Blindes Vertrauen - Margot Berger - E-Book

Blindes Vertrauen E-Book

Margot Berger

4,8
4,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Tastend betritt Mona den Reitstall. Da ein Wiehern! Mit klopfendem Herzen nähert sie sich der Box. Ob sie je wieder reiten können wird, jetzt, wo sie blind ist? Wahre Geschichten über die tiefe Beziehung zwischen Pferd und Mensch - das ist der Stoff, dem Margot Berger in ihren neuen Romanen nachspürt. Ob Mona, die bei einem Reitunfall ihr Augenlicht verliert oder Amelie, deren Pferd Calido eines Tages plötzlich spurlos aus dem Stall verschwindet - Margot Berger hat  Hintergründe recherchiert und ist in vielen Gesprächen dem Schicksal, aber auch der Tapferkeit und der Lebensfreude der Reiter und ihrer Pferde nachgegangen. So sind ergreifende Geschichten entstanden: Authentisch, fesselnd, voller Hoffnung!

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 199

Bewertungen
4,8 (34 Bewertungen)
26
8
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Margot Berger

Blindes Vertrauen

Eine wahre Pferdegeschichte

Weitere Titel von Margot Berger bei Arena (Auswahl) In der Reihe „Eine wahre Pferdegeschichte“: Freundschaftsprobe Verhängnisvoller Verdacht Letzte Chance für Jana Auf der Suche nach Calido Entscheidung fürs Leben Schwere Zeiten für Julia Kein Abschied für immer Freunde, Tag für Tag (Sammelband)

In der Reihe „Pepper und Flo“: Ein Wunschpferd kommt selten allein Ferien auf der Sommerweide Ritt ins Abenteuer Pepper in Gefahr

 

 

 

 

 

Margot Berger begann ihre Journalistenlaufbahn als Redakteurin bei großen Tageszeitungen und Frauenzeitschriften. Die begeisterte Reiterin und Pferdeexpertin lebte und arbeitete als selbstständige Journalistin und Buchautorin in Hamburg.

 

Erzählt nach einer wahren Geschichte. Die Namen von Personen und Orten wurden geändert.

 

 

1. Auflage als Arena-Taschenbuch 2013 © 2010 Arena Verlag GmbH, Würzburg Alle Rechte vorbehalten Umschlaggestaltung: Frauke Schneider unter Verwendung eines Fotos von Tim Flach © gettyimages Umschlagtypografie: knaus. büro für konzeptionelle und visuelle identitäten, Würzburg ISSN 0518-4002 ISBN 978-3-401-80383-8

www.arena-verlag.dewww.wahre-pferdegeschichten.deBesuch das Forum „Wahre Pferdegeschichten von Margot Berger“ unter: forum.arena-verlag.de

Inhaltsverzeichnis

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

14

15

1

Stocksteif saß Mona auf der Kante ihres Krankenhausbettes, die gepackte Reisetasche vor den Füßen, und starrte durch die dunkle Leere auf die Zimmertür. Dort, wo sie die Tür vermutete.

Ebenso gut könnte ich in jede andere Richtung schauen, dachte Mona bitter.

Für sie sah ohnehin alles gleich aus. Ringsherum düstere Nacht, obwohl es heller Vormittag war. Auf dem Flur klirrte Geschirr. Messer, Gabeln und Schüsseln klapperten auf stählernen Essenswagen.

Gleich würde ihre Mutter sie aus der Unfallklinik abholen.

Warum wurde sie ausgerechnet heute entlassen?Am 18. Februar?

Als der Stationsarzt Mona vorgestern den Termin genannt hatte, war es, als rammte er ihr seine Faust in den Magen. Heute war der Tag des großen Reitturniers in Essen. Das Datum hatte sie sich eingeprägt. An den geplanten Wettkampf entsann sie sich genau, obwohl Mona sich nach dem Sturz von Vitus längst nicht mehr an alles erinnerte. Nicht einmal an den Unfall selber.

»Eine Silvesterrakete. Vitus hat gescheut, ist in Panik losgestürmt und du bist gegen einen Ast geknallt.«

Die karge Auskunft stammte von Julia. Als es passierte, waren sie gemeinsam im Gelände gewesen. Julia mit den braunen Struwwelpeter-Haaren, ihre beste Freundin, so alt wie sie. Die Einzige, die sie am Krankenbett ertrug. Sicher war Julia heute in Essen und sah sich die Junioren-Meisterschaften an.

