Blicke und Begegnungen - Albert Engelhardt - E-Book

Blicke und Begegnungen E-Book

Albert Engelhardt

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Beschreibung

Flüchtige Begegnungen können ein Leben verändern. Manche bleiben unbemerkt. Die in diesem Band erzählten neun Geschichten handeln von diesen und noch mehr Möglichkeiten. Eine Zugfahrt, ein Haus auf Lanzarote, ein Schaukelstuhl und ein Schreibtisch. Ein ganzes Leben. Eine Bibliothekarin und ein ehemaliger Kirmesboxer, Kommissar Maigret und Bella Block, eine geheimnisvolle Bretonin und ihr junger deutscher Liebhaber, Alenka und ihre dankbaren Männer. Sie alle und viele andere erleben die Flüchtigkeit einer Begegnung, erinnern sich eines Blicks, und manche finden damit ihr Glück.

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Inhalt

Place de la Bastille, 17:30h

Haus Nummer fünf

Der Junge mit der Luftpumpe

Verlorene Zeit

Alenka

Begegnung am Cap Fréhel

Krasnodar – Cannes

Puzzleteile, mörderische

Der ergaunerte erste Kuss

Editorische Notizen

Place de la Bastille, 17:30h

CAMILLE, SEINES ZEICHENS OBERKELLNER im Castel du Sphinx, freute sich, als die beiden älteren Herrschaften zum ersten Mal ein Wort wechselten. Nach einer Woche. Nach sieben Tagen, an denen sie Abend für Abend an zwei benachbarten Tischen gespeist hatten.

ER, GUSTAVE MIT NAMEN, trug all diese Abende ein aus der Mode gekommenes Jackett, großkariert, in zwei ehedem verschiedenen Brauntönen gehalten. Darunter trug er abwechselnd ein fein gestreiftes oder ein schlichtes hellblaues Hemd. Keine Krawatte. Die beige Hose mit Bügelfalte hing, wie Camille richtig vermutete, mit dem jetzt zu großen Jackett seit mehr als dreißig Jahren im Kleiderschrank des alten Mannes. Am Ende der ausgestreckten Beine fielen neue dunkelbraune Schuhe und die dünnen weißen Socken ins Auge.

Ob der Frau am Nebentisch die Socken und Schuhe und der dazugehörige Mann aufgefallen waren, wusste der Oberkellner nicht. Sie war groß gewachsen, von schmaler Figur, aber kräftigem Knochenbau. Ihr graues Haar war dicht, halblang geschnitten. Ihr trotz der lebendigen, neugierigen Augen streng anmutender Blick war geradeaus, auf die unterhalb des Restaurants liegende Bucht gerichtet. Ihre Kleidung war unauffällig, aber doch von dem gerade bei Frauen ihres Alters oftmals noch anzutreffenden Willen geprägt, schick angezogen zu sein. Zu ihrem Hosenanzug trug sie eine Art Sandalen, die in ihren jungen Jahren modern, aber auch jetzt wieder gefragt waren. Sie trug keine Strümpfe, trotz der käsigen Füße und blau geäderten Fesseln. Eine lange Halskette und mehrere Ringe an Fingern beider Hände waren keineswegs außergewöhnlich, doch geschmackvoll und mit Bedacht ausgewählt.

SIE, VOR ZIEMLICH GENAU ACHTZIG JAHREN auf den Namen Charlotte getauft, war die längste Zeit ihres Berufslebens Bibliothekarin gewesen. Der Mann am Nachbartisch war in jungen Jahren als Preisboxer durch das Land gezogen, um dann als ausgelaugter Zweiundvierzigjähriger mit viel Glück noch eine Anstellung bei der Post zu finden. Klein, muskulös und drahtig, flink auf den Beinen und mit den Fäusten, ohne Scheu und mit einem guten Auge für die Schwächen der Gegner wollte er boxen wie Dauthuille und Cerdan. Er schaffte es und war jahrelang in neun von zehn Fällen als Sieger aus dem Ring gegangen. Jeder zehnte Kampf wurde auf Geheiß als Remis gewertet. Damit wurden die großmäuligen, furchtlosen und naiven Bauernbuben oder Stahlkocher, Gleisbauer und Matrosen ins Boxzelt gelockt, um sich mit den Preisboxern zu messen. Ein Remis wurde mit einer Flasche billigem Champagner vergolten. Die meist fünfzig, manchmal aber auch hundert Zuschauer füllten mit ihrem Eintrittsgeld die Kasse. Frauen zahlten die Hälfte.

