte Englischkenntnisse, aber er hatte auch schnelle Reflexe – besonders, wenn er sich bedroht fühlte. Es hatte eben auch seine Vorteile, wenn der große Bruder ein Raufbold war. Oliver hatte so viele Schienbeintritte und Kopfnüsse weggesteckt, er war so oft mit einem dreihundert Seiten dicken Mathebuch auf den Schädel geschlagen worden, dass er schon vor langer Zeit gelernt hatte, sich zu verteidigen.

Der Fremde wurde blass. «Entschuldigung. Das war nicht böse gemeint. Ich wusste nur nicht, dass ihr euch tatsächlich so verhaltet, als ob ihr real seid.»

«Als ob wir real sind?», fragte Oliver.

Der Junge war sichtlich durcheinander. «Ich wollte bloß mal sehen, ob sie euch auch Muskeln verpasst haben. Mehr nicht.»

Die Situation wurde immer verwirrender – besonders für Rosa. «Ich glaube, wir sollten Cornelia holen», erklärte sie und ging auf die Tür zum Laden zu.

«Nein!», sagte der Junge. «Nicht!» Er hob den Arm, um sie aufzuhalten, zog ihn aber schnell wieder zurück, weil er nicht auch noch von ihr gegen ein Regal geschubst werden wollte. Aber als Rosa an ihm vorbeifegte, streifte seine Hand versehentlich ihre Prothese.

Rosa blieb für einen Augenblick wie versteinert stehen. Dann färbten sich ihre Wangen knallrot, und sie versteckte die Hand in der Tasche ihrer Strickjacke. Oliver stellte sich vor sie, als wollte er sie vor den Annäherungsversuchen des Jungen schützen, aber der hatte die Prothese längst gesehen.

Rosa schob Oliver mit ihrem gesunden Arm weg. «Ich kann auf mich selbst aufpassen!» Sie beäugte den Fremden misstrauisch. «Und? Warum sollen wir Cornelia nicht holen?»

«Ist Cornelia eine Erwachsene?»

«Ihr gehört die Buchhandlung», entgegnete Rosa. Sie zeigte auf die Tür. «Dahinter.»

«Die haben gesagt, Erwachsene sollte man lieber nicht mit einbeziehen», sagte der Fremde.

«Die?» Rosa riss allmählich der Geduldsfaden.

Der fremde Junge nahm seine Baseballmütze ab und kratzte sich am Kopf, als würde er nachdenken. Sein Haar fiel herab, voll und dunkel und wellig. Es reichte ihm fast bis zu den Schultern, aber es war nicht zottelig wie bei den meisten Jungen mit langen Haaren. Und es roch gut, bemerkte Oliver, wie die Zedernholzklötzchen, die seine Mutter gegen Motten in den Schrank legte. Die Augen des Jungen hatten den ungewöhnlichsten Türkiston, den er je gesehen hatte. Ob er diese Farbe zusammenmischen könnte, fragte er sich. Hm … Blau und Gelb zu gleichen Teilen, um Grün zu bekommen, dann nach und nach mehr Blau zugeben, um Türkis zu bekommen, und dann –

«Hör mal», sagte Rosa. «Erzählst du uns jetzt, warum du hier bist? Oder soll ich –» Sie sprach den Satz nicht zu Ende und ging weiter in Richtung Tür. «Vergiss es. Das ist lächerlich!»

Iris stellte sich ihr in den Weg. «Moment mal! Interessiert dich denn gar nicht, was er zu sagen hat? Cornelia können wir immer noch holen.» Sie steckte mit Oliver und Rosa die Köpfe zusammen und senkte die Stimme. «Ich wette, das ist ein Scherz. Ein raffinierter Scherz, hinter dem Cornelia steckt. Wahrscheinlich spielt er eine Figur in einem Buch nach, das sie als nächste Lektüre für uns geplant hat.»

Im Gegensatz zu Iris hielt Oliver den Jungen einfach für schräg, vielleicht sogar für richtig gestört. Sein Bruder Thilo hatte mal so einen Freund. Der war später beim S-Bahn-Surfen ums Leben gekommen.

«Habt ihr seine Augen gesehen?», flüsterte Oliver. «Türkis.»

«Passen wunderbar zu Iris’ Schuhen», sagte Rosa sarkastisch und zeigte auf Iris’ Clogs, türkisblaues Lackleder mit orangegelben Fröschen.

