Stella Menzel und der goldene Faden - Holly-Jane Rahlens - E-Book

Stella Menzel und der goldene Faden E-Book

Holly-Jane Rahlens

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Beschreibung

Stella liebt ihre Decke aus blauem Seidensatin, die sie von ihrer Ururgroßmutter geerbt hat – eine Decke, übersät mit Sternen und Schneeflocken aus Silberbrokat und mit einem goldenen Faden eingefasst. Auf jeden, der ihn besitzt, übt dieser Stoff eine magische Wirkung aus – denn seine Falten bergen die Kraft, die Geschichten seiner Besitzerinnen einzufangen: wundersame Geschichten vom alten Russland, vom Berlin der 20er Jahre, von der Flucht der jüdischen Familie nach New York und einem Neuanfang in Berlin. Dieses Erbstück begleitet Stella von der Wiege bis zum ersten Kuss. Und während der Stoff sich im Laufe der Zeit verwandelt und immer kleiner wird, wird auch Stella schließlich ein Teil seiner Geschichte. Das neue Buch der Jugendliteraturpreisträgerin über Mütter und Töchter, über unsere Wurzeln – und über den goldenen Faden, der alles miteinander verbindet. Zum Lesen und Vorlesen für Kinder ab 9 Jahre und die ganze Familie!

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Seitenzahl: 122

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Holly-Jane Rahlens

Stella Menzel und der goldene Faden

Aus dem Englischen von Brigitte Jakobeit

Mit Bildern von Reinhard Michl

Rowohlt E-Book

Inhaltsübersicht

WidmungErstes Kapitel Stella Alisa MenzelZweites Kapitel Der GartenzwergDrittes Kapitel Wintermorgen in RusslandViertes Kapitel Der DiebstahlFünftes Kapitel Dunkler Winter in BerlinSechstes Kapitel Hopscotch und SkatSiebtes Kapitel Berlin – New York – BerlinAchtes Kapitel Der GlaspantoffelNeuntes Kapitel SchneesternZehntes Kapitel Die JetlaggerinElftes Kapitel Das ÄffchenZwölftes Kapitel Die HochzeitsplanerinDreizehntes Kapitel Die MultitaskerinVierzehntes Kapitel Die FreundinStammbaumSchreiben und Inspiration – Anmerkung der AutorinDank
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Für Noah

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Erstes KapitelStella Alisa Menzel

Es lebte einmal ein Mädchen namens Stella Alisa Menzel, das besaß ein ziemlich großes Stück verzauberten Stoffes. Er war aus glänzendem blauen Seidensatin, übersät mit Sternen und Schneeflocken aus Silberbrokat und mit einem goldenen Faden zusammengenäht.

Stella lebte zu einer Zeit, in der ein verzauberter Stoff nichts Alltägliches mehr war. Sicher, hin und wieder tauchte ein Stück in London auf, nahe der Portobello Road, in Geschäften, die nach Räucherstäbchen rochen und die, so hieß es, von Hexen besucht wurden; oder in einem entlegenen Winkel im Schwarzwald, in zerfallenen Bauernhäusern, in denen es angeblich spukte. Es kursierte auch das Gerücht, ein Antiquitätenhändler aus dem finnischen Ort Pieksämäki hätte auf seiner letzten Reise nach Transsilvanien mehrere Meter davon aufgestöbert; und einige Leute haben einen solchen Stoff sogar im Angebot eines Onlineshops entdeckt, der Tarnumhänge nach Maß für Zauberer herstellte.

Zauberei, Hexerei, Gespensterei hin oder her, Stella aber war weder eine Zauberin noch eine Hexe, noch ein Geist, auch nicht ein Vampir, Werwolf, Engel, Teufel oder sonst eine Art von Fantasyfigur. Nicht, dass sie sich manchmal nicht so benommen hätte wie eine der eben genannten – besonders wie der Teufel. Aber, nein, Stella war eine Normalsterbliche wie wir alle, außer dass sie zufällig rotes Haar hatte, was ein bisschen ungewöhnlich war, aber sie hatte nur wenige Sommersprossen, was wiederum sehr ungewöhnlich für Rothaarige war. Bei ihrer letzten Zählung hatte Stella gerade mal sieben Sommersprossen auf der linken Schulter, drei auf der rechten, neun über der Brust und eine direkt unter dem rechten Nasenloch (was wirklich nicht der günstigste Platz für eine Sommersprosse war. Kleine, alte Damen reichten ihr immer verstohlen ein Taschentuch und flüsterten: «Liebes, putz dir doch mal das … äh … Ding unter der Nase weg»).

