Federflüstern - Holly-Jane Rahlens - E-Book

Federflüstern E-Book

Holly-Jane Rahlens

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Beschreibung

Nach ihrem aufregenden Besuch in der fernen Zukunft sind Oliver, Iris und Rosa wieder sicher in unserer Zeit angekommen – oder vielleicht doch nicht? Noch ehe die Kinder herausfinden können, was nicht stimmt, erwartet sie schon ein neues Abenteuer: Aus Versehen geraten sie 125 Jahre zurück in die Vergangenheit, ins winterkalte Berlin des Jahres 1891! Genau in das Jahr, in dem der geniale Schriftsteller Mark Twain in Berlin wohnt. Vielleicht kann er den Kindern helfen, zurück ins Heute zu gelangen. Oder müssen sie für immer im 19. Jahrhundert bleiben?

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Seitenzahl: 354

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Holly-Jane Rahlens

Federflüstern

Aus dem Englischen von Alexandra Ernst

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Nach ihrem aufregenden Besuch in der fernen Zukunft sind Oliver, Iris und Rosa wieder sicher in unserer Zeit angekommen – oder vielleicht doch nicht? Noch ehe die Kinder herausfinden können, was nicht stimmt, erwartet sie schon ein neues Abenteuer: Aus Versehen geraten sie 125 Jahre zurück in die Vergangenheit, ins winterkalte Berlin des Jahres 1891! Genau in das Jahr, in dem der geniale Schriftsteller Mark Twain in Berlin wohnt. Vielleicht kann er den Kindern helfen, zurück ins Heute zu gelangen. Oder müssen sie für immer im 19. Jahrhundert bleiben?

Über Holly-Jane Rahlens

Holly-Jane Rahlens kam Anfang der 70er Jahre aus ihrer Heimatstadt New York nach Berlin. Mit Funkerzählungen, Hörspielen und Solo-Bühnenshows machte sie sich dort in den 80ern und 90ern einen Namen. Außerdem arbeitete sie als Journalistin, Radiomoderatorin und Fernsehautorin, bis sie sich ganz dem Schreiben widmete.

«Federflüstern» ist ihr zehnter Roman und der Folgeband von «Blätterrauschen».

Liebe Leser,

 

es freut mich, dass ihr den zweiten Band der Serie «Generation Dark Winter» aufgeschlagen habt. Es ist kein Problem, wenn ihr «Blätterrauschen», den ersten Band, noch nicht gelesen habt. Ihr könnt ruhig mit dem zweiten Buch anfangen und später, wenn ihr Lust habt, das erste Buch lesen. Aber wenn ihr wissen wollt, was im ersten Band passiert, schaut euch doch die Zusammenfassung der wichtigsten Ereignisse auf Seite 345 an, bevor ihr in diese Geschichte eintaucht. Auf jeden Fall hoffe ich, dass ihr beim Lesen von «Federflüstern» genauso viel Spaß habt wie ich, als ich das Buch für euch geschrieben habe.

 

Rosa Luise Sanders

Sternwood Forest, Ontario, Kanada

August 2040

1. KapitelEin Rätsel

Mit einem schweren Müllsack und ein paar leeren Flaschen ging Oliver vorsichtig die Treppe hinunter. Unten angekommen schob er sich durch den offenen Türspalt hinaus in den Hinterhof. Er atmete tief ein. Die Luft an diesem Oktobernachmittag war ungewöhnlich mild. Überhaupt, die ganze Woche war irgendwie merkwürdig gewesen: erst das warme Wetter. Dann tauchte sein Bruder Thilo, der über ein Jahr lang verschwunden gewesen war, völlig überraschend wieder auf. Und jetzt war Olivers Heuschnupfen wie durch Zauberhand plötzlich verschwunden!

Normalerweise hatten ihm und seiner Nase noch die letzten Blütenpollen des Jahres das Leben zur Qual gemacht, ganz zu schweigen von den Federn, den rohen Kartoffeln, den Nüssen, dem Staub, den Hundehaaren und all den anderen Dingen, gegen die er allergisch war, und zwar das ganze Jahr hindurch. Nichts hatte geholfen. Aber als Oliver vor ein paar Tagen mit seiner Mutter Kartoffeln für das Abendessen geschält hatte, musste er nicht ein einziges Mal niesen. Und als er am Montag zur monatlichen Kontrolluntersuchung bei seinem Allergologen gewesen war, hatte der Arzt verblüfft die Testergebnisse studiert. «Tja», hatte er ziemlich ratlos gesagt, «der Befund ist negativ. Aber warten wir mal ab, wie die Sache im Frühling und im Sommer aussieht, wenn der Pollenflug am stärksten ist.»

Trotz des schweren Müllsacks ging Oliver jetzt beinahe leichtfüßig über den mit Kopfsteinen gepflasterten Weg zu den Mülltonnen. Sie standen ganz hinten auf dem Grundstück, bei den Bäumen. Er ging an dem Geräteschuppen vorbei, etwa zehn Meter links von ihm, und dann – oh! Ein farbiges Flirren an der Hinterseite des Geräteschuppens schreckte ihn auf. Oliver blieb stehen und musterte den Schuppen ganz genau, suchte nach irgendetwas, was nicht hierher gehörte. Aber er sah rein gar nichts, nur die späten Sonnenblumen, die sich in der leichten Brise wiegten.

Seit dem Gewittersturm am letzten Donnerstag ging ihm der Geräteschuppen nicht mehr aus dem Kopf. Er, Rosa und Iris waren in der Buchhandlung BLÄTTERRAUSCHEN im Vorderhaus gewesen, wo ihr Leseclub stattfand, als plötzlich ein heftiges Gewitter niedergegangen war. Seitdem war ihm der Geräteschuppen irgendwie unheimlich, als ob es dort spuken würde, obwohl er gefühlsmäßig wusste, dass «spuken» nicht das richtige Wort war. Jedes Mal, wenn er daran vorbeiging oder etwas herausholte – einen Schlauch, einen Rechen, den Laubsauger –, überkam ihn ein ganz merkwürdiges Gefühl, als ob im nächsten Moment etwas Aufregendes und gleichzeitig Fürchterliches passieren würde. Es war, als würden zwei Neonschilder über dem Gerätschuppen aufblinken: Auf dem einen stand «Betreten verboten!» und auf dem anderen «Willkommen!». Aber er hatte keine Ahnung, was genau der Geräteschuppen ihm damit sagen wollte.

Noch merkwürdiger war allerdings, dass Oliver nicht der Einzige war, der es so empfand. Als er gestern einen Eimer aus dem Geräteschuppen holen wollte, traf er Rosa, die vor dem Schuppen stand und mit den Fingern ihrer intakten Hand über die Tür strich, als wäre dort eine Geheimbotschaft in Blindenstift eingestanzt. Er war stehen geblieben und hatte sie stumm betrachtet. Er betrachtete sie gern: ihr goldenes Haar, ihre haselnussbraunen Augen, ihre grazile Art. Als sie ihn bemerkte, war sie rot geworden, und dann hatte sie ihm gestanden, dass sie das Gefühl hatte, der Geräteschuppen wolle ihr etwas sagen und sie müsse herausfinden, was es war. «Weißt du noch, letzten Donnerstag?», hatte sie zu ihm gesagt. «Beim Leseclub? Nach dem Sturm? Als ich merkte, dass jemand mit blauem Kuli etwas auf meine Prothese geschrieben hatte?»

