Wolkenschieber oder Drei Sommer am Cap - Albert Engelhardt - E-Book

Wolkenschieber oder Drei Sommer am Cap E-Book

Albert Engelhardt

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Beschreibung

Träume und Illusionen begleiten 1977 vier junge Deutsche auf ihrem Weg in die Bretagne. Fünfzehn Jahre später bestimmen Erinnerungen und Zweifel ihr Wiedersehen am Cap Fréhel. Vieles hat sich verändert. 2007 hat die Clique Vergangenes hinter sich gelassen. Doch die Fragen sind die gleichen: Was war, was bleibt, was wird?

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Inhaltsverzeichnis

Teil I: 1977

Ende Juni

Anfang Juli

Mitte Juli

Teil II: 1992

Ende Juli

Mitte August

Teil III: 2007

Anfang September

Teil I – 1977 –

Ende Juni

Der Zeltplatz war weitläufig. Er hatte keine deutliche Grenze, sah man von einem notdürftig zur Straße hin errichteten, immer wieder durch Lücken unterbrochenen Zaun ab. Das Gelände lag inmitten einer mit Kiefern und wenigen Birken dicht bewachsenen Dünenlandschaft. Das Terrain war wellig. Im feinen Sand eines der tiefen Wellentäler stehend, waren oftmals nur die Kämme der umliegenden Dünen zu sehen. Das Gras auf den Kuppen und die hohen schlanken Bäume waren seit vielen Jahren den in dieser Gegend besonders starken Winden ausgesetzt. Die meisten Camper, die erfahrenen zuerst, bevorzugten die Schutz bietenden Senken, die unerfahrenen, jungen eroberten sich die Höhen.

Die Topografie schluckte einen guten Teil des Lärms, bevor sich dieser breitmachen und über dem ganzen Gelände sammeln konnte. In der Hochsaison gab es viel zu schlucken. Noch war es aber nicht soweit, obwohl dieser Tag – diesen Eindruck konnte man haben – ein früher, drängelnder Vorbote der heißen Augusttage sein wollte. Die Sonne stand kraftstrotzend am blauen und nahezu wolkenlosen Himmel. Sie schien ihren Untergang so lange wie möglich hinauszuzögern.

Es war warm, ungewöhnlich warm. Die Uhr zeigte bereits sechs Uhr am Abend, an einem der letzten Tage im Juni, im Norden der Bretagne.

Zwei junge Männer begutachteten das Gelände rund um ein von mächtigen Pinien verschattetes Flachstück. Sie benötigten Platz für zwei Zelte und ihr hier bereits abgestelltes Auto.

„Wo ist Connie?“

Die Frage kam von Andreas, dem etwas kleineren, dunkelhaarigen der beiden Deutschen.

„An der Rezeption, vermute ich. Wir müssen einen Ausweis hinterlegen und 120 Francs im Voraus zahlen.“

„Sie ist jetzt schon seit mindestens einer halben Stunde unterwegs.“

„Eine Viertelstunde, wenn’s hoch kommt. Vielleicht checkt sie auch die Toiletten und die Dusche. Komm, wir packen die Klamotten aus. Würde mich nicht wundern, wenn Connie schon im Wasser wäre.“

„Das hätte sie bestimmt gesagt.“

„Andi, lass es jetzt gut sein“, beschwichtigte Andreas’ Freund Benno, groß gewachsen, ein Schlacks mit Locken. „Sie wird schon wieder auftauchen. Pack an. Zuerst bauen wir das Steilwandzelt auf.“

Doch Andi, der nach Bennos Empfinden seit Wochen eine unangenehme Unruhe ausstrahlte, wandte sich ab. „Ich drehe eine kleine Runde. Vielleicht gibt’s einen Volleyballplatz oder eine Boulebahn. Gehen wir heute noch einkaufen?“

„Was hältst du davon, wenn wir die große Kuhle belegen? Weiter oben das kleine Zelt, hier unten rechts das große. Das Auto kann dann so stehen bleiben. Und die Hängematte wird hier aufgehängt.“

„Wahrscheinlich können wir uns im Büro die Kugeln ausleihen.“ Andreas setzte sich wieder in den Sand. „Ich würde etwas weiter nach oben gehen.“

Sein strenger Blick, der durch die dichten dunklen Augenbrauen und seinen wuchernden Jason-King-Schnauzer noch verstärkt wurde, wich einem Schmunzeln. „Erinnerst du dich noch an unser legendäres Spiel gegen die Amis?“

Sensationelle Surfer, die am Strand von Biarritz die absoluten Stars gewesen waren. Eine Ewigkeit war das her. Gut gebaut, sehr gut gebaut waren die Jungs, da konnten die beiden Freunde trotz ihrer durchaus ansehnlichen Fußballerfiguren nicht mithalten. Die Boys waren braun gebrannt, als habe ihre Haut noch nie eine andere Farbe gesehen. Mehr oder weniger lange Haare, eher blond als braun, knielange Badeshorts, immer gut drauf und eben sensationelle Surfer. Benno und Andreas hatten so etwas vorher noch nicht gesehen. Die Mädels aus ihrer damaligen Strandclique – Schwedinnen, Engländerinnen und zwei Oberschülerinnen aus dem Saarland – offenbar auch nicht. Die Surfer waren umschwärmt. So lange sie auf ihren Brettern standen und bis sie sich lachend und japsend in den Sand warfen.

Gegen zwei der Beach-Boys, die Jungs kamen selbstredend alle aus Kalifornien, hatten sie dann Boule gespielt. Mit allen Finessen. So wie sie es im Jahr zuvor in der Provence gelernt hatten. Legen, Schießen, Schweinchen, Doublettes. Sie hatten ihr karges Repertoire in Kaskaden aus französischen, deutschen und englischen Vokabeln gekleidet. Cochon, Merde! Wait a minute, du bist dran, Germany, near Frankfurt. Die Amis hatten wenig verstanden, hatten immer wieder gelacht und waren sowieso heillos verloren gewesen. Falls Andreas sich richtig erinnerte, die Geschichte war immerhin schon fast zehn Jahre her, hatten die Jungs dann ganz auf Fairplay gemacht und ihre Niederlage locker hingenommen. Auch die nach dem Spiel von ihm angezettelte Diskussion über den Vietnamkrieg hatte die Modellathleten nicht aus der Ruhe gebracht. Sie waren gegen die Bombardements, natürlich, auch wenn sie ständig von Schlitzaugen und Commies sprachen. Sonnige Gemüter. Sie hatten dann die Runde Coca-Cola, um die sie gespielt hatten, schnell ausgetrunken.

„Hast du die Taschenlampe eingepackt? Die Wurzeln sind bei Dunkelheit bestimmt echte Stolperfallen.“

Andreas bekam keine Antwort.

„Jetzt fällt mir ein, dass ich damals in Biarritz, nein, irgendwo zwischen Bayonne und Biarritz meine Sonnenbrille verloren habe. Erinnerst du dich? Die mit dem Horngestell, die teure. Die hatte mehr als 20 Mark gekostet.“ Er trauerte ihr noch heute nach.

„Ja. Das war aber zwei oder drei Tage nach dem Katastrophenspiel gegen die Amis“, erinnerte sich Benno.

„Was heißt hier Katastrophenspiel. Wir haben sie nach Strich und Faden abgezogen. Die Boys hatten keine Chance.“

Benno schüttelte seinen Lockenkopf. „Die haben das Spiel nicht ernst genommen, nix von den Regeln kapiert und eigentlich nur rumgealbert. Deshalb haben wir es ja auch irgendwann abgebrochen.“

„Sie hätten aber auch keine Chance gehabt, wenn’s ein ernstes Spiel gewesen wäre. Das ist sicher, oder meinst du nicht?“

„Das ist sicher.“

„Ehrlich, ohne Scheiß?“ Dass sie die Partie gar nicht zu Ende gespielt, folglich auch nicht klar gewonnen haben sollten, daran zweifelte Andreas.

Benno konnte sein Lachen nur schwer zurückhalten. Andi, der unerschütterliche Agitator, der von ihrer Sache so überzeugte und jeden Zweifler mit harten, manchmal langen Reden attackierende Genosse, drängte auch jetzt auf eine eindeutige Antwort. Entweder – oder. Ja oder nein. Ein Spaßspiel unter balzenden Halbwüchsigen. Oder war es ein Stellvertreterduell zwischen Anhängern des Vietcong und irgendwelchen Mikes, Petes oder Johns? Ein Jimmy war auf jeden Fall dabei gewesen.