Kurz gesagt, Stella war ein gewöhnliches Mädchen, das ein außergewöhnliches Stück verzauberten Stoffes besaß. Nun sollte man unbedingt wissen, dass dieser Stoff nicht verzaubert im Sinne von magisch war. Er konnte einen nicht unsichtbar machen oder schöner, als man ohnehin schon war, und er konnte einen Prinzen auch nicht in einen Frosch verwandeln oder einen Frosch in einen Dinosaurier. Trotzdem übte der Stoff auf jeden, der ihn besaß, eine ganz besondere Wirkung aus, denn seine Falten bargen die Kraft, das Leben und die Geschichten seiner Besitzer einzufangen. Das brachte natürlich eine große Verantwortung mit sich, denn wer den Stoff besaß, besaß auch seine Geschichten. So ist es immer gewesen – schon seit aus dem Stoff vor ungefähr hundert Jahren ein Wandbehang gemacht worden war. Dieses Buch erzählt seine Geschichte und das Schicksal einer Familie und eines Mädchens, die in seinem Bann standen.

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Zweites KapitelDer Gartenzwerg

Eines Nachmittags, als Stella noch ein kleines Mädchen war, tobten sie und ihr Freund Mats mit einer Decke über ihren Köpfen im Schrebergarten ihrer Tagesmutter herum. Die heiße Junisonne schickte ihre Strahlen unerbittlich durch einen wolkenlos blauen Himmel, aber unter Stellas seidener Decke – ein Geschenk ihrer Großmutter Josephine zu Stellas Geburt – war es dunkel und kühl. Die blaue Decke war mit silbernen Sternen und Schneeflocken übersät. Der Name, den Stella ihr gab, sobald sie sprechen konnte, passte gut: Schneestern.

Stella und Mats waren einander so verbunden wie Hänsel und Gretel. Mats konnte sich nicht sattsehen an Stellas wippenden orangeroten Locken: wilde, wuschelige Kringel, die strahlenförmig von ihrem Kopf abstanden wie Feuerwerkskörper. Sie wiederum war beeindruckt von seiner Brille mit dem kupferfarbenen Drahtgestell, die seine Augäpfel groß wie Walnüsse aussehen ließ. «Kleiner Professor», nannte ihn Netti, die Tagesmutter. Und das war er auch! Schon in diesem Alter konnte Mats den genauen Zeitpunkt bestimmen, wann ihr Wolkenkratzer aus Duplosteinen einstürzen würde. Und wenn er es tat, lachten Stella und Mats, als wäre der Einsturz das beste jemals erfundene Spiel, während die anderen Kinder von den verstreuten Resten ihrer Mühen so schockiert waren, dass sie zu weinen anfingen. Wenn das passierte, sagte Stella meistens etwas scheinbar Banales – etwas wie: «Kleiner Professor ist schlechter Bauer» –, und die anderen hörten augenblicklich auf zu weinen und brachen in Gelächter aus. «Bauer?», lachten sie. «Du meinst Bauarbeiter!» Mats drückte Stella dann immer ganz fest. «Mein Rottopf», sagte er stolz. «Mein Rottopf.»

«Topf?», lachten die Kinder. «Du meinst Kopf!»

Jetzt aber tobten Stella und Mats mit der Decke über ihren Köpfen zwischen den Gartenzwergen herum. Sie rochen das Gras, frisch und erdig. Unter ihren nackten Füßen schien der Boden nachzugeben wie eine besonders saftige, riesige Schokoladencremetorte. Die Erwachsenen plauderten am Tisch unter dem Aprikosenbaum hinter dem Geräteschuppen, und die Eiswürfel klirrten in ihren Gläsern.

