Blaue Nächte in Cassis - Ellen Sussman - E-Book

Blaue Nächte in Cassis E-Book

Ellen Sussman

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Beschreibung

Die Kraft der Liebe heilt alle Wunden

Olivia und Brody, beide Anfang Fünfzig, sind überglücklich: Nach vielen Enttäuschungen und gescheiterten Beziehungen haben sie sich endlich gefunden. In einem kleinen Hotel in Cassis im Süden Frankreichs wollen sie sich nun vor engen Freunden und Familienmitgliedern das Jawort geben.

Doch Olivias Töchter Nell und Carly beenden die Idylle abrupt. Nell bringt einen attraktiven Unbekannten mit zur Hochzeit, der nicht nur Olivia ein Dorn im Auge ist. Und bei der sonst so beherrschten Carly weckt der romantische Anlass Erinnerungen an einen tragischen Verlust. Als Carly verschwindet, während die Hochzeit immer näher rückt, muss jeder für sich entscheiden, was Familie und Liebe bedeutet …

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Ellen Sussman

Blaue Nächte in Cassis

Buch

Olivia und Brody, beide Anfang fünfzig, sind überglücklich: Nach vielen Enttäuschungen und gescheiterten Beziehungen haben sie sich endlich gefunden. In einem kleinen Hotel in Cassis im Süden Frankreichs wollen sie sich nun vor engen Freunden und Familienmitgliedern das Jawort geben.

Doch Olivias Töchter Nell und Carly beenden die Idylle abrupt. Nell bringt einen attraktiven Unbekannten mit zur Hochzeit, der nicht nur Olivia ein Dorn im Auge ist. Und bei der sonst so beherrschten Carly weckt der romantische Anlass Erinnerungen an einen tragischen Verlust. Als Carly verschwindet, während die Hochzeit immer näher rückt, muss jeder für sich entscheiden, was Familie und Liebe bedeuten …

Autorin

Ellen Sussman hat bereits einige Romane veröffentlicht, die in mehrere Sprachen übersetzt wurden. Darüber hinaus ist sie auch Autorin von Drehbüchern und Kurzgeschichten, für die sie mehrfach ausgezeichnet wurde. Ellen Sussman unterrichtet Fiction Writing in Berkeley. Nach einem fünfjährigen Paris-Aufenthalt lebt die Autorin zusammen mit ihrer Familie wieder in Kalifornien.

Von Ellen Sussman außerdem erschienen

An einem Tag in Paris

Die vergessenen Träume

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Ellen Sussman

Blaue Nächte in Cassis

Roman

Aus dem Amerikanischen von Veronika Dünninger

Die Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel »A Wedding in Provence« bei Ballantine, New York.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte dieses E-Book Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung dieses E-Books verweisen.Die Verlagsgruppe Random House weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags für externe Links ist stets ausgeschlossen.1. Auflage

Copyright © der Originalausgabe 2014 by Ellen Sussman

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2016 by Limes Verlag, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Umschlaggestaltung: www.buerosued.de

Umschlagmotiv: Getty Images/Robert Churchill

Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, München

ISBN 978-3-641-16749-3www.limes-verlag.de

Für Neal, meine Liebe

Kommt nach Frankreich.

Wohnt in der entzückenden Pension ­unserer Freunde in Cassis, einer Stadt amMittelmeer. Schließt euch uns an, wenn wir den Bundfürs Leben schließen.

Unsere Hochzeit findet amSonntag, den 22. Juni 2014, um 17.00 Uhrim Garten von La Maison Verte statt.

Bitte bleibt übers Wochenende.Wir möchten zu diesem Anlass gern unsereengsten Freunde und ­Familienangehörigen zusammenbringen.

Wir werden feiern wie die Verrückten.

ERSTER TEIL

1

»Ich muss das Mittelmeer sehen«, sagte Olivia.

Die Straße von Marseille hatte sie durch einen langen, klaustrophobischen Tunnel und dann in die weitläufigen Wohnsiedlungen am Rande der Stadt geführt. Kastenförmige Zementbauten mit Apartments schossen auf jedem Hügel in die Höhe. Die Straßen waren überfüllt, die Fahrer aggressiv.

Irgendetwas klickte unaufhörlich in dem Mietwagen, ein beharr­liches, aufreibendes Geräusch, das Olivia auf den Geist ging. Sie und Brody hatten versucht, die Ursache ausfindig zu machen – einen Sitzgurt, das Radio, ein offenes Handschuhfach –, aber nichts schien mit dem Geräusch zusammenzuhängen. Sie übertönten es mit schlechtem französischem Rock ’n’ Roll.

»Wollen wir einen Umweg am Strand entlangfahren?«, fragte Brody, während er die Ärmel hochschob.

»Bitte«, sagte Olivia.

Brody folgte der Ausfahrt, die sie zu einer weiteren stark befahrenen Straße führte. Dann warf er einen Blick auf Olivia. »Besser so?«

Nein. McDonald’s zu ihrer Rechten, eine Fastfood-Pizzabude zu ihrer Linken. Die Luft schwer von dem Geruch von Frittierfett. Eine lange Reihe von Wohnblocks, viele da­­von mit roten Teufeln besprüht, die Gewehre in Händen hielten.

»Da ist eine Abzweigung nach Cassis.« Brody wies in die Richtung.

»Nimm sie!«, sagte Olivia.

Sie folgten einer neuen Straße, die sie in die Hügel hinaufführte, ließen die allzu ausgebaute Stadt hinter sich. Bald erstreckten sich Berge vor ihnen, weiße Felsen, rote Felsen, Kiefernwälder.

»Ich träume jetzt schon seit Wochen von dem großen blauen Meer und den Wellen, die gegen den Strand schlagen«, sagte Olivia.

»Meistens gibt es hier gar keine Wellen. Es ist sehr ruhig.«

»Nimm mir nicht meine Fantasie.« Olivia knuffte ihn in die Schulter.

»Sieh mal«, sagte Brody.

Sie erklommen die Kuppe des Hügels, und das Meer tauchte vor ihnen auf. Die Sonne spiegelte sich auf Brodys Armbanduhr und blendete Olivia für einen Moment. Sie blinzelte. Der Wagen bog um eine leichte Kurve, und schließlich konnte sie die Bucht sehen, gesäumt von steilen Kalksteinklippen.

»Mein großes blaues Meer!«, rief sie.