Monatelang hatte Mona für diesen Wettkampf trainiert, härter als alle anderen auf dem Reiterhof. Schon morgens vor der Schule hatte sie auf Vitus gesessen, ihrem braunen Hannoveraner. Hatte die anspruchsvollen Lektionen der Klasse M geübt: versammelten Trab, fliegende Galoppwechsel, Seitengänge.

Heftige Gefühle übermannten Mona. Ihr Herz drehte sich um, wenn sie an Vitus dachte. An Vitus, den sie nie mehr sehen würde. Als Monas Vater vor zwei Jahren zu Hause ausgezogen war, hatte er ihr Vitus geschenkt. Immer wieder kreisten ihre Gedanken um die erste Begegnung mit Vitus. Liebe auf den ersten Blick war es gewesen. Seine Augen hatten es ihr angetan, diese klugen dunklen Augen, die Mona aufmerksam abschätzten und fragten: Hast du Geduld mit mir?

»Der Vitus kann ein ganz Großer werden«, hatte Monas Reitlehrer damals zu ihr gesagt. »Was er braucht, ist neues Zutrauen zum Reiter. Wenn es zwischen euch funkt, kannst du alles mit ihm erreichen.« Vitus war ein Pferd mit gewaltigen Anlagen, aber sein erster Besitzer hatte ihn viel zu früh gefordert. Ja, Mona hatte unendlich viel Geduld gebraucht, bis Vitus ihr vertraute, bis er es wagte, entspannt auszuschreiten, ohne den Kopf hochzureißen. Auf wunderbare Weise waren sie zusammengewachsen, Vitus und Mona, und es war undenkbar, dass sie sich je wieder trennen würden.

Undenkbar? Das war vor dem Unfall gewesen.

Mona presste die Lippen zusammen. Auf Vitus hätte sie es geschafft, ganz nach vorn zu kommen. Sie, Mona Borchert, seit wenigen Tagen fünfzehn Jahre alt, galt als hoffnungsvolles Nachwuchstalent.

Höhnisch lachte Mona auf. Die Dressurreiterin Mona Borchert gab es nicht mehr. Sie war ausgelöscht. Tot. So gut wie tot. Ein Nichts. Gefangen in ewiger Dunkelheit.

Mit einem verzweifelten Aufstöhnen schlug Mona auf die Matratze. Einmal mit dem Kopf gegen einen Ast geprallt – und das war es. Sehnerven zerstört. Nie wieder sehen.

Vollblind.

Als Mona begriffen hatte, was das Wort und dessen furchtbare Folgen bedeuteten, ziemlich schnell, nachdem sie aus dem mehrtägigen Koma aufgewacht war, war sie fast durchgedreht vor Entsetzen. Hatte sich geweigert zu glauben, was die Ärzte sagten. Was ihre Eltern sagten. Was Julia sagte.

Blind.

»Das kann nicht sein! Ich doch nicht!« Immer wieder hämmerten diese Sätze in ihrem Gehirn. »Ein schrecklicher Irrtum. Vertauschte Ergebnisse.«

Wie betäubt verkroch Mona sich in ihrem Krankenbett.

Ab und zu hoben Pfleger sie aus dem Bett und ließen sie, eingezwängt zwischen ihren zupackenden Armen, über den schwarzen Flur stolpern.

»Wegen des Kreislaufs«, sagten sie.

Regelmäßig kippten sie ihr kalten Franzbranntwein über den Rücken.

»Wegen der Lunge.«

Wenn Mona nach Luft schnappte, war es der würzige Duft, der die Vergangenheit lebendig machte. Der Kieferngeruch erinnerte sie an Vitus. Nach jedem Training hatte sie seine Beine mit Franzbranntwein abgerieben. Wie sehr hatten sie beide diese vertrauten Minuten genossen. Beinahe eine feierliche Zeremonie war das jedes Mal gewesen. Wenn Mona nach vorn gebeugt neben ihm stand, drehte Vitus sich zu ihr um, senkte den Kopf und legte ihr seine Nase auf den Rücken. Mitunter stupste er Mona sogar im Rhythmus ihrer Bewegungen an.