Schon in ihren Mädchenjahren war die Buchnärrin, die ihre früh erwachte Leidenschaft zum Beruf machen sollte, dürr und groß gewesen. Sie ging als Bohnenstange durch ihr junges Leben und schon bald auch als Brillenschlange. Ihre Tanten hatten dafür die immer gleiche Erklärung parat. Hässlichen Mädchen blieb nichts anderes als Lesen (oder gar das Schreiben von Gedichten). Wer viel las, dessen Augen wurden schon in jungen Jahren überstrapaziert. Und der „gescheite Hinterkopf“ gereiche ihr auch nicht gerade zur Zierde. Sie hatte deshalb bereits Anfang der fünfziger Jahre, als eine der ersten jungen Frauen aus den Dörfern ihres Lothringer Landstrichs, ein Haarnest getragen. Sie musste schmunzeln, wenn sie daran dachte, dass heute jedes zweite Mädchen einen Dutt trug. Und viele junge Frauen behandelten Brillen wie ein beliebiges anderes Accessoire, wie ein Halstuch oder einen Gürtel. Ungeschliffenes Fensterglas, Brillengestelle in vielfacher Ausfertigung und verschiedenen Farben.

CAMILLE WUSSTE, dass die Dame sich jeden Abend zunächst eine Coupette de Champagne gönnte, dann Wasser trank und zum Hauptgericht meistens einen leichten Weißwein von der Loire nahm. Ihr etwa gleichaltriger Nachbar trank zu seinen Mahlzeiten – ob Fisch oder Fleisch – immer zwei oder drei Gläser belgisches Bier. Zum Abschluss des Essens nahm er einen Calvados.

Camille räumte an beiden Tischen die Tellerchen und kleinen Gabeln für die Amuses gueules vom Tisch. Als ersten Gang hatte die Dame einen Teller Crudités mit drei dünnen Scheiben Kochschinken gewählt, er – wie schon zweimal in dieser Woche – die Pâté de Campagne. Dazu verzehrte der Pensionär die ersten Stücke Baguette; zum Hauptgericht würde Camilles Servierhilfe ein zweites Körbchen Weißbrot bringen müssen. Die ehemalige Bibliothekarin verzichtete auf Weißbrot. Sie knabberte den ganzen Abend an kleinen Sticks aus Maisgrieß, mehr aus Langeweile als hungrig. Sie ließ sich Zeit, schon bei dem fein geraspelten Gemüse – Karotten, Sellerie, Rote Bete, Kohlrabi – und dem saftigen Schinken. Das Gemüse stammte wie die Paté, die der frühere Preisboxer mit großem Appetit aß und mit der er eine Baguettescheibe nach der anderen bestrich, laut Menükarte von einem Bio-Bauernhof in der Nähe.

Der Speiseraum des Hotels hatte sich gefüllt. Neben den Gästen des Hauses fanden auch zahlreiche Touristen den Weg zum Castel du Sphinx, dessen spektakuläre Lage auf einem Felsvorsprung in fast jedem Reiseführer über diesen Küstenabschnitt erwähnt wurde. Gustave sah während des Essens kaum von seinem Teller auf, es sei denn, er wechselte notgedrungen ein Wort mit dem Kellner. Charlotte dagegen genoss den fantastischen Blick auf die vorgelagerten Felsen. Obwohl ihre Augen immer schlechter wurden und ihr rechtes Auge seit vielen Jahren nur noch sechzig Prozent Sehkraft aufwies, benötigte sie für den Blick in die Ferne keine Brille. Sie zählte die draußen kreuzenden Segelboote. Sie bestaunte wie an den Vortagen die prächtigen Villen entlang der in die Felsen gehauenen kurvenreichen Straße. Würde sie in der ersten Tischreihe sitzen, könnte sie jetzt in westlicher Richtung bis zu den Trégastel vorgelagerten Inseln schauen. Sie hatte sich mit der zweiten Reihe einverstanden erklärt, weil sie so mit dem Rücken an der Wand den Überblick über alle Tische des Speiseraums behielt.

Gustave hatte sein erstes Leffe getrunken. Die Pastete erinnerte ihn an die heimische Küche, an das Bahnwärterhäuschen, an seine Mutter und seine Schwestern.