»Keine Wellen«, bemerkte Brody.

»Die brauche ich nicht.«

»Mein Hochzeitsgeschenk für dich.« Brody wies mit einer Armbewegung auf die Aussicht.

»Du bist so großzügig«, erwiderte sie.

Sie liebte seinen breiten Mund, seine tief liegenden Augen. Sie wurde seinen Anblick nie leid. Er war auf eine raue Art gut aussehend; sie konnte Wyoming in seinem großen, schlanken Körper, seinen kräftigen Händen, den Krähenfüßen in seinen Augenwinkeln sehen.

Die Straße fiel rasch ab und führte sie auf eine kleinere Straße, die sich zur Küste hinunterschlängelte. Brody fand einen Parkplatz in der Nähe des Strandwegs, und Olivia sprang aus dem Wagen, voller Ungeduld, die Meeresbrise auf ihrer feuchten Haut zu spüren. Sie stiegen einen aus­getretenen Pfad hinunter, bis sie einen felsigen Strand er­­reichten.

Nur wenige Leute saßen in der Spätnachmittagssonne, die noch immer blendend über einer zerklüfteten Klippe stand. Ein paar Kinder spielten in der Brandung, und ein Mann schwamm aufs Meer hinaus. Sein Körper schnitt elegant durchs Wasser.

»Es ist wunderschön«, bemerkte Brody.

»Es ist perfekt«, erwiderte Olivia und ergriff seine Hand.

Sie hörte ein Bellen, gefolgt von wütendem Kläffen und Jaulen. Sie schnellte herum. Aus einer kleinen Bucht ein paar hundert Schritte links von ihnen schossen zwei große Hunde auf sie zu. Der erste, ein Schäferhund, fixierte sie mit einem grimmigen Blick. Jagen sie nur einander?, dachte sie. Nein, sie laufen genau auf mich zu.

Schrei. Mach den Mund auf und schrei.

Aber ihr Körper verkrampfte sich, und kein Wort kam ihr über die Lippen. Sie werden mich töten, dachte sie.

Und dann, in einem wilden Aufruhr von Gedanken, begann sie, sich Dinge zu wünschen. Was ich will, bevor ich sterbe: Ich will Brody heiraten. Ich will ein Leben mit ihm, ein langes Leben. Und meine Töchter! Ich will, dass Carly ihrem Freund den Laufpass gibt. Ich will, dass Nell aufhört, gegen die Welt zu kämpfen. Ich will sehen, was als Nächstes in ihrem Leben passiert, die Männer, die sie heiraten, die Frauen, die sie werden. Als wäre die Zeit stehen geblieben, schossen die Hunde noch immer auf sie zu, die riesigen Mäuler nass vor Vorfreude. Das Geräusch ihres eigenen Herzschlags hämmerte in Olivias Ohren.

Und dann trat Brody vor, und sie hörte murmelnde Geräusche, ein besänftigendes Säuseln, Wörter, die gar keine Wörter waren. Er ging weiter auf die Hunde zu, während er in irgendeiner anderen Sprache, einer Tiersprache, redete. Der Schäferhund legte jetzt den Kopf auf die Seite und sah Brody an, als hätte er soeben das interessanteste Geschöpf der Welt entdeckt. Und einfach so war Olivia vergessen.

Der Schäferhund blieb stehen. Brody streckte eine Hand aus, und der Hund schnupperte misstrauisch an ihr. Brody redete noch immer, und jetzt konnte Olivia Wörter hören. »Braver Hund, hey, Kumpel, was ist los, mein Junge?«

Der andere Hund, ein schlanker schwarzer Labrador, umkreiste die beiden, kam aber nicht näher.

»Ich dachte schon, ich wäre sein Abendessen«, sagte Olivia leise.

»Er hätte mich zuerst gewählt«, erwiderte Brody, während er den Hund tätschelte, der jetzt immer kleiner zu werden schien. »Ich wäre viel schmackhafter.«

»Ich konnte nicht schreien«, sagte sie zu ihm.

»Gut«, erwiderte er. »Schreien wäre eine schlechte Idee gewesen.«

»Hattest du keine Angst?«

Er schüttelte den Kopf. »Sie wollten niemandem etwas tun.« Er tätschelte die Hüfte des Hundes. »Oder, braver Junge?«

Natürlich, dachte Olivia. Das ist das, was er tut. Oder früher getan hat. Er war Großtierarzt, als sie sich vor über einem Jahr kennenlernten. Aber er hatte seinen Job, zusammen mit Wyoming, vor drei Monaten aufgegeben, als er zu ihr nach San Francisco zog. Sie hatte ihn in seiner Landschaft von Bergen und Tieren kaum gekannt.

»Du musst das tun«, bemerkte sie leise.

»Dich vor jungen Hunden retten?«

Sie legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Mit Tieren arbeiten.«

»Ich habe mich schon umgesehen. Wenn ich als Tierarzt keine Arbeit finde, werde ich irgendetwas anderes finden, was ich tun kann«, sagte er zuversichtlich. Aber er hatte es drei Monate lang erfolglos versucht. Sie war besorgt, dass er Wyoming auf irgendeine entscheidende Weise brauchte.

Der Schäferhund trottete hinüber zu Olivia, und sie versteifte sich.

»Ganz ruhig, mein Junge«, sagte Brody. »Sei schön brav zu meiner Braut.«

Der Hund schnupperte und stupste Olivia dann mit der Schnauze an. Sie streichelte ihn zögernd. Er legte die Schnauze an ihre Hüfte und schnappte nach ihr.

»Er hat mich gebissen!«, sagte Olivia, obwohl sie sich nicht ganz sicher war, was es war. Ein Liebesbiss? Eine Warnung?

»Hugo! Lulu!«, rief eine Stimme, und die beiden Hunde stürmten davon, jagten über den Strand und auf die offenen Arme eines Teenagers zu, der in diesem Moment aus dem Meer auftauchte.

Olivia rieb sich die Hüfte. Sie hatte keine Schmerzen, nur eine nasse Stelle, wo die Schnauze des Hundes gewesen war.

»Geht es dir gut?«, fragte Brody.

Olivia nickte. »Alles bestens. Es geht mir wunderbar.«

Sie sahen zu, wie der schwarze Labrador den Jungen zurück ins Wasser schubste und alle drei durch die Wellen planschten, bis sie schließlich schwammen, zwei Hundeköpfe und ein Jungenkopf, die auf dem türkisblauen Meer schaukelten.