Wie in Trance ließ Mona alle Behandlungen in der Klinik über sich ergehen. Irgendwann verschwand der Kopfverband, dann nahmen sie ihr die steife Halskrause ab. Mona bekam Massagen, Krankengymnastik, Bewegungstraining, musste im Therapiebecken schwimmen.

»Damit deine Beinmuskeln nicht abbauen.«

Beine? Hatte sie Beine? Arme? Mona besaß kein Gefühl mehr für ihren Körper. Wo fingen ihre Arme an, wo hörten die Beine auf?

Wochenlang stand Mona unter Schock. Nur im Bett war das Leben zu ertragen. Wie ein verwundetes Tier duckte sie sich in ihre Höhle. Nein, keinen Besuch. Bloß nicht. Keine Eltern, keine Schulkameraden, keine Reiterfreunde, nicht einmal Vera und Tessy, mit denen sie manches Turnier besucht hatte. Nur Julia ertrug sie. Aber auch nicht jeden Tag. Julia Jung, ihre älteste Reiterfreundin, immer vorneweg mit ihren losen Sprüchen.

Die Welt der Lebenden. Sie gehörte nicht mehr dazu, zu den Normalen, zu den Sehenden. Mona fühlte sich grenzenlos allein. Wertlos. Angst umklammerte sie wie ein Schraubstock.

Blind.

Diese Hoffnungslosigkeit.

Ewig schwarze, hoffnungslose Dunkelheit. Es gab keinen Tag und keine Nacht mehr, nur Finsternis, bedrohliche Finsternis.

Irgendwann wich Monas dumpfe Erstarrung dem Gefühl von Zorn und Feindseligkeit.

Als Mona jetzt an das Turnier dachte, an ihr Turnier, stieg ohnmächtige Wut in ihr hoch. Mit dem Fuß tastete sie nach der Reisetasche und versetzte ihr einen heftigen Tritt.

»Ich habe dir alles schön für zu Hause eingepackt«, hatte Schwester Sabine gesagt. »Da fehlt nichts.«

Und wennschon. Wen interessierte es noch, welche Anziehsachen sie trug?

Auf dem Gang näherten sich Schritte, eilige, zögernde und feste. Schließlich die trippelnden ihrer Mutter. Immer trug sie hohe Absätze und Kostüme. »Die ausländischen Kunden erwarten das«, sagte sie. Monas Mutter arbeitete halbtags als Übersetzerin. Ein Sprachentalent. Englisch, Spanisch, Französisch. Sie übertrug Geschäftsbriefe ins Deutsche. Wie stolz war sie auf ihre attraktive Tochter gewesen, ihr einziges Kind. Auf Monas Turniererfolge. Auf die Siegerfotos in Pferdemagazinen.

Verkrampft biss Mona sich auf die Lippen. Eine blinde Tochter gab nicht mehr viel her. Der Schatz war über Nacht wertlos geworden.

Mona hörte, wie die Klinke metallisch klickte, gleich darauf, wie ihre Mutter tief einatmete. Klar, sie wollte wieder die gut Gelaunte spielen. Das konnte sie sich sparen.

»Sieh doch, Mona. Julia ist zum Abholen mitgekommen und …«

Der Satz brach ab. Mona fühlte regelrecht, wie ihre Mutter rasche Blicke mit Julia wechselte.

Sieh doch, hatte sie gesagt! Wie passend für eine Blinde.

»Hallo, Alte«, sagte Julia und tippte ihr auf die Schulter. »Vitus wartet.«

Mona zuckte zusammen, sofort zog sie den Arm zurück, sie wollte nicht antworten. Vitus wartet! Das war doch wohl ein Witz. Was sollte ein ausgebildetes Dressurpferd mit einer verängstigten, herumtastenden Blinden anfangen?

Einen Moment herrschte Stille. Keine wohltuende Ruhe, sondern bedrücktes Schweigen.

Mona senkte den Kopf.

»Jetzt fahren wir erst einmal nach Hause.« Sie hörte die Unsicherheit ihrer Mutter heraus. Wie mit der Pinzette fasste sie jedes Wort an. Behutsam griff sie nach Monas Hand. »Dann machen wir es uns nett, so wie früher.«

»Wie früher! Nichts ist wie früher!«, stieß Mona hervor und wandte sich brüsk zur Wand. Dahin, wo sie die Wand vermutete.

