Zwanzigzweiundzwanzig oder Das Ende der Wolkenschieber - Albert Engelhardt - E-Book

Zwanzigzweiundzwanzig oder Das Ende der Wolkenschieber E-Book

Albert Engelhardt

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Beschreibung

2022. Das Jahr, in dem Russland die Ukraine überfällt, die Pandemie immer noch nicht der Vergangenheit angehört und "die Wolkenschieber" in alle Winde verstreut sind. 1977 waren Andreas, Connie, Benno und Dora als junge Studierende zum ersten Mal zusammen in der Bretagne. In den folgenden Jahrzehnten haben sie Illusionen verloren und doch an Träumen festgehalten. Nach vielen gemeinsamen Sommern waren sie 2007 zum letzten Mal zusammengekommen. Heute, nochmals 15 Jahre später, kämpfen sie mit der Zeitenwende und den Beschwernissen des Alterns. Sie haben neue Wege beschritten, sind enttäuscht worden, waren mutig und suchen weiterhin ihr Glück. Und die ihnen folgende Generation geht ihre eigenen Wege zu eigenen Zielen.

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Seitenzahl: 169

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Für Petra

Inhalt

Prolog

Andreas TGV Inoui 8610 Anfang März 2022

Connie Lolland Mai 2022

Dora Montegrotto Terme Juni 2015

Benno Muratli 23. Juni 2022

Andreas Fréhel August 2012

Fanny Frankfurt am Main Mai 2012

Nora Chicago 15. Mai 2017

Alex Lolland Dezember 2017

Gwenn Martinique April 2015

Sonja Berlin Dezember 2010

Franky Mallorca 31. März 2010

Anna Ueckermünde 19. Mai 2010

Connie Frankfurt am Main Februar 2009

Dora Mallorca 3. April 2010

Sonja Berlin Frühsommer 2009

Andreas Fréhel September 2009

Benno Krim 19. März 2014

Philipp Bremen November 2020

Anna Greifswald August 2016

Maxi Chicago 1. Januar 2008

Dora Mainz Oktober 2012

Benno Muratli Dezember 2020

Fanny Jersey September 2018

Connie Bregenzerwald Anfang Mai 2013

Nora Chicago Anfang August 2011

Sonja Greifswald Juli 2021

Gwenn Landrellec September 2019

Connie Greifswald Dezember 2022

Dora Marburg Juli 2022

Andreas Landrellec 29. Dezember 2022

Epilog

Prolog

Wir müssen nicht drum herumreden. Die Wolkenschieber, die sich selbst nie so nannten, aber als solche durch die Zeit schreiten wollten, sind Vergangenheit. Die Sommer 1977, 1992 und 2007 und die vielen anderen Ferienwochen am Cap Fréhel sind vorbei. Sowieso. Und wir müssen fairerweise hinzufügen: Wenn die Pläne, die im Sommer 2007 im Dicken Daumen, diesem in Granit gehauenen Lebenstraum, auf dem Tisch lagen, Wirklichkeit geworden wären, wären die folgenden Seiten überflüssig.

Die Wirklichkeit hat dem Tun von Andreas, Connie, Dora und auch Benno, die wir seit 1977 begleitet haben, einen Strich durch die große Rechnung gemacht.

Und es gibt kleine Rechnungen, die sich summieren. Was ist aus Gwenn, Fanny, Anna und Nora, Philipp und Sonja geworden, was aus Robert und Franky, und was haben auf einmal Alex, Gundula, Sascha, Milla, Lena und einige andere – nicht zu vergessen die Hündin Luca – in unserer Geschichte zu suchen?

Ende und Anfang. Glück wird gewagt, Glück wird begraben. Der Fluss des Lebens. Unscheinbare Quellen, Stromschnellen und Strudel, Trägheit, Nebenflüsse, stille Auen, mäandernde Mündungen, ferne Horizonte. Und ferne Leben, egal, ob Tausende Kilometer entfernt oder in nicht spürbarer Nähe.