Rosa war manchmal so gemein zu Iris, dachte Oliver. Sie waren mal Freundinnen gewesen, das wusste er, «etwa zweieinhalb Sekunden lang» (einer von Rosas berühmten Sprüchen), als sie neun und acht waren. Wie Oliver von seiner Mutter wusste, hatten ihre Mütter, die zusammen Yoga machten, gehofft, ihre Töchter würden Freundinnen werden. Aber Iris war jünger als Rosa, und vor allem «viel zu unheimlich», wie Rosa meinte, ganz anders als die beliebten Mädchen in der Schule, mit denen Rosa befreundet war. Oder gewesen war, vor dem Unfall. Seitdem blieb Rosa lieber für sich.

«Als ich klein war, hatte ich eine Babysitterin. Eliana. Und ihr Vater hatte auch solche Augen», meinte Iris. «Türkis. Sehr eigenartig.»

Oliver spähte über die Schulter zu dem Jungen hinüber. Den schien es nicht zu stören, dass sie ihn aus ihrem Gespräch ausgeschlossen hatten. Oliver sah, wie er auf das Fenster zur Straße zusteuerte und fasziniert jemanden beobachtete, der ein Fahrrad an einen Ständer kettete.

«Na schön», sagte Rosa im Flüsterton. «Wir geben ihm fünf Minuten, und dann holen wir Cornelia.» Sie drehte sich zum Fenster. «Hallo?», rief sie.

Der Junge wandte sich um.

«Du hast vier Minuten und fünfzig Sekunden, um uns zu erklären, wer du bist», sagte Rosa. «Und dann holen wir Cornelia.»

Der Junge lachte und kam wieder auf die Kinder zu. «Thank you, Eure Hoheit. Thank you very much.» Er griff an seine Baseballmütze und lüftete sie, wie es feine Herren in alten Filmen tun. «Vier Minuten und fünfzig Sekunden? Da muss ich mich aber ranhalten. Sollen wir uns setzen?»

«Jetzt noch vier Minuten und dreißig Sekunden», verbesserte Rosa ihn mit Blick auf das Handy, das sie immer in der Tasche hatte, und setzte sich.

Der Junge ließ sich auf einem Stuhl am Tisch nieder und klappte dann eine Hälfte seiner offenen Jacke über die andere, um sie zu schließen. «Ist ein bisschen kühl hier», meinte er, während er sich suchend umschaute, wo die Zugluft herkam.

Oliver fragte sich, wie der Verschluss der Jacke funktionierte. Er sah weder Knöpfe noch einen Reißverschluss, ja, nicht mal irgendwelche Klettverschlüsse.

«Vier Minuten», sagte Rosa, die offensichtlich ein sehr gutes Zeitgefühl hatte.

«Na schön», sagte der Junge, «aber macht mir hinterher keine Vorwürfe!»

Im Nachhinein erst erfuhren sie, dass seine Bemerkung vollkommen berechtigt war. Sie hatten nämlich keine Ahnung, worauf sie sich da einließen. Aber hätten sie anders gehandelt, wenn sie mehr gewusst hätten? Sicher nicht.

Die Kinder setzten sich und lauschten seiner Geschichte.

3. Kapitel Dagobert

«Okay. Kurz und knapp», sagte der Fremde. Er sah jedem von ihnen mit seinen türkisfarbenen Augen direkt ins Gesicht – Rosa, Oliver und Iris. «Ich heiße Colin Julio Aaronson-Aiello, aber alle nennen mich einfach nur Colin.»

Die Kinder schwiegen.

«Also», erklärte der Junge weiter, «ich teste gerade ein neues Virtual-Reality-Spiel. Ich hab’s noch nie gespielt, und ich finde es echt spannend.» Er lächelte sie an. «End of story.»

«Nix ‹end of story›», sagte Iris streng. «Was genau meinst du mit ‹Virtual-Reality-Spiel›?»

Oliver war sicher, dass Iris längst wusste, was das war, und den Jungen bloß testen wollte. Sie würde ihn ins Kreuzverhör nehmen und mit Fragen löchern, bis er sich in seinen Lügen verstrickte oder erschöpft zusammenbrach und zugab, dass alles bloß ein Scherz war.