Obwohl niemand mehr etwas sagte, war die Stimmung gespannt.

In diese gereizte Atmosphäre platzte der Stationsarzt herein. Er grüßte in die Runde, verabschiedete sich von Mona und legte ihr die Hand auf die Schulter, die sie sofort wegzog.

»Du wirst merken, Mona«, hörte sie den Arzt sagen, »vieles kannst du durch Hören und Tasten ausgleichen. Die Arbeit der Augen übernehmen bald deine anderen Sinne.«

»Was wissen Sie denn über meine Sinne«, fauchte Mona den Arzt an. Am liebsten hätte sie ihm gegen das Schienbein getreten. Redete salbungsvoll von ihren Sinnen. Der war ja nicht blind. Auf den wartete kein Leben in furchtbarer, feindseliger Dunkelheit. Ein Leben ohne ihren geliebten Vitus.

»Du bist sehr aufgebracht«, sagte ihre Mutter beschwichtigend, als der Arzt das Zimmer verlassen hatte. Julia griff nach der Reisetasche und drängte zum Aufbruch.

Eine schmale Hand schob sich unter Monas Ellenbogen, es war ihre Mutter, die sie behutsam durch die Dunkelheit auf den Stationsflur führte. Führte? Abführte passte eher. Wie eine Strafgefangene auf dem Weg in die Zelle, dachte Mona voller Bitterkeit. Lebenslänglich.

Sie ging vorbei an scheppernden Essenswagen, den üblichen Mittagsgerüchen, durch eine heftig aufschwingende Tür.

Instinktiv streckte Mona den freien Arm aus, um nirgends anzustoßen. Sie ging mit winzigen Schritten, fühlte sich lächerlich. Gaffenden Blicken preisgegeben. Bisher war das lange blonde Haar Monas ganzer Stolz gewesen, jetzt verfluchte sie die auffallende Mähne. Wie eine Laterne leuchtete sie über den Flur. Schaut her, hier tapst eine Blinde umher! Garantiert starrten ihr alle nach.

Ihre Mutter blieb stehen. Übertriebener Druck auf Monas Arm. Ein Lift rauschte heran, stoppte mit einem Seufzer. Ein feines Flink, und leise surrte die Stahltür beiseite.

»Wir steigen jetzt in den Aufzug«, sagte Monas Mutter.

»Danke für den scharfsinnigen Hinweis.« Mona biss um sich.

»Darauf wäre ich selber nicht gekommen.«

Sie fühlte sich in den Innenraum geschoben, eine enge Kabine, wenig Luft. Zum Glück endete die Fahrt rasch. Wieder hinaus. Ein langer Fliesengang. Die Eingangshalle? Getrappel zahlreicher Schuhe, dazwischen hopsende Kinderfüße, gedämpfte Stimmen, raschelndes Zeitungspapier.

Mona machte zwei schnellere Schritte.

»Aua.« Sie zuckte zurück und rieb sich die schmerzende Stirn.

»Was war das?«

»Oh Gott, Kind, die Glastür. Sie öffnet automatisch, aber nur langsam.« Dann der Luftzug der Außentür. Monas Herz schlug rascher.

Jetzt kam es drauf an.

Schweißperlen traten ihr auf die Stirn. Mona verspannte sich noch mehr. Steif stocherten ihre Beine vorwärts.

Seit Mona von der Entlassung wusste, hatte sich eine fixe Idee in ihr festgesetzt. Sobald sie nach draußen trat, hinaus in die Sonne, würde sie schlagartig wieder sehen können. Sekundenheilung. So etwas gab es. Mit allen Fasern klammerte Mona sich an diesen Hoffnungsschimmer.

Aber vor Monas Augen änderte sich nichts, als sie den kühlen Wind im Gesicht spürte. Das finstere Loch blieb. Unerbittlich schwarz. Wie ein Bleigewicht senkte sich die Enttäuschung auf Mona nieder.

»Wir schaffen das schon«, sagte zu allem Überfluss ihre Mutter mit unerträglicher Fröhlichkeit.