Während sie das sagte, war sein Blick zu Rosas linkem Arm geglitten. Er endete in einem Stumpf, seit sie ihre Hand im vorletzten Jahr bei einem Verkehrsunfall verloren hatte.

Rosa hatte bemerkt, dass Oliver ihren Armstumpf betrachtete. Meistens wurde sie dann rot und schob den Stumpf in ihre Jackentasche oder bedeckte ihn mit ihrer rechten Hand. Im Grunde genommen redete sie normalerweise überhaupt nicht einmal mit ihm! Aber irgendetwas hatte sich verändert. Sie schienen jetzt besser miteinander auszukommen. Gestern hatte Rosa lediglich ihren Armstumpf betrachtet und gesagt: «Meine Mutter war total sauer, als sie die Schrift auf der Prothese gesehen hat. Es gibt eine Firma, die sich auf das Reinigen von Prothesen spezialisiert hat, und da hat sie die Prothese hingeschickt. Ich kriege sie erst morgen wieder.» Dann hatte sie sich von dem Geräteschuppen weggedreht. «Also, erinnerst du dich an letzten Donnerstag?»

«Hallo?», hatte Oliver erwidert.

Er konnte es kaum fassen, dass Rosa sich tatsächlich auf ein Gespräch mit ihm einließ. Gut, nach dem Sturm am letzten Donnerstag hatte sie ihn und Iris überraschend auf eine heiße Schokolade zu sich eingeladen. Das war sehr nett gewesen, aber Oliver hatte geglaubt, es würde sich um eine einmalige Sache handeln. Anscheinend hatte er sich geirrt: Hier standen sie nun vor dem Geräteschuppen und unterhielten sich, als seien sie gute Freunde.

«Natürlich erinnere ich mich an letzten Donnerstag», fuhr Oliver fort. «Jemand hat auf deine Prothese geschrieben: ‹Colin Julio war hier, 5. Juni 2273.›» Oliver kannte die Inschrift auswendig und hatte in den vergangenen Tagen oft darüber nachgedacht. «Ich glaube, da wollte dich jemand veräppeln, Rosa. Vielleicht deine Schwester oder eine von ihren Freundinnen?»

«Wieso sagst du das? Wir alle hatten doch das Gefühl, dass wir diesen Colin kennen. Wir wussten nur nicht, wieso. Willst du etwa behaupten, dass du das vergessen hast?»

Er hatte es nicht vergessen, aber in den letzten Tagen war so viel passiert, dass es ihm schwerfiel, sich auf eine Sache zu konzentrieren. Die ganze Woche lang war ihm, als hätte er Watte im Kopf. Glücklicherweise hatten sie noch Ferien und er musste sich nicht auf die Schule konzentrieren. Außerdem wusste er beim besten Willen nicht, wie er diese Erinnerung erklären sollte. Denn alle drei erinnerten sich an einen großen Jungen mit türkisfarbenen Augen, der Englisch sprach. Aber woher kannten sie ihn? Vielleicht aus einem Film, den sie im Fernsehen gesehen hatten?

«Ich muss ständig daran denken», hatte Rosa zugegeben, «und ich glaube, der Geräteschuppen hat irgendetwas damit zu tun. Dieser Junge – dieser Colin –, der Geräteschuppen und das Gewitter, das gehört irgendwie alles zusammen. Und auch deine Zeichnungen.»

Das war wirklich das Allermerkwürdigste: seine Zeichnungen. Nach dem Sturm hatte Oliver auf seinem Zeichenblock die verblassten Linien von Skizzen entdeckt, an die er sich beim besten Willen nicht mehr erinnern konnte. Sie stammten zweifellos von ihm, es war genau sein Stil. Aber wann hatte er sie angefertigt? Und dann wieder ausradiert? Einige der Zeichnungen zeigten fliegende Autos. In allen Einzelheiten! Anders als die meisten Jungen, die er kannte, hatte er sich noch nie im Leben für Autos interessiert, und schon gar nicht für fliegende. Es war ihm ein Rätsel. Ein Rätsel, das er hoffte eines Tages lösen zu können – vielleicht sogar gemeinsam mit Rosa und Iris. Rosa und er waren übereingekommen, mit Iris darüber zu reden. Sie wollten sich heute Nachmittag bei Rosa treffen.

 

Oliver warf den Müllsack in die Tonne und ging dann wieder zum Haus, vorbei an den Hecken, die jetzt links von ihm waren, an Schaukel und Wippe rechts von ihm – und vorbei an dem geheimnisvollen und rätselhaften Geräteschuppen.

Rätselhaft war auch das Auftauchen seines Bruders Thilo, der ganz überraschend letztes Wochenende heimgekehrt war. Das wilde Schluchzen seiner Mutter, als sie die Tür öffnete und ihren verloren geglaubten Sohn vor sich sah, hatte Oliver erschreckt. Er wusste, dass es Tränen der Freude waren – er hatte genau das Gleiche empfunden wie sie –, aber er hatte Angst gehabt, dass sie an ihrem Weinen und Schluchzen ersticken würde, so wie sie nach Luft geschnappt hatte. Sie hatte geglaubt, er wäre tot! Alle hatten sie das geglaubt. Aber da stand Thilo in der Tür. Einfach so. Nach einem Jahr.

Olivers Mutter schluchzte noch etwa eine Stunde lang. Und nachdem sie sich ausgeweint hatte und die Tränen versiegt waren, als sie Thilo nicht länger in die Wange kniff, um zu sehen, ob sie nicht träumte, war ihr Gesicht hart geworden. Sie hatte Thilo geradewegs in die Augen gesehen, und dann – klatsch! – hatte sie ihm eine schallende Ohrfeige verpasst. Die Wucht hatte ihn fast umgehauen, und er wäre beinahe hingefallen. «Mach das nie wieder!», hatte sie ihn angeschrien. «Hörst du? Nie, nie wieder!» Dann hatte sie ihn so fest gepackt, dass ihm die Luft wegblieb, und ihn erst wieder losgelassen, nachdem er versprochen hatte, nicht mehr wegzulaufen. «Okay, Mama», hatte er gesagt. «Okay. Ich verspreche es. Ich verspreche es dir.» Woraufhin sie wieder anfing zu schluchzen und ihn fest umarmte.

Als Olivers Vater nach Hause kam, warf er nur einen einzigen Blick auf Thilo und brach ebenfalls in Tränen aus. Seitdem war er nicht mehr in der Eckkneipe gewesen. Am Montag hatte er in seiner alten Firma angerufen – er war gelernter Möbelschreiner – und nach Arbeit gefragt. Sein Chef war einverstanden, ihm einen befristeten Job als Küchenmonteur zu geben. Vielleicht würde er sich jetzt auch wieder um seine Hausmeisterpflichten kümmern. Dann hätte Oliver, der seit über einem Jahr viele der Aufgaben im Haus übernommen hatte, um seiner Mutter zu helfen, wieder mehr Zeit für sich.

