Golle - Albert Engelhardt - E-Book

Golle E-Book

Albert Engelhardt

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Beschreibung

Goddelau. Reich bebilderte Kindheitserinnerungen aus dem Hessischen Ried. Erzählt wird von Hausgemeinschaften, Eisenbahnerfamilien, Kindergärtnerinnen, Lehrern und Fußballspielen. Von Freundschaften und verbotenen Plätzen, vom sozialen Wandel, von der Ankunft erster "Gastarbeiter", dem Verschwinden von Metzgereien, Bäckereien und anderen Läden. Von Sammelalben, der Kartoffellese, der Kinderfastnacht und einem Ringbuchblatt, das die Beatles preist. Alte Dorfgrenzen, die bald überwunden wurden, und frühes Fernweh, dem längst Genüge getan ist, spielen ebenfalls eine wichtige Rolle. Die 1950er und frühen 60er Jahre sind ferne Vergangenheit. Die Erinnerung an die Kindheit ist lebendig.

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Seitenzahl: 70

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Meiner Mutter

Barbara Engelhardt

(1928 – 2018)

Inhalt

0 Warum?

1 Bahnhofsallee 12

2 Der Bahnhof

3 Das Viereck

4 Weitere Kreise

5 Kindergarten und Schule

6 Kerb, Kirche und Konsum

7 Schwimmbad, Sportplatz, Spital

8 Splitter zum Ausklang

Editorische Notizen

0 Warum?

Die Idee zu diesem Buch wurde im vergangenen Frühjahr (2020) geboren. Wieder einmal war ich mit dem Rennrad im Ried unterwegs und habe Goddelau von Wolfskehlen kommend Richtung Philippshospital durchfahren. Das hatte ich in den vergangenen Jahren regelmäßig getan – in der Regel im Frühling und wegen des flachen Geländes, das den Saisoneinstieg erleichtert. Seltener kam ich von Erfelden, die „neue“ Bahnunterführung schreckte mich ab. Von der Gernsheimer Fähre her habe ich Golle ebenfalls regelmäßig angesteuert, um dann weiter Richtung Trebur oder Groß-Gerau und von dort aus nach Hause, nach Wiesbaden zu fahren. Alles in allem jedes Jahr fünf oder sechs Mal zwischen Februar und Mai.

Natürlich waren mir bereits in all diesen Jahren, sagen wir ab 2000, die großen und kleinen Veränderungen im Straßenbild aufgefallen. Ja, bereits Ende der 1980er Jahre hatte ich mit meinem damals fünfjährigen Sohn Goddelau besucht, um ihm (welch illusionäre Vorstellung!) zu zeigen, wo sein Vater als Kind gelebt hatte. Vor diesem Kurzbesuch war ich über zwanzig Jahre nicht mehr im Dorf meiner Kindheit gewesen.

1965 zogen meine Eltern, meine Schwester, mein damals erst dreijähriger Bruder und ich wieder dorthin, woher die Familie 1955 nach Goddelau zugezogen war: nach Erbach im Odenwald.

Ins Ried kamen wir aus beruflichen Gründen – mein Vater war Eisenbahner, und Goddelau-Erfelden war ein relativ wichtiger, stark frequentierter Bahnhof. Weggezogen sind wir aus familiären Gründen – zurück ins Elternhaus meines Vaters.

Der Abschied von Goddelau war für mich und meine zwei Jahre jüngere Schwester Astrid sowie vor allem für unsere Mutter ein schwerer, trauriger Abschied. Sie hatte im Ried wohl die glücklichste Zeit ihres Lebens verbracht. Für mich war es der Abschied von meiner Kindheit – also auch von all den Freunden und Nachbarn, vom Fußball in der TSV-Jugend, von den Straßen, vom Schwimmbad, von geheimen Verstecken, den ersten Kippen und von der ersten Freundin. Abschied von all dem, was mich (und ähnlich auch meine Schwester) bis 1965 – also sozusagen das ganze bisherige Leben lang – begleitet und geprägt hatte.