Und Julia fügte zuversichtlich hinzu: »Wir alle zusammen.«

»Zusammen? Seid ihr zufällig auch blind?«, schrie Mona. »Ihr habt doch keine Ahnung.«

Schluchzend stieß sie ihre Mutter weg, taumelte ein paar Schritte nach vorn, stolperte gegen einen Kübel und verlor das Gleichgewicht, bevor sie lang in das Beet neben dem Eingang schlug.

Entsetzt schrie ihre Mutter auf und beugte sich über ihre Tochter. »Mona! Ist dir etwas passiert?«

Tränen liefen Mona übers Gesicht. Wütend riss sie rechts und links Blätter vom Rhododendron ab und warf sie hinter sich. Am liebsten wäre sie hier liegen geblieben und zwischen den Pflanzen vermodert. In regennasser Erde vor der widerlichen Klinik, wo sie ihr Augenlicht nicht gerettet hatten.

Nie mehr aufstehen, nie mehr.

»Sei nicht blöd«, hörte Mona Julias Stimme, bevor ihre Freundin sie zurück auf die Füße zerrte. »Glaub bloß nicht, dass du wegtauchen kannst, Alte. Ich verfolge dich, bis du wieder ganz dabei bist.«

2

Die Autofahrt nach Hause dauerte ewig.

Mona ertrug den Lärm fast nicht, ein ständiges Dröhnen rechts und links, bedrohlich nahe, als führe sie durch einen Hohlweg aus Krach. Autos zischten vorbei. Bei jedem Bremsmanöver zuckte Mona zusammen, ihr Herz begann zu rasen. Mit verkrampften Händen hielt sie sich im Gurt fest. Unter ihr surrte der Asphalt, klopften Querrinnen. Die Fahrt von der Klinik führte an ehemaligen Zechen vorüber und vorbei an alten Bergmannssiedlungen, bevor es durch ein gemischtes Gebiet von Kleingärten, Äckern und Wiesen ging, wo nur noch wenige umgebaute Bergmannskotten standen, eingerahmt von einzelnen Höfen aus hellem Bruchstein.

Mona machte sich ganz klein in ihrem Sicherheitsgurt, sie musste alle Kraft zusammennehmen, um nicht zu schreien.

Endlich verlangsamte sich das Tempo, und der Wagen hielt. Neben Mona klappten Autotüren. Fröhliche Zurufe flogen hin und her.

»Überraschung«, sagte ihre Mutter mit gespielter Heiterkeit und ließ den Gurtverschluss aufschnappen. »Wir machen Station am Reitstall. Damit du Vitus begrüßen kannst.«

»Was?« Mona schoss in ihrem Sitz hoch. »Nein, nein, nein. Bitte Mama, fahr weiter, bitte. Bevor mich jemand sieht.«

Mona schlug die Hände vors Gesicht.

Was für eine quälende Vorstellung, Vitus so nah zu sein und doch so weit entfernt. Nie wieder würde sie ihn sehen, nie wieder. Der Schmerz drohte Mona schier zu zerreißen. Sie zitterte am ganzen Körper. Würde Vitus sie überhaupt erkennen? Nein, sie konnte jetzt nicht blind vor seine Box stolpern, angestarrt vom halben Stall.

Trotz der leeren Dunkelheit um sie herum spürte sie, wie ihre Mutter sie ansah, ungläubig, bestürzt. »Aber Mona! Du reitest seit dem achten Geburtstag in Reuters Reitstall. Jeder kennt dich. Alle haben mit dir gelitten. Alle.«

»Fahr weg, Mama.«

Julia schwieg auf der hinteren Bank, als Frau Borchert den Rückwärtsgang einlegte.

Ohne ein weiteres Wort fuhren sie durch den ländlichen Dortmunder Stadtteil zur Heidebachstraße. Eine Handvoll schlichter Einzelhäuser, umgeben von kleinen, sorgfältig gepflegten Gärten, säumte hier die wenig befahrene Straße. Am Ende standen einige mehrstöckige Bauten, Mietshäuser, in denen überwiegend Studenten der nahen Uni lebten.

»Wir sind zu Hause«, sagte Frau Borchert nach der bedrückenden Fahrt und stellte den Wagen vor ihrem schmalen roten Backsteinhaus ab. Seit der Scheidung der Eltern wohnte Mona hier allein mit ihrer Mutter.