Aber wer konnte sagen, wie lange der Frieden hielt? Thilo und sein Vater waren beide extrem launisch – bei ihnen war jederzeit alles möglich. Außerdem ging Thilo vielleicht sowieso wieder fort. Er war bald achtzehn, viereinhalb Jahre älter als Oliver, und dann konnte er tun und lassen, was er wollte. Oliver hoffte, dass Thilo ihm wenigstens verriet, wo er das ganze Jahr gesteckt hatte, bevor er wieder abhaute. Er hatte ihn natürlich gleich gefragt, am Samstag und auch am Sonntag, aber Thilo hatte gemauert und behauptet, Oliver sei zu jung, um das zu verstehen.

Oliver seufzte. Er hatte so eine Ahnung, dass er noch sehr lange dreizehn sein würde. Sein Geburtstag war erst im August. Aber mit dreizehn war er trotzdem schon alt genug, um zu erkennen, dass Thilo sich verändert hatte. Obwohl er immer noch ein Großmaul war, kam er ihm etwas ruhiger und ausgeglichener vor als früher. Und sein Gesicht war auch irgendwie anders. Es dauerte eine Weile, doch dann fiel Oliver auf, was es war: Thilos Aknenarben waren verschwunden! Er hatte seine Mutter darauf angesprochen. «Akne?», hatte sie überrascht gesagt. «Thilo hatte hin und wieder einen Pickel, aber doch keine Akne. Nein, Schatz.»

Seine Mutter war Friseurin und Kosmetikerin, also musste sie es wissen. Aber die Sache ließ ihn einfach nicht los, deshalb fragte er Thilo, der daraufhin lachend sagte: «Hallo? Seit wann habe ich denn Akne?»

«Aber du hattest Akne!», beharrte Oliver. «Im ganzen Gesicht. Es war echt schlimm. Und auch auf dem Rücken. Das weiß ich genau, weil –»

«So ein Schwachsinn!», sagte Thilo. «Und jetzt verpiss dich!»

«Nein! Ich weiß es, weil –», setzte er noch einmal an, aber er kam nicht weit, weil Thilo ihm ein fünfhundert Seiten schweres Mathebuch auf den Kopf knallte. Tja – manche Dinge änderten sich eben nie.

Oliver schaute hoch in den Himmel. Die Sonne war verschwunden, und eine unheimliche Düsternis senkte sich über den Hof. Die Wolken waren dunkelgrau wie Rauch, und sie vibrierten vom Hall des weit entfernten Donners. Er prägte sich ihr Bild ein. Er würde gleich nach oben gehen und die Wolken zeichnen.

Alles war irgendwie rätselhaft. Einfach alles. Auch diese Wolken.

2. KapitelChocolate Chip Kekse

Oliver lief beim Anblick des Tellers mit Chocolate Chip Keksen das Wasser im Mund zusammen. Seine Hand schoss vor und schnappte sich den obersten Keks. Er war noch warm. Tief atmete er das Aroma des frischen Gebäcks ein und den Duft von geschmolzener Zartbitterschokolade. Seine Lippen schlossen sich um den Keks und er biss hinein. Die Süße explodierte förmlich in seinem Mund.

«Die haben meine Schwester Lily und ich gebacken», sagte Rosa und schob sich einen Keks in den Mund. Sie lächelte und zeigte dabei ihre schokoladenverschmierten Zähne. Es sah aus, als hätte sie eine große Zahnlücke, fand Oliver. Seine Zähne sahen vermutlich genauso aus.

«Meine Mutter hat uns gezeigt, wie’s geht», erzählte Rosa weiter. «Sie hat zehn Tage frei, und jetzt meint sie, sie muss ihre ganze Zeit mit uns verbringen. Das ist irgendwie lästig.» Rosa seufzte, aber Oliver merkte, dass es ihr in Wahrheit gar nichts ausmachte. Ihre Mutter war Reisefotografin und oft tagelang unterwegs. Rosa vermisste sie wahrscheinlich sehr, vermutete er.

«Allerdings», fuhr Rosa fort, «hat sie uns schon im Sommer gezeigt, wie man die Kekse backt.»

«Also, ich bin froh, dass sie es euch zweimal gezeigt hat», sagte Oliver, der seinen Keks mit einem Schluck Kakao herunterspülte und sich dann einen zweiten nahm. «Jetzt sind sie zweimal so gut.»

«Doppelt so gut», verbesserte ihn Iris, «man sagt nicht ‹zweimal so gut›, sondern ‹doppelt so gut›. Aber du hast recht.» Sie biss ein kleines Stück von ihrem Keks ab. «Die Schokoladenstückchen haben ein unglaubliches Aroma und einen äußerst komplexen Geschmack. Die Beschaffenheit ist … fulminant.»

«Iris», fuhr Rosa sie an, «erspar uns bitte deine Vokabelakrobatik.» Sie lehnte am Balkongeländer. «Ich meine, hallo? ‹Fulminant›? Was für ein Wort ist das denn?»

«Das kommt aus dem Lateinischen und bedeutet ‹hinreißend› oder ‹großartig›. Ich wollte lediglich meiner Meinung Ausdruck verleihen, dass die Beschaffenheit perfekt ist.»

«Und warum sagst du dann nicht einfach ‹perfekt›?»

«Weil man mit ‹fulminant› so viel mehr sagen kann.»

«Aber nicht, wenn wir nicht wissen, was es bedeutet!» Rosa drehte sich um, sodass sie auf den Hinterhof hinausschauen konnte. Es hatte vor kurzem noch geregnet, aber der Himmel klarte bereits wieder auf.

«Die Beschaffenheit ist perfekt! Okay?», sagte Iris zu Rosas Rücken. «Außen knusprig und innen weich.» Rosa drehte sich immer noch nicht zu ihr um, und so wandte sich Iris an Oliver. «Wusstest du, dass Chocolate Chip Kekse in den 1930ern in den USA erfunden wurden, und zwar von –»

«Jaja, wir wissen Bescheid», sagte Oliver, der kein bisschen Bescheid wusste über Chocolate Chip Kekse, außer dass sie göttlich schmeckten. Aber er war nicht in der Stimmung für einen von Iris’ Vorträgen. Und Rosa ebenfalls nicht.

Iris war ein gutmütiges Mädchen. Statt sich lang und breit über die Geschichte von Chocolate Chip Keksen auszulassen, schaltete sie ihr überentwickeltes Gehirn für eine Weile ab und schenkte Rosa und Oliver ein fröhliches Lächeln.

Und was für ein Lächeln das war! Letzten Freitag hatte Iris eine Zahnspange bekommen. Die Sonne spiegelte sich auf dem Metall und ließ es glitzern wie das Diadem einer Prinzessin.