Stella und Mats, die vom Herumtollen schon ganz dusselig waren, genossen das schwindelige Gefühl in vollen Zügen. Aber da wurden sie plötzlich durch Gebell aus ihrem übermütigen Spiel gerissen. Knurren. Schweres Keuchen. Die Decke wurde weggezerrt. Wutsch! Und Stella und Mats sahen sich zwei grimmigen Drachen gegenüber … na gut, es waren zwei Schäferhunde – aber immerhin. Die Tiere fletschten ihre spitzen, furchteinflößenden Zähne und schnappten nach ihnen. Stella spürte den heißen, feurigen Atem auf ihrem Gesicht, roch den fauligen Monstergestank. Sie schrie. Ihr Vater, Mikhail, erschien neben den Kindern und hob sie eilends hoch. Die Hunde folgten ihm und knurrten.

«Weg mit euch!», rief Netti, die Tagesmutter, die herbeigerannt war.

Aber die Hunde liefen nicht davon. Stattdessen spielten sie Tauziehen mit der Decke. Sie rannten mit ihr davon und sprangen mit ihren dreckigen Pfoten auf ihr herum. Sie sabberten darauf und schlenkerten sie hin und her wie den Hals eines Vogels. Die Decke zerriss – zzsscchhtt. Noch einmal und noch einmal. Zzsscchhtt. Zzsscchhtt.

«Pfui! Böse Hunde!», schimpfte Netti und verscheuchte sie.

Stellas Vater riss der Geduldsfaden. «Пοшли вон!», sagte er knapp auf Russisch, was so viel bedeutet wie: «Haut ab, ihr dummen, verrückten, wilden, deckefressenden, bösen Hunde, die ihr euch für Drachen haltet, und wenn nicht, werdet ihr schon sehen, was euch blüht. Das ist mein Ernst!»

Die Hunde klemmten den Schwanz ein und rannten winselnd dorthin zurück, von wo sie gekommen waren: in den Garten des Nachbarn.

Stellas Decke – ihr Schneestern – konnte kaum noch als Decke bezeichnet werden. Stella hatte das Gefühl, als hätte man sie selbst in Stücke gerissen. Mats, dem beim Bücken das blonde Haar über die Walnussaugen fiel, half ihr und ihrem Vater, die Reste aufzuklauben. Er verstand Stellas Verzweiflung. «Mein Rottopf», sagte er und drückte sie fest. «Mein Rottopf.»

 

Stella wollte Schneestern sofort und heil zurückhaben. Sie sagte sich, wenn Emma, die auch bei Netti in der Gruppe war, ihr Nilpferd über Nacht zurückbekommen hatte, dann müsste es bei ihr und Schneestern doch genauso gut gehen.

Emma nahm ihr Nilpferd jeden Tag mit zu Netti. Das Plüschtier muffelte leicht nach Spucke, sein beigefarbenes Fell war schmutzig und abgegriffen, und sein rotgelb gestreiftes Kleid war zerrissen und löste sich am Saum auf. Sein rechtes Ohr fehlte, als hätte es jemand mit der Schere abgeschnippelt. Aus Gründen, die Stella nicht nachvollziehen konnte, nannte Emma ihr Nilpferd «Grunz Grunz».

Eines Tages, als Netti mit den Kindern einen Spielplatz besuchte, ging Grunz Grunz verloren. Netti suchte überall nach ihm, fragte sämtliche Mütter, Kindermädchen, Tagesmütter und Babysitter, die auf dem Spielplatz herumsaßen, ob sie es versehentlich mitgenommen hätten, doch es blieb verschwunden.

Emma weinte den ganzen Tag.

Wunderbarerweise jedoch erschien Emma am nächsten Morgen wieder mit Grunz Grunz im Arm. Bei näherem Hinsehen allerdings entdeckten die Kinder, dass es nicht dasselbe Grunz Grunz war, das sie seit zwei Jahren kannten. Es war zu sauber. Und es hatte nicht mehr den schwitzigen, kotzigen Geruch, den es sonst immer hinter sich herzog. Außerdem sah das gestreifte Kleid zu neu aus, und der Saum war in Ordnung. Sogar das fehlende Ohr war wieder vorhanden.

«Das Ohr ist da», stellte Stella fest.

«Grunz Grunz war im Krankenhaus», erklärte Emma den anderen mit großem Ernst. «Sie haben das Ohr op-riert.»