Mona senkte den Kopf.

Nach Hause, was hieß das schon? Genauso gut könnte sie in einer Hundehütte leben. Sie sah es ja ohnehin nicht mehr.

Von Julia und ihrer Mutter ließ sie sich durch den Vorgarten führen, über den Plattenweg aus Bruchsteinen. Vor der Haustür stieß Mona gegen die unterste Stufe, weil niemand sie warnte. Beschämt biss sie sich auf die Lippe. Dann fand sie sich im Flur wieder. Fliesen. Mona vernahm ihre eigenen Tritte auf der glatten Glasur. Das erste vertraute Geräusch, seit sie die Klinik verlassen hatte.

»Wollen wir uns ins Wohnzimmer setzen?«, fragte Monas Mutter.

Dann Julias temperamentvolle Stimme: »Ich kann dir heiße Sachen von Vitus erzählen. Der vermisst dich wahnsinnig.«

Mona spürte, dass sich ihr Herz sofort verschloss, als der Name ihres Pferdes fiel. Vitus. Das war in einer anderen Welt gewesen. Eine Welt, zu der sie keine Verbindung mehr hatte.

Sie hob den Kopf und blickte dahin, wo sie die weiß gestrichene Holztreppe vermutete. »Nach oben!«

»Was willst du um diese Zeit in deinem Zimmer, Kind? Es ist helllichter Tag.«

Mona ballte ihre Hände zu Fäusten. Wieder kostete es sie alle Kraft, nicht loszuschreien. »Für mich nicht, Mama. Ich bin müde.« Tatsächlich fühlte sie sich ausgelaugt und hinfällig und unendlich alt.

Im ersten Stock stieß Frau Borchert Monas Zimmertür auf. Der Duft von Rosen wehte ihnen entgegen, ein Strauß, der vermutlich mitten auf dem Tisch stand.

»Herzlich willkommen zu Hause«, sagte Frau Borchert.

Mona antwortete nicht und tastete sich in ihr Zimmer vor. Nach drei unsicheren Schritten stockte sie.

»Was ist mit dem Laminat?«, fragte sie aufgeregt und rieb mit den Schuhsohlen über den Untergrund, der früher glatt war.

»Da liegt jetzt überall Teppichboden, hellgrau. Ich habe alles auslegen lassen, falls du . . . na ja, falls du mal stürzt.«

Mona holte tief Luft. Unsicher verharrte sie auf der Stelle und fuhr mit der Hand über die Wand neben der Tür. »Meine Turnierschleifen! Wo sind die Schleifen?« Hastig tastete sie weiter, griff ins Leere. »Mein Bett, das muss doch hier stehen.«

Tränen stiegen Mona in die Augen. Brachte sie alles durcheinander? Diese Dunkelheit machte sie noch verrückt. Diese ständige, qualvolle Finsternis, die sie umgab. Wenn doch nur diese furchtbare Dunkelheit aufhören würde.

»Das war früher, Schatz. Ich habe alles umgeräumt«, sagte ihre Mutter sanft. »Ach, und die Turnierschleifen … die liegen im Keller. Ich wollte dir die bittere Erinnerung ersparen, jetzt, wo es mit dem Reiten vorbei ist.« Beschwörend legte sie ihre Hand auf Monas Arm. »Nach einem Schock muss man neu anfangen. Ein anderes Leben beginnen.«

»War wohl keine gute Idee«, sagte Julia, die gefolgt war.

Heftig zog Mona den Arm weg und schlug in einem hilflosen Anfall von Jähzorn gegen die Wand. Nun hatten sie ihr auch noch die letzte Zuflucht genommen, ihr vertrautes kleines Zimmer.

»Ich will alles zurückhaben«, schrie sie in die dunkle Leere.

»Stell es wieder so hin, wie es war.«

Unglücklich rang ihre Mutter die Hände. »Natürlich, Kind. Aber das schaffe ich nicht allein. Bald kommt Papa aus Frankfurt. Wenn du willst, richten wir natürlich alles wieder so ein wie vorher.«

»Ja, das will ich. Stell dir vor. Und jetzt lasst mich in Ruhe. Alle!«

Mona schlug die Hände vors Gesicht und schluchzte. Niemanden wollte sie jetzt um sich haben. Nicht einmal Julia, obwohl ihre Freundin sagte: »Mensch, Mona, ich bin doch ab morgen auf Klassenreise.«

Nach einer Weile drückte jemand die Tür ins Schloss und Schritte entfernten sich.