«Ihr werdet es nicht glauben!», hatte Iris zu Rosa und Oliver gesagt, als sie kaum bei Rosa zur Tür hereingekommen war. «Letzten Freitag weckt mich meine Mutter und sagt, dass wir einen Termin beim Kieferchirurgen haben. ‹Was?›, habe ich gesagt. Und sie meinte: ‹Wegen deiner neuen Spange.› Und ich sagte: ‹Was für eine neue Spange?› Soweit ich mich erinnern kann, war ich noch nie im Leben bei einem Kieferchirurgen. Aber meine Mutter war felsenfest davon überzeugt, dass ich schon eine Spange angepasst bekommen hatte, und deshalb habe ich mich schließlich – allerdings nur unter größtem Widerstand und Protest – bereit erklärt, mich ihrem Willen zu beugen und den Termin wahrzunehmen. Und jetzt kommt’s: Der Kieferchirurg benahm sich so, als wären wir die besten Freunde! Dabei habe ich den Mann noch nie zuvor gesehen! Und was hat er gemacht? Er hat mir die hier auf die Zähne geklebt.» Woraufhin sie den Mund aufsperrte und ihre Spange präsentierte, deren Brackets in allen Farben des Regenbogens glitzerten. «Er meinte, ich hätte mir diese Brackets ausgesucht, weil mein Name, Iris, ‹Regenbogen› bedeutet. Abgesehen davon, dass die ganze Sache von vorne bis hinten total unheimlich ist, finde ich die Spange eigentlich gar nicht so schlecht. Ich glaube nämlich, es ist eine gute Idee, dass ich mir die Zähne richten lasse. Übrigens hätte ich mir auch das bunte Gestell ausgesucht.»

Oliver fand, dass Iris mit der Zahnspange gut aussah. Sie war längst nicht so störend wie ihre vorstehenden Schneidezähne. Aber auch er musste zugeben, dass die Angelegenheit ziemlich verrückt war – noch so ein Rätsel, dem sie auf den Grund gehen mussten.

 

Iris verputzte ihren dritten Keks (Oliver schon seinen fünften), wischte sich die Finger an einer Serviette ab und kramte dann in ihrem Rucksack herum. Sie zog ein Mäppchen heraus, ein paar Schulhefte, diverse Taschenbücher …

«Du liest Tom Sawyer?», rief Rosa und griff sich das oberste Buch vom Stapel.

«Offensichtlich», gab Iris trocken zurück. «Für ein Referat über die Kinderliteratur im 19. Jahrhundert. Mark Twains Tom Sawyer, Alice im Wunderland von Lewis Caroll, Heidi von Johanna Spyri und Pinocchio von Carlo Collodi.»

«Ich habe den Film Tom Sawyer gesehen», sagte Oliver, der froh war, sich an dieser gelehrten Diskussion beteiligen zu können.

Rosa schnaubte. «Denk ja nicht, ich wäre auf die Idee gekommen, du hättest es tatsächlich gelesen.»

«Aber du hast es gelesen?», fragte Iris überrascht.

«Natürlich. Tom Sawyer und Huckleberry Finn sind Klassiker der amerikanischen Literatur.» Rosa ging wieder zum Balkongeländer. «Ich habe schon letztes Jahr ein Referat über Mark Twain gehalten», sagte sie schnippisch.

«Du bist ja auch ein Jahr älter», sagte Iris und kramte weiter in ihrem Rucksack herum. Schließlich zog sie einen durchsichtigen Kulturbeutel mit einer Zahnbürste, Zahnpasta, Zahnseide und Mundspülung heraus. «Ich muss mir die Zähne putzen. Wegen der Krümel. Der Kieferchirurg meint, ich muss besonders gründlich sein und mei –»

«… meine Zähne nach jeder Mahlzeit putzen, und sei sie noch so klein», sangen Oliver und Rosa im Chor. Seit Iris angekommen war, hatte sie das bereits dreimal gesagt.

«Oh, guckt mal!», sagte Rosa, die wieder in den Hinterhof hinabschaute. «Da ist dein Bruder, Oliver.»

Oliver und Iris traten zu Rosa ans Geländer und blickten die fünf Stockwerke nach unten. Sie sahen, wie Thilo sich eine Zigarette anzündete und sich auf eine Bank setzte.

«In der Wohnung darf er nicht rauchen», erklärte Oliver.

Rosa kicherte. «Er ist ja so süß!»

Oliver verdrehte die Augen. Thilo mochte ja vieles sein, aber ganz gewiss nicht «süß».

Rosa wandte sich zu Iris. «Was meinst du? Ist er süß oder nicht?»

«Süß?», wiederholte Iris, als ob sie das Wort zum ersten Mal hören würde. Die Bedeutung von «süß» in Bezug auf das andere Geschlecht war offenbar noch nicht bis zu ihrem weitläufigen Wortschatz vorgedrungen.

«Na, süß eben. Schnuckelig», sagte Rosa und warf Oliver einen «Wo in aller Welt haben wir diese Hohlbirne aufgegabelt?»-Blick zu.

«Thilo? Schnuckelig?», fragte Iris ratlos.

Rosa gab es auf. «Ach, vergiss es!» Es gab ein paar Dinge, die konnte man einem zwölfjährigen Nerd mit einer Regenbogenspange einfach nicht beibringen.

«Hast du uns eingeladen, um mit uns über Jungs zu reden?», fragte Iris, und zwar ohne jede Spur von Sarkasmus.

Rosa setzte sich wieder an den Tisch, und die anderen folgten ihrem Beispiel. Sie senkte ihre Stimme zu einem verschwörerischen Flüstern. «Ist dir auch schon aufgefallen – so wie Oliver und mir –, dass die Dinge seit dem Gewitter am letzten Donnerstag irgendwie ein bisschen komisch sind? Dass irgendwie alles nicht mehr ganz rund läuft?»

«Aber hallo!», platzte es wie ein Pistolenschuss aus Iris heraus. «Nimm zum Beispiel meine Spange! Das ist wirklich äußerst nebulös.»

Rosa verengte die Augen. «Ich dreh dir gleich den Hals um! Du immer mit deinen Sprachkünsten! Das ist das reinste Nebulös-Gedöns!»

Oliver wusste auch nicht, was das Wort «nebulös» bedeuten sollte, aber er hatte so eine Ahnung. «Meinst du damit, das alles ist irgendwie … rätselhaft?»

«Genau!», nickte Iris. Ihre dichten, kurzen dunklen Locken wippten im Takt mit. «Wenigstens einer, der mich versteht.»

«Es ist komisch», sagte Oliver, «aber da ist etwas mit Thilo, was ich auch sehr nebulös finde.» Er lächelte Iris an und drehte sich dann zu Rosa um. «Hatte er früher nicht Akne?»

Rosa nickte. «Sein Gesicht war voller dicker Eiterpickel und Narben. Aber jetzt nicht mehr, richtig?»

«Er meint, er hätte noch nie Akne gehabt.»