Wovon bisher noch niemand weiß, soll hier und jetzt verraten werden: Am 31. Dezember 2007 wurde in Fréhel gut gegessen. In Frankfurt am Main ging jemand früh schlafen. In Mainz oder Leipzig gaben sich zwei Hungrige der Liebe hin. Und irgendwo in Rufnähe zum Mittelmeer floh ein Mensch vor sich selbst.

Doch am ersten Tag des Jahres 2008 sah die Welt schon wieder anders aus. Und seien wir ehrlich: Wir würden uns – nach all den bisherigen und künftigen Geschehnissen – wundern, wenn dies weitere fünfzehn Jahre später nicht genauso wäre.

Andreas

TGV INOUI 8610, ANFANG MÄRZ 2022

Die Nachricht hatte Andreas überwältigt, ihm den Atem genommen, Gewalt angetan. Bis zu diesem Tag war er davon überzeugt gewesen, hatte gehofft, sich auf seine Hoffnung verlassen. Ja, das wusste er heute, natürlich hatte in dieser Woche viel für das böse Ende gesprochen, Tag für Tag waren die Zweifel am offenbar Unausweichlichen schwächer geworden. Doch er hatte die Augen verschlossen.

Er hatte wie jeden Morgen schon früh seinen kleinen schwarzen Kaffee getrunken, das Brennholz auf dem Sims des Kamins gerichtet, den alten Anorak übergezogen, war in seine Stiefel gestiegen und hatte sich auf den Weg gemacht. Die Spaziergänge taten ihm gut.

Luca, die alte Hündin, lief voraus in die Dunkelheit und hatte den Uferweg bereits erreicht, als Andreas das Gartentor passierte. Die Ouest-France steckte im Briefkasten. Valérie drehte offenbar früher als üblich ihre Runde. Es nieselte. Der heftige Nordwestwind, der am Abend zuvor und in der Nacht an den Fensterläden gerüttelt hatte, war schwächer geworden. Doch Andreas fröstelte. Er hätte seinen Schal umlegen sollen. Bei der Kälte schmerzten seine alten Knochen, auch sie hatten die Siebzig schon hinter sich gelassen.

Andreas rief seine Hündin zurück. Er musste heute einen Umweg gehen, wollte zum Briefkasten in der Ortsmitte. Von dort aus gelangten sie durch kleine Gassen zur spärlich beleuchteten Promenade, querten den großen, um diese Zeit noch völlig leeren Parkplatz und gingen erst an dessen Ende hinunter zum breiten Strand.

Die nächtliche Flut hatte geschwärztes brüchiges Holz, einen Schuh, einige Plastikflaschen und eine Menge dunkelgrüner Algen zurückgelassen. Luca suchte nach den Resten von Schalentieren.

Andreas schaute hinüber zum Leuchtturm von Ploumanac’h. Dessen fernes weißes Licht verschwand im sich haltenden Grau der Dämmerung. Die vorgelagerten kleinen, ja zum Teil winzigen Inseln schienen dagegen zum Greifen nah. Jaouen und Tanguy waren begrünt, die Île de Seigle und die Île aux Lapin nur schroffer Fels. Allesamt unbewohnt und ungenutzt, sah man von den hier heimischen Vögeln ab.

Andreas mochte diese Stunde, in der er und die Hündin dem Tag entgegengingen. Von der aufgehenden Sonne kündeten ein unwirkliches Rot und Gold, ein Farbenspiel, das sich in der Ferne zwischen Horizont und vereinzelte Schleierwolken zwängte. Die bizarren Felsformationen vor Trégastel, die diesen Abschnitt der Côte de Granit Rose berühmt gemacht hatten und die zu erreichen noch mindestens eine zusätzliche Stunde Weg erfordern würde, funkelten bestimmt jetzt schon im Sonnenlicht.

Andreas kehrte um, Luca folgte ihm nach wenigen Augenblicken. Andreas entschied sich für eine Abkürzung. Durch eine leicht aufwärts führende Rinne gelangte man zu den Überresten eines verlassenen Gehöfts. Dort folgte Andreas einem ehemaligen, kaum mehr zu erkennenden Fahrweg, der die Landzunge schnitt. Hier und da trug die Winterheide noch Blüten. Ihr Lila glänzte zu dieser Stunde ebenfalls bereits im Licht der ersten Sonnenstrahlen.