»Weißt du, was mich unsäglich traurig stimmt?«, sagte Olivia, während sie, auf einmal fröstelnd, die Arme um ihren Körper schlang. »Ich wünschte, wir wären zwanzig. Ich wünschte, wir hätten noch nie jemanden geliebt. Ich wünschte, du hättest keine tote Ehefrau und ich keinen gräss­lichen Ex. Ich wünschte, wir hätten fünfzig Jahre vor uns anstatt …«

Ihre Stimme brach. Brody trat von hinten an sie heran und nahm sie in die Arme. Er drückte ihren Rücken an seine Brust und stützte das Kinn auf ihren Kopf.

»Wir haben all diese Jahre gebraucht, um zu diesem Wochenende zu gelangen«, sagte er. »Wir haben die falschen Abzweigungen und die Umwege und die Fehlstarts gebraucht. Sieh nur, wohin sie uns geführt haben.«

»Mein großes blaues Meer«, sagte Olivia.

»Heirate mich«, sagte Brody.

Olivia betrat den Garten von La Maison Verte. Sie erwartete, Emily bereits dort anzutreffen. Sie hatte Brody gesagt, sie würde früher hinuntergehen, um ihre beste Freundin ein paar Minuten für sich zu haben. Sie setzte sich auf einen der schmiedeeisernen Stühle, und binnen weniger Minuten schlurfte Ulysse, Emilys und Sébastiens weißer Retriever, herüber und ließ sich zu ihren Füßen nieder. Der hier ist nicht wild, dachte sie. Sie tätschelte ihn und flüsterte ihm ins Ohr: »Bonsoir, Monsieur Ulysse.« Er legte den Kopf auf den Boden, schlug aber weiter mit dem Schwanz auf die winzigen Steine auf dem Weg hinter ihm.

Olivia lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und sah sich um. Die Pension und die Gärten waren hinreißend, zweifellos dank des bemerkenswerten Stilgefühls ihrer Freundin. Emily hatte nie zuvor eine Pension auf dem Land geführt, schon gar nicht im Süden Frankreichs, aber sie hatte es schon immer verstanden, jeden Raum in einen Ort zu verwandeln, der zum Verweilen einlud. Zum Umsehen. Zum Durchatmen. Sie besaß diese Fähigkeit schon mit zwanzig, damals, als sie Mitbewohnerinnen in Berkeley waren. Ihr kleines Apartment war das Lieblingsversteck all ihrer Freunde gewesen, dank Emilys neu entdeckter Kunstschätze; Tapeten, die aus Zeitschriftencollagen gemacht waren, Möbel, die mit Wandteppichen bedeckt waren.

Jetzt war sie zur Gutsherrin geworden, auch wenn dieser Ort hier eher nach einem versteckten Juwel aussah. Das Haus war von Efeu überwuchert, und die verputzten Wände in einem rostroten Ton gestrichen, der ebenso verblüffend wie ansprechend war. Das Gebäude war voller Krümmungen und Windungen, sodass sich Olivia hier in diesem Garten fühlte, als hätte das Haus sie in die Arme geschlossen. Und der Garten selbst war üppig und strotzend vor Farbe, auch wenn er die Seele irgendwie eher besänftigte als aufwühlte.

Sie betrachtete die Champagnerflasche, die in der Glasschale auf Eis ruhte, entschied sich jedoch dagegen. Verweile. Sieh dich um. Atme durch.

Bald würde sie nicht mehr durchatmen können. Ihre Töchter würden morgen früh eintreffen, zusammen mit Brodys Mutter und Jake, seinem besten Freund. Jake, der Cowboy, der Heiraten hasste, würde die Trauzeremonie vollziehen. Warum hatte Brody darauf bestanden? Würde der Typ die Sache überhaupt ernst nehmen? Denk nicht mehr drüber nach, sagte sich Olivia. Du hast bereits eingewilligt.

Jetzt verspürte sie eine unterschwellige Angst, wie eine juckende Kopfhaut, dass diese Hochzeit in Frankreich von Gefahren überschattet war. Erstens einmal waren da ihre Töchter: Die eine war das reinste Chaos; die andere würde kein Chaos zulassen. Brodys Eltern: Sein Vater hatte sich vor ein paar Monaten nach fünfundfünfzig Jahren aus seiner Ehe verabschiedet, und niemand konnte verstehen, warum. Fanny würde zur Hochzeit kommen, aber ohne Sam, der den Kontakt zu allen abgebrochen hatte. Und dann war da Brodys bester Freund, Jake: Na ja, er hatte Brody davor gewarnt, Olivia zu heiraten.

Verweile. Sieh dich um. Atme durch.

Die Pension lag in einem Tal versteckt; Weinberge bedeckten das Land, so weit Olivias Auge reichte. Die Hügel waren in das Spätnachmittagslicht getaucht, sodass die vielen Grüntöne zu vibrieren und zu schimmern schienen. Hoch über ihnen erhob sich Cap Canaille, eine rote Felsklippe, die am Rand des Tals entlanglief und ins Mittelmeer hinausragte.

Heute Abend waren sie allein in der Pension mit Emily und Sébastien, ihrem französischen Ehemann, den Olivia sehr mochte.

Heute Abend würde sie in diesem hinreißenden Zimmer in der Pension mit Brody schlafen, und sie würden alle anderen vergessen. Heute Abend würde sie Champagner trinken.

»Die Braut«, sagte Emily, und Olivia zuckte zusammen, sodass Ulysse mit einem Satz aufsprang und bellte und Kieselsteine hochwarf.

»Er ist wie ich«, sagte Olivia. »Genau das hätte ich auch getan, wenn ich nicht so wohlerzogen wäre.«

»Seit wann bist du denn wohlerzogen?«

»Können wir diesen Champagner öffnen, ohne auf die Jungs zu warten?«

»Immer noch dieselbe O«, bemerkte Emily. Nur Emily nannte Olivia O. Brody hatte es einmal versucht, und Olivia hatte ihm den Mund verboten. »Denk dir selbst einen Spitznamen aus«, hatte sie zu ihm gesagt. Olivia war für alle auf der Welt Olivia, außer für Emily. Und Emily war natürlich Em.