«So was Ähnliches ist mir auch passiert», sagte Rosa. «Ich wollte die ‹Teen-Chroniken› von Samantha Rosetti noch mal lesen. Ihr wisst schon – Spaß mit 15, Freunde mit 16 und Liebe mit 17. Die kennt ihr doch, oder? Schon mal gelesen?»

Oliver fragte sich, warum sie ihn dabei ansah. «Das sind Mädchenbücher. So was lese ich doch nicht!» Bis er vor ein paar Wochen dem Leseclub beigetreten war, hatte er überhaupt noch keine Bücher gelesen, abgesehen von Comics oder Mangas.

«Ich habe davon gehört», sagte Iris, «und auch mal durchgeblättert. Aber natürlich habe ich sie nicht gelesen.» Sie lächelte Rosa an. «Du bist unsere Romanzenfachfrau.»

Rosa zog eine Grimasse. «Ich will mal so tun, als hätte ich das nicht gehört. Na, jedenfalls habe ich die Trilogie unten im Buchladen nicht gefunden – was ich seltsam fand, weil Cornelia eigentlich diese Buchreihe immer auf Lager hat. Aber Cornelia war nicht da, und Bernd konnte auch nichts finden. Also haben wir im Verzeichnis der lieferbaren Bücher nachgeschaut. Und wisst ihr was?»

«Sie stehen nicht drin», sagte Iris.

«Bingo!»

«Und die Autorin?», fragte Oliver.

«Das Suchergebnis lieferte keinen einzigen Treffer», sagte Rosa. «Keine Schriftstellerin mit Namen Samantha Rosetti.»

Die Kinder grübelten angestrengt über die Sache nach. Schließlich sagte Rosa: «Ich denke, wir sollten mit Cornelia reden. Sie hat mich schließlich erst auf die Bücher von Samantha Rosetti gebracht. Außerdem liebt sie es, Rätsel zu lösen. Und das ist fraglos eins. Außerdem kann man gut mit ihr reden.»

«Manchmal zu gut», sagte Iris. «Als ich ihr meine Spange zeigte und meinte, ich könnte mich gar nicht daran erinnern, dass ich schon jemals bei einem Kieferchirurgen war, hat sie mir tausend Fragen gestellt.»

«Also, mit meinen Eltern kann ich ganz bestimmt nicht darüber reden», sagte Rosa und senkte wieder die Stimme. «Sie würden sich Sorgen machen, dass meine Phantasie mit mir durchgeht. Als ich klein war, bevor Lily auf die Welt kam, hatte ich nämlich unsichtbare Freunde.» Sie stand auf. «Wir könnten gleich jetzt in den Buchladen gehen. Vielleicht hat Cornelia gerade Zeit für uns.»

«Ich muss mir erst die Zähne putzen», sagte Iris.

«Dann mach das!», befahl Rosa.

Rosa kommandierte andere Leute ganz schön herum, dachte Oliver. Vielleicht kam das daher, dass sie eine jüngere Schwester hatte. War das womöglich der Grund, warum Thilo ihm gegenüber auch immer den Chef spielte?

Iris schnappte sich ihren Kulturbeutel und sauste ins Bad. Rosa räumte die Teller, Gläser und Servietten auf ein Tablett und trug es in die Wohnung.

Oliver ging zum Balkongeländer. Er schaute zu, wie Thilo ein letztes Mal an seiner Zigarette zog, den Stummel auf den Boden warf und ihn mit der Schuhspitze austrat. Er dachte, dass Thilo die Kippe aufheben würde, aber der drehte sich einfach um und ging zum Haus zurück. Seine Eltern würden stinksauer werden, wenn sie im Hof Zigarettenstummel fänden. Oliver nahm sich vor, die Kippe in die Mülltonne zu werfen, ehe er nach Hause ging. Als Sohn des Hausmeisters fühlte er sich verantwortlich dafür, was auf dem Grundstück passierte. Und das sollte Thilo eigentlich auch!

3. KapitelEin Garten und eine Bibliothek

«Wie lange dauert das denn noch?», fragte Rosa. «Mir ist langweilig. Darf ich gucken?»

«Noch nicht», sagte Oliver.

Oliver zeichnete mit Bleistift ein Porträt von Rosa und Iris und nahm sich außerordentlich viel Zeit für Iris’ Locken.

Cornelia, die Besitzerin des Buchladens BLÄTTERRAUSCHEN, war mit Buchbestellungen beschäftigt und hatte die Kinder gebeten, draußen auf sie zu warten. Vor dem Laden standen Tische und Stühle, damit die Kunden das milde Herbstwetter genießen konnten, während sie die Bücher durchblätterten.

Die Fanny-Hensel-Straße war eine hübsche Straße, in der es viel zu sehen gab. Ständig kamen Leute vorbei, blieben vor den schönen Schaufenstern stehen oder bewunderten die frisch renovierten Altbauten, die fast alle um die Jahrhundertwende erbaut worden waren. Die Blätter an den Bäumen hatten sich gelb und orange verfärbt, sodass die ganze Straße noch farbenprächtiger wirkte als sonst.

Iris’ Locken mussten gar nicht völlig naturgetreu sein, aber Oliver wollte unbedingt die Fülle und den Schwung der Haare einfangen und die Art, wie die Sonne die Locken leuchten ließ. Rosas wellige goldblonde Haare waren leichter zu zeichnen – vielleicht, weil er sie schon so oft zu Papier gebracht hatte. Aber diese Bilder hielt er versteckt. Er und Thilo teilten sich ein Zimmer, und Thilo schnüffelte ständig in seinen Sachen herum. Wenn er wüsste, dass Oliver Bilder von Rosa malte, würde er ihm das von morgens bis abends unter die Nase reiben.

«Bitte! Ich will es sehen. Darf ich?», bettelte Rosa. Ohne auf eine Antwort zu warten, streckte sie die Hand aus und schnappte sich den Zeichenblock.

«He!», protestierte Oliver, obwohl er eigentlich nichts dagegen hatte. Außerdem kannte er Rosa. Es war schon erstaunlich, dass sie überhaupt so viel Geduld aufgebracht hatte.

Schweigend betrachteten Rosa und Iris die Zeichnung. Schließlich schaute Rosa mit schmalen Augen zu Oliver hoch. «Du hast Iris so hübsch gezeichnet», sagte sie, was in Wahrheit bedeutete: Du lässt Iris hübscher aussehen als mich.

Offensichtlich konkurrierten die beiden Mädchen miteinander. Oliver hatte eigentlich nur gezeichnet, was er sah. Wenn Iris auf dem Bild hübsch war, dann war sie einfach hübsch. Es war ihm nie aufgefallen, jedenfalls nicht so, wie ihm Rosas Schönheit auffiel, aber er musste zugeben, dass Iris nicht mehr so merkwürdig aussah wie früher.

Iris nahm die Zeichnung in die Hand, schaute sie lange an und blickte dann zu Oliver hin. «Meine Haare sind noch nicht fertig», sagte sie.

Rosa rollte mit den Augen.