Der Weg wurde zum Trampelpfad und an dessen abruptem Ende wurden die schon immer nur provisorischen Treppenstufen, die wieder hinab zum Strand führten, für die Hündin zu einer kleinen Herausforderung. Auch ihre Gelenke schmerzten, das wusste Andreas und nahm seine Begleiterin an die Leine. Um sie zu bremsen. Vierzehn Jahre, bereits unglaubliche vierzehn Jahre begleitete Luca ihn jeden Morgen und jeden Nachmittag. Fast anderthalb Jahrzehnte, ein Zeitraum, der mit Blick auf zu Halbwüchsigen gewordene Kleinkinder als Ewigkeit galt.

Andreas löste die Leine. Luca warf sich in den Sand, um sich anschließend ausgiebig zu schütteln. Dicke gelbe Bojen, die den während der Sommermonate überwachten Strandabschnitt markierten, lagen träge im Sand. Die Hündin ging voran, das Frühstück lockte. Bald hatten sie es geschafft.

Nur noch wenige Schritte aufwärts entlang der für Boote gedachten asphaltierten Strandzufahrt, die der Hündin und ihrem Herrchen leichter fielen als steile Ab- und Aufgänge. Noch immer lag Stille über Landrellec, nur hier am Wasser unterbrochen vom Kommen und Gehen der flachen Wellen. Hinter wenigen Fenstern brannte schon Licht.

Es war kurz nach acht Uhr, als das eingespielte Paar seinen gut einstündigen Morgenspaziergang beendet hatte. Andreas zog Anorak und Stiefel aus, füllte den Fressnapf der Hündin und stellte diesen auf einen kleinen Hocker.

Zusammengeknüllte Zeitungsseiten, einige dünne und zwei dicke Scheite Feuerholz. Das Kaminfeuer brannte, und Luca saß, sich die Schnauze leckend, bereits neben Andreas Stuhl, als dieser sein Frühstück richtete – zwei Scheiben Toast und Marmelade, eine große Schale Milchkaffee, ein Glas Wasser, zwei Tabletten.

Andreas blätterte durch die Zeitung, blieb an einem Interview zum Dauerthema Algues Vertes hängen, bevor er die Sportseiten genauer studierte. Stade Rennes hatte seinen guten vorderen Tabellenplatz behauptet. Nach dem Frühstück würde er ein wenig Holz hacken, in Trégastel einige Besorgungen machen, vielleicht Gwenn in Cannes anrufen, nach dem Mittagsschlaf mit Luca zur Vogelstation laufen und am Abend, falls er nicht zu müde sein würde, auf eine Runde Belote zu Yvan gehen.

Es war an diesem Tag gewesen, am 24. Februar, genau um 13:13 Uhr, als er die E-Mail erhalten hatte. Sonja wurde heute früh erlöst. Sie hat bis zuletzt gekämpft. Trauerfeier noch unbestimmt. Kommst du? Sascha.

Jetzt saß er im Zug nach Berlin. Genau genommen erst im TGV nach Paris, wo er am frühen Nachmittag genug Zeit haben würde, mit der Metro von der Gare Montparnasse zur Gare de l’Est, vom Süden in den Norden der Stadt zu fahren. Am frühen Abend sollte er dann in Frankfurt sein, kurz vor Mitternacht in Berlin.

Draußen lag das Land im Nebel. Nach der Bretagne die Mayenne, jetzt die Sarthe, immerzu Bauernland. Die vereinzelten Höfe, die Kühe auf den Weiden, die Senken und Hügel waren in ein milchiges Grau getaucht. Andreas legte das schmale Bändchen von Annie Ernaux zur Seite und packte sein Sandwich aus, das er auf dem Bahnsteig in Plouaret-Trégor gekauft hatte. Beim Zugschaffner bestellte er einen Becher Kaffee.