»Ich bin völlig durch den Wind«, sagte Olivia. »Ich weiß, dass du das hier für eine gute Idee hältst. Willst du mir vielleicht den Grund verraten?«

»Für eine Hochzeit?« Emily öffnete den Champagner, während Olivia ihr zwei Gläser hinhielt.

»Für eine Hochzeit mit Gästen.«

»Soll ich wegfahren?«

»Ich will, dass alle anderen wegfahren. Und dabei sind sie noch nicht einmal angekommen.«

Emily schenkte den Champagner ein. »Es wird wundervoll werden«, erwiderte sie. »Du musst drei Tage lang nichts tun, außer Champagner zu trinken.«

»Abgemacht.«

Beide Frauen ließen sich auf ihre Stühle fallen, Seite an Seite. Olivia beugte sich hinüber und stieß mit Emily an.

»Auf dich. Auf deine wunderschöne Pension. Auf deine umwerfende Großzügigkeit.«

»Auf unsere Freundschaft.«

»Werdet ihr zwei etwa heiraten?«, rief jemand, und beide Frauen schnellten herum.

Brody kam den Weg hinunter auf sie zu, die tief stehende Sonne im Rücken. Er trug ein hellblaues Hemd, Jeans, seine Cowboystiefel. Olivia spürte, wie sich ihr Herz beruhigte.

»Ich bin hoffnungslos hetero«, sagte sie. »Sonst wäre ich mit dieser Frau schon vor Jahren durchgebrannt.«

»Na, Gott sei Dank«, erwiderte Brody. »Habt ihr den Champagner schon ausgetrunken?«

Emily stand auf und griff nach der Flasche.

»Guten Abend erst einmal«, sagte Brody. Er beugte sich vor und küsste Emily auf beide Wangen. Dann ging er hinüber zu Olivia und zog sie hoch in seine Arme.

»Guten Abend, mein Lieber« sagte Olivia. »Du siehst hinreißend aus.«

»Du versuchst mich doch nur dazu zu bringen, dich zu heiraten«, sagte Brody.

Emily reichte ihm ein Glas, und sie stießen alle an und tranken.

»Ich liebe euch zwei«, sagte Emily. »Wer findet in unserem Alter schon noch die Liebe?«

Olivia war fünfundfünfzig, Brody zweiundfünfzig. Sie hatte ihn kennengelernt, als ihre Theatertruppe auf Tournee durchs Land ging. Als künstlerische Leiterin fuhr sie zu den ersten paar Aufführungen mit, da sich ein Streit zwischen dem Regisseur und den Schauspielern zusammenbraute. Eines Abends, nach einer Aufführung in Laramie, ging Olivia auf einen Drink in die Old Buckhorn Bar und saß irgendwann neben einem Mann, der einen Roman las, während alle anderen Gläser mit Whiskey kippten. Und jetzt würden sie heiraten.

»Emily!«, rief Sébastien vom Haus. Ulysse stürmte auf ihn zu.

»Unser Gebieter ruft«, sagte Emily und ging ihm entgegen.

Brody beugte sich vor und küsste Olivia auf den Kopf. »Heirate mich«, sagte er. Das sagte er seit Monaten zu ihr, seit er sie das erste Mal gefragt und sie Ja gesagt hatte. Er behauptete, den Klang dieser Worte auf seinen Lippen zu mögen, ihren Gesichtsausdruck jedes Mal, wenn er sie fragte, und die Gewissheit, dass sie Ja gesagt hatte. Ja.

»Et voilà!«, rief Emily.

Sie kam den Weg hoch, ein Tablett mit Aperitifs in den Händen, gefolgt von Sébastien, der zwei Flaschen Wein trug. Ulysse folgte ihm auf den Fersen, fast im Hüpfschritt. Ein glück­licher alter Hund, solange seine Leute in der Nähe waren.

Olivia begrüßte Sébastien mit einem Kuss auf jede Wange; Brody legte ihm einen Arm um die Schultern. Brody hatte Emily und Sébastien ein paar Monate zuvor kennengelernt, als sie die Pension für einen einwöchigen Urlaub in San Francisco schlossen. Olivia hatte die Leichtigkeit geliebt, mit der ihre alten besten Freunde und der neue Mann in ihrem Leben prompt Freundschaft geschlossen hatten.

»Ich bin gekommen, um euch alles über le mariage zu erzählen«, sagte Sébastien.

Die anderen stöhnten auf.

»Wir haben jahrelange Erfahrung! Wir haben Weisheit! Wir haben Wein!«

»Verschone mich«, sagte Olivia.

Sie war zweiundzwanzig Jahre mit einem Mann verheiratet gewesen, der sich in seiner Arbeit verloren hatte. Als sie ihn vor sieben Jahren schließlich verließ, dachte sie, sie würde nie wieder heiraten. Sie hatte schon Kinder; sie war zu alt für mehr. Selbst als sie Brody kennenlernte, dachte sie nicht ans Heiraten. Sie lebte in Kalifornien – viele Leute hatten einen Lebensgefährten oder Partner in ihrem Leben. Als Brody ihr auf dem Gipfel eines Berges in der Nähe von Tahoe einen Antrag machte, war sie schockiert und außer sich vor Glück. Heiraten? In unserem Alter? Ja!

»Wer sonst wird euch denn Ratschläge dazu erteilen?«, beharrte Sébastien. »Wir werden mit der Hochzeitsnacht anfangen.«

»Nein!«, rief Olivia aus. »Nicht das! Meine jungfräu­lichen Ohren!«

Sébastien schenkte sich den letzten Rest Champagner ein und erhob das Glas auf sie. »Auf heißen Ehesex!«, erklärte er.

Sie alle machten es sich auf ihren Stühlen bequem, und Emily ließ die kleinen Schalen mit Oliven, Tapenade auf Toast und knusprigen Kartoffelchips herumgehen.

»Und das hier ist also euer Leben?«, fragte Brody. »Jeden Tag?«

»Nicht einmal annähernd«, erwiderte Emily. »Wir wachen zu einem Frühstück für zehn Personen auf. Wir verbringen den Vormittag damit, den Leuten zu sagen, wo sie Kajaks bekommen, wo sie Wein verkosten, wie sie eine Tischreservierung zum Dinner ergattern können. Wenn das Zimmermädchen sich nicht blicken lässt, bin ich in den Zimmern und sehe Dinge, die niemand sehen sollte. Am Ende des Tages, falls wir dann noch wach sind, trinken wir zusammen ein Glas Wein auf unserer Terrasse und verkriechen uns vor den Gästen.«

»Aber ihr liebt es«, warf Olivia ein. Es war eher eine Feststellung als eine Frage. Sie idealisierte das exotische französische Leben ihrer Freundin so sehr, dass sie es sich gar nicht anders vorstellen konnte.