In dem Moment läutete die Türglocke und die Ladentür öffnete sich. Cornelia sauste durch die Tür, ihr grauweißer Zopf wirbelte durch die Luft. «Tut mir leid, aber ich musste eine Bestellung abschicken. – He, habt ihr schon die neue Dekoration gesehen? Hinten im letzten Fenster?»

Die Kinder hatten das dekorierte Fenster nicht gesehen, weil sie daran noch nicht vorbeigekommen waren. Jetzt gingen sie zum letzten Schaufenster und schauten es sich an. Da waren Bücher versammelt, auf deren Umschlägen entweder Bäume, Blätter, Pflanzen, Blumen oder Blüten abgebildet waren. Zwischen ihnen hatten einige der Bonsais Platz gefunden, die normalerweise im Laden standen. In riesigen Kalligrafie-Buchstaben zog sich ein Zitat über die gesamte Breite der hinteren Schaufensterfläche: «Wenn du einen Garten und noch dazu eine Bibliothek hast, wird es dir an nichts fehlen.»

«Das ist ein Zitat von Cicero, dem römischen Dichter», sagte Iris.

«Stimmt», nickte Cornelia. «Ich finde, es passt prima zum Laden.»

Im Buchladen BLÄTTERRAUSCHEN konnte man nicht nur Bücher kaufen, sondern auch einzigartige japanische Bonsais. Jedes Mitglied des Leseclubs besaß auch einen eigenen Minibaum, für den es sorgen musste. Einige davon standen im Schaufenster, so wie Olivers stämmiges Olivenbäumchen direkt in der Mitte. Fabians Kirschbaum war neben Ayças Pflanze mit den knallorangefarbenen Blüten platziert, die so aussah wie ein brennender Busch. Einen der Bäume hatte Oliver noch nie gesehen: ein knorriger Stamm mit kleinen Früchten, wie winzige lila Glühbirnen.

«Eine Callicarpa japonica», sagte Iris und deutete auf die Pflanze mit den lila Früchten. «Wusstest du, dass sie auch Schönfrucht genannt wird?»

«Du meine Güte, Iris», sagte Cornelia, «du bist ja heute ein wandelndes Lexikon. Aber um deine Frage zu beantworten, ja, das wusste ich.»

«Ich finde Fabians Kirschbaum wunderschön», sagte Rosa zu Cornelia.

«Fabian?», sagte Cornelia.

«Ist er schon wieder da?», fragte Oliver.

«Wer?», fragte Cornelia.

«Fabian», antwortete Iris. «Er war letzte Woche mit seinen Eltern in Bochum, weißt du nicht mehr? Sie wollten sich ein Musical anschauen.»

Oliver war erst dreimal beim Leseclub gewesen. Und weil Fabian in der ersten Woche der Herbstferien nicht da gewesen war, hatte er ihn erst zweimal gesehen. Aber er mochte Fabian und war froh, dass noch ein Junge in seinem Alter im Club war. Emil, der dritte Junge, war erst elf.

Cornelia warf einen Blick ins Schaufenster. «Das ist Felix’ Kirschbaum.»

«Felix?», fragte Rosa. «Wer ist Felix?»

Oliver war verwirrt. «Das ist nicht Fabians Baum?»

Cornelia wirkte auf einmal wachsam. Ihr Blick huschte von einem Kind zum nächsten. Dann lenkte sie die Kinder wieder zurück zum Tisch, wo Olivers Zeichenblock noch aufgeschlagen lag.

«Wie reizend», sagte Cornelia und betrachtete Olivers Porträt von Iris und Rosa. «Das ist ganz ausgezeichnet, Oliver. Darf ich mir deine anderen Zeichnungen ansehen?»

Oliver nickte erfreut.

Cornelia schlug die vorige Seite auf. Es war eine Kohleskizze des Hinterhofs mit einem Himmel voller dunkler, tief hängender Wolken. Die Bäume im Hintergrund bogen sich, so dass man beinahe den böigen Wind auf der Haut fühlen konnte. Es sah so aus, als wollten sich die drohenden Wolken jeden Moment auf den Gerätschuppen stürzen. Oliver hatte die Skizze noch am Nachmittag fertig gestellt, bevor er zu Rosa ging.

Cornelia betrachtete Oliver einen Moment lang nachdenklich und blätterte dann noch eine Seite um. Auch das war eine Zeichnung des Geräteschuppens, aber mit Buntstiften gemalt und mit dem Blick aus Olivers Zimmer im zweiten Stock. Der Fensterrahmen und ein Teil des Schreibtischs umrandeten das Bild. Der Schuppen war in goldenes Licht getaucht.

Cornelia klappte den Zeichenblock zu. «Du scheinst ja ganz fasziniert von dem Geräteschuppen zu sein», sagte sie zu Oliver.

«Da ist er nicht der Einzige», sagte Rosa. «Irgendetwas an diesem Schuppen ist unheimlich, und zwar seit dem Gewittersturm letzte Woche. Weißt du noch?»

«Ein Gewitter? Vielleicht.»

Wieder erklang die Türglocke, und Bernd tauchte auf. «Ein Anruf für dich, Cornelia.»

«Komme gleich wieder», sagte Cornelia zu den Kindern.

Sie ging in den Laden, und die Tür schloss sich mit einem leichten Knarren hinter ihr.

«Sie verschweigt uns etwas», sagte Oliver.

Rosa nickte. «Guckt mal …» Sie streckte ihren Arm aus. «Ich habe eine Gänsehaut. Sie hat mir richtig Angst gemacht.»

«Warum weiß sie nicht, wer Fabian ist?», wunderte sich Iris.

«Und wer ist Felix?» wollte Oliver wissen.

«Wir müssen sie unbedingt wegen Samantha Rosetti fragen», sagte Rosa. «Das können wir nicht einfach so abhaken.»

«Vielleicht am nächsten Donnerstag im Leseclub?», schlug Iris vor. «Wenn die anderen da sind? Die meisten haben es bestimmt auch gelesen. Zoe zum Beispiel.»

So hätten sie wohl noch eine ganze Weile weitergeredet, hätte nicht in diesem Moment ein Taxi vor dem Buchladen angehalten. Der Taxifahrer stieg aus, ging zum Heck und holte zwei Koffer heraus. Die Tür zum Rücksitz öffnete sich, und heraus kam das wunderschönste Mädchen, das Oliver je gesehen hatte – das schönste nach Rosa, selbstverständlich. Aber sie war ganz anders als Rosa. Sie war ein bisschen älter und größer als Rosa. Sie hatte dicke, glatte, glänzende Haare, so schwarz wie Olivers schwärzester Kohlestift, während Rosa weiche, wellige blonde Haare hatte. Die Augen des Mädchens waren schwarz, die von Rosa haselnussbraun. Rosa trug gewöhnlich Erdfarben, die zu ihren Augen passten – Olivgrün, Braun, Terrakotta. Aber die Kleidung des Mädchens war so knallig bunt wie ein sonniger Frühlingstag: königsblaue Shorts, smaragdgrüne Leggins, pinkfarbene Plateau-Sneakers mit Erdbeermuster und ein pink-blau-gelb gestreiftes Top.