Die E-Mail hatte ihn kalt erwischt. Und im falschen Moment. Nach den Einkäufen hatte er sich endlich aufgerafft, an seinem Erinnerungstext weiterzuarbeiten. Als ihm sein Rechner den Eingang der E-Mail verkündete – das an schnatternde Enten erinnernde Tonsignal wollte er schon seit Monaten ändern –, hatte Andreas noch versucht, die Nachricht zu ignorieren. Doch da er in den vergangenen Monaten nur wenig Post erhalten hatte, konnte er es sich nicht verkneifen, die Mail sofort zu öffnen. Der Absender [email protected] hatte ihm zunächst nichts gesagt. Um so mehr traf ihn die kurze Nachricht. Sonja war tot. Sonja war nicht mehr.

Meine Sonja, brüllte ein flüchtiger Gedanke auf und erstarb. Sonja, mit der er vor langer Zeit viel erlebt hatte und der er noch Vieles sagen, gestehen, erklären wollte. Was er jedoch in drei Jahrzehnten nicht geschafft hatte. Das stille Brüllen fand sein Echo in einem schmerzhaften Druck auf die Brust. Sein Herz schlug doppelt so schnell. Bilder, Gerüche, Töne. Ihre außergewöhnlich behaarten Unterarme, der immer etwas schiefe Gang, die nichts verratenden Augen. Der Nacktbadestrand in Usedom, die durchgesessenen Kinositze im Kosmos, die Imbissstube an der Schönhauser, die Wochen der Recherche, der Interviews und des Streits im Wendejahr. Er dachte – warum? – plötzlich an die Fischsoljanka im Ganimed, hatte das Muster des Tischtuchs vor Augen. Auch die bitterkalten Februartage draußen vor der Stadt waren eingebrannt in den dunklen Bodensatz seiner Erinnerungen. Das Wiedersehen in Hamburg nach wenigen Jahren, die ihm wie eine Ewigkeit vorgekommen waren. Veränderte Gefühlslagen hatten neue Umgangsformen erfordert. Ihre Treffen waren dann in den Nullerjahren immer spärlicher geworden.

Sonja war tot, Sonja war Vergangenheit. Eine Vergangenheit, zu der die Verbindung nun binnen einer Sekunde gekappt worden war. Ohne sein Zutun. Ein Tumor hatte entschieden.

Andreas hatte nach Sonjas Telefonnummer gesucht. Er fand sie in einem alten Adressbuch, in dem eine fünfstellige Rufnummer neben der Adresse in der Gipsstraße angeführt war. Schwer zu entziffern, wie die Ziffernfolge in der Zeile darunter. Sonjas ehemaliger Institutsanschluss zu DDR-Zeiten. Mein Gott. Erst jetzt fiel Andreas ein, dass seine langjährige Gefährtin in schwierigen Zeiten und seine Geliebte in wenigen Nächten bereits seit über zwanzig Jahren nicht mehr in ihrem gemeinsam erlebten Berlin wohnte. Sie war nach Hamburg umgezogen, um ihre DDR-Identität vor Ort, im Westen, der Prüfung der Wessis auszusetzen. Sie kehrte sechs Jahren später als westerfahrene Ossi-Frau nach Berlin zurück. Schließlich hatte es sie nach Greifswald, in die vorpommersche Provinz verschlagen.

Natürlich hatte er es gewusst, doch Sonja war für Andreas immer mit dem alten Berlin, mit der Schönhauser, mit Friedrichshain und dem Scheunenviertel verbunden. Und nun wurde Sonja für ihn Vergangenheit. Plötzlich merkwürdig unwirklich. Er war in den wenigen Minuten zwischen dem Lesen der Mail und dem wirren Suchen nach einer konkreten Spur, die ihn zu Sonja führen konnte, davon ausgegangen, dass Sonja im Berliner Osten gestorben war, jetzt dort in einer Kühlkammer lag und auf einem nahen Friedhof beerdigt werden würde.

Doch Andreas hatte sich besonnen. Seine Gedanken drehten sich im Kreis. Verdammte Scheiße! Sascha, den er nur flüchtig kannte, hatte er dann um 15:12 Uhr geantwortet: Komme so bald wie möglich. Andreas.