»Ich liebe es«, sagte Emily erschöpft.

»Wir würden nichts anderes tun wollen«, sagte Sébastien etwas überzeugter. »Nach dem Tod meiner Mutter musste ich nach Hause nach Frankreich kommen. Jetzt esse ich jeden Sonntag mit meinem Vater in Marseille zu Mittag. Ich werde es wissen, wenn er krank ist, wenn er im Sterben liegt. Ich werde bei ihm sein, nicht viertausend Meilen weit entfernt.«

Sébastien und Emily hatten sich beim BWL-Studium in Manhattan kennengelernt. Emily wollte ihre Arbeit als Innenarchitektin ausbauen. Sébastien wollte Englisch lernen und Geld verdienen. Sie lebten einundzwanzig Jahre in New York; er arbeitete an der Wall Street, und Emily entwarf das Innere öffent­licher Gebäude. Sie hassten ihre Jobs und genossen ihre Stadt nur am Rande. Als Sébastiens Mutter vor zwei Jahren starb und ihm die Pension in Cassis vermachte, kündigten sie ihre Jobs, boten ihr Haus zum Verkauf an und buchten die Flüge nach Frankreich, alles binnen einer Woche.

»Wie sah die Pension aus, als ihr sie damals übernommen habt?«, fragte Brody.

»Eine Katastrophe«, sagte Emily. »Diesen Garten gab es nicht. Das Haus war ein einziges Chaos – die Anbauten an beiden Seiten passten nicht zu dem ursprüng­lichen Zustand.«

»Der Pool war rissig und leer«, ergänzte Sébastien. »Ein Unkrautdschungel ist auf seinem Boden gewachsen.«

»Ein altes, verrostetes Fahrrad hat in dem Pool gelebt!«, warf Emily ein. »Und ihr könnt euch nicht vorstellen, mit was für Sammlungen jeder Winkel des Hauses vollgestopft war. Eulen. Kuckucksuhren. Puppen mit wahnsinnigen Augen.«

»Meine Mutter war seltsam«, sagte Sébastien zusammenfassend.

»Verrückt.«

»Oui«, bestätigte er. »Elle était folle.«

Sébastien streckte eine Hand nach Emilys aus und ergriff sie. »Emily hat diesen Ort aus dem Nichts erschaffen. Ich zeige euch später Fotos. Ihr werdet nicht glauben, was sie alles tun musste.«

»Und Sébastien hat die meisten Arbeiten ausgeführt«, sagte Emily stolz. »Der Mann hat keinen Anzug mehr getragen, seit wir New York verlassen haben. Jetzt trägt er einen Werkzeuggürtel. Das ist viel sexier.«

»Seht ihr«, sagte Sébastien, »es dreht sich alles um le sexe.«

Emily verdrehte die Augen. »Wenn ich diesen Ort vorher gesehen hätte, wäre ich niemals hergekommen«, sagte sie. »Wir haben ein ganzes Jahr mit Renovieren zugebracht, bevor wir die Pension eröffnet haben. Selbst jetzt gibt es noch drei Millionen Projekte, die Sébastien auf Trab halten.«

»Das Verwalterhäuschen ist als Nächstes dran«, sagte Sébastien. »Wir können noch zwei Zimmer mehr vermieten, wenn wir damit fertig sind.«

»Brauchst du dieses Wochenende Hilfe?«, fragte Brody.

»Nein!«, riefen Emily und Olivia gleichzeitig. Sie lachten alle.

»Es kommt nicht infrage, dass ihr euch in eure Männer­ecke zurückzieht«, sagte Olivia. »Ich brauche Brody hier. An meiner Seite.«

Eine Klingel schrillte laut, sodass Ulysse prompt wieder zu bellen und zu kläffen begann.

»C’est qui?«, fragte Sébastien mit einem Blick auf Emily.

Sie zuckte mit den Schultern. »Keine Gäste dieses Wochenende«, sagte sie. »So viel steht fest.«

»Irgendjemand ist früher gekommen«, knurrte Olivia. »Sie werden mir den einzigen schönen Abend verderben.«

Die Klingel schrillte wieder, beharr­licher diesmal.

Sébastien stemmte sich hoch und entfernte sich, während er noch einen Schluck von seinem Champagner nahm. »Ich schicke sie weg«, sagte er. »Je reviens tout de suite.«

»Vermutlich ein paar Touristen, die glauben, sie können ein Zimmer in letzter Minute bekommen«, sagte Emily.

»Seid ihr immer ausgebucht?«, fragte Brody.

»So ziemlich. Es ist ein Segen und ein Fluch zugleich. Erfolg im ersten Jahr. Ich war nicht ganz bereit dafür.«

»Es scheint dir doch gut zu gehen«, sagte Olivia, aber sie war sich nicht sicher. Emily sah erschöpft aus. Natürlich ist sie erschöpft – sie führt eine Pension. Olivia betrachtete sie, während sie eine Flasche Weißwein öffnete. Mit fünfundfünfzig war sie noch immer schön, aber ihre Haut war faltig und ihr einst blondes Haar fast grau. Olivia erlebte jedes Mal einen Zeitsprung, wenn sie sich trafen. Sie sollten zwanzig sein.

»Es geht mir ja auch gut«, sagte Emily. »Es ist nur sehr viel Arbeit.«

»Kannst du nicht jemanden einstellen?«, fragte Brody.

»Das werde ich. Aber im Augenblick werde ich hier noch gebraucht. Sobald wir ein weiteres Jahr in Betrieb sind, werde ich vielleicht einen Geschäftsführer einstellen.«

Sie hörten Stimmen, laute Stimmen. Eine Frau brüllte. Sébastien sagte: »Non!«, in einem Ton, den Olivia nie zuvor gehört hatte, einem wütenden, energischen Ton. Emily erhob sich, und eines der Champagnergläser fiel zu Boden und zersprang auf den Steinen.

»Merde«, murmelte sie.