IM JURA, auf vierhundert Meter Höhe, bei im Winter sehr kalten Temperaturen und in den Monaten davor und danach tagelang undurchdringlichem Nebel hatte er seine Kindheit und frühe Jugend verbracht. Mit vierzehn Jahren hatte er wie viele Jungs aus der Gegend eine Anstellung in der Uhrenindustrie gefunden. Doch schnell zeigte sich, dass seine Finger und Hände, seine Art sich zu bewegen und nicht zuletzt sein Kopf – sein Fernweh und seine Träume – nicht für solche Art Arbeit gemacht waren.

Er schloss sich mit fünfzehn Jahren einem kleinen Zirkus, kurz darauf einer Schaustellertruppe an. Er wurde Junge für Alles, half beim Aufbau, Abbau und im Küchenwagen, versorgte Tiere, putzte Planen und Gestänge. Ohne Lohn, doch bei freier Kost und Logis. Die gebrochene Nase verdankte er einem tollpatschigen Aufbauhelfer. Er kam in die kleinen und großen Städte unten im Tal des Doubs, bis nach Montbéliard und Besançon. Und wenn die deutschen Besatzer es genehmigten, sogar ins schweizerische Delémont. Er hatte Kraft und keinerlei Scheu. In Héricourt wurde er eines Tages von einem Armenier aus Nizza angesprochen. Er bat um eine Stunde Bedenkzeit, verabschiedete sich vom Betreiber des Karussells, bei dem er zwei Monate gearbeitet hatte, und heuerte als Preisboxer bei dem Mann aus dem Süden an.

Während der folgenden zwanzig Jahre lernte er Hunderte Kirmesplätze im ganzen Land kennen.

DER PFARRER IHRER GEMEINDE, dem sie beichtete, sie habe Madame Bovary und eine dünne Broschüre über die Verrückte Camille Claudel gelesen, empfahl sie einem Freund in Saint-Avold. In dessen kleiner Buchhandlung begann für Charlotte ihr zweites Leben. Dort ging sie unbehelligt, fleißig und mit großer Neugier ihrer Arbeit zwischen Hunderten von Büchern nach. Jeden dritten oder vierten Abend nahm sie ein neues Buch mit in ihre Kammer. Sie hatte kein Interesse an Tanzabenden oder Sonntagsvergnügungen. Auch nicht, als das Land die Befreiung feierte. Sie wurde nicht begehrt und stillte ihre Begierde mit Wörtern und zwischen den Zeilen. Sie verschlang Jane Austen, lebte wochenlang an der Seite der Brontë-Schwestern, bewunderte und litt mit Effi Briest.

Einige Jahre später hielt sie erstmals Bücher von Tolstoi in Händen, lernte Natascha aus Krieg und Frieden kennen, Anna Karenina und die Maslowa. Es waren die Monate, in denen ein junger Mann aus Freyming Gefallen an der Bohnenstange und Brillenschlange fand. Ein Bergarbeiter, der ihre Leselust teilte. Er brachte ihr neben Ostrowskis Wie der Stahl gehärtet wurde auch die Tolstoi-Bände und zerfledderte Ausgaben von Turgenjew und Gorki. Sie stritten sich über das Personal und versöhnten sich, sie lasen sich seitenlange Passagen vor und saßen noch lange Minuten stumm auf ihren Kinostühlen, als Eisensteins Panzerkreuzer Potemkin schon längst zu Ende war.

An diesem Abend im Arbeiterfilmclub der Kommunistischen Partei nahm sie sich vor, von nun an jeden Samstag das Lesen auszusetzen und stattdessen mit Wladimir ins Kino zu gehen. In der Woche darauf brach im Bergwerk ein Stollen ein. Charlottes Liebster gehörte zu den dreizehn Toten, die in den Tagen darauf geborgen wurden.

MONSIEUR CAMILLE, wie er von beiden alten Herrschaften genannt wurde, ließ abtragen und goss Charlotte ein Glas Sancerre ein. Gustave ließ sich ein zweites Leffe bringen.

1953 WAREN DIE KIRMESBOXER bis Charleroi, Namur und Lüttich gekommen. Zwei Wochen waren sie dort unterwegs gewesen. In einem Nest bei Tubize hätte er an einem Abend beinahe gleich zwei Niederlagen einstecken müssen. Die Hüttenwerker, seit Wochen im Streik und ohne Lohn, hatten ihre ganze Wut in ihre Fäuste gepackt und auf ihn eingedroschen. Dem einen entkam er nur durch einen Leberhaken, dem anderen gewährte der Armenier ein Unentschieden nebst der Flasche Champagner.