Das Mädchen bedankte sich bei dem Taxifahrer, reichte ihm einen Geldschein und drehte sich dann zum Buchladen um. Als sie die Kinder bemerkte, strahlte sie. «Ihr müsst Rosa, Oliver und Iris sein! Wie schön!»

Sie kannte ihre Namen?

Als ob sie die Gedanken der Kinder lesen konnte, setzte das Mädchen hinzu: «Cornelia hat mir alles über euch erzählt.»

Die Ladentür flog auf und Cornelia stürzte heraus. «Lucia! Wie schön, dich zu sehen!» Cornelia und das Mädchen umarmten sich, und dann wandte sich Cornelia an Rosa, Oliver und Iris. «Lucia ist meine Patentochter. Aus New York. Ihr werdet euch bestimmt gut verstehen. Ihre Mutter ist eine alte Freundin von mir. Sie ist auf einer Expedition, deshalb wohnt Lucia eine Zeitlang bei mir und Bernd.»

«Auf einer Expedition?», fragte Iris, wissbegierig wie immer.

«Ja», sagte Lucia. «Meine Mutter forscht in einer historischen Stätte in der Schweiz.»

Oliver gefiel die Stimme des Mädchens. Sie war samtig, obwohl sie einen leichten Akzent hatte.

«Deine Mutter ist Archäologin?», hakte Iris nach.

«… in gewisser Weise», antwortete Lucia. «Sie analysiert Informationen über alte Kulturen, um zu erfahren, wie die Menschen früher lebten. Und diese Informationen helfen uns, unsere Gegenwart besser zu verstehen.»

«Wo in der Schweiz ist denn diese Ausgrabung?», wollte Iris wissen. «Ich dachte, mittlerweile hätte man dort so ziemlich alles gefunden, was es zu finden gibt. Oder ist es in einer Gegend, wo sich früher ein Gletscher befand, der erst kürzlich geschmolzen ist? Oder in einer versteckt liegenden Höhle?»

«Der Ort ist so geheim, dass nicht einmal ich weiß, wo er liegt», sagte Lucia mit strahlendem Lächeln.

«Ein geheimer Ausgrabungsort?», sagte Iris. «Wie aufregend! Wenn –»

«Leute», mischte sich Cornelia ein und nahm den Griff eines Koffers. «Ich denke, Lucia muss sich ausruhen. Ich bringe sie zu mir nach Hause. Ihr werdet noch viel Gelegenheit haben, euch besser kennenzulernen.»

Lucia folgte Cornelia über die Straße, wo die beiden in dem Haus direkt gegenüber verschwanden, in dem Cornelia wohnte.

Iris drehte sich zu Oliver um und kicherte. «Du kannst den Mund jetzt wieder zumachen.»

Oliver hatte gar nicht gemerkt, dass sein Mund offen stand. Er fragte sich, wie lange er schon so dastand.

«Ich kenne dieses Mädchen von irgendwoher», sagte Rosa gedankenverloren.

Iris nickte. «Ich auch.»

«Gleichfalls», meldete sich Oliver zu Wort. «Aber woher?»

Die schwere Holztür des Hauses, in dem Oliver und Rosa wohnten, öffnete sich knarrend, und heraus trat Thilo.

Rosas Wangen röteten sich, und sie fing an zu kichern, als Thilo vorbeiging. Er murmelte einen Gruß und ging weiter.

«Er ist nicht gerade gesprächig», bemerkte Iris.

Sie sahen, wie Thilo an der Ecke an einem Jungen in schwarzen Jeans und einem schwarzen Kapuzenpulli vorbeiging, der an einem Laternenpfahl lehnte und sich eine Zigarette anzündete. Er hatte die Kapuze über den Kopf gezogen, sodass Oliver sein Gesicht nicht sehen konnte. Nur die Augenbrauen, die außergewöhnlich dick und dunkel waren, ragten aus den Schatten. Oliver bildete sich ein, dass Thilo und der Junge sich mit einem Nicken begrüßten, aber er war sich nicht sicher.

Über ihnen im ersten Stock schlug der Wind knallend ein Fenster zu. Die Kinder zuckten erschrocken zusammen, schauten nach oben, und Oliver sah, wie die Sonne hinter den schnell ziehenden Wolken verschwand. Als er wieder zu der Straßenecke blickte, war der Junge in Schwarz verschwunden.

Genau wie Thilo.

4. KapitelTischtennis

An einem Dienstagnachmittag etwa zwei Wochen später waren Oliver und Thilo in ihrem Zimmer, als die lauten Stimmen ihrer Eltern durch die Wand drangen. Oliver machte gerade Hausaufgaben, und Thilo, der sich inzwischen in einem Oberstufenzentrum eingeschrieben hatte, lernte für eine Klausur in Medientechnik. Ihre Mutter war mit einer Erkältung zu Hause geblieben, und ihr Vater war gerade müde und schlecht gelaunt von der Arbeit heimgekommen. Sie stritten sich wegen Geld – wegen was sonst? Jedes Wort war ein Schlag in Olivers Magen.

Oliver setzte seine Kopfhörer auf, damit er seine Eltern nicht mehr hören musste. Seine Großmutter aus Bad Salzschlirf hatte ihm die CDBest of the Beatles geschenkt. Es war ihre Lieblingsmusik gewesen, als sie in seinem Alter war. «Wenn wir uns das nächste Mal sehen», hatte sie zu ihm gesagt, «dann erzählst du mir, wie es dir gefallen hat.» Er arbeitete sich Stück für Stück durch die CD. Ein paar Songs waren okay, andere waren blöd, wieder andere waren –

«He, O», sagte Thilo und zog Oliver die Stöpsel aus den Ohren. «Lass uns rausgehen.»

Jetzt drang der Streit seiner Eltern wieder zu Oliver durch. Thilo hatte recht – sie sollten abhauen. Oliver holte das Tischtennis-Set aus dem Schrank, Thilo griff sich seine Zigaretten und ein Feuerzeug – und weg waren sie.

 

Die Jungen jagten johlend und schreiend die Stufen hinunter. Oliver hätte das Wettrennen vermutlich sogar gewonnen, aber im ersten Stock packte Thilo ihn am Arm, zerrte ihn von den Stufen weg und schubste ihn gegen Herrn Pfeiffers Wohnungstür. Oliver holte ihn nicht mehr ein.

Draußen wandten sich die Jungen nach links, vorbei am Buchladen BLÄTTERRAUSCHEN, vor dessen Fenster Kunden an den Tischen saßen und in der Sonne lasen. Es war Anfang November, aber trotzdem noch warm wie im Sommer.

Oliver überlegte, ob Thilo nun endlich mit der Sprache herausrücken würde, wo er gesteckt hatte, nachdem er von zu Hause weggelaufen war. Aber Thilos Gedanken kreisten um ein ganz anderes Thema. «Wer war das Mädchen, das ich letztens mit dir vor dem Buchladen gesehen habe?»

«Rosa?»