«Ein Virtual-Reality-Spiel ist ein computersimuliertes 3D-Spiel, das eine imaginäre Welt erschafft», antwortete der Junge, der sich Colin nannte. «Der Spieler erlebt es mit allen Sinnen. Totale Immersion. Absolut lebensecht.»

Cornelia hatte wahrscheinlich tagelang mit ihm geprobt, bis er diese Antwort richtig herausbrachte, dachte Oliver.

Colin beugte sich vor. «Ich kann alles in der imaginären Umgebung sehen, hören, schmecken, spüren und riechen. In diesem speziellen Spiel ist die künstlich erzeugte Welt das frühe 21. Jahrhundert in Berlin, der zweitgrößten Stadt der Europäischen Union, wenige Jahre vor Beginn des Dark –»

«Stopp mal!», unterbrach Rosa ihn. «Das geht alles viel zu schnell.» Sie sortierte ihre Gedanken. «Du willst also damit behaupten, dass wir ein Spiel mit dir spielen?»

«Nein. Ich spiel es ganz allein. Ihr seid bloß Figuren in dem Spiel.»

«Wir sind was?», fragte Rosa.

Rosa tat Oliver leid. Sie sah total verwirrt aus. Das war er natürlich auch, aber er ließ es sich nicht so anmerken.

«Wir sind bloß Figuren in einem Spiel, das er spielt», sagte Iris. «Das ist wie bei einem Videospiel, nur dass der Spieler praktisch in das Spiel hineintritt und mit sämtlichen Figuren in der virtuellen Arena interagiert, als wären sie real. Ist doch nicht so schwer zu kapieren. Das ist die Zukunft des Computerspiels!»

«Dann glaubst du ihm?», fragte Rosa entgeistert.

«Hab ich das gesagt? Ich erkläre euch nur, was er behauptet hat.» Sie wandte sich an Colin. «Angenommen, es stimmt, dass du ein Spiel spielst. Wo spielst du es? Wenn wir dir glauben sollen, ist dein Bewusstsein hier bei uns, aber dein Körper ist irgendwo anders, oder?»

«Genau!», sagte er. «Ja, ich bin im Game-Room des OZI.»

«Im Game-Room des OZI?», echote Oliver und fragte sich, ob ihm seine eigene Verwirrung jetzt vielleicht doch anzumerken war.

Rosa schoss hoch. «Also echt jetzt. Wenn das hier ein Buch wäre, würde ich es auf der Stelle zuklappen und gegen die Wand werfen. Das ist viel zu kompliziert. Ich fange an, mich zu langweilen.»

«Weil du immer nur Bücher mit simpler Handlung und primitiver Sprache und Pappfiguren und Happy Ends liest», konterte Iris. «Wenn ein Buch mal ein bisschen komplizierter ist, stellst du es immer gleich wieder ins Regal. Warte es doch mal ab! Manche Bücher nehmen erst langsam Fahrt auf, aber dann werden sie richtig aufregend. Manche Bücher geben dir versteckte Hinweise nicht nur über das, was passiert, sondern auch, warum es passiert. Gib den Büchern eine Chance, ihren Zauber zu entfalten!»

Rosa öffnete den Mund, um etwas zu sagen, überlegte es sich dann aber anders und wandte sich stattdessen Colin zu. «Drei Minuten. Und dann holen wir Cornelia.»

Wie aufs Stichwort hörten sie Cornelia auf der anderen Seite der Tür über irgendwas lachen, laut und schallend. Boahahaha! – ihre unverkennbare Lache. Die Kuhglocke über der Ladentür bimmelte, und jemand kam herein.

«Ich krieg Strafpunkte, wenn ihr Cornelia ruft», sagte der Junge, «und werde zurück zum Square One gezappt.» Er bemerkte die Flasche Cola auf dem Tisch. «Darf ich?»

Oliver schenkte ihm ein Glas ein. Der Junge steckte die Nase ins Glas und schnupperte. Er lachte. «Das kitzelt.»

Die Kinder sahen sich an. War der Typ schräg, oder war er schräg?

«Da ist Kohlensäure drin», sagte Iris. «Deshalb.»

«Kohlensäure?»

«Genau genommen gelöstes Kohlendioxid. Davon effervesziert das Getränk.»

Effervesziert, dachte Oliver. Noch so ein Wort, das er nicht kannte. Obwohl es wahrscheinlich bloß hieß, dass die Cola sprudelte, oder?