Damals hatte Gustave zum ersten Mal belgisches Bier getrunken. Jetzt trank er sein Glas Leffe in einem Zug aus.

CHARLOTTE KNABBERTE an ihrer Maisstange. Sie hatte Monsieur Camille um Rat gefragt, da der nächste Tag nicht allzu viel Sonne mit sich bringen sollte. Der Oberkellner überlegte einen Moment und riet ihr zu einem Ausflug nach Trégastel oder zu einer Bootsfahrt zu den Sept Îles. Während der heißen Tage hatte Charlotte sich in den unterhalb des Hotels stehenden Pavillon zurückgezogen, gelesen und die mit den Wellen spielenden Vögel beobachtet. Selbst kurze Spaziergänge und ein Stadtbummel fielen ihr bei hohen Temperaturen und wolkenlosem Himmel schwer.

IHRE ATEMSCHWIERIGKEITEN machten ihr schon längere Zeit zu schaffen. Ihre Ärztin zuhause in Reims hatte sich bemüht, sie zu beruhigen. Im Alter falle das Atmen einfach schwerer, was kein Anlass zur Sorge sein müsse. Dass nicht das Kommende sie ängstigte, sondern sie vielmehr das längst Verlorene vermisste, hatte Charlotte der jungen Ärztin nicht gesagt.

Die langen Spaziergänge am Kanal und am Ufer der Marne, die Wandertouren in die Ardennen oder in den Hügeln der Champagne waren neben den Büchern für Jahrzehnte ihre zweite Leidenschaft geworden. An unzähligen Wochenenden und an den meisten Feiertagen von Ostern bis Allerheiligen hatte sie beide Leidenschaften zusammengepackt, war losgezogen, stets allein und im Rucksack immer ein dünnes Buch als Wegzehrung. Von Simone de Beauvoir und Doris Lessing bis Benoîte Groult, Susan Sonntag und zuletzt Christa Wolf und Annie Ernaux hatten damals viele Frauen sie begleitet. Mit fast siebzig Jahren hatte sich Charlotte bei Épernay den rechten Knöchel gebrochen und noch auf der Fahrt ins Krankenhaus beschlossen, dass diese Herbstwanderung in den Weinbergen ihre letzte sein sollte. Nun war sie achtzig geworden und freute sich auf die Anstrengungen des morgigen Tages.

CAMILLE UND DIE SEHR JUNGE SERVIERHILFE – bereits eine Schönheit, wie Charlotte dachte, während Gustave kurz aufblickte und ein hübsches Ding sah – trugen die Hauptgerichte auf. Nieren in Senfsauce, mit Kartoffelbrei und etwas Gemüse für den Herrn. Turbot auf einem Spinatbett, mit grünem Spargel und Kirschtomaten für die Dame. Charlotte bat um geschmolzene Salzbutter und ließ sich ihr zweites Glas Sancerre eingießen, Gustave bestellte ein drittes Bier und tunkte ein Stück Brot in die Sauce.

CHARLOTTES WANDERLUST war nur einmal für einige Wochen unterbrochen worden. Im Mai und Juni 1968 war sie mehrmals in Paris gewesen, um auf den Straßen rechts und links der Seine die mutigen Frauen zu bewundern. Sie sympathisierte mit ihren jungen Geschlechtsgenossinnen und mit den Frauen ihres Alters, die sich in die Reihen der Männer trauten. Sie sah die sechzigjährige Simone de Beauvoir, leibhaftig und energisch und freundlich, und sie besuchte ein überfülltes und vielstimmiges Treffen junger Schriftstellerinnen.

An einem Freitag, sie hatte den Nachmittagszug nach Paris genommen, war sie dann in der Nähe der Place de la Bastille mit einem Mann zusammengestoßen. Er hatte ihr im Weg gestanden, einen schweren Seesack auf der Schulter, eher klein aber von kräftiger Statur. Der Rotschopf machte einen unschlüssigen Eindruck, schaute abwechselnd um sich und auf seine Uhr. Er haderte mit dem Gedränge und schimpfte. Immer mehr junge Leute kamen hier zusammen und formierten sich zu einem Demonstrationszug. Auf der anderen Seite des Platzes waren ebenso viele behelmte Polizisten der CRS zu sehen, Schlagstock in der rechten, Schutzschild in der linken Hand.