Wie eine Ertrinkende ruderte Mona durch den Raum, fasste nach jedem Griff, nach jedem Gegenstand, den sie in die Finger bekam. Wo war sie? Am Fenster? An der langen Wand? Mona erkannte ihr eigenes Zimmer nicht mehr. Irgendwann stieß sie gegen das Bettgestell und ließ sich weinend auf die Matratze fallen.

Unten hörte sie ihre Mutter erregt mit Julia reden. Es interessierte sie nicht.

Kurze Zeit später fiel Mona in einen unruhigen Schlaf, aus dem sie später ohne Gefühl für die Uhrzeit aufwachte. Ruhelos wälzte sie sich hin und her, bis die Standuhr unten im Flur elf Mal schlug. Zumindest ein Anhaltspunkt für die Zeit.

Mona stützte sich auf die Ellenbogen und starrte mit offenen Augen in die Schwärze. Entgegen jeder Vernunft hoffte sie, dass sich die Konturen der Regale abzeichneten, wenn sie lange genug hinsah. Oder die Umrisse ihres Schreibtisches. Der PC. Die glänzenden Pokale auf dem Schrank, falls die überhaupt noch dort standen. Nicht einmal das wusste sie. Mona starrte und starrte, bis ihre Augen schmerzten. Nicht der winzigste Lichtschein.

Die unheimliche Dunkelheit hielt an, immerzu, unerbittlich.

Stöhnend ließ Mona sich zurück aufs Kopfkissen fallen. Sie trug noch immer dieselben Jeans und dasselbe T-Shirts wie beim Heimkommen. Mona bewegte die Füße. Sogar die Schuhe hatte sie noch an. Immerhin hatte ihre Mutter sich nicht erlaubt, sie wie ein Baby auszukleiden. Mona kroch aus dem Bett, zog sich bis aufs T-Shirt aus und legte ihre Sachen ans Fußende, um sie auch sicher wiederzufinden.

Hilflos irrte sie in ihrem Zimmer umher. Wäre sie bloß in der Klinik geblieben! Zum Schluss hatte sie sich dort einigermaßen zurechtgefunden, sogar zum Bad war sie allein gekommen. Aber hier? Vorsichtig tapste Mona von links nach rechts, im Kreis, von vorne nach hinten.

Diese brutale Dunkelheit.

Ständig stieß Mona irgendwo an. Einmal stolperte sie gegen ihren leichten Sessel aus Drahtgeflecht, und in einer anderen Ecke fand sie die Standleuchte, die sie an dem geschwungenen Metallgestell erkannte. Kurz vor dem Unfall hatte sie die Lampe gekauft, zusammen mit Julia. Wo im Raum stand die Lampe jetzt? Wieso zum Teufel musste ihre Mutter bloß alle Möbel umstellen?

Mit einem Schlag wurde Mona das Ausmaß ihrer Hilflosigkeit bewusst. Ihr ganzes Leben lang würde sie von anderen abhängig sein. Immer und ewig.

Mit fünfzehn Jahren werde ich wieder zum Kleinkind, schoss es ihr durch den Kopf.

Aber war es wirklich sie, die das dachte? Mona kam es vor, als hätte ein fremdes Wesen das Denken für sie übernommen. Eins, mit dem sie nichts zu tun hatte. In ihr war nur schwarze Leere. Nichts passte mehr zusammen.

Mechanisch suchte Mona weiter nach bekannten Gegenständen, schließlich fand sie den kleinen Tisch. Eine Obstschale stand darauf, Mona befühlte jedes Stück und nahm eine Banane herunter. Die konnte sie eindeutig identifizieren. Vitus Lieblingsfrucht, dachte Mona, ohne etwas dabei zu empfinden, und wog die Banane in der Hand. Obwohl sie Hunger hatte, konnte Mona sich nicht überwinden, die Schale abzuziehen.