Colin hob das Glas, als wollte er ihnen zuprosten, und leerte es dann mit großen, geräuschvollen Schlucken, ohne einmal abzusetzen. Er stellte das Glas hin und zog ein Gesicht, als hätte er eine ganze Zitrone gekaut, mit Schale und allem. «Iiiieeh! Ist das süß! Davon kriegt man ja Zahnschmerzen.» Er rülpste. Richtig laut.

Die Kinder lachten – sogar Rosa.

«Schmeckt wie meine Hustenmedizin», sagte Colin, während er sein Glas erneut füllte. «Macht aber süchtig. Wie nennt sich das Getränk?»

«Cola ist die Gattungsbezeichnung», erklärte Iris.

«Cola? Nie gehört.»

«Das ist nicht dein Ernst», sagte Rosa.

«Ist ja auch bloß das bekannteste Getränk auf der Welt!», meinte Oliver.

Colin zuckte die Achseln. «Was ist drin?»

«Koffein aus Kolanüssen, glaube ich», sagte Iris. «Aber genau weiß das keiner. Die Rezeptur gilt als eines der bestgehüteten Geheimnisse.»

Colin trank noch einen Schluck – und rülpste wieder. «Also, wo waren wir stehengeblieben?»

«Square One», sagte Iris hilfreich. «Beim Ausgangspunkt.»

«Zwei Minuten», sagte Rosa streng.

«Was wäre denn so schlimm daran, wieder zurück zum Ausgangspunkt zu gehen?», wollte Iris wissen.

«Ich hab eine Wette laufen», lautete Colins Antwort. «Mit den Jungs.»

«Mich interessiert dieses ‹OZI›.» Iris brannte offensichtlich darauf, dem Rätsel auf den Grund zu gehen. «Du hast gerade einen Game-Room im OZI erwähnt. Was ist das?»

Colin stieß einen Seufzer aus. «Die haben mir nicht gesagt, dass ich den Figuren jede Kleinigkeit erklären muss.» Er ordnete seine Gedanken. «Okay. OZI. Das ist das Olga-Zhukova-Institut für Angewandte Physik. OZI.»

«Nie gehört», sagte Iris.

«Das wundert mich nicht. Olga Zhukova wurde erst 2020 geboren. In Minsk, Weißrussland.» Der Junge nippte erneut an seiner Cola.

Oliver sah Iris und Rosa an und malte mit dem Zeigefinger kleine Kreise neben seiner Schläfe. War der Junge irre, oder war er irre?

«Sie war die Erste, die den Neuen Nobelpreis in Physik bekommen hat», erklärte Colin weiter. «Das war 2096.»

«Okay!», sagte Rosa und stand wieder auf. «Das reicht.» Sie fing an, ihre Bücher in ihren Korb zu werfen. «Ich hau ab.» Sie zeigte auf Colin. «Du machst dich über uns lustig.»

«Tu ich gar nicht!», sagte Colin. «Bitte. Lasst mich wenigstens noch dieses Level zu Ende spielen.»

«Wie –», setzte Iris an.

«Hör endlich auf, ihm Fragen zu stellen!», fauchte Rosa.

Iris ignorierte sie. «Wie spielst du das Level zu Ende?»

«Er könnte vor einen LKW laufen», sagte Rosa. «Das wäre wahrscheinlich am einfachsten.»

«Ganz schön makaber.» Iris deutete auf Rosas Prothese. «Aus deinem Munde.»

Jenseits der Tür hörten sie Leute im Laden laut sprechen. Rosa warf wieder ein Buch in ihren Korb.

«Du gehst doch nur, weil du dich darüber ärgerst, was ich vorhin über dich und deine albernen Bücher gesagt habe», meinte Iris.

«Was stört dich denn bitte schön an einem Happy End? Mir gefällt so was, und mir ist vollkommen schnurz, was du sagst! Ich gehe, weil das hier ein Leseclub sein soll und kein Irrenhaus.»

Die Kuhglocke über der Ladentür bimmelte wieder. «Bernd!», hörten sie Cornelia rufen. «Komm schnell!»

Bernd war da. Cornelia würde jeden Moment zu ihnen stoßen.

«Colin», sagte Iris, «erklär uns noch schnell, welches Ziel das Spiel hat.»

«Dieses Level ist beendet, wenn du eine oder mehrere Figuren dazu überreden kannst, mit dir zum Ausgangspunkt zurückzukehren.»