Der Mann mit dem unförmigen Gepäck und der krummen Nase entschuldigte sich bei Charlotte. Der Rempler sei keine Absicht gewesen, und erneut schimpfte er mit lauter Stimme, diesmal über das Pariser Chaos. Die, wie er fand, außergewöhnlich große Frau rieb sich die Schulter, sagte aber, ein Zusammenstoß sei in diesem Gedränge wohl kein Wunder. Ihre freundlichen und wissbegierigen Augen, ihr Haarschopf und ihre ruhige Stimme nahmen ihn für sie ein. Er fasste all seinen Mut zusammen und fragte sie nach ihrem Namen und nach dem kürzesten Weg zum Gare de Lyon. Er müsse – leider – unbedingt den Sechsuhrzug nach Belfort erreichen. Sie zeigte in Richtung Rue de Charenton. Wenn er sich beeile, könne er es in fünfzehn Minuten schaffen. Gustave, so stand es in ungelenker Schrift auf einem Holzstück, das am Gurt seines Seesacks befestigt war, dankte Charlotte und drängte durch eine Gruppe Studenten. Am liebsten hätte er ihnen Schläge angedroht. Er erreichte den Bahnsteig, als der Zugschaffner pfiff. Zum Glück dauerte es dann doch noch zwei Minuten, bis sich der Schnellzug in Bewegung setzte.

CHARLOTTE TRANK IN KLEINEN SCHLUCKEN. Sie genoss den unverkennbaren Duft des Loire-Weins. Über dem Meer machte sich die Sonne langsam auf den Weg. Der kurze Streifen Sandstrand war jetzt menschenleer, bis auf einen jungen dunkelhäutigen Mann, der große hellblaue Mülltüten einsammelte und an der Straße zusammenstellte. Charlotte bewunderte die Leichtigkeit, ja Eleganz seiner Bewegungen. Gustave begutachtete, soweit das aus dieser Entfernung überhaupt möglich war, einzelne Muskelpartien der kräftigen Statur des Afrikaners. Möwen schrien, Wind kam auf.

GUSTAVE HATTE VIELE AFFÄREN GEHABT. Als Kirmesboxer wurde man bewundert, war begehrt, bekam genug Gelegenheiten und zog nach einigen Tagen weiter. In den Städten und auf dem Land flogen dem Fünfundzwanzigjährigen und auch noch dem Fünfunddreißigjährigen die Mädchen zu. Sie wollten, er wollte. Es kam selten vor, dass man den Spaziergang in ein nahes Wäldchen, an das Ufer eines kleinen Flusses oder in eine abgelegene Scheune umsonst machte. Ebenso selten musste man auf die jungen Frauen lange einreden oder sich mit dem Griff unter den Rock und nackten Brüsten zufriedengeben. War die Auserwählte oder Auswählende etwas älter, vielleicht sogar schon vergeben und verheiratet, war das Vergnügen riskanter. Aber auch kürzer, und meistens befriedigender. Volles Risiko, voller Erfolg. Er hatte keine Verheiratete kennengelernt, die nach dem ersten Ja reumütig gezögert oder nach dem kurzen Vergnügen länger liegengeblieben wäre. Im Gegensatz zu den Mädchen faselten sie nicht vom Sternenhimmel und von Liebe und Fernweh.

Gustave, das Bahnwärterkind aus dem Jura, hatte so viel erlebt, wie es in den Weilern und Städtchen seiner Heimat niemals möglich gewesen wäre. Und er war unversehrt geblieben. Weil er eine eiserne Regel eingehalten hatte: Du kannst es mit einer Bauerntochter oder einer kleinen Verkäuferin, einer Fabrikarbeiterin oder einer Tippse aus der Stadt, ja sogar mit der Frau des Bürgermeisters im Heu oder Federbett treiben, aber nie und niemals mit einer Frau aus der Kirmestruppe. Alle Frauen und Mädchen der umherziehenden Schausteller, Budenbetreiber und Marktschreier standen unter deren Schutz und damit unter dem Schutz aller. Mit zweiundzwanzig Jahren hatte Gustave die durchgeschnittenen Oberarmmuskeln eines jungen Akrobaten gesehen, der den dunklen Augen und pechschwarzen Haaren einer Losverkäuferin erlegen war. Gustave schwor sich damals, allen zum fahrenden Volk gehörenden Schönheiten die kalte Schulter zu zeigen. Seine Fäuste sollten nicht unter zwei Hammerschlägen zu Brei werden.