„Ehrlich. Genauso so sicher war, dass sie keine Chance bei den Mädels gehabt hätten – wenn sie sich für sie überhaupt interessiert hätten.“

Andreas stutzte. „Würdest du sagen, sie waren schwul? Aber doch nicht die ganze Gruppe.“

„Schwul nicht, aber anders als wir. Die waren mit ihren achtzehn oder zwanzig Jahren so unbeholfen scharf auf die Mädels wie wir als Sextaner auf Quintanerinnen. Einfach naiv und blöd. Ihnen fehlte damals Papis dicker Schlitten, das Autokino zum Knutschen. Von denen hatte wahrscheinlich noch keiner jemals in seinem Leben gevögelt.“

„Wirklich? Meinst du das ernst?“ Wieder sah Andreas seinem Freund fest in die Augen, eine eindeutige Antwort erwartend.

„Das meine ich ernst. Aber so erfahren, wie wir taten, waren wir ja auch nicht.“

Andreas stutzte einen Moment. „Zumindest nicht jeder von uns.“

Benno verschwand in seinem Renault 4, kramte ein Bündel heraus, breitete die Hängematte auf dem Sandboden aus, löste hier einen Knoten und knüpfte dort einen anderen. Nach zehn Minuten hatte er die Hängematte an zwei Kiefern befestigt und lud Andi zum Probeliegen ein.

Andreas stieg in das Netz, das ihm schon immer nicht ganz geheuer war, und versuchte, es sich einigermaßen bequem zu machen. Diese verrückten Amis. Er dachte auch an den plappernden Pferdeschwanz aus Saarbrücken. Die Unterprimanerin war in Benno verknallt gewesen und schwärmte von morgens bis abends von Jim Morrison. Noch lieber erinnerte Andreas sich an die etwas burschikose Schwedin mit dem bandagierten Ellenbogengelenk. Die verzichtete auf Geturtel und Gegacker, sie nahm den direkten Weg und sagte was sie wollte. Wenn Benno bezüglich der Amis Recht hatte, dann waren das damalige Gebalze und die Eifersüchteleien eigentlich völlig überflüssig. Die Beach-Boys waren keine ernsthafte Konkurrenz gewesen. Hätten sie das nur früher gewusst. Er und Benno waren eines Abends noch nach Bayonne getrampt, um den Amis das Steakhaus und die Mädchen nicht allein zu überlassen. Sie hatten dafür viel geblecht. Zu allem Übel war in dieser Nacht, Benno hatte recht, Andreas’ gute Sonnenbrille verloren gegangen.

Benno prüfte mit geübten Handgriffen die Befestigung und die Seilspannung der Hängematte. In Ordnung. Andreas maulte, er konnte mit Mühe die Balance halten. Benno setzte sich in den Sand und rauchte eine Zigarette. Andreas rollte sich aus der Hängematte, rappelte sich aus dem Sand auf, klopfte seine Cordhose ab und machte sich davon.

Sie hatten sich erst am vergangenen Sonntag endgültig entschlossen, in die Bretagne zu fahren. Bennos blaue Klapperkiste hatte zwei Wochen zuvor noch einmal den TÜV geschafft. Alle drei konnten die letzten Semesterwochen streichen. Sie würden dafür wieder recht früh zurück sein müssen. Ein heißer Herbst stand bevor. Da gab es schon zum Ende der Semesterferien viel zu tun.

Benno ließ sich von Andreas und Connie dazu überreden, die Tour mitzumachen statt wieder nach Portugal zu fahren. Die Bretagne sollte ja ganz schön sein, so wie Irland oder Schottland, die er auch nicht kannte. Er war neugierig. Dora ging diesmal ihre eigenen Wege. Das erleichterte Benno die Entscheidung. Er wollte nicht unnötige Diskussionen führen, weder mit Dora noch mit Andi und Connie. Ja, als es dann nach einigem Hin und Her so weit war, freute er sich auf den Urlaub mit den beiden.

Andreas und Connie waren auch noch nicht in der Bretagne gewesen. Sie kannten nur die üblichen Berichte über unzugängliche Steilküsten, über gestrandete Schiffe, die zwischen Felsen zu rostenden Schrotthaufen verkamen. Winzige Dörfer, die seltsame Namen trugen und meistens im Nebel lagen. Hinkelsteine. Asterix live. Glaubte man den Geschichten, dann musste man sich auf Regentage einstellen, vielleicht zu viele Regentage für einen Sommerurlaub. Mit wolkenverhangenem Himmel, nasskaltem Wetter und öden Tagen war zu rechnen. So hieß es zumindest bei all denen, die im Sommer nur eine Himmelsrichtung kannten: den Süden. Es gab unter ihren Bekannten nur wenige andere Stimmen. Aber die fuhren dann gleich nach Finnland.

Eine Mitbewohnerin von Benno hatte auf Schlaumeier gemacht und davon geschwärmt, in der Bretagne gebe es überall Crêpes, tausend verschiedene Sorten, an jeder Straßenecke. Die müsse man unbedingt probieren. Die deftigen Crêpes hießen eigentlich Galettes, hatte sie die Runde am Küchentisch der WG belehrt. Nur die süßen seien Crêpes. Die mit Grand Manier flambierten seien die klassischen, abgesehen von der einfachen, der Beurre Sucre, wie sie sagte. Crêpes wären so etwas wie Souflaki auf dem Peloponnes oder wie Schafskäse-Teller in Jugoslawien und die Paella an der Costa Brava. Sie gehörten einfach dazu.

Connie hatte für einen Moment befürchtet, Carla, so hieß die geschwätzige Sportstudentin, werde sich als Mitfahrerin anbieten. Nachdem klar war, dass Dora nicht mitfahren würde. So etwas sprach sich schnell herum. Auf Connie machte die Kleine schon lange den Eindruck, an Benno sehr interessiert zu sein. Ja, darauf würde sie wetten.

Benno reizten die verwunschenen Friedhöfe im Landesinneren, die Calvaires und alten Brunnen. Connie wollte unbedingt zum Mont-Saint-Michel und nach Carnac zu den Hinkelsteinen. Andreas hatte keine besonderen Wünsche, außer dem, bis zum Ende der Welt, zum Point de Raz im äußersten Westen zu fahren. „Dort kommt nichts mehr, nur noch das Meer“, hatte er immer wieder gesagt. Sie hatten vor, nirgendwo lange zu bleiben, möglichst viel zu sehen.

Andreas und Connie wollten in diesem Jahr mehr Ruhe und Zeit für sich haben. Auf eine der in ihrem Bekanntenkreis üblich gewordenen großen Touren in den Süden hatten sie in diesem Sommer keine Lust. Sieben oder acht Leute, es war am Ende auch schon mal ein Dutzend geworden, wollten sie nicht wieder ertragen müssen. Gerade jetzt nicht, wo die Zeiten schwieriger wurden.

Allein schon die jedesmal späte und dann noch mehrfach umgestoßene Planung der Anreise ging Andreas auf die Nerven. In wie viel Etappen? Entlang der Küste oder über den Autoput? Wer mit wem in welchem Auto? Wo und wann traf man sich? Die wilden Zeltplätze ohne Trinkwasser, die Hitze, die Quallen hatte er satt. Und dann der ewige Streit, ob man bleibt oder doch noch die kleine Bucht oder das verlassene Dorf in den Bergen sucht. Viele angebliche Geheimtipps machten die Runde und sorgten für Zündstoff.