«Und wo ist dieser Ausgangspunkt?»

«Der Geräteschuppen. Dahinten.» Er zeigte Richtung Hof. «Da bin ich in das Spiel eingestiegen.»

«Im Geräteschuppen?», fragte Oliver.

«Genau.»

«Unmöglich! Der ist abgeschlossen. Wie willst du denn da reingekommen sein?»

«Ich musste nicht reinkommen. Ich war schon drin. Da hat das Spiel angefangen.»

«Es ist ein Geräteschuppen!», rief Oliver, stand auf und schob seinen Stuhl zurück. «Es ist kein ‹Square One› für irgendein Spiel. Ich bin praktisch jeden Tag dadrin. Ich weiß das!»

«Er ist der Sohn des Hausmeisters», erklärte Iris.

«Mir ist egal, wer er ist», sagte Colin mit Nachdruck, stand auf und schob ebenfalls seinen Stuhl zurück. «Ich war dadrin.»

«Beweis es», sagte Oliver herausfordernd. «Wie sieht’s dadrin aus?» Niemand hatte Zugang zum Geräteschuppen außer dem Gärtner und ihm und seiner Mutter.

Colin überlegte einen Moment. «Okay. Ich habe eine Gießkanne gesehen, eine kleine. Für Kinder vielleicht. Da war nämlich eine Ente drauf. Die trug einen Zylinder und eine Brille und hielt einen Gehstock in der Hand. Außerdem stand ein Name auf der Kanne. Und zwar –»

Oliver keuchte. «Die gehört mir!» Seine Mutter hatte ihm das Entenhausen-Gartenset zum fünften Geburtstag geschenkt.

Colin grinste. «Die gehört dir? Dann musst du Dagobert sein. Dein Name stand drauf.» Er streckte die Hand aus. «Schön, dich kennenzulernen. Darf ich dich Dag nennen? Ist kürzer.»

«Leute», sagte Rosa.

Oliver fuhr herum. Rosa war so weiß wie die gebleichten Bettlaken seiner Mutter. Sie starrte zum Fenster, das zur Straße hinausging, vor dem drei finster aussehende Männer standen. Sie waren von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet, die Gesichter unter Kapuzen versteckt, und zeigten auf sie. Bei ihrem Anblick durchlief die Kinder ein Frösteln – die Raumtemperatur sank um 10 Grad.

Die Tür zum Laden flog auf. «Kinder!», zischelte Cornelia eindringlich.

Oliver sah, wie hinter ihr ein Mann im braunen Trenchcoat einen Kunden grob beiseitestieß. Ein Bonsai kippte um, Erde und Blätter lagen verstreut auf den Dielen. Ein zweiter Mann, auch er im braunen Trenchcoat, kämpfte mit Bernd und verlor seinen Hut.

«Lauft!» Cornelia zeigte auf die Hintertür. «Los! Schließt die Tür hinter euch ab! Versteckt euch!» Und weg war sie.

Oliver begriff sofort, wie ernst die Lage war. Er sprang auf. «Kommt mit!», rief er den anderen zu und stopfte hastig Federtasche und Skizzenblock in seinen Rucksack. Einen Moment später baumelte der Generalschlüssel an einer Kette in seiner Hand, und er schloss die Tür auf. «Beeilung!», sagte er, ob zu sich selbst oder zu den anderen, war ihm nicht klar. Aber schon waren die Kinder direkt hinter ihm, die Tür ging auf, und sie schlüpften hinaus in den Hinterhof.

Oliver schloss die Hintertür wieder ab, und als er den Schlüssel aus dem Schlüsselloch zog, sah er durchs Fenster daneben, wie die Tür zum Buchladen erneut aufflog. Cornelia kämpfte mit einem der Männer in Braun. Und Bernd lag auf dem Boden. Cornelia verpasste dem Mann einen Kopfstoß, dann einen kräftigen Schlag auf die Nase und einen linken Haken. Der Mann fiel nach hinten, und dann –

«Stehen bleiben!», donnerte es über den Hof.

Die Kinder drehten sich um und sahen die drei schwarzen Kapuzenmänner am anderen Ende des Hofes. Und sie kamen direkt auf sie zugerannt. «Bleibt, wo ihr seid!», rief einer von ihnen.