«Welches Krankenhaus?», fragte Stella, die viele kaputte Spielsachen hatte, die operiert werden mussten.

«Spielemax», sagte Netti.

 

«Oh-ooh», sagte Stellas Mutter, Isabel Zwickel-Menzel, als ihr Mann und ihre Tochter mit der dreckigen und zerfetzten Decke von Nettis Schrebergarten zurückkamen. «Ich glaube, jetzt müssen wir sie wegwerfen. Sie ist alt und verfleckt und zerrissen.»

«Nein!», schrie Stella. «Spielemax.»

«So was gibt es da nicht», sagte Isabel. «Aber wir besorgen dir irgendwo eine neue, meine Schnecke.»

Und sosehr Stella auch jammerte, Isabel verkündete mit ihrer typischen «Mama-Stimme» – einer Stimme, so stetig und stur wie der Herbstregen –, dass man Schneestern leider nicht retten könne, selbst Dr. Spielemax könne da nicht helfen. Isabel beschönigte Tatsachen nämlich grundsätzlich nicht mit Unwahrheiten. Sie war Apothekerin, und Apothekerinnen sind nun mal so. Das ist bitter – wie manche ihrer Pillen.

 

«Oh, dear!», sagte Stellas Großmutter Josephine, als sie am Abend zum Essen kam und die Überreste der blauen Satindecke sah. «Oh, dear. Das Erbstück meiner Großmutter.»

«Mama», sagte Isabel, «das Ganze tut mir wirklich sehr leid, aber so was passiert eben, wenn man einem Kind ein Erbstück aus Seidensatin schenkt. Was, um Himmels willen, hast du dir nur dabei gedacht?»

Josephine warf ihrer Tochter einen vernichtenden Blick zu. «Das, meine Liebe, wirst du wohl selbst herausfinden müssen.»

Isabel seufzte. «Die Decke war schon alt und verfleckt, als du sie Stella geschenkt hast. Und jetzt ist sie alt und verfleckt und schmutzig und zerrissen dazu. Wirf sie weg!»

«Nein!», protestierte Stella. «Ich will meine Decke wieder!»

«Gib sie mir, bitte», sagte Josephine ruhig. «Lass mal sehen.»

«Mama!», sagte Isabel. «Aus nichts kann man nichts machen!»

«Pst», sagte Josephine, untersuchte die Decke und drehte sie immer wieder hin und her. «Wenn ihr mich fragt», meinte sie schließlich, «ist noch genügend Stoff übrig, um etwas Neues daraus zu machen.»

«Siehst du!», sagte Stella triumphierend zu ihrer Mutter. «Siehst du!»

Isabel zuckte nur mit den Schultern und ging wieder in die Küche, um ihrem Mann Mikhail bei der Zubereitung seiner berühmten Erdbeerplinsen zu helfen.

 

Es vergingen Tage, eine Woche, zwei. Und dann kam Oma Josephine mit einem Päckchen vorbei. Darin war ein Kleid aus blauem Seidensatin, zusammengenäht mit goldenem Faden und bestickt mit Sternen und Schneeflocken aus Silberbrokat.

Stella war entsetzt. «Das ist Schneestern?», sagte sie, den Tränen nahe. «Was ist Schneestern passiert?»

«Hmpf», sagte Isabel. Sie schnappte sich das Kleid und untersuchte es Zentimeter für Zentimeter, Stich für Stich, als entzifferte sie Buchstabe für Buchstabe ein Arztrezept. «Da sind immer noch Flecken!», sagte sie schließlich und zeigte auf ein paar Stellen.

«Cranberrysauce. Thanksgiving. 1959», sagte Josephine. «Damals war es eine Tischdecke. In New York.»

«Und die weißen Flecken?», wollte Isabel wissen.

«Schuhcreme. 1949.»

«Hmpf», sagte Isabel wieder und ging aus dem Zimmer, um sich für ihren Tangokurs herzurichten.

«Schuhcreme?», fragte Stella. «New York?»

Josephine hob Stella hoch und setzte sich mit ihr auf das Sofa. «Stella», sagte sie, «soll ich dir eine Geschichte über einen verzauberten Stoff erzählen?»