»Ich mache das schon«, sagte Olivia. »Geh du und sieh nach, was da …«

Emily stieg über die Scherben und ging den Weg hinunter.

»Sollen wir hingehen?«, fragte Olivia Brody.

Er schüttelte den Kopf. »Das ist ihre Angelegenheit. Unsere ist es, hier zu sitzen und uns zu betrinken.«

»Ich sollte diese Scherben einsammeln.«

»Später.« Brody nahm Olivias Hand.

Sie liebte seine Ruhe im Angesicht allen Dramas. Er besaß die Macht, sie zu besänftigen, ihr den Glauben an Liebe und Ehe und Partnerschaft zu geben.

»Arrête!«, brüllte Sébastien.

»Das hört sich nicht gut an«, sagte Olivia.

»Vermutlich irgendein privilegierter Tourist, der sich nicht vorstellen kann, dass sie ihn heute Nacht nicht aufnehmen werden.«

»Woher willst du wissen, dass es ein Mann ist?«

»Ich bezweifle, dass Sébastien eine Frau so anschreien würde.«

Sie hörten einen Krach – noch ein Glas, das zersprang? Jemand, der stürzte? Brody und Olivia sprangen beide auf. Sie eilten den Weg hinunter, auf den Lärm zu.

Als sie aus dem Garten auftauchten, sahen sie eine Frau neben Sébastien am Fuß der Auffahrt stehen. Das Tor für Fahrzeuge war geschlossen, aber die Pforte daneben stand weit offen. Emily stand am oberen Ende der Auffahrt und beobachtete die Szene.

Die Frau redete in einem gedämpften Ton – weinte sie? –, dann warf sie sich Sébastien an den Hals und schlang die Arme um ihn. Er stemmte sie von sich los und hielt sie auf Abstand, die Hände auf ihre Schultern gelegt.

Er sagte etwas im Flüsterton zu ihr, sein Französisch war zu schnell und zu leise, als dass Olivia es hören konnte. Sie warf einen Blick auf Brody und zog die Augenbrauen hoch. Er legte den Kopf auf die Seite, als wollte er sagen: Sollen wir von hier verschwinden?

»Sébastien?«, rief Emily. Sie hielt noch immer Abstand zu ihnen.

»Elle s’en va«, sagte Sébastien laut. »Sie gehört nicht hierher.«

Die Frau war klein und kurvenreich, in einem weißen Kleid mit einem breiten schwarzen Gürtel, den sie sich um ihre schmale Taille geschlungen hatte. Er vögelt sie, dachte Olivia. Sie ging auf ihre beste Freundin zu.

Emily stand da, die Arme vor der Brust verschränkt, den Rücken durchgedrückt. Ihre Augen waren dunkel vor Wut.

»Wer ist sie?«, fragte Olivia, während sie sich neben sie stellte und die Szene unten beobachtete.

»Keine verdammte Ahnung«, sagte Emily mit zusammengepressten Lippen.

Sébastien schleuderte der Frau Worte entgegen. Er sah aus, als sei er drauf und dran, auszuholen und sie mit der Faust zu schlagen.

»O mein Gott, sie weint ja«, sagte Emily. »Verschone mich.«

Die Frau vergrub das Gesicht in den Händen, und ihre Schultern bebten. Sébastien drehte sie herum und schleifte sie durch die Pforte hinaus.

Als er die Pforte schloss, lehnte er sich mit dem Kopf dagegen und stand da, mit dem Rücken zu ihnen. Einen Augenblick später wandte er sich um und stieg erschöpft den Hügel hoch. Vor seiner Frau blieb er stehen.

»Ta petite amie?«, fragte Emily.

Deine Freundin. Olivias Französisch war nicht so gut wie Emilys, aber sie verstand genug.

Sébastien sah auf seine Füße.

»Antworte mir«, beharrte Emily.

»Non«, sagte er zu ihr.

»Cochon«, sagte Emily und wandte sich von ihm ab. Sie stürmte den Hügel hoch auf die Pension zu. Olivia folgte ein paar Schritte hinter ihr.

Sie konnte Sébastien Emilys Namen rufen hören, mit schwankender Stimme.

Emily stürmte durch die Tür und in ihre Wohnung hinter dem Empfangsbereich. Sie knallte die Tür hinter sich zu. Das Schloss rastete lautstark ein.

Als Olivia sich umwandte, stand Brody im Eingang der Pension und sah sie an.

»Was soll ich machen?«, fragte sie.

»Verschwinden wir von hier«, sagte er leise. »Wir werden in der Stadt zu Abend essen.«

»Ich kann sie nicht allein lassen«, wand Olivia ein.

»Das ist ihr Rodeo«, entgegnete Brody.

Er nahm ihre Hand und führte sie aus dem Haus. Sébastien war nirgends zu sehen. Sie gingen den Hügel hinunter, und Olivia klammerte sich an Brodys Hand, als sei irgendein Unglück im Begriff, über sie hereinzubrechen. Die Welt fühlte sich an, als wäre sie irgendwie aus dem Gleichgewicht gekippt. Am Fuß des Hügels, in der Nähe des Tors, sahen sie die Scherben von Sébastiens Champagnerglas auf den Steinen verstreut liegen. Olivia bückte sich und wollte eben den Stiel des Glases aufheben, als Brody an ihrer anderen Hand zog.

»Lass gut sein«, sagte er in einem verblüffend entschiedenen Ton. »Lass die beiden ihr Chaos selbst beseitigen.«

Er öffnete die Pforte und führte sie fort von der Pension.

Später an diesem Abend, nach einer Bouillabaisse in einem kleinen Restaurant am Rande des Hafens und einem langen Spaziergang durch die kleinen, kopfsteingepflasterten Gassen der Altstadt und dann wieder den Hügel hoch zur Pension, hielten Olivia und Brody einander im Bett. Sie waren nackt, ihre Körper ineinander verschlungen.

»Wir sind zwei tapfere alte Narren«, sagte Olivia, den Mund an Brodys Ohr gepresst.

»Wieso das denn?«, fragte er.

»Wir wählen trotzdem die Liebe, obwohl wir wissen, was alles passieren kann«, flüsterte Olivia.

»Wir wählen trotzdem die Liebe«, sagte Brody und küsste sie.

2

»Kommen Sie mit mir zur Hochzeit meiner Mutter«, sagte Nell.