Zurück aufs Rennrad. Bei den diesjährigen Touren habe ich genauer auf Details geachtet, zum Beispiel auf verschwundene Geschäfte und Gaststätten. Ich erinnerte mich an den Aushangkasten der Fußballer und den Kartoffelacker, auf dem ich meine ersten Markstücke verdient hatte. Ich hatte schon in den Jahren zuvor die alten Wohnadressen von Schulkameraden und beliebten Mädchen angesteuert – meist vergeblich. Ich habe den Hof des in meiner Erinnerung reichsten Bauern und die Adresse der nach meiner Erinnerung vermutlich ärmsten Bauernfamilie wiedergefunden. Ich wusste noch, wo es das beste Eis und wo es das billigere Wassereis zu kaufen gab. Meinen Kindergarten und die Volksschule fand ich am gewohnten Ort, das Kino war verschwunden, wie unsere Apotheke. Der Friseurladen war noch da! Ich war natürlich in der (auf den ersten Blick fast unveränderten) Bahnhofsallee, und ich habe bis heute nicht ein damals nagelneues, um 1965 in der Weserstraße gebautes Einfamilienhaus gefunden, in das ehemalige Bahnhofsallee-Nachbarn gezogen waren.

Die örtlichen Koordinaten haben sich in den vergangenen mehr als fünfzig Jahren erheblich verschoben. Für mich und meine Erinnerungen gravierend: Die gedachte Linie Bahnhof, Goethestraße, Feldweg (heutige Freiherr-vom-Stein-Straße) war die äußerste Grenze Goddelaus nach Süden. Die Mittelpunktschule wurde damals (kurz vor 1965) gerade erst gebaut – mitten auf einem Acker, südlich dieser Linie. Meine Schwester Astrid hat diesen Neubau wohl noch für ein Jahr besucht.

Zum vorliegenden Buch muss also unbedingt gesagt werden: Es speist sich aus meinen Erinnerungen, aufgefrischt durch die erwähnten Durchfahrten mit dem Rad. Ich sage dies deshalb, weil Erinnerungen trügen – trügen können oder gar trügen müssen. Ich habe in den seit 1965 vergangenen 55 Jahren nur drei kurze Gespräche in Goddelau geführt. Zwei davon liegen mittlerweile über Jahrzehnte zurück, ein sehr angeregtes fand eher zufällig im Frühsommer 2020 statt. Ich habe mich in Vorbereitung dieses Buches und bei der Niederschrift bewusst dafür entschieden, nicht extra vor Ort genauer zu recherchieren oder für die Spurensuche ausgiebig Google oder andere Suchmaschinen zu bemühen. Zwei in der Stadtbücherei ausgeliehene Fotobände (die kaum Abbildungen aus den mich interessierenden Jahren enthielten) und vor allem drei Alben unserer Familie (denen die in diesem Buch veröffentlichten Fotos entnommen sind), wurden zu visuellen Stützen und Krücken, die mir halfen, mich meiner Erinnerungen zu vergewissern.

Das vorliegende Buch soll mit all seiner Unvollständigkeit, mit seinen Ungenauigkeiten und (hoffentlich nicht allzu vielen) Fehlern vor allem eins sein: ein Erinnerungsbuch an eine schöne Kindheit. An zehn Jahre in einem so nicht mehr existierenden Dorf. Jahre, die offenbar so erlebnisreich und eindrucksvoll waren, dass ich bis heute den Preis für einen Drei-pfünder oder drei Schoppen Milch erinnere, sehr viele der Namen meiner 46 Mitschüler und Mitschülerinnen (und die der TSV-Jugendmannschaften C II und C I) aufsagen kann, und Haus und Hof darauf verwetten würde, wo Hartung VIII über dem Eingang eines Haushaltswarengeschäfts geschrieben stand, und in welchem Schuppen ich zum ersten Mal Akim und Sigurd gelesen habe.