All das wollten Connie und Andreas in diesem Jahr nicht mitmachen. Der Zwang zu Entscheidungen über Lappalien. Das Abwägen von beschissenen Alternativen. Der aus dem Nichts kommende Drang in der Gruppe, alles, fast alles, zusammen zu machen. Das miese Gefühl, sich abzusondern. Andreas hatte auch keine Lust mehr auf die regelmäßig auftauchenden Polizisten in ihren lächerlichen Uniformen, versteckt hinter Sonnenbrillen. Sie ließen sich Ausweispapiere zeigen, für die sie sich in Wahrheit nicht interessierten. Sie fragten, ob irgendein Kostas oder Slobodan das Zelten auf diesem gottverdammten Acker erlaubt habe. Für eine Wiese mit Zisterne und Schatten spendenden Bäumen hätte Andreas vielleicht einen Zehner abgedrückt, aber nicht für ein mit Disteln übersätes Stück Stoppelacker. Dafür gab’s keine müde Mark. Eher würden sie sich buchstäblich wieder vom Acker machen. Doch so weit kam es nur ganz selten. Es war ein Spiel. Die Uniformierten hatten einfach nichts zu tun. Selbst wenn Haschisch-Rauch in der Luft lag, war von der Staatsmacht, deren Vertreter wie Zirkusdirektoren in Galauniform daherkamen, kaum etwas zu befürchten. Es war mehr Kumpanei als Bedrohliches zu spüren, auch wenn es die Kumpanei des Stärkeren war. Die deutschen Schülerinnen und Studentinnen wurden begutachtet und angewiesen, sich etwas überzuziehen. Nackte Brüste sahen die Popen und die alten Frauen nicht gern. Das müsse man respektieren, erklärten die Polizisten. Sie konnten ihre geilen Blicke nur schlecht hinter einem Schulterzucken und ihren Sonnenbrillen verbergen.

Andreas und Connie wollten endlich mal einen anderen Urlaub machen. Alleine, fast alleine. Andreas hatte die Nase voll. Das Töpfer-Dorf in den Bergen Montenegros war nur über einen steinigen Eselspfad erreichbar, man ramponierte sein Auto, und dann erwies sich die Ansiedlung als von Menschen verlassene Ansammlung verfallender Häuser. Die Kleinstadt erwies sich als dreckiges Nest. Von dem in einem alternativen Reiseführer als bunt und geschäftig angepriesenen Markt blieb in der Mittagshitze nur der bestialische Gestank von vergammelten und zermatschten Obst- und Gemüseresten. Dafür entschädigte auch kein kleiner schwarzer Kaffee, der umgerechnet gerade mal zehn Pfennige kostete. Die Küstenorte nahe der albanischen Grenze waren mittlerweile bereits von Neckermann-Touristen entdeckt worden. Erste Bauruinen im dunklen Sand zeigten, dass der Boom des Massentourismus seine eigenen Wege ging.

Andreas sprach nicht viel darüber, nur Connie wusste von seinem Frust. Er hatte es satt. Folklore und Ursprünglichkeit hin oder her. Er hatte es satt, penetrant von wimmernden Frauen und drängelnden Kindern verfolgt zu werden, die Geschnitztes und Gehäkeltes, Goldschmuck, Lammfelle oder Lederwaren, Kräuterbüschel oder Selbstgebrannten feilboten. Sie wollten in diesem Sommer ihre Urlaubstage nicht in einer der immer gleich aussehenden Tavernen beschließen, deren billiges fettes Essen unruhige Nächte zur Folge hatte. Der Landwein war nur zu ertragen, wenn man ihn hemmungslos becherte. Deutsche Arbeiterlieder und die der Partisanen wechselten sich ab, begleitet von Slivowitz oder Ouzo. Auch das war kein Trost.

An diesen Abenden gab es fast immer einen kurzen, sehr kurzen Moment, in dem Andreas einen nur ab und zu an die Oberfläche tretenden Traum, ein Ideal in bunten Bildern, unbändig gern gelebt hätte. Sie waren alle gleich und alle eins, mehr noch als Brüder und Schwestern, mehr als Freund und Freundin, mehr als Mann und Frau, einfach eins, in acht- oder zehn- oder x-facher Gestalt. Nackt, an einem großen Holztisch, unter einem schützenden Baum. Sich liebend. Sich wirklich liebend. Die Sekunden danach waren frustrierende Momente, mit denen er allein blieb.

Sein Traum würde nicht so schnell wahr werden. Das Leben war anders, auch unter Freunden und Genossen, wie auch unter Geschwistern und Paaren. In wenigen Jahren war aus seinen, aus ihren Träumen das Spannendste, das Neue, das Unbekannte herausgebrochen worden. Und verschüttet.

Connie und Andreas wollten allein sein. Sie mussten miteinander reden. Schon im Wintersemester hatten sie sich mehr als üblich gestritten, im Mai hatten sie sich nach fünf Jahren beinahe getrennt. Sie drifteten auseinander. Connie schrieb schon an ihrer Examensarbeit, Andreas würde spätestens im nächsten Frühjahr unbedingt damit anfangen müssen. Andere Kommilitonen, mit denen Andreas 1970 das Studium in den PhilFak-Türmen begonnen hatte, waren sogar schon fertig. Einige waren nicht mehr in der Stadt. Alte Wohngemeinschaften lösten sich endgültig auf. Einen großen Teil des Publikums im Club Voltaire oder im Binding-Eck kannte man nicht mehr. Noch nicht einmal vom Sehen. Connie und er, Benno und andere gingen jetzt auch seltener hin als früher.

Der Beginn des Studiums, die Suche nach der ersten Studentenbude, das Erstsemesterleben zwischen Proseminar, Mensa, Studienberatung, Fachschaft und immer selteneren Heimfahrten lagen schon so lange zurück. Riesige Matratzen auf dem Boden winziger Altstadtzimmer, neue, edle Musikanlagen, silbern glänzend oder in mattem Schwarz, auf Apfelsinenkisten thronend. Backsteine und Regalbretter, die sich schnell mit Büchern ihnen bislang unbekannter Autoren füllten. Kommilitoninnen, die morgens im Wohnheim die beiden Etagenduschen blockierten und ein Handtuch um die Hüfte über den Flur huschten. Das erste Sit-in, bei dem ein leibhaftiger Ex-SDSler durch einen witzigen Zwischenruf, eine zerschlissene Lederjacke, seinen verzottelten Bartwuchs und die ihn begleitende dürre bleiche Frau auffiel. Beide arbeiteten – das machte unter den Studienanfängern gleich die Runde – an einem halbdokumentarischen Film über das Politische im Privaten. Sie suchten Laiendarsteller, Erst- und Zweitsemesterinnen. Filmemacher war eines der Worte, die Andreas damals lernte. Er ließ sich einen Oberlippenbart wachsen. Benno schleppte ihn später in La Strada und in Mutter, mir geht es gut. Kuhle Wampe lief im Filmclub, Panzerkreuzer Potemkin auch. Polanskis komplizierteres Messer im Wasser hatte er sich mit einer Kommilitonin angeschaut, die kurze Gedichte auf Papierservietten schrieb und in diesem Frühjahr und Sommer keine Unterwäsche trug.

Sie waren aus der Provinz in die Stadt gekommen, erst Andreas, dann Benno. In die Universitätsstadt, die selbst Provinz war. Sie, die aus einer Kleinstadt kamen, hatten damals noch keine Ahnung davon, dass selbst Städte mit mehr als zehn Mal so vielen Einwohnern tiefste Provinz sein konnten. Sie waren gerade ins offene Meer hinaus geschwommen. Sie wussten nicht wohin und wie lange. Sie wollten es damals gar nicht wissen, hatten sich die Frage gar nicht gestellt. Unbekanntes in allen Richtungen, außer der, aus der sie kamen. Unbegrenzt schien die Zeit. Eine Ewigkeit. Nein, sie glaubten nicht, ewig zu leben, sondern es reichte zu leben, frei und selbstbestimmt. Und nun sollte schon alles vorbei sein, fast vorbei sein. Dampfer und Segelboote, fliegende Fische und farbenprächtige Schwärme, Treibgut und Algen waren ihnen unterwegs begegnet. Fast immer bei kräftigem Wellengang. Und nun war schon Land in Sicht, unausweichlich wurde die Entscheidung, an Land zu gehen. Bald sollte schon alles vorbei sein. Vielleicht gab es die Wahl zwischen Steilküste, einem Uferstreifen mit Kies, Sandstrand oder Schlick. Aber Land war Land, nicht mehr das offene Meer. Überraschung versprach höchstens noch, ob es sich um eine große Insel oder Festland handeln würde.