»Wow«, sagte der Mann. Er trug eine schwarz umrandete Brille, die Art Brille, die hip oder trottelig sein konnte. Nell dachte über die Möglichkeit nach, dass er sie eigentlich gar nicht brauchte und sie nur trug, um ein bisschen weniger gut auszusehen. Das ist absurd, dachte sie. Niemand würde das tun.

»Ich meine es ernst«, sagte sie. »Wir werden viel Spaß haben.«

Er beobachtete sie. Ihr Blick blieb fest. Sie saßen nebeneinander im Flugzeug, die Gesichter unangenehm nah. Sie konnte spüren, wie sie zu zittern begann, und verstärkte den Griff um ihren Plastikbecher. Er nahm die kleine Flasche mit Wein von seinem Tablett und schenkte ihr den Rest ein.

»Ich bin Gavin«, sagte er. »Freut mich, Sie kennenzulernen.« Er stieß mit seinem Becher gegen ihren.

»Wir haben uns vor ein paar Stunden kennengelernt.«

»Aber ich habe den Übergang zu Familienhochzeiten verpasst.«

»Es ist eine kleine Hochzeit. In Cassis.«

»Umso mehr Grund, einen Fremden einzuladen«, sagte er.

»Sie kommen mir nicht wie ein Fremder vor«, log sie. Sie kannte den Punkt, an dem sie noch eins draufsetzen musste. Sie hatte sich amüsiert, hatte den heißen Typen neben ihr auf dem Flug angebaggert. Er flirtete, sie flirtete zurück. Sie tranken, erzählten sich Geschichten, er glitt mit einem Finger über ihren Arm. Und dann verstieß sie gegen ihr eigenes Gefühl von Anstand – nein, nicht Anstand; sie glaubte nicht an Anstand. Sie ging über das hinaus, was sie glaubte, das andere wagemutige junge Frauen vielleicht tun würden. Über das, womit selbst sie sich noch wohlfühlte. Warum? Zum Teufel mit dem Therapeuten, der sie genau das so oft fragte, dass sie schließlich aufgehört hatte, zu ihm zu gehen. Zum Teufel mit ihrer Mutter, die sie provozierend fragte: »Worauf wartest du eigentlich, Nell? Darauf, dass ich dir sage, dass du zu weit gegangen bist? Dafür ist es zu spät.« Zum Teufel mit ihrem Vater, der erst letzte Woche sagte: »Werde erwachsen, Nell. Ich will mich nicht länger mit deiner Dummheit herumschlagen müssen.«

»Also, erzählen Sie mir von dieser Hochzeit«, sagte der Mann. Er nahm seine Brille ab und rieb sich den Nasenrücken. Gavin. Hübscher Name. Hübsche blaugraue Augen, die Farbe von Schiefer. Er hatte ihr bereits erzählt, dass er vorhatte, den Süden Frankreichs zu erkunden. »Und wie?«, hatte sie gefragt. »Das werde ich sehen, wenn ich dort ankomme«, hatte er erwidert. Und so wurde sie die Frau, die einen solchen Mann vielleicht verzaubern würde. Die Frau, die ihn zur Hochzeit ihrer Mutter einlud.

Jetzt erzählte sie ihm von dem Mann, den ihre Mutter heiratete, den Freunden, die die Pension führten, der jüngeren Schwester aus Silicon Valley, dem Cowboy-Freund des Bräutigams und der alten Dame aus Wyoming.

»Und ich«, sagte Gavin.

»Und Sie«, sagte sie zu ihm.

»Der Fremde aus dem Flugzeug.«

»Der gut aussehende Mann auf Platz 43A, der es mit seinem Charme geschafft hat, auf die Hochzeit meiner Mutter eingeladen zu werden.«

»Ich würde sehr gern mitkommen«, sagte er.

»Ich würde Sie sehr gern mitnehmen«, erwiderte sie.

Er beugte sich vor, um sie zu küssen, und küsste sie immer weiter. Ein Schauer lief durch ihren Körper. Er schmeckte nach Wein und Kaffee. Sie hatten beide stundenlang getrunken; sie wollten nicht, dass der Rausch nachließ.

Sie hatte das Richtige getan, entschied sie, auch wenn ihr Kopf erfüllt war von den Stimmen so vieler Leute, die ihr sagten, sie solle aufhören, weggehen, erwachsen werden, Grenzen setzen. Sie spürte seine Hand auf ihrem Schenkel, und das Kribbeln, das sie durchlief, verriet ihr, dass er jemand war, mit dem sie gern ins Bett gehen würde. Ihre Beine öffneten sich. Er griff ein wenig zu fest zwischen ihre Schenkel, und irgendetwas in ihrer Brust verkrampfte sich. Er könnte gefährlich sein, dachte sie, und ihre Beine spreizten sich noch ein wenig mehr.

Sie fuhren von Nizza die Küste hinunter nach Westen, fort von den Wohnhochhäusern und den zugebauten Hügeln, fort von der Autoroute, die Nell mit ihren schnellen Wagen und unverständ­lichen Schildern Angst machte. Sie fand die langsame Straße nach Cassis, eine, die dicht am Mittelmeer entlang verlief und auf der sie sich ihrer Familie nur allmählich näherten.

Sie war wieder nüchtern. Er war noch immer anziehend, auf eine irgendwie ungeschliffene Art, aber jetzt erschien ihr die Idee, ihn ihrer Mutter vorzustellen, lächerlich. Sie könnte darüber lügen, wann und wie sie sich kennengelernt hatten. Aber dann würde er wissen, dass sie doch nicht die wagemutige Frau war, als die sie sich ausgegeben hatte. Es war immer dasselbe mit ihr: eine Fantasie erschaffen und dann mit voller Wucht mit ihrer eigenen dummen Realität dagegenknallen. Du kannst nicht einen völlig Fremden zur Hochzeit deiner Mutter mitbringen.

Und du kannst dich nicht in einem Flugzeug verlieben.

Wer hat denn irgendetwas von Liebe gesagt? Freute sie sich nicht nur auf ein, zwei wilde Nächte im Bett? Und dann würde er zu seinem großen Abenteuer aufbrechen, die Küste erkunden, wie zum Teufel er das auch anzustellen gedachte.

Sie hatte seit Chaney mit niemandem mehr geschlafen.

»Ich bin eingeschlafen«, murmelte er. Er regte sich, rückte seine Brille zurecht, räusperte sich. Dann streckte er die Hand aus und strich ihr über den Nacken.