Die beiden Männer hatten sich in einem Biergarten am Müggelsee kennengelernt. Andreas war 2012 für eine knappe Woche in Lauchhammer und Cottbus gewesen. Sein Projekt Familiengeschichte hatte ihn in die Lausitz geführt. Er hatte, eher aus einer Laune heraus, Sonja angerufen. Sie hatten sich – das war immer so gewesen und hatte die Beziehung in mancherlei Hinsicht handhabbarer gemacht – kurz entschlossen verabredet. An jenem Samstagmittag hatte Andreas den groß gewachsenen und überraschend jungen Mann zum ersten Mal getroffen und zum letzten Mal. Sonja hatte Sascha als ihren Mutmacher vorgestellt.

Sie hatten zu Mittag gegessen, Bier getrunken, über den alten und den neuen Bundespräsidenten gewitzelt. Sonja und Andreas gaben einige nichtssagende Anekdoten aus ihren gemeinsamen Tagen zum Besten und klagten über die heutigen Zimmerpreise auf Usedom. Sonja hatte nach Benno gefragt, Andreas hatte abgewunken. Der Mutmacher schwieg zumeist.

Sonja und Sascha hatten Andreas dann am Nachmittag zum Ostbahnhof gebracht. Erst dort hatte Andreas erwähnt, den Dicken Daumen, das Haus am Cap Fréhel, nun doch zu verkaufen. Sonja hatte der Nachricht Zeit gegeben, sich zu verflüchtigen, bevor sie erwidert hatte, sie werde vielleicht auch bald umziehen. Nach Stralsund oder Greifswald. Sascha, der Arzt und übrigens seit vier Wochen ihr angetrauter Ehemann sei, wolle mit seinen fünfzig Jahren noch einmal etwas Neues wagen. Im Beruf und in seiner Freizeit. Ein uralter Freund und ein fast so alter, aber aufgemöbelter Fischkutter warteten am Bodden.

Andreas hatte den Zug nach Frankfurt am Main bestiegen und, sich mit Mühe umdrehend, noch die zunehmenden Schmerzen in der unteren Rückenpartie und den Hüftgelenken erwähnt. Sonja hatte gelacht.

Erst in einer der E-Mails, die Sonja und Andreas sich nach diesem Treffen in Berlin für kurze Zeit schrieben, hatte Andreas erwähnt, dass er mit Gwenn für drei Jahre nach Martinique gehen werde. War nicht begeistert, bin jetzt sehr gespannt! Sonja ließ ihn im Gegenzug wissen, dass einige weitere Untersuchungen ins Haus stünden. Brust. Andreas erinnerte sich nicht, von ersten Untersuchungen gehört zu haben. Er hatte sofort geantwortet. Toi toi toi. Wird schon werden.

Am 24. Februar 2022 nun die Todesnachricht. An dem Tag, an dem russisches Militär in die Ukraine einmarschiert war. Andreas hatte es nicht für möglich gehalten.

Connie

LOLLAND, MAI 2022

Der Gang zum Briefkasten am Kirchplatz hatte Connie gutgetan. Sie hatte nochmal frische Luft schnappen, ihre Gedanken ordnen können. Die Mühe zahlte sich aus. Selbst ein mickriger Kilometer konnte Wunder bewirken.

Auf dem Rückweg besorgte sie im Dorfladen etwas Käse, Milch, einen Salatkopf und zwei Kalbsschnitzel. Alex, die mit dem Lastenrad unterwegs war, würde aus dem Getränkeshop Wein, Bier und Mineralwasser mitbringen. Svenja, die junge Kassiererin, fragte Connie nach dem Wohlergehen ihrer zwei Katzenjungen und beschwerte sich über die schon jetzt den kleinen Ort bevölkernden Touristen. Vor allem auf die Kopenhagener war man hier auf Lolland nicht gut zu sprechen.

Connie packte noch Schokolade und Chips ein. Sie musste schmunzeln. In Fréhel hatte sie Jahr für Jahr dasselbe abfällige Gezeter zu hören bekommen, dort gemünzt auf die da aus Paris.