In den neunziger Jahren war Charlotte viel gereist. Sie bezog eine ausreichende Rente und hatte von einer ihrer boshaften Tanten fünfzigtausend Francs geerbt. Diese nutzte sie, um das grüne England, die Provence, Venedig, ja sogar Berlin und Moskau zu besuchen. Oran und Marrakesch würde sie wohl wie Québec und New Orleans bis an ihr Lebensende nicht mehr schaffen. Beirut, Damaskus und Kairo waren mittlerweile aus anderen Gründen völlig von der Landkarte der Achtzigjährigen verschwunden. Die Normandie und die Bretagne waren ihre bevorzugten Ferienziele geworden, im Frühjahr auch ab und an die Côte d’Azur. Sie wählte Badeorte, die mit dem Zug, notfalls mit einem direkten Anschluss per Bus erreichbar waren. Diesmal also Perros-Guirec. Sie blieb meistens eine oder zwei Wochen. Neben dem Lesen – Charlotte stöberte in jedem Urlaubsort als erstes in einem Buchladen – besuchte sie Ausstellungen, das Atelier einer Malerin oder eines Bildhauers, leider immer seltener ein Kammer- oder Jazz-Konzert. Feste und Feuerwerk, Musikumzüge und die in bekannten Ferienorten auftretenden alten Schlagerstars hatten sie noch nie interessiert.

Gustave hatte vor vierzig Jahren nicht nur den Zug erreicht, sondern am nächsten Tag auch die Zusage für eine Arbeit im Hinterzimmer des Postamts in Baumes-les-Dames bekommen. Er sortierte morgens ab sechs Uhr die eingegangenen Briefe für fünf Zustellbezirke. Nach seiner Mittagspause stempelte er in der einen Woche die Briefe ab, die im Departement Doubs bleiben oder die in eines der benachbarten Departments zwischen Belfort, Dijon und Lyon gehen sollten. In der folgenden Woche war er für die wenige Auslandspost und die vielen Briefe für den Raum Paris zuständig. Mitte der siebziger Jahre wurde der ehemalige Kirmesboxer, der mittlerweile seine Muskelkraft und seinen roten Schopf verloren hatte, hochgestuft. Er übernahm für zehn Jahre den Dienst am Schalter. 1990 ging Gustave in den Ruhestand, hielt aber bis heute Kontakt zu ehemaligen Kollegen. Die Jüngeren kannte er nicht, er kam selten aufs Postamt. Es war eine ehemalige Kollegin, die ihm, da sie selbst kurzfristig verhindert war, das Castel du Sphinx empfohlen hatte. Genauer gesagt, sie hatte ihre Buchung zum Sonderpreis an ihn weitergegeben. So sparte er alles in allem einige hundert Euro.

DER FISCH WAR WIE IMMER hervorragend gewesen. Charlotte bat die junge Frau, ihr Lob in die Küche weiterzugeben. Gustave nickte, als die Servierhilfe die obligate Frage stellte, ob das Gericht in Ordnung gewesen sei. Als Dessert wählte er eine Tarte aux Pommes, dazu einen Calvados. Charlotte zögerte einen Moment, entschied sich dann aber doch für das Sorbet mit grünem Pfeffer. Ihren Kaffee würde sie erst danach nehmen. Das Restaurant leerte sich allmählich. In einer halben Stunde würde die Sonne am Horizont binnen Sekunden im Meer versinken. Charlotte hatte bisher jeden Abend dieses grandiose Naturschauspiel genossen. Gustave wusste nur, dass die Sonne morgens aufging und irgendwann abends verschwand.

Gustave nahm sich vor, seiner Kollegin, deren Hotelzimmer er übernommen hatte, morgen eine Karte zu schreiben. Er freute sich schon jetzt auf die Belote-Runden in seinem Stammlokal unten am Doubs. Der Wirtin würde er die für die hiesige Gegend typischen, mit Salzbutter verfeinerten Karamellbonbons mitbringen. Das würde sie für den allwöchentlichen Klaps auf den Hintern entschädigen. Das waren jetzt seine Vergnügungen. Kirmesboxer gab es keine mehr, genau so wenig wie Steilwandfahrer, die bei den Mädchen die einzigen ernsthaften Konkurrenten gewesen waren.

Charlotte wollte an der Rezeption fragen, ob sie ihren Aufenthalt einige Tage würde verlängern können. Sie hatte von einer Fotoausstellung in Tréguier erfahren und wollte noch die Lesung einer Krimiautorin besuchen. Für ihre Concierge musste sie, das war nicht weniger als ein Auftrag, unbedingt ein Tütchen Karamellbonbons besorgen.

AUF DEN STUFEN HINAB