Sie mussten darüber sprechen, was werden soll. Unbedingt. Sie hatten es sich fest vorgenommen. Andreas war endlich soweit. Für die Ferien fast zu viel, dachte Connie. Dass Benno mitfahren wollte, war gut. Nicht nur wegen des Autos. Connie mochte Andreas’ alten Schulfreund. Er war so ganz anders. Immer freundlich, nett, interessiert, vielleicht etwas still und oft zu ernst. In seinen schönen dunklen Augen versanken auch andere Frauen. Eigentlich hatte Benno wieder ins Alentejo fahren wollen, wie in den Sommern der beiden vergangenen Jahre. Auf einen ehemaligen Gutshof, den die Landarbeiter nach der Aprilrevolution in Beschlag genommen hatten. Bennos Fotoserie war in einer Ausstellung in Frankfurt gezeigt worden. Da Dora, die Ex oder Gerade-noch-Freundin von Benno, sich weigerte, die Tour nach Portugal mit dem R4 zu machen, und überhaupt mal lieber alleine losziehen wollte, war Benno die Entscheidung für die Bretagne-Tour mit Connie und Andreas dann doch leichtgefallen.

Wobei Benno sich nicht sicher war, ob Andi und Connie wirklich an einem Urlaub zu dritt interessiert waren. Andreas hatte das Angebot eher beiläufig gemacht, unter der Dusche, nach dem Training. Sein „Gib Bescheid, ob du mitfährst, ist nur ein Angebot, lass dich nicht drängeln, du musst nicht“ klang so, als sei ihm Bennos Reaktion relativ gleichgültig. War es nur noch eine Reminiszenz an ihre langjährige Freundschaft? Connie hatte dagegen zweimal angerufen und gefragt, ob er sich schon entschieden habe. „Ich will auf jeden Fall den Mont-Saint-Michel sehen. Da wolltest du doch auch immer mal hin“, hatte sie beim zweiten Anruf gesagt. „Ich fände es toll, wenn du mitfahren würdest.“ Er hatte mit ihr nie über den Mont-Saint-Michel gesprochen, musste dort auch nicht unbedingt hin. Zu viele Touristen, schon zu oft fotografiert. Doch Connies Drängeln schmeichelte ihm. Saint-Malo würde ihn dagegen wirklich reizen. Benno hatte sich für die Bretagne-Tour entschieden.

Andreas schlurfte über den Zeltplatz, inspizierte die Duschanlagen, suchte an den Spülbecken und in dem kleinen Bungalow, wo sechs zweiflammige Gasherde als Kochgelegenheiten aufgestellt waren. Die Kochecke war in einem aufdringlichen Blau frisch gestrichen worden und schien in diesem Sommer noch kaum benutzt worden zu sein. Unterschiedlich große Kochtöpfe und einige Pfannen waren in einem Regal unter der Spüle gestapelt. Neben einem der Spülbecken lagen ein paar gerade abgewaschene Blechteller und dazugehörendes Besteck. Die Camper schienen Ordnung zu halten. Sogar die beiden Abfalleimer quollen nicht über, sondern wurden offenbar regelmäßig geleert. Da hatte er in Südfrankreich anderes gesehen.

Connie war nirgendwo zu sehen. Andreas ging kreuz und quer über das Gelände, verlor zwischendurch die Orientierung, stand plötzlich am Rand des Zeltplatzes, wo ein windschiefes Schild, versteckt in dornigen Hecken, darauf hinwies, dass man jetzt den Campingplatz verließ. Unterhalb der Dünen erstreckte sich nach links ein breiter Strand. Andreas fragte sich, was ihn irritierte. Es war der Strand. An der Côte d’Azur, zumindest dort, wo Benno und er sich vor dem Abitur und in den ersten gemeinsamen Semesterferien rumgetrieben hatten, hatten sie die kleinen versteckten Buchten vorgezogen. Mal lagen sie dort im Kies oder auf vorspringenden weißen Felsen. Ab und an fanden sie auch eine Bucht, in die der Wind und das Meer über die Zeit einige Ladungen Sand gekippt hatten. Auch in Griechenland oder Jugoslawien waren ihnen selten solche weiten Strände begegnet wie in der Normandie oder jetzt hier in der Bretagne.

Am Ende, vielleicht sechshundert Meter oder achthundert Meter entfernt, begrenzte ein Parkplatz den Strand. Dort lagen unterhalb einer von hier aus trotz des Niedrigwassers kaum auszumachenden Mole auch einige Boote. Es war Ebbe. Andreas ging wieder zurück, verlief sich nochmals zwischen den wenigen Zelten, orientierte sich an einigen offenbar von den Duschen kommenden Campern und fand schließlich von dort aus wieder den Weg zurück.

Sein Freund hatte schon kräftig angepackt. Das kleine Zelt stand bereits, das große lag ausgebreitet auf dem Boden. Benno hatte die Heringe und Seile rund um die Plane verteilt.

„Komm, pack mit an!“

„Hat sich Connie blicken lassen?“

Andreas’ Freund ignorierte die Frage. „Krabbelst du rein, oder soll ich?“

„War Connie hier? Ich habe sie nirgendwo gefunden.“

Benno griff sich den Gummihammer und umkreiste die Plane. Er schlug die Heringe in den Boden und zog die Zeltschlaufen über die langen Metallnägel.

„Ein richtiger Sturm darf nicht kommen. Im Sand haben die Heringe kaum Halt. Wir sollten uns noch einen Packen längere besorgen. Was meinst du?“

Er erwartete keine Antwort und verschwand unter den Zeltplanen. In der Provence hatten sie einmal den legendären Mistral erlebt. Sie waren während der Osterferien ins Luberon getrampt. Sie hatten sich bereits hinsichtlich der erwarteten Frühlingstemperaturen getäuscht. Auf den Bergen bei Forcalquier lag sogar noch Schnee. An zwei Tagen wurden sie dann zudem in den frühen Morgenstunden von heftigen und nicht enden wollenden Windböen überrascht. In ihrem eigentlich ganz passablen Nachtquartier, einem Unterstand mitten in einem steinigen Weinberg, hatten sie ihre Siebensachen nur mit Mühe zusammenhalten können.

„Los, gib mir die vier Stützen und die Querstange für vorn. Nein, Connie war nicht hier. Sie ist zum Büro gegangen, habe ich dir doch gesagt.“

„Das hast du nicht gesagt, sondern vermutet. Dort ist sie aber nicht.“

„Na ja, vielleicht ist sie tatsächlich am Strand und schwimmt ihre erste Runde in der Bretagne. Du weißt doch am besten, wie verrückt sie nach Strand und Meer ist. Ich habe gesagt, vier Stützen, nicht drei.“

„Zurzeit ist Ebbe.“

„Wir sind hier nicht an der Nordsee, mein Lieber. Egal. Vielleicht ist Connie nur spazieren, vertritt sich die Beine. Nach der langen Fahrt wäre das kein Wunder, oder? Also, bauen wir jetzt das Zelt endlich auf oder nicht? Gib mir die Querstange für hinten und den Haken für die Lampe.“

„Das hat sie früher nie gemacht. Einfach losgehen, ohne zu sagen wohin.“

„Mensch, Andreas, mach daraus kein Drama. Wir bauen das Zelt auf, und wenn wir fertig sind, ist Connie wieder da. Wetten?“

Wenn Benno Andreas statt Andi sagte, war Vorsicht geboten.

Andreas dämpfte seine Stimme und blickte sich wieder um. „Sie kann uns doch nicht einfach hier sitzen lassen, ohne zu sagen, wohin sie geht.“

„Dich.“

„Wie bitte?“

„Dich hier sitzen lassen, wenn schon sitzen lassen. Mich hat sie nicht sitzen lassen. Also: Worum wollen wir wetten? Um ein Glas Pastis? Zieh’ draußen mal die kurzen Schnüre durch die Haken, aber noch nicht zu fest.“

Andreas umkreiste die Plane, unter der sein Freund Mühe hatte, die passenden Gestängeteile ineinanderzuschieben.

„Okay.“

„Achtung, ich richte das Zelt jetzt auf. Du ziehst dann gleich vorne und hinten die langen Schnüre fest. Aber richtig stramm, bitte.“

Das blau-rote Zelt wuchs aus dem Sand empor. Für einen Moment wackelte das Konstrukt.

„Tempo, ich kann die Stellage nicht mehr lange halten.“ Jetzt wurde Benno zum ersten Mal laut.

Andreas beeilte sich. Die Schnüre stramm ziehen, an den Haken fest verknoten, die langen Stifte schräg in den Boden hauen. Wo konnte seine Liebste nur sein? Einige Ausläufer von Baumwurzeln boten mehr Halt als der bloße Sand. Das Zelt stand kerzengerade.