Connie hatte lange gebraucht, bis sie die Geburtstagsgrüße an Andreas zu Papier gebracht hatte. Drei Anläufe hatte sie benötigt, doch dann waren es fünf dicht beschriebene Seiten geworden. Zum Schluss war sie froh, dass ihr Ex und sie in der Regel immer noch per Brief, auf Briefpapier im Briefumschlag, frankiert mit einer schönen Briefmarke miteinander kommunizierten. Anrufe waren selten. SMS oder E-Mail nutzten beide nur in Ausnahmefällen, die immer Notfälle gewesen waren.

Er werde seinen Geburtstag wohl allein feiern müssen, hatte Andreas an Ostern verkündet. Connie hatte kein Wort dazu gesagt. Ihr Ex-Ehemann hatte nach einer kurzen Pause der Erwartung die Begründung nachgeschoben. Gwenn werde – wie zu erwarten – noch einen weiteren Monat an der Côte d’Azur zu tun haben. In der Ferienanlage in La Bocca seien die Probleme offenbar tatsächlich so ernst wie befürchtet. Ein Mitglied des örtlichen Managements saß wie der Chef der Reinigungsfirma seit wenigen Tagen in Untersuchungshaft. Andreas wusste nicht viel darüber, Connie gar nichts.

Connie hatte geschwiegen und nach jeder Teilneuigkeit genickt, bis sie sich besonnen hatte, dass Andreas ihr nicht wie früher gegenübersaß, sondern wahrscheinlich irgendwo an der bretonischen Küste auf und ab ging und auf das Telefon in seiner Hand einredete, bald zweitausend Kilometer entfernt. Ihr Kopfschütteln würde er jetzt auch nicht sehen.

Das Telefonat war einseitig geblieben. Andreas hatte seine schmerzenden Gelenke und die der Hündin aufgezählt, über eine unangemeldete Baustelle in seiner Straße geschimpft und Connie ermahnt, bei nächster Gelegenheit Dora nach einem Lebenszeichen von Benno zu fragen. Unbedingt. Mit der Standardfrage nach den Wetteraussichten hatte Andreas dann das Telefongespräch beendet.

Vor dem kleinen Haus am Rand der Dünen, das Connie sich seit einigen Jahren mit Alex teilte, parkte das Lastenrad. Die Haustür stand offen. Connie legte ihren Rucksack ab. Sie grüßte ihre Mitbewohnerin, die in der Küche den Wasserkasten mit dem Fuß unter die Arbeitsplatte schob. Das Sixpack und die drei Flaschen Wein hatte Alex schon im Kühlschrank verstaut.

Alex und Connie kannten sich schon lange. Seit den Achtzigerjahren eher flüchtig, seit den Nullerjahren besser. Beide hatten damals in Frankfurt gelebt, sogar im gleichen Stadtteil. Beide waren Lehrerinnen, denen wie vielen anderen in dieser Zeit der direkte Weg in den Schuldienst verbaut gewesen war. Beiden war in den ersten Berufsjahren nur die Ochsentour prekärer Beschäftigungsverhältnisse geblieben, bei der Volkshochschule, bei freien Trägern und in privaten Sprachschulen. Connie hatte der zehn Jahre jüngeren Alex auf diesem Weg beigestanden. Die erste große Welle der sogenannten Russlanddeutschen aus Kasachstan, der Umsiedler aus Osteuropa und der Flüchtlinge aus arabischen Kriegsgebieten hatte in den Neunzigerjahren das Übrige dazugetan. Die Zahl der Deutsch-für-Ausländer-Kursangebote schnellte in die Höhe.

Nach ihrer Bockenheimer Zeit – Connie lebte mit Andreas zusammen und hatte zwei Mädchen geboren, Alex zog einen Jungen groß – hatten sich die beiden Frauen aus den Augen verloren. Alex war im Jahr des Merkelschen Wir schaffen das! nach Hamburg gezogen. Connie und ihr Mann hatten sich – immerhin nach mehr als dreißig zusammen erlebten Jahren – bereits 2007 getrennt.