Ich vermute, dass Sie, liebe Leserin und lieber Leser, zu meinen Erinnerungen an vielen Stellen die Ihren hinzufügen können – ergänzend, bestätigend, korrigierend. Jeder hat seine eigene Vergangenheit und seinen eigenen persönlichen Erinnerungsschatz.

Es hat immer einen Grund, dass wir uns an manches gern, an anderes eher ungern erinnern. Und es gibt eben auch Erinnerungen, die mit den Jahren immer wieder neu gedacht, erzählt, verfestigt oder verändert werden. Das Vergangene ist verschwunden, es wird immer nur erinnert, wie ein Puzzle immer wieder neu zusammengesetzt, beeinflusst vom Heute.

So bleibt es auch nicht aus, dass manches nicht nur aus der Realität verschwindet, sondern mit der Zeit eben auch aus der erinnerten Vergangenheit – aus unserer persönlichen Erinnerung.

Die nun folgenden Seiten wurden auch deshalb geschrieben.

1 Bahnhofsallee 12

Womit und wo anfangen?

Eine chronologische Rückschau ist unmöglich. Natürlich, 1955, das Jahr des Umzugs nach Goddelau könnte als Anfang, der Wegzug 1965 als Endpunkt genommen werden. Dazwischen lägen die Kindergartenzeit, die Einschulung und Volksschule, die Jahre auf dem Gymnasium in Gernsheim, die Jahre beim TSV und in der Evangelischen Jungschar. Die vielen erinnerten konkreten Ereignisse und Erlebnisse ließen sich aber keinesfalls immer in der richtigen Reihenfolge und dann noch passgenau in die Jahreszahlen 1955, 1956, 1957 … bis 1965 pressen.

Die Goller Kerb und die Radtouren zum Kühkopf, die Schlittenfahrten im Spital und die Schwimmbadsommer haben viele eindrückliche Erinnerungen hinterlassen. Dazu Peinliches und viel Glück. All diese Erinnerungen lassen sich oft keinem bestimmten Jahr zuordnen, obwohl sie zweifellos in bestimmten Jahren ihren Anlass haben.

Ich habe mich statt für eine zeitliche für eine eher räumliche Ordnung meiner Erinnerungen (und deren Niederschrift) entschieden. Straßennamen, Gebäude, Kreuzungen, Plätze … können dem interessierten Leser und der interessierten Leserin heute noch zur Orientierung dienen, selbst wenn diese Örtlichkeiten ihr Gesicht stark verändert haben und zahlreiche Häuser und Geschäfte mittlerweile völlig verschwunden sind.

Also beginne ich mit der Bahnhofsallee 12. So adressiert das „Bahn-Haus“, in das ich als Vierjähriger und unsere Familie 1955 eingezogen sind. Zunächst unters Dach, in das oberste Stockwerk, einige Jahre später in die größere Wohnung im ersten Stock. Ein stattliches Haus, das von außen betrachtet – wenn auch nur auf den ersten Blick – heute noch fast genauso aussieht wie vor nunmehr gut sechzig Jahren.

Das Haus ist kein altes Fachwerkhaus und kein zu einem (aktiven oder ehemaligen) Bauerngehöft gehörendes Wohnhaus (wie man sie damals vor allem in der Weidstraße oder Spitalstraße fand), aber auch kein Einfamilienhaus wie die in der zu Beginn der 1950er Jahre entstehenden Siedlung zwischen Ludwig-straße und (Altem) Friedhof.

Unsere Familie (Barbara, Astrid, Albert und Georg Engelhardt) im ersten Jahr in Goddelau. Blick vom Befehlstellwerk auf die Bahnhofsallee 12 – über die Fahrradständer und die „Kaktusallee“ hinweg.