«Ein Zaubertuch?», fragte Stella.

«Nein, nicht wirklich, kein Abrakadabra, aber trotzdem etwas ganz Besonderes.»

Stella klatschte in die Hände. Nach dem langweiligen, regnerischen Nachmittag war sie froh um die Ablenkung. Außerdem liebte sie es, Geschichten von ihrer Oma zu hören, denn Josephine hatte einen lustigen Akzent. «Ja! Eine Geschichte!» Sie lehnte sich an den gepolsterten Busen ihrer Großmutter, und Josephine begann mit ihrer Geschichte.

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Drittes KapitelWintermorgen in Russland

Es war einmalim Januar 1919, weit zurück im letzten Jahrhundert und weit entfernt in Russland, hoch oben an der Ostsee, da nahmen Galja und Lew Nussbaum an einem klaren, aber noch sehr dunklen und bitteren Morgen Abschied von ihrer einzigen Tochter Channa, die gerade neunzehn geworden war.

An jenem Morgen zeigte sich die Welt weiß wie an jedem Morgen in St. Petersburg zu dieser Jahreszeit. Auf den Straßen lag eine dicke Schicht frischen, neuen Schnees. Der Himmel färbte sich gerade zartrosa, als Channa neben der Kutsche, die sie zum Bahnhof bringen sollte, ihre Mutter und ihren Vater zum Abschied umarmte. Die Fenster im Erdgeschoss ihres Elternhauses schimmerten orangerot. Hier, auf der schneebedeckten, stillen Straße, glaubte Channa fast noch das Holz im Kaminfeuer knacken zu hören. Wie konnte sie all das Schöne zurücklassen? Ihr tat der Hals weh, so sehr bemühte sie sich, nicht zu weinen. Aber je mehr sie sich bemühte, umso mehr tat er weh. Schließlich konnte sie die Tränen nicht mehr zurückhalten, heiß und feucht schossen sie ihr die Wangen hinunter. Aus Angst, sie könnte es sich anders überlegen, wieder zurück ins Haus rennen und sich einschließen, küsste Channa ihre Eltern ein letztes Mal und wandte sich dann der Kutsche und ihrer Zukunft zu.

Die Nussbaums winkten lächelnd zum Abschied, als Channa, deren üppige schwarze Locken unter der Pelzmütze hervorquollen, hastig in die Kutsche stieg. Eltern und Tochter wussten nicht, ob sie einander jemals wiedersehen würden, dabei war der Anlass durchaus erfreulich, denn Channa hatte sich in einen schönen jungen Mann verliebt: Reuben Auerbach. Sie wollte nach Berlin, wo Reuben geboren und aufgewachsen war und in der Kleiderfabrik seiner Eltern gutes Geld verdiente.

Channa und Reuben waren sich im vergangenen Sommer begegnet, im Juni 1918, als Reuben geschäftlich in St. Petersburg unterwegs war. Die Oktoberrevolution von 1917 hatte in Russland alles verändert (bis auf das Wetter natürlich), und die Nussbaums waren froh, dass ihre Tochter die Stadt verlassen würde. Die Revolution war hier stets präsent. Lebensmittel und Brennstoff waren knapp. Und auch wenn die Reise lang und beschwerlich sein würde, waren Mutter und Vater froh, dass Channa bald ein neues, sicheres, vielleicht auch wärmeres Zuhause in Berlin finden würde. Doch Channas Mutter wollte ihrer kleinen Prinzessin eine Erinnerung an die Heimat mitgeben. Und darum saß Galja Nussbaum viele Tage und Nächte lang und stickte ihrer Tochter einen Wandbehang aus schwerem, glänzend blauem Satin.

Ursprünglich hatte Galja ein Abendkleid aus dem Seidenstoff nähen wollen, doch seit der Oktoberrevolution war es gefährlich, etwas Teures, Schönes oder Seltenes zu tragen. Als ihre Tochter Channa ihre Verlobung mit Reuben Auerbach verkündete, wusste Galja sofort, was sie aus dem Stoff machen sollte: Sie würde Channa einen Wandbehang nähen, eine Winterlandschaft, die den Mitternachtshimmel über St. Petersburg zeigte. Er würde Channa immer an ihre Heimat erinnern.