In ihrer Hamburger Zeit hatte Alex, wie sie später Connie erzählte, vermittelt über Bekannte zum ersten Mal einige Ferientage in dem Haus auf Lolland verbracht. Sie liebte das Meer, die langen Strandspaziergänge, den steten Wind, die Wolkenbilder und die verlässlich aufgehende und am Horizont ins Meer fallende Sonne. Nichts beruhigte und erfreute sie mehr als das Kommen und Gehen des Wassers. Connie, die viele Sommer in der Bretagne verbracht hatte, teilte all dies.

So hatten die beiden Frauen am Rande einer Geburtstagsfeier in Altona beschlossen, die nächsten Ferien zusammen auf Lolland zu verbringen. Und da die Hauseigentümer sich überraschend und zum Glück entschieden hatten, ihr Leben in Neuseeland fortzusetzen, hatte sich im Sommer 2017 die Möglichkeit ergeben, das Haus ab dem folgenden Jahr dauerhaft ganzjährig zu mieten.

Seitdem lebten die Ex-Frankfurterinnen zusammen im Lyngvej. Gemeinsam mit einer dritten Frau, ebenfalls eine Deutsche, betrieben sie in einem Nebengebäude der ehemaligen Meierei ein kleines Lokal. Eigentlich einen kleinen Laden, in dem auch Kaffee, Tee und Alkoholisches getrunken wurde und Gäste sich nachmittags aus einem kleinen Sortiment Kuchen und Kleingebäck bedienen konnten. Neuerdings boten die drei Frauen auch Burger an.

Amtlicher Hauptzweck des in der Nähe des Meerwasserbads liegenden Lokals war jedoch der Verkauf von Kunsthandwerk, Aquarellen, illustrierten Büchern, in Kleinstauflage gedruckten Postkarten und Bernsteinschmuck. Touristen stellten die große Mehrheit der Kunden. Dänen, viele Deutsche, Niederländer, einige Schweizer und Schweden. Folgerichtig lief das Geschäft im De tre kvinder gut, vor allem an Ostern, während des Sommers und über die Feiertage zum Jahreswechsel. Das reichte, um einen kleinen Überschuss zu erwirtschaften. Ein Zubrot, das für Zeit und Mühe ein wenig entschädigte. Mehr benötigten die drei Frauen nicht. Das Ladenlokal war ihre neue Leidenschaft.

Connie hatte mit dem Umzug auf die dänische Insel zum zweiten Mal die Fenster um sich herum weit aufgerissen. Um frische Luft hereinzulassen, in ihr Leben und dessen Fortgang. Und um hinauszuschauen, in die Ferne, bis zum Horizont, zu einem neuen Horizont.

Robert hatte es nur wenige Jahre ohne die Anspannung des Geschäfts und ohne die Aussicht auf Erfolg ausgehalten. Er nahm beruflichen Erfolg sehr persönlich. Erfolg, der ihn glücklich machte. So war die Fernbeziehung zwischen Frankfurt und Köln zu einer Fernbeziehung zwischen Lolland und Südafrika geworden. Abertausende Kilometer mehr. Connie und Robert waren sich einig gewesen. Sie hatten nicht darüber sprechen müssen, dass ihre Beziehung zwangsläufig eine andere sein würde.

Die Quellen ihres künftigen Glücks ebenfalls.

Dora

MONTEGROTTO TERME, JUNI 2015

Sie musste jetzt ihren Brandy haben, unbedingt, sofort. Dem pikierten Getuschel der beiden Dürren in den Liegestühlen nebenan und den verstohlenen Blicken ihrer Männer zum Trotz. Ha, ich weiß sehr wohl, dass ihr euch gern, sehr gern zwischen meinen großen Titten verlieren würdet. Ja, jetzt schauten die Herren nur noch unter sich, lenkten sich gegenseitig ab, indem sie nach einer Wespe schlugen oder über den Nachmittagsausflug sprachen. So machen es alle geilen alten Böcke, die Schiss haben, einen klitzekleinen Schritt zu weit zu gehen.