Thilo warf ihm einen vernichtenden Blick zu. «Ich weiß, wer Rosa ist, du Flachpfeife. Ich meine das Mädchen mit den langen, schwarzen Haaren. Die scharfe Braut. Die mit den Möpsen.»

Olivers Wangen wurden heiß. Er und Thilo hatten sich noch nie über Mädchen unterhalten. Und schon gar nicht so. Die Beschreibung, die Thilo ihm gerade gegeben hatte, passte jedenfalls nicht auf Iris. «Meinst du Lucia?»

«Lu-ci-a», sagte Thilo und ließ sich die Silben auf der Zunge zergehen. Er legte den Kopf schräg und schaute himmelwärts, als würde er dem Vogelgesang lauschen. «Ja», sagte er schließlich und blickte Oliver an, «das passt zu ihr. Perfekt. Oh Mann, die ist vielleicht scharf. Aber mit Stil. Und klug. Da gehen bei mir sämtliche Warnlampen an.»

«Hä?»

«Scharf? Stil? Klug? Eine gefährliche Kombination.»

Oliver begriff, warum Thilo diese Worte benutzte, wenn er von Lucia redete, auch wenn er das Grinsen auf Thilos Gesicht nicht besonders mochte und er selbst nie von einer «scharfen Braut» oder «Möpsen» gesprochen hätte. Lucia hätte das Cover einer der Modezeitschriften zieren können, die er manchmal im Friseurladen seiner Mutter durchblätterte.

«Woher willst du überhaupt wissen, dass sie klug ist?», fuhr Oliver Thilo an.

«Ich hab sie beobachtet. Das merkt man doch.»

Oliver schnaubte, aber es stimmte: Lucia war klug. Es ärgerte ihn bloß, dass Thilo das wusste, ohne überhaupt mit ihr gesprochen zu haben. Sie besuchte ein privates Internat in New York mit einem sehr hohen Bildungsstandard, wie sie ihm nach dem Treffen des Leseclubs vergangene Woche erzählt hatte, dem ersten nach den Herbstferien. Und in Berlin wurde sie von einem Privatlehrer zu Hause unterrichtet. Lucia war also tatsächlich super gebildet. Aber was Oliver an ihr viel mehr faszinierte, war die geheimnisvolle Aura, die sie umgab. Er fragte sich unentwegt, wieso er den Eindruck hatte, sie wären sich schon früher begegnet. Vor lauter Grübeln bekam er Kopfschmerzen – ähnlich wie bei dem Versuch, das Rätsel des Geräteschuppens zu lösen. Oder das Rätsel um Fabian.

Vor anderthalb Wochen – an dem Tag, an dem Lucia eintraf – waren er, Rosa und Iris übereingekommen, dass sie bis zum nächsten Treffen des Leseclubs warten würden, um die Sache mit Fabian zu klären. Vielleicht hatte Cornelia, die ständig in Stress war, die Namen einfach nur verwechselt. Aber Fabian tauchte an dem Tag nicht auf. Auf seinem Platz saß ein Junge namens Felix, der ebenfalls dreizehn war und den Ayça, Anna und Zoe, die anderen Clubmitglieder, zu kennen schienen. Rosa hatte Zoe, die mit Fabian zur Schule ging, gefragt, ob Fabian kommen würde. «Fabian?», hatte Zoe gefragt. «Wer ist Fabian?»

Zoes Reaktion hatte Rosa, Oliver und Iris dermaßen aus der Fassung gebracht, dass sie sich kaum auf den Leseclub konzentrieren konnten und daher völlig vergaßen, Cornelia nach Samantha Rosetti, der Phantomautorin, zu fragen. Existierten Fabian und Samantha Rosetti bloß in ihrer Einbildung? Das war wirklich zu unheimlich. Sie hatten gleich nach dem Clubtreffen darüber sprechen wollen, aber Lucia hatte sich draußen vor dem Laden zu ihnen an den Tisch gesetzt, und ihnen war klar, dass sie in ihrer Gegenwart nicht darüber reden konnten.

Wenn er Lucia anschaute, dachte Oliver manchmal, dass irgendetwas an ihr … merkwürdig war. Sie war freundlich und locker, gleichzeitig aber auch … irgendwie kontrolliert. Ihre Augen schienen alles wahrzunehmen, als ob es zwei Kameralinsen wären, die ständig Bilder schossen.

«Lucia wohnt bei Frau Eichfeld, während ihre Mutter in der Schweiz ist», sagte Oliver zu Thilo. «Lucia ist ihr Patenkind.»

«Frau Eichfeld?»

«Cornelia! Ihr gehört der Buchladen.»

«Ach, die von deinem ultrahippen Leseclub, ja?», sagte Thilo spöttisch.

Thilo hatte kein Recht, ihn deswegen aufzuziehen! Zugegeben, bis vor zwei Monaten hatte sich Oliver selbst nicht vorstellen können, dass er jemals in seinem Leben zu einem Leseclub gehen würde, aber … das war vor zwei Monaten gewesen. Jetzt hatte er gar nichts gegen das Lesen, auch wenn er nicht so eine Leseratte war wie die Mädchen.

«Also echt, ich fasse es nicht, dass du zu einem Leseclub gehst», zog Thilo ihn auf.

«Das geht dich doch überhaupt nichts an», schoss Oliver zurück. «Und Lucia kannst du vergessen, die ist zu jung für dich. Sie ist erst vierzehn. Außerdem hat sie einen guten Geschmack. Also lass deine dreckigen Pfoten von ihr, verstanden?»

«Hilfe! Da kriege ich ja richtig Angst. Ich mach mir gleich in die Hosen.» Und er wuschelte Oliver durch die Haare, als ob er ein kleiner Junge wäre.

Oliver schlug seine Hand weg.

Thilo schaute ihn überrascht an. «Du bist in sie verknallt, stimmt’s?»

«Quatsch!», protestierte Oliver.

«Aber hallo! Aber findest du nicht, dass sie für dich ein bisschen zu alt ist?»

«Ich bin nicht in sie verknallt.» Das war er wirklich nicht. Glaubte er wenigstens. «Ich mag’s bloß nicht, wie du über sie redest.»

«Ganz ruhig, Kumpel, das ist doch bloß Spaß. He, warum streiten wir uns überhaupt über Mädchen? – Wer als Erster am Tisch ist!» Er stieß Oliver nach hinten und sprintete dann lachend los. Das war wenigstens eine Sprache, die Oliver verstand. Er war ein schneller Läufer, holte Thilo ein und blieb in diesem Wettrennen der Sieger.

Beim Tischtennis allerdings sah die Sache schon wieder anders aus.

 

Oliver schlug einen Ball viel zu hoch auf die Gegenseite. Thilo nutzte den schlechten Schlag und konterte mit einem Schmetterball, den Oliver nicht erwischte. Der Ball landete weit hinten im Sandkasten. Wo hat Thilo so gut Tischtennisspielen gelernt?, dachte Oliver, als er den Ball holte.

«Du lahme Ente!», höhnte Thilo.