Benno kroch aus dem Zelt und richtete seine fast ein Meter neunzig ächzend auf. Er versuchte, seinen Rücken wieder ins Lot zu bringen. Er sah gleich, dass der Reißverschluss am Eingang zu viel Spannung hatte. Er würde die Schnur nachjustieren müssen. Benno fuhr sich mit seiner rechten Hand durch den Lockenkopf, strich mit der anderen imaginären Sand von der Hose und schlug dann seinem Freund auf die Schulter.

„Gut gemacht. Das wäre geschafft.“

Benno griff sich die Wasserflasche und nahm einige kleine Schlucke.

„Kopf hoch, Andi. Jetzt müssen wir nur noch auspacken. Dann kann der Bretagne-Urlaub anfangen.“

Er wollte seinem missmutigen Freund die Flasche reichen, doch Andreas hatte sich schon abgewandt und ein paar Schritte entfernt.

„Ich dreh noch mal eine Runde.“

Auf die Planung der Reiseroute, die Etappen und die Verständigung über das erste Ziel in der Bretagne hatte das Trio keinen großen Wert gelegt. Über Paris, durch das Loiretal oder entlang der Kanalküste? Sie hatten sich für die Fahrt durch die Normandie entschieden. Paris konnten sie auch auf der Rückfahrt oder ein andermal machen. Sie waren alle drei schon einmal dort gewesen. Im Loiretal vermuteten sie Touristenmassen. An den zuckersüßen Schlössern hatte niemand Interesse.

Das gemeinsame Urlaubsbudget wurde durchgerechnet. 1200 Mark, höchstens 1500 Mark wollten sie ausgeben. Unterwegs konnten sie auch mal im Auto schlafen oder wild zelten. Ein Kaffee und ein Croissant am Morgen, ein Croque Monsieur am Mittag und abends Baguette, Käse, eine Flasche Rotwein. So würden sie auf jeden Fall die drei oder vier Tage Fahrt bis in die Bretagne gut überstehen. Was dann kam, würde sich zeigen.

Acht Jahre zuvor, 1969, hatten Andreas und Benno an der Mittelmeerküste gerade einmal 500 Mark gebraucht. Und sie waren damals fast vier Wochen unterwegs gewesen, per Anhalter. Sie hatten wild, meist im Freien übernachtet, wo es sich anbot. Auch immer wieder mal für eine Nacht in einer Jugendherberge, um zu duschen und in einem Bett zu schlafen. Und sie hatten Glück gehabt. Eine Engländerin, die sie in Toulon am Blumenmarkt aufgegabelt hatte, verköstigte sie fast eine Woche in einer Villa oberhalb von Cassis.

In Montpellier hatten sie sich danach im Durcheinander am Bahnhof kurzzeitig verloren. Tausende Festivalbesucher, die zu einem nahen Park strömten, vergrößerten den Urlaubertrubel. Benno und Andreas versuchten beide, wie sich später herausstellte, den jeweils Anderen in einem am Bahnhofsvorplatz liegenden Café wiederzufinden, das sie zuvor zum Pinkeln aufgesucht hatten. Vergebens. Benno war dann mit einer Schweizerin weitergezogen, Andreas hatte einen Kleintransporter erwischt, der ihn einige Kilometer mitnahm. Narbonne war als nächstes größeres Etappenziel vereinbart. Doch schon an einer Tankstelle kurz vor Sète hatten sich die beiden Freunde am nächsten Tag wiedergetroffen. Purer Zufall.

Connie mochte es, wenn die beiden Jungs von ihren früheren Tramper-Touren erzählten. Es waren zwar im Grunde genommen nur drei Sommerferien und ein paar lange Wochenenden, die sie damals zusammen unterwegs waren, aber Connie schienen es viele Sommer, hunderte von Tagen und Nächten zu sein. Sie hatte das Gefühl, alle Dörfer, Bahnstationen, Marktplätze und Tankstellen selbst zu kennen. Auch all die Läden, die Mädchen, die Autofahrer und die Cafés, die Schulhäuser und die Schwimmbäder, die als Schlafplatz dienten. Sie kannte die neue Bowlingbahn am Stadtrand von Besancon, wo die Jungs schon am dritten Tag ihrer ersten Tour in den Süden 70 Francs, fast 20 Mark verjuxt hatten. Und das nur, um zwei Französinnen in karierten Faltenröcken und weißen Kniestrümpfen zu imponieren, die mit ihren Solex vor dem Eingang herumgestanden hatten.

Manche Geschichte hatte sie mittlerweile auch schon in mehreren Varianten gehört. Die von der Engländerin zum Beispiel, die Benno gern als blasse und eigentümlich schöne Collegeabsolventin aus Derby präsentierte, mit der er – das vergaß er nie einzuschieben – über Degas und Sisley geredet habe. Andreas waren offenbar nur ihre quietschgrüne Bluse, die ausladenden Hüften und ihr Faible für Pferde in Erinnerung geblieben. Freigiebig und wirklich freizügig sei sie gewesen – und in Wahrheit die Maitresse, er sagte tatsächlich Maitresse, eines Textilfabrikanten aus Mittelengland, dem die Villa, das angebliche Ferienhaus ihrer Familie, gehörte.

An dieser Stelle fragte Benno immer: „Was heißt hier in Wahrheit?“ Andreas schaute daraufhin drein, als erübrige sich jede Antwort, und es folgte eine andere Anekdote, der sich zwangsläufig die nächste und die übernächste anschlossen. Die Bardamen am alten Hafen von Cannes, die kiffende Lavendelverkäuferin in Noves, der sehr gesprächige Peugeot-Fahrer, der sich als ehemaliger Zwangsarbeiter erwies, und so weiter und so fort. Connie wurde selten ihre Fragen los.

Dass Benno sich mit Claire, der Schönheit aus Neuchâtel, deren Haar hinunter bis zu einem breiten Ledergürtel reichte, aus dem Staub gemacht hatte, während er, Andreas, stundenlang nach ihm gesucht habe, war ebenfalls eine Erinnerung ihres Freundes, die von der Bennos abwich. Benno zufolge war Andreas es gewesen, der die gemeinsamen Pläne über den Haufen geworfen und als endgültiges Ziel ein Fischerdorf nahe der spanischen Grenze ausgegeben hatte. Er hatte Benno, darauf beharrte dieser, sogar gedroht, auch alleine loszuziehen, wenn sein Freund sich stur stellen sollte. Carcassonne und Pau seien ihre ursprünglichen Ziele gewesen, behauptete Benno, was Andi bis heute leugnete.

Connie hatte immer nur Ferien mit ihren Eltern gemacht, bis zum Abitur. Die Adria zwischen Venedig und Rimini, später Lloret de Mar an der Costa Brava waren die Orte, in die ihre Eltern jeden Sommer für zwei, später drei Wochen fuhren. Im Alter zwischen sechs und zwölf Jahren, mit ihren üppigen blonden Locken und den von ihrer Mutter genähten hübschen Strandkleidern war sie der Schwarm aller italienischen Männer und Mamas. Damals war sie immer unterwegs gewesen, wie ihre Eltern wieder und wieder in ihren Erzählungen erwähnten. Nie, niemals habe sie irgendwo ruhig sitzen können. Immer sei Connie gerannt, gestolpert, habe sich versteckt, mit einem Schmetterling Fangen gespielt. Heute, viele Jahre später, erinnerte Connie sich nur an die Schrammen.

In der Pension rannte sie ihren Eltern zufolge während des morgendlichen Frühstücks auf der Sonnenterrasse ständig um den kleinen Brunnen oder hinunter zu den Gartenarbeitern, die gleich hinter der Zufahrt zu den drei Garagen eine Stützmauer von Wildwuchs säuberten. Wenn ihre Eltern am Abend noch eine Runde zu drehen beabsichtigten, wie ihr Vater nach dem Abendessen, stets pünktlich zum Magenbitter, ankündigte, sei sie vorweg gelaufen. Sie hatte am Nachmittag immer schon längst den von der Familie gemieteten Sonnenschirm erreicht, wenn ihre Eltern gerade erst die Stufen von der Küstenstraße hinunter zum Strand nahmen. Nur in Venedig und auf den Märkten habe sie keine Chance gehabt, dem festen Griff ihres Vaters zu entgehen.