«Der Geräteschuppen! Nichts wie hin!», befahl Colin.

Die Kinder stürmten los – vorbei am Fahrradständer, dem Sandkasten und der Wippe, den Bänken und den Müllcontainern. In seinem ganzen Leben hatte Oliver noch nie solche Angst gehabt. Geräusche verschwanden. Irgendwo hörte er Colin rufen: «Schneller! Schneller!», aber es klang dumpf, als würde Colin über eine gewaltige Schlucht hinweg schreien. Das Rauschen in seinen Ohren war betäubend. Vielleicht schrie ja auch er irgendwas, aber er war sich nicht sicher, ob es seine Stimme war, die er hörte. Er wusste nur, dass er den Geräteschuppen erreichen und die Tür aufkriegen musste. Es war eine simple Aufgabe, aber die schwierigste, die er je hatte meistern müssen. Alles, wahrscheinlich sogar ihr Leben, hing davon ab. Cornelia hatte gesagt: «Versteckt euch», also mussten sie sich verstecken.

Unterdessen hatten die Kapuzenmänner sie fast erreicht.

Oliver war als Erster am Geräteschuppen. Er bekam das Schloss mit erstaunlichem Geschick auf, und die Kinder stürmten eines nach dem anderen hinein, knallten die Tür im letzten Moment hinter sich zu. Sekunden später waren ihre Verfolger da und schlugen fluchend mit den Fäusten gegen die Tür. Sie traten und trommelten auf sie ein. Aber die Tür war wieder ins Schloss gefallen – kein Schlüssel, kein Reinkommen.

Drinnen war es dunkel, schaurig dunkel. Die Kinder traten von der Tür weg, aus Angst, dass sie jeden Moment bersten und auf sie draufkippen würde. Iris stolperte rückwärts über irgendetwas, fiel hin und stieß einen unterdrückten Schmerzensschrei aus. «Mein Clog», flüsterte sie. «Ich hab meinen Clog verloren.»

«Pst!», sagte Oliver.

«Aufmachen! Sofort!», knurrte ein Mann.

Die Tür hielt.

Dann merkten die Kinder zu ihrer Erleichterung, dass die Stimmen der Verfolger undeutlicher wurden, irgendwie gedämpft – als ständen die Männer am Ufer eines Sees, und die Kinder würden unter Wasser immer weiter von ihren Rufen wegschwimmen. Das ging ein paar Augenblicke so … die Stimmen wurden leiser und leiser …

Und dann hörten die Kinder gar nichts mehr. Bloß das Geräusch ihres eigenen schweren Atems. Das Summen einer Fliege. Und dann das Rauschen der Blätter an den Bäumen draußen.

Puh. Was auch immer passiert war, jetzt waren sie in Sicherheit.

Oder etwa nicht?

4. Kapitel Das PockDock

Eine endlose Minute verging. Die Kinder drängten sich in der Dunkelheit des Geräteschuppens dicht zusammen. Niemand traute sich, die Tür zu öffnen.

«Wir müssen die Polizei rufen», flüsterte Rosa.

Oliver nahm eine Bewegung wahr. Er vermutete, dass Rosa gerade ihr Handy aus der Tasche ihrer Strickjacke gezogen hatte. Er hörte, wie sie hektisch die Tasten drückte. Doch das Handy leuchtete nicht auf.

«Es funktioniert nicht!», jammerte Rosa. «Ich hab’s heute Morgen aufgeladen. Wieso geht das Ding nicht?»

Oliver kramte in seinem Rucksack herum, bis er sein Handy fand. Als er es aktivieren wollte, blieb das Display dunkel. Aber vorhin hatte es noch funktioniert. Da hatte er nämlich eine SMS von seiner Mutter bekommen. «Meins ist auch tot», sagte er und merkte, dass seine Stimme zitterte. «Iris?»

«Meins auch», meldete sie. «Kapier ich nicht. Wieso das denn plötzlich?»

«Niederfrequente Schallwellen?», sagte Oliver, bereute seine Bemerkung aber sofort.

«Nicht lustig», fauchte Iris.

Einen Moment lang schwiegen alle.

Rosa wimmerte leise.

«Ich finde, wir sollten Licht machen.» Das kam von Iris.

«Aber das sehen die doch!» Rosa klang, als wäre sie den Tränen nahe. «Diese Typen sind irgendwo da draußen.»