Verzweifelt tastete sie sich zurück in ihr sicheres Bett, wo sie vor Erschöpfung sofort einschlief und unruhig träumte.

Im Traum stand sie im Reitstall. Ihre Umwelt war nicht schwarz, sondern hell und farbig wie vor dem Unfall. Gelbe Strohballen stapelten sich in einer Nische der Stallgasse, grüne Mistkarren standen im Weg, Halfter in verschiedenen Farben baumelten an den Boxen. Mona ging an den Stäben entlang und begrüßte lauter alte Bekannte, Füchse, Schimmel und Braune.

Am Ende der Stallgasse beknabberten sich Krümel und Pucki in ihrer Box, weiße Shetlandponys, sie gehörten Tim und Tom, den sechsjährigen Zwillingen von Stallbesitzer Theo Reuter. Mona schlenderte weiter, zu den vier Boxen am Anfang, wo Vitus stand, er war noch dabei, seinen Trog leer zu fressen. In der Nachbarbox grummelte Sandläufer, der Schimmel war Julias Pflegepferd. Wie immer steckte sie ihm eine Möhre zu. Auch Tessys Fuchs Rigolo und Veras Rappe Uland in den Boxen gegenüber bekamen ihre Leckerli.

Mona wartete vor Vitus’ Box, bis er mit dem Fressen fertig war, doch als er endlich die Nase aus dem Trog hob und ihr den Kopf zuwandte, schrie sie auf und sprang geschockt zurück – denn ihr Pferd hatte kein Gesicht.

Voller Panik fuhr sie herum. Hilfe, sie brauchte Hilfe! Aber von wem? Dutzende Reiter schwirrten um sie herum, ein Gewimmel von blauen, roten und grünen Reitwesten, alle redeten durcheinander. Grauenvoll – keiner hatte ein Gesicht.

»Mona«, riefen sie aus ihren leeren Köpfen. Und: »Komm her zu mir, Mona.« Und: »Reiten wir ins Gelände, Mona?«

Zwischen all den gesichtslosen Körpern schoss Mona hin und her, versuchte verzweifelt zu ergründen, woher die Stimmen kamen. Dann landete sie im Waschraum und prallte vor ihrem Spiegelbild zurück. Das war nicht die Mona, die sie kannte. Das Mädchen dort im Spiegel sah alt und hässlich aus, das Gesicht zerstört, voller Narben und Verletzungen, die blonden Haare ausgefallen.

Voller Entsetzen floh Mona aus dem Stall, fand sich plötzlich mit Vitus auf einem Turnierplatz wieder. Der Aufruf zum Start kam und sie hörte das Klingelzeichen.

»Einreiten im Arbeitstrab.« Doch in welche Richtung sollte sie reiten? Erneut das Glockenzeichen. Mona erkannte den Richtertisch nicht, sie sah keine Dressurplatz-Begrenzung, keine Buchstabenkegel. Nichts.

Klitschnass wachte Mona auf. Die Standuhr im Flur schlug vier Mal.

Blind. Blind. Blind. Blind.

Schlagartig verschwanden die bunten Traumbilder und die Welt war wieder schwarz.

»Hilfe«, wimmerte Mona. Die plötzliche, unerträgliche Dunkelheit traf sie wie eine Keule. Nichts hatte sich geändert.

Mit zitternden Fingern tastete sie ihre Haut ab. Wangen, Mund, Nase, Kinn, die Stirn. Das Gesicht fühlte sich glatt und gut an. Auch ihre langen blonden Haare waren noch da. Nur am Haaransatz ertastete sie eine feine, dünne Narbe.

Mona richtete sich auf und strich sich über die glühende Stirn.

Sie wusste nicht mehr, wie Vitus aussah! Sein Gesicht, sie hatte sein Gesicht vergessen! »Vitus, wo bist du?«, flüsterte sie. Mona legte den Kopf in den Nacken und starrte durch die Schwärze ihres Zimmers gegen die Decke. Sosehr sie sich verzweifelt abmühte, Vitus’ Kopf im Geiste zu modellieren, sich an Turniere zu erinnern, an Putzstunden auf dem Hof, es war vergebens. Wie ein Blitzlicht durchzuckte sie zwar mitunter ein verschwommenes Bild, doch bevor es an Schärfe gewann, entglitt es ihr wieder.