Später, in der Pubertät und als Oberstufenschülerin stand sie am Strand von Lloret, blickte stumm aufs Meer, suchte den Horizont ab, ohne zu wissen wonach, und sehnte den Abend und die Nacht herbei. Sie hatte ihr langes Haar straff nach hinten gekämmt und zusammengebunden, um die Locken wenigstens einigermaßen zu bändigen. Nach dem Essen spazierten ihre Eltern und sie über die Promenade, setzten sich kurz nach 22 Uhr noch mal in ein Café und aßen ein Eis. Sie beneidete die anderen Mädchen in ihrem Alter, die zu dritt oder viert und ohne Erwachsenenbegleitung die Promenade auf und ab schlenderten. Die meisten schon nach wenigen Urlaubstagen gebräunt, in schönen hellen Sommerkleidern, manche mit pastellfarbenen Schärpen aus Seide oder Tüll. Sie schnatterten und glucksten. Sie wetteiferten darum, wer den hübschesten Jungen am Strand gesehen hatte und flunkerten, wenn es darum ging, zu schwören, dass der Seitenblick oder das Augenzwinkern ihnen selbst, nur ihnen gegolten hatte. Die Mädchen waren schön, überwiegend Deutsche, auch einige Schweizerinnen, die sich gern in den üppigen Gartenanlagen Stadt zwischen Magnolien, Orangenbäumen und blühenden Kakteen fotografieren ließen. Diejenigen, die abends mit Jungs unterwegs waren, zu Fuß oder auf dem Sozius eines Rollers, waren schon älter. Auffällig geschminkt trugen sie kurze Röcke oder Caprihosen, hatten die eng sitzenden Blusen am Bauch zusammengeknotet.

Wenn Connie an Lloret zurückdachte, dachte sie, seit sie Andreas und Benno kannte, immer auch daran, ob sie die beiden Tramper irgendwo zwischen Basel und der spanischen Grenze am Straßenrand hatte stehen sehen? Nach Spanien waren die beiden Freunde damals nie gekommen, wegen Franco, wie sie bis heute beteuerten. Hatten die beiden Langhaarigen dem dunklen 220er Mercedes, mit dem ihre Eltern und sie Ende der sechziger Jahre an die Costa Brava gefahren waren, ihre Flüche hinterher geschickt? Weil sie seit einer guten Stunde keinen Erfolg beim Autostopp gehabt hatten, oder weil es – wie sollte es anders sein – eine typische deutsche Bonzenschleuder war, die nicht angehalten hatte.

Es gab Tage, na ja, zumindest Stunden, da hielt noch nicht einmal ein kleiner Obsttransporter aus der Gegend an. So erzählten Benno und Andreas. Und es gab Glückstreffer. Zu allererst natürlich der Tag nach einer fürchterlich verquasselten und ziemlich am Ziel vorbeigeschossenen Nacht mit zwei Anhalterinnen aus Hildesheim. Da erwischten sie kurz hinter Bourg-en-Bresse einen 2 CV, der sie bis nach Toulon mitnahm. Und damals sei die Autobahn zwischen Lyon und Marseille nur Stückwerk gewesen, noch Baustelle auf vielen Kilometern. Drei Mann, eine Reisetasche und ein riesiger Zeltsack des Heidelberger Studenten, die Rucksäcke von Benno und Andreas, ihre Schlafsäcke – und das in einer Ente.

Connie sog die nicht immer stimmigen Erinnerungen ihrer Kumpane wie Nektar auf. Sie erlebte vieles nach. Connie erinnerte sich mittlerweile besser an Bennos Durchfallqualen im Rhônedelta als an den Kreislaufkollaps ihres Vaters in Tarragona. Sie wusste, dass Andreas im Busbahnhof von Avignon ein Buch von Ludwig Marcuse geklaut worden war, aber sie hatte keine Ahnung davon, dass ihre Eltern sich in den Sommerferien 1972 unentwegt gestritten hatten. Zur Entscheidung hatte gestanden, ob Connie nach dem Abitur gleich zur Dolmetscherausbildung nach München oder doch erst als Aupair-Mädchen in den Haushalt einer befreundeten Familie am Genfer See geschickt werden sollte. Connie kannte viele Vornamen und die ungefähre Oberweite von durch Südfrankreich ziehenden Holländerinnen und Schwedinnen und Kanadierinnen, aber sie hatte Mühe, sich nach jetzt gerade einmal fünf Jahren an die Namen von Mitschülerinnen zu erinnern. Wem hatte sie damals, an der Costa Brava, überhaupt eine Ansichtskarte geschrieben, außer ihrer Oma und Onkel Kurt? Welcher Schulfreundin? Benno und Andreas schwelgten in ihren alten Geschichten. Selbst wenn ein Großteil ihrer Erinnerungen wahrlich märchenhaft sein sollte, verspürte Connie in solchen Momenten schmerzlichen Drang, in ihren eigenen Erinnerungen an diese Zeit zu graben. Doch sie wusste nicht, wo anfangen. Wie grub man nach Erinnerungen, wenn man keine hatte?

Andreas warf den Gummihammer, mit dem er in den letzten fünf Minuten wahllos Pinienzapfen zerkleinert hatte, in den Sand. „Wo warst du, wo warst du bloß?“

„Was ist denn mit dir los?“

Connie schnaufte wie ein Drachen, griff sich mit beiden Händen an die Schläfen, zeigte ihre Zähne und stieß einen spitzen Schrei aus. Sie schnappte nach Luft, ging ungläubig dreinschauend an ihrem Freund vorbei, raffte ihr langes Kleid und stapfte über die Schnüre des großen Zelts. Sie wühlte im Auto nach einem Pullover, schimpfte über die anscheinend sonst niemand störende Unordnung, griff sich dann ersatzweise eine ausrangierte Trainingsjacke von Andreas, zog sie über und bat Benno um eine Zigarette.

„Ich will nur wissen, wo du warst. Wir haben dich gesucht.“

„Du“, warf Benno ein und zeigte mit der Gauloise, die für Connie gedacht war, auf seinen Freund.

„Was?“

„Du! Du hast gesucht, ich nicht.“

Benno wiederholte sich.

Das ging Andreas auf die Nerven. Er wurde grob.

„Deine Platte hat einen Kratzer. Leck mich am Arsch. Verdammt nochmal.“

Er bemerkte den fragenden Blick von Connie und bereute seinen schroffen Ton, hatte aber keine Lust, seine Liebste aufzuklären. Schließlich ging es eigentlich um sie. Er kramte in der Verpflegungskiste nach Streichhölzern und gab Connie Feuer. Die kleine Flamme spiegelte sich in ihren großen grünen Augen, die ihn für einen kurzen Moment fragend ansahen.

Connie löste sich aus der körperlosen Umarmung, zog den Reißverschluss der Jacke zu und wandte sich, um einen beiläufigen und sachlichen Ton bemüht, wieder an die beiden Männer.

„Ich habe einen Spaziergang gemacht, am Strand. Es ist kaum etwas los gewesen. Einige ältere Leute, die spazieren gehen, und eine Gruppe Volleyballer. Von dort unten sieht man den Zeltplatz gar nicht. Dafür könnte man jetzt, solang Ebbe ist, auch in die andere Richtung gehen. Unterhalb des Campingplatzes gibt es viele Felsen, aber jetzt auch freigelegte Sandbänke.“

Sie deutete Richtung Nordosten, als machte ihre kurze Armbewegung den Blick auf das Meer und die Felsen frei. Sie wandte sich wieder den beiden Freunden zu.

„Dann war ich kurz im Dorf, habe einen Laden, einen Metzger, einen Zeitungskiosk, eine Crêperie und ein kleines Restaurant gefunden. Keine Viertelstunde von hier, alles direkt an der Hauptstraße. Viel mehr Straßen dürfte es aber eh nicht geben. Das ist ein kleines Nest. Und auf dem Rückweg habe ich uns im Campingbüro richtig angemeldet und 120 Francs geblecht. Wiedersehen macht Freude, Jungs. Hier sind unsere Nummern, die 3 und die 27.“

Connie reichte Benno ein flaches, von tausend Händen abgegriffenes Stück Holz, so groß wie eine Zigarettenschachtel, auf dem „03“ eingraviert war. Ein grobes Stück Kordel war durch ein Loch gezogen. Benno hängte das Schild an die Spitze des kleinen Zelts. Sie selbst hängte eine etwas zu groß geratene Hundemarke, in die die 27 mit einem Nagel gehämmert war, an das große Zelt.