»Wir hätten im Flugzeug schlafen sollen«, sagte sie.

»Nein«, entgegnete er. »Dafür hatten wir viel zu viel Spaß.«

Sie lächelte. Er presste die Finger in ihren Nacken, und sie spürte, wie ein Kribbeln ihren Körper durchlief. Es wird kein Problem sein, sagte sie sich. Ihre Mutter wird zu beschäftigt mit allem anderen sein, um einem zusätz­lichen Gast auf der Hochzeit viel Beachtung zu schenken. Einem Fremden.

»Woher bist du?«, fragte sie.

»Du machst dir Sorgen, wie du mich deiner Mutter vorstellen sollst.«

Sie warf ihm einen vielsagenden Blick zu. Er konnte Gedanken lesen. Er lächelte, ein teuflisches Lächeln.

»Überhaupt nicht«, erwiderte sie. »Meine Mutter hat eine Schwäche für gut aussehende Männer.«

»Und du? Tust du so etwas oft?«

»Fremde Männer mit zur Hochzeit meiner Mutter nehmen? Nicht oft.«

»Jetzt bin ich also ein Fremder.«

»Sehr fremd.«

»Ich bin aus Seattle.«

Er log. Er trug ein schwarzes T-Shirt und eine enge schwarze Jeans, eine lederne Bomberjacke und schwarze Doc Martens. New York vielleicht. L.A. Dieser Typ war nicht aus Seattle.

»Was ist los?«, fragte er.

Wer immer er war, er konnte ihre Gefühlsschwankungen lesen. Ein gutes Zeichen.

»Nichts«, sagte sie. »Ich liebe Seattle.«

Sie hasste Seattle. Sie hasste den Regen, die Aufrichtigkeit, das allgemeine Outdoor-Getue. Sie hatte einmal einen Monat in Seattle verbracht, mit ihrem damaligen Freund, und war aus der Stadt geflüchtet, wobei sie ihre Regenbekleidung zurückgelassen hatte.

Ein nervöses Lachen entfuhr ihr.

»Was ist denn so witzig?«, fragte er.

»Worüber haben wir all die Stunden im Flugzeug eigentlich geredet? Wir wissen nichts voneinander.«

»Bist du besorgt?«

»Nein«, beeilte sie sich zu sagen.

»Ich auch nicht«, sagte er. Er legte ihr eine Hand auf den Schenkel, und selbst durch den Stoff ihrer Jeans fühlte sie sich, als würde er das Fleisch seiner flachen Hand in ihre Haut pressen. Ihre Körpertemperatur stieg an.

Sie warf ihm die Landkarte in den Schoß. »Hilf mir, Cassis zu finden«, sagte sie. »Wir werden uns unsere Lebensgeschichten später im Bett erzählen.«

»Das gefällt mir«, sagte er.

Er wusste, wie man Karten las. Er dirigierte sie nach links und rechts, durch kleine Fischerdörfer und größere Ferienanlagen. Als sie im Zentrum einer Stadt an einer Ampel halten mussten, sprang er aus dem Wagen, und einen Moment lang dachte sie: Er ist gegangen. Ihr Herz verkrampfte sich. Sie wollte, dass er wiederkam, und sie wollte, dass er für immer gegangen war. Sie wollte mit ihm schlafen und sich in ihn verlieben, und doch wollte sie ihn nicht mit zu dieser verdammten Hochzeit nehmen. Und dann beschwor sie das Schlimmste, was passieren könnte, herauf: ihre jüngere Schwester. Carly – die praktische, rationale, vernünftige Carly – würde sie umbringen. Sie fuhr an den Straßenrand und warf einen Blick auf die Rückbank. Sein Rucksack war da, auf ihren Koffer geworfen. Sie hatten den Kofferraum nicht aufbekommen.

Die Wagentür ging wieder auf, und er stieg ein, zwei Eistüten in den Händen. Sie fühlte sich lächerlich glücklich, wie ein Kind, wie eine Geliebte, wie eine Frau, die den Mann hinter den Eistüten kannte.

»Woher wusstest du, dass ich Pistazie mag?«, fragte sie.

Er lächelte. In seiner eigenen Tüte war Schokoladeneis. Hätte er ihr Schokoladeneis mitgebracht, hätte sie ihm vielleicht den Laufpass gegeben. Stattdessen fühlte sie sich noch ein bisschen mehr zu ihm hingezogen. Vor Liebe? Nein, vor Lust. Sie war eine Närrin. Aber wenigstens war sie eine Närrin mit einer Eistüte voller Pistazieneis.

»Es ist heiß hier drinnen«, sagte er zu ihr. »Ich musste mich abkühlen.«

Die Klimaanlage war kaputt. Oder redete er von der Hitze zwischen ihnen? Sie presste die Beine zusammen.

Sie aß ihr Eis, während sie einer Mutter zusah, die versuchte, einen Doppelkinderwagen über eine stark befahrene Straße zu manövrieren. Ein Junge hing an ihrem Rockzipfel, der teilnahmslose Vater folgte ein paar Schritte hinter ihnen, den Blick auf ein Handy geheftet. Durchs offene Wagenfenster konnte sie hören, wie eines der Babys wimmerte, wie der Junge brüllte, wie die Mutter ihn zu beschwichtigen versuchte.

»Diese Frau ist vermutlich in meinem Alter«, sagte Nell.

»Hast du nicht einen Ehemann und drei Kinder in Los Angeles?«, fragte Gavin.

»Ich habe nicht einmal einen Job.«

»Einen Freund?«

Sie sah ihn an. Er hatte einen Schokoladenklecks am Rand der Lippe. »Nur damit du es weißt«, sagte sie zu ihm. »Ich mag kein Schokoladeneis. Ich liebe alles mit Schokolade, nur kein Eis.«

»Das wusste ich«, sagte er lächelnd.

»Und ich habe keinen Freund. Der Letzte hat sich umgebracht. In unserem Schlafzimmer. Ich bin noch immer dabei, die Folgen davon zu verarbeiten.«

»Das tut mir leid«, sagte Gavin. »Ich kann mir nicht einmal vorstellen, wie es für dich sein muss.« Sie sah Zärtlichkeit in seinem Gesicht, etwas Neues, etwas, bei dem sich ihr Herz noch ein bisschen mehr öffnete.