„An der Rezeption gibt es auch ein paar Prospekte und Handzettel.“

Andreas schaute auf. Er hatte sich wieder beruhigt.

„Gab’s auch eine Landkarte?“

„Nein, nicht zu kaufen. Im Vorraum hängt eine große Bretagne-Karte an der Wand. Auf der haben aber schon viele Finger ihre Spuren hinterlassen. Manche Gegenden, anscheinend die beliebtesten Ausflugsziele, sind nur noch blank gekratzte, schmutzige weiße Flecken.“

„Wir können an einer Tankstelle nach einer Karte fragen.“ Benno ging zum Auto. „So, lasst uns die Schlafsäcke und ein paar Klamotten in die Zelte packen. Ich glaube, nachts ist es noch ziemlich frisch.“

Connie fröstelte, trotz der Trainingsjacke. Sie schlüpfte aus ihrem dünnen Kleid und zog eine verwaschene Leinenhose an, deren Gummizug zum Glück nicht völlig ausgeleiert war. Sie war mager geworden.

Die Schlafplätze im großen Zelt waren schnell hergerichtet. Sie packten nur das Nötigste aus dem Renault. Eine Viertelstunde später waren die letzten Utensilien verstaut.

„Und jetzt? Ich habe Hunger. Holen wir uns ein Baguette und etwas Käse oder Wurst? Oder wir gehen in die Crêperie, ist ja schließlich unser erster Abend in der Bretagne.“

Connie erwartete keine Antwort. Sie fuhr sich mit einer Bürste durch das lange wiederborstige Haar. Der Kampf mit den Locken dauerte bereits ihr Leben lang. Sie räumte die Bürste weg. Dann drehte sie sich um und machte ein paar Schritte Richtung Ausgang.

„Wollen wir nicht am Strand entlang gehen?“, fragte Andreas. Ein heimliches Versöhnungsangebot an Connie, die Meer und Strand mehr liebte als die beiden Freunde zusammen.

„Nö, das hatte ich heute schon. Morgen wieder.“

Benno schloss den R4 ab, griff nach seinem an einem Aststumpf hängenden Hemd, zog seine Sandalen an, setzte seine Baskenmütze auf und folgte Connie.

Andreas war einen Moment unschlüssig. Er schlüpfte in seine Mokassins, nahm noch einen Schluck aus der Wasserflasche und schlich hinterher.

Er erinnerte sich an einen kleinen Streit mit Dora. Und er dachte plötzlich an die Stupa-Wahl im Mai. So beschissen hatte er sich seit langer Zeit nicht mehr gefühlt. Die Mehrheit war futsch. Die Spontis hatten erheblich zugelegt, die Maoisten nutzten das aus, die erst vor einem Jahr aus anderen Unis importierten Jusos rissen plötzlich die Klappe auf, die Rechten faselten schon vom Ende der roten Hochburg. Die RAF-Aktionen trugen das Ihre zum allgemeinen Druck und zur Verunsicherung in den eigenen Reihen bei. Klammheimliche Freude ja, aber bei näherem Hinschauen zeigte sich, wie sinnlos und schädlich die Aktionen waren. Wer nicht aufpasste, geriet schnell zwischen die Linien. Trotzdem. Die einen rissen das Maul auf und kuschten. Andreas und Seinesgleichen taten so, als sei nichts geschehen. Aber sie taten etwas. Aber er wusste, dass die Vorbereitung der für den Herbststreik geplanten Demokratischen Gegenhochschule mehr nach Routine aussah als nach Aktion. Irgendetwas war schiefgelaufen. Es kam einfach zu viel zusammen. Sie hatten Vieles nicht mehr im Griff. Und nun noch der Ärger mit Connie. Andreas holte die beiden bald wieder ein. Connie und Benno wären auch ein schönes Paar. Andreas verbot sich sofort diesen Gedanken. Wie er sich nicht schlüssig war, ob er seinerseits bei Dora hätte landen können.

Vor einigen Zelten brannten bereits kleine Gasleuchten. Irgendwo zupfte jemand an seiner Gitarre. Der Campingplatz war groß. Sie benötigten gut zehn Minuten, bis sie das Tor erreicht hatten. Sie bogen nach rechts ab und folgten für ein paar hundert Meter der leicht ansteigenden Küstenstraße. Es herrschte kaum Autoverkehr. Sie passierten drei oder vier kleine, einfache Häuser, die, oberhalb des Strandes gelegen, eine herrliche Aussicht auf die weite Bucht bieten mussten. An der Ruine einer kleinen Kapelle, die von einer niedrigen, weitgehend verfallenen Mauer umgeben war, bogen sie nach links in die Dorfstraße ein. Immer noch ging es leicht bergauf.

An einem Kiosk, der eher einem aufgemotzten Schuppen ähnelte und wohl zum Saisonbeginn frisch gestrichen worden war, machten sie kurz halt. Eine kleingewachsene Frau, die fünfzig Jahre auf dem Buckel und auf jeden Fall achtzig Kilogramm auf den Rippen haben musste, trat aus der niedrigen Tür und wollte gerade die große Ladenklappe schließen. Sie lud die drei jungen Deutschen aber mit einem Lächeln und kaum verständlichen Worten ein, sich die Auslagen in Ruhe anzusehen. Andreas kaufte eine L’Humanité, Benno besorgte sich Gauloises, Connie schaute sich Ansichtskarten an.

In den Wochen vor ihrer Abfahrt hatte Andreas Dora mehrmals angesprochen. „Ich glaube, es wäre ganz schön, wenn du mitfahren würdest.“ So lautete sein flehentlicher Standardsatz, geäußert an der Theke im Binding-Eck, zweimal per Telefon und dann nochmals am Montag, einen Tag nachdem Connie, er und Benno sich endgültig entschieden hatten, zusammen in die Bretagne zu fahren.

Wahrscheinlich hätten sie umdisponieren müssen, das wusste Andreas. Ein größeres zweites Zelt, ein zweites Auto. Wenn vier aufeinander angewiesen waren, konnte es schon kritisch werden. Vor allem, wenn Dora und Benno zusammen dabei waren. Schließlich hatten sich die beiden ja gerade erst getrennt, wenn auch nicht ganz oder endgültig. Ein Fluchtauto, egal für wen, war dann sinnvoll. Das hatte Andreas schon einkalkuliert.

Dora war jemand, mit dem Andreas sehr gut auskam. Sie hatte etwas Bodenständiges, war umgänglich, handfest. So lautete sein knappes Urteil. Connie hatte ihn ungläubig angeschaut, als er Bennos damals neue Freundin beiläufig so charakterisierte. Er versuchte eine Erklärung, sie gelang ihm aber nicht. Seine Liebste fand die Begriffe altbacken und die Charakterisierung nicht ganz zutreffend. „Um ehrlich zu sein, sogar ziemlich daneben.“

Andreas hätte auch sagen können, Dora sei unkompliziert und auf eine einfache Art schön. Diese Meinung hätte Connie vielleicht geteilt, aber sicher als verhohlene Kritik an ihr selbst verstanden. Auch hier wäre Andreas in Erklärungsnot geraten. Natürlich, schön war Connie auch. Sogar schöner als Dora, aber das war Geschmacksache. Aber Connie war eben auch kompliziert, auf keinen Fall unkompliziert. Wie sollte er ihr das verständlich machen?

Dora gefiel Andreas. Mit ihren rosigen Backen, der eher stämmigen als schlanken Figur, dem etwas groben Körperbau und ihrer Art sich zu bewegen. Ihr Gesicht war die pure Neugier und Lebensfreude, der Mund leider für seinen Geschmack etwas zu klein. Das rote Haar, ungewöhnlich kurz geschnitten, und die Sommersprossen waren in Andreas Augen ihre Trümpfe. Die Dreiundzwanzigjährige war gar keine Studentin gewesen, damals, als sie sich kennenlernten. Sie studierte erst seit kurzem.

Dora hatte eine Ausbildung absolviert. Sie war Krankengymnastin in einer stadtbekannten Orthopädiepraxis gewesen. Dort hatte Benno sie vor anderthalb Jahren kennengelernt. Er hatte Andreas noch am gleichen Abend erzählt, dass seine Krankengymnastin sich erstens ernsthaft für Fußball interessiert und zweitens einen prächtigen Hintern durch die Gegend trägt.

Dora war nicht nur von der Statur her das gerade Gegenteil zu Connie. Connie konnte mit Sport nichts anfangen. Kaum etwas lag ihr ferner – sah man von der Raumfahrt und blöden Männerwitzen ab. Sie stand einfach auf und ging aus dem Raum, sobald Andreas sich mit Benno oder anderen Jungs über Fußball unterhielt. Die WM 1974, die Europameisterschaft in Jugoslawien, auch die Olympischen Winter- und die Sommerspiele im vergangenen Jahr interessierten sie nicht.

Das waren Wochen, in denen Andreas und Connie kaum ein Wort miteinander redeten. So hatte Andreas die Entscheidungen in Tokio und Innsbruck meistens vor dem Fernseher in Bennos WG, im Binding-Eck oder im Vereinsheim verfolgt. Das merkte er auch im Portemonnaie. Mehr Bier als sonst, ab und zu eine Runde Kümmerling oder Jägermeister, nach dem Training eine Gulaschsuppe oder den legendären Hawaii-Toast von Gretel im Binding-Eck.

Er hatte sich nicht völlig gehen lassen. Aber an seine Diplomarbeit hatte er sich, obwohl er das fest vorgehabt hatte, nicht gesetzt. Immer noch war keine einzige Seite geschrieben. Benno hatte später mit dem Studium angefangen, war aber weiter. Dessen Examensarbeit lag im Grunde genommen fix und fertig in einer Schreibtischschublade. Nur noch Feinarbeiten seien nötig, meinte Benno. Ein Vergleich des italienischen Neo-Realismus mit dem proletarischen Filmschaffen der zwanziger Jahre. Er beneidete Benno um jede Seite, die dieser seit vergangenem Sommer geschrieben hatte. Und er beneidete ihn immer öfter um Dora.

„Ich fände es schön, wenn du mitfahren würdest. Es wäre sogar sehr, sehr schön.“

„Benno hat mir heute Nachmittag schon erzählt, dass ihr Drei nun endgültig beschlossen habt, in die Bretagne zu fahren.“

Sie standen an der Bushaltestelle vor dem Stadtbad, das Dora fast ausnahmslos jeden Montag besuchte, um ihre 20 oder 30 Bahnen zu schwimmen.

„Und du, hast du keine Lust?“

„Was heißt Lust? Ich will nicht mit Benno Urlaub machen, und ich will jetzt auch nicht mit euch Dreien Urlaub machen.“

Andreas wusste nicht, wohin mit sich. Dora war ungewohnt schroff. Sie wirkte etwas angestrengt. Er winkte einem Paar auf der anderen Straßenseite zu, kramte in seinen Hosentaschen und zog seine Uhr heraus. Ablenkungsmanöver, weil er der deutlichen Ablehnung nicht standhalten konnte. Und das Nein nicht akzeptieren wollte.

„Mein Armband ist kaputt, ich muss mir ein neues besorgen.“ Die Uhr verschwand in der anderen Hosentasche. „Ich bin gespannt auf die Bretagne. Wir waren ja alle drei noch nicht da. Ich glaube wir haben Glück, mit dem Wetter und so.“

„Toi, toi, toi.“

„Was machst du stattdessen?“

Andreas nestelte wieder in seiner Hosentasche herum. Er hätte Dora gern die noch feuchten Haare aus der Stirn gestrichen. Sie setzten sich auf die Stufen des mächtigen Eingangsportals des Hallenbades.

„Ich fahre an die Ardeche, dort war ich noch nie, oder ganz runter in die Provence“, antwortete Dora versöhnlich.

„Oh, dort unten waren Benno und ich schon vor bald zehn Jahren unterwegs. Wir hatten einmal in Nimes, direkt an der Stierkampfarena .... “

Dora schnitt ihm das Wort ab. „Ich weiß.“

Andreas fasste sich schnell. Zumindest schien Dora es nicht eilig zu haben. Sie hatte schon zwei Busse der H-Linie passieren lassen. Er griff nach dem kleinen Zipfel Hoffnung. Musste er nur lange genug mit ihr reden?

„Fährst du alleine?“

„Fifty-Fifty. Vielleicht fährt ein Kommilitone mit.“

„Ein Kommilitone?“

„Ein Zweitsemester, kennst du wahrscheinlich nicht, einer von den Spontis bei uns am Fachbereich.“

„Ein Sponti?“

Was war hier los? Andreas Stimme wurde schärfer. Das war ja noch absurder als ihre so entschlossen wirkende Weigerung, mit ihnen, ihren Nächsten, Urlaub zu machen. Ihm fiel erst jetzt auf, dass Dora dafür gar keine Gründe angeführt hatte.

„Was willst du denn mit dem?“

„Was soll das denn heißen? Wir fahren – vielleicht! – in einem Auto gemeinsam nach Südfrankreich. Basta.“

„Ist ja schon okay. Es wundert mich nur, dass du nicht mit deinen besten Freunden, warum eigentlich nicht, aber mit einem x-beliebigen Typ Urlaub machen willst.“ „Andreas, du spinnst. Ich mache nicht mit einem x-beliebigen Typ Urlaub, und wenn, was wäre dann? Ich fahre eventuell mit einem ganz netten Kommilitonen Richtung Südfrankreich.“

Dora schaute einem herankommenden Bus entgegen.

„So, noch eine Frage? Ich muss jetzt los. Mir ist auch ein wenig kalt.“

Die schnell nachlassende Nachmittagssonne war jetzt hinter dunklen Wolken verschwunden. Andreas zog seine Windjacke aus und reichte sie seinem Gegenüber. Doch Dora schüttelte stumm den Kopf.

„Ich fände es schön, sorry, ich hätte es sehr schön gefunden, wenn du .... Na ja. Weiß Benno von deinen Plänen?“

„Andreas, lass das jetzt. Connie hat Recht. Was ist nur los mit dir?“

Bevor Andreas antworten beziehungsweise nachfragen konnte, war Dora aufgesprungen, hatte sich ihre Adidas-Tasche geschnappt und war mit schnellen Schritten zum Bus gegangen. Sie hatte sich noch nicht einmal mehr umgedreht. Es begann zu nieseln. Andreas machte sich auf den Heimweg.

Telefonisch hatte er Dora danach nicht mehr erreicht, und Benno hatte auch nicht mehr von seiner Ex gesprochen. Andreas kaufte sich am Dienstag noch eine Badehose und zwei Krimis von Ross MacDonald. Am Abend verdrückte er sich vorzeitig von einer Sitzung seines Fachschaftszirkels, einen wichtigeren Termin vortäuschend. Seine Klamotten für den Urlaub hatte er dann schnell gepackt. In der Nacht vor der Abfahrt nach Frankreich lag er wach und grübelte. Schließlich, kurz bevor er nochmals für zwei Stunden einschlafen konnte, war Doras Bemerkung wieder da und nagte an ihm. Mit was und warum hatte Connie Recht? Was sollte denn mit ihm los sein, ausgerechnet mit ihm, der sich um alles kümmerte und um einen schönen Urlaub zu viert bemühte? Und wer war der Sponti aus dem zweiten Medizin-Semester? Dora konnte ihm doch nicht weismachen, dass während der Fahrt in den Süden nur die Spritkosten geteilt würden. Verdammt nochmal, jeder außer ihm ritt sein Steckenpferd.

Mittlerweile war es nicht mehr nur frisch, sondern empfindlich kühl. Und es dämmerte. Das fahle gelbliche Licht der Straßenbeleuchtung war bereits eingeschaltet worden. Die Crêperie hatten sie schnell erreicht. Ein langgezogenes Steinhaus, nur durch einen schmalen vergammelten Rasenstreifen von der Dorfstraße getrennt. Blaue Fensterläden, ebenfalls erst vor kurzem frisch gestrichen, eine alte Tür, die dagegen in diesem Sommer noch keine frische Farbe gesehen hatte, und drei kleine Fenster. Das war die Vorderfront des einstöckigen Hauses, dessen Dach neue Schieferziegel vertragen könnte.