Blindgeboren - Jörg Ewertowski - E-Book

Blindgeboren E-Book

Jörg Ewertowski

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Beschreibung

Sehend werden Die Geschichte des Blindgeborenen aus dem Johannesevangelium kann als ein Schlüssel dafür dienen, ein Schwellenbewusstsein zu entwickeln, wenn wir über die geistige Welt sprechen. Wie gelingt dies, ohne absolute Wahrheiten zu behaupten oder einem skeptischen Relativismus zu verfallen? Die Antwort auf diese Frage ermöglicht es auch, Rudolf Steiners Weg zum Christentum zu verstehen.

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Jörg Ewertowski

Blindgeboren

Jörg Ewertowski

Blindgeboren

Zwischen Fundamentalismus und Relativismus

Verlag Freies Geistesleben

Jörg Ewertowski, geboren 1957 in Zweibrücken, absolvierte eine Ausbildung zum Goldschmied und arbeitete in diesem Beruf, bevor er in Frankfurt am Main Philosophie, Germanistik, Theologie und Kunstgeschichte studierte. Seit 1994 leitet er die Bibliothek des Rudolf Steiner Hauses in Stuttgart. Er promovierte 1997 über F. W. J. Schelling. Im Verlag Freies Geistesleben erschien 2007 von ihm bereits Die Entdeckung der Bewusstseinsseele – Wegmarken des Geistes.

Inhalt

1. Einleitung

Eine Geschichte vom Sehen und Verfehlen

Wunderglaube und Hermeneutik

Werke werden nicht erkannt, sondern interpretiert

Die Hermeneutik des Ich bin

Fundamentalismus und Relativismus

Die Schwellenvergessenheit

2. Welche Wahrheit kommt dem Evangelium zu?

Die Wahrheit, die keine Abbildung ist

Vorgriff und Rückblick im Erzählen

Der Weg des Blindgeborenen

Hiob, das Vorspiel im Himmel und die Werke Gottes

3. Die ersten Interpreten

Auf den Spuren unserer Vorgänger

Origenes: Widersprüchlichkeit und Gestalteinheit

Wer das Wort nicht hält, blickt in die Finsternis

Augustinus: Der Blinde ist das Menschengeschlecht

4. Jenseits des mehrfachen Schriftsinns

Die historisch-kritische Methode und ihre Wirkungen

Von Bernhard Weiss zu Fritz Tillmann: Das Sinnbildliche im Wörtlichen

Carson: Im Einzugsbereich der Fundamentalisierung

5. Der «persönliche Gott» und die «Idee der Menschheit»

H. P. Blavatsky: Die mystische Vereinigung von Mensch und Gott

Die Geburt von «Persönlichkeit» und «Individualität»

Die Werke seines Gottes müssen offenbar werden

David Friedrich Strauß: Gott ist das Ideal des Menschen

6. Karma und Gottesverständnis

Das kritische Anknüpfen an David Friedrich Strauß

Von der Idee der Menschheit zur nathanischen Seele

Eine neue Beziehung zwischen Sünde und Sühne

Die Werke Gottes als «die göttliche Art, die Welt zu regieren»

Alter und neuer Karmagedanke

Individualisierung und neuer Karmagedanke

Gab es wirklich keinen «bloß äußeren Gott»?

Durch den mystischen Atheismus zur Geburt des Gottessohnes

Metamorphosen des Gottesgedankens

Die Werke des «Gottes in ihm» und das Ich bin

Christus ist das «Ich bin» am Dornbusch

Der «Vater» als Generationen-Ich

Die «Goldene Legende» und das «Ich bin»

Das «Ich bin» und das neue Karmaverständnis

Einwände Helmut Zanders

Das Bewusstsein von den Horizonten

7. Das Mysterium von Golgatha und die Erde

Der Evangelist als Eingeweihter

Die Heilung als Vordeutung auf die zukünftige Umwandlung des Leibes

Die Heilung durch Speichel und Erde – (k)ein Wunder?

Der Karmagedanke als «nicht richten»

Die Zwickmühle in der Geschichte von der Ehebrecherin

Die Interpretationsaufgabe der Steinerschen Darstellung

8. Die Frage nach Zeit und Geschichte

Die Blickwendung zur Zukunft

Das Wesen einer Geschichte

Die Asymmetrie zwischen Vergangenheit und Zukunft

9. Fundamentalismus und Relativismus in der Anthroposophie

Wissenschaft und Wissenschaftsfundamentalismus

Die beiden Anziehungspole im Spiegel anthroposophischer Autoren

Ulrich Kaiser und das Verstehen der Erzählung

Wahrheit jenseits des Abbildlichen

Rückblick

Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Eine Geschichte vom Sehen und Verfehlen

Die Geschichte beginnt mit der Frage der Jünger, warum der Bettler, der vor ihnen sitzt, blind geboren wurde, ob seine Sünde oder die seiner Eltern der Grund dafür sei. Sie bekommen aber keine direkte Antwort, vielmehr weist ihr Meister sie mit einer rätselhaften Aussage zurück: «Es hat weder dieser gesündigt noch seine Eltern, sondern dass die Werke Gottes offenbar würden an ihm.» Ehe die Jünger nachfragen können, beginnt Jesus den Blinden zu heilen. Im weiteren Gang der Handlung wird die Frage nach dem Grund der Blindheit nicht nochmals aufgegriffen. Es geht im Fortgang der Geschichte weder darum, wie sich ein bedrückendes Schicksal mit der Gerechtigkeit Gottes vereinbaren lässt, noch um eine mögliche Schuld des Mannes, der im Mittelpunkt der Erzählung steht. Dafür erlebt der Leser, wie die auf merkwürdigem Weg vollzogene Heilung des Mannes zu einer Reihe von Auseinandersetzungen zwischen ihm und einer Gruppe von Schriftgelehrten und Pharisäern führt, in der es um die Bezichtigung Jesu und schließlich des ehemals Blinden als Sünder geht. Die Pharisäer fordern nämlich von diesem, dass er den, der ihn geheilt hat, zum Sünder erklärt. Weil er sich weigert, wird er schließlich selbst als Sünder aus der Gemeinschaft ausgestoßen. Dann aber begegnet er dem, der ihn geheilt hat, wieder und erkennt in ihm den von den Propheten verheißenen «Menschensohn».

Von diesem mächtigen Wesen («gleich eines Menschen Sohn») hat Henoch erwartet, dass er am Ende der Zeit vom Himmel kommen und die Menschheit richten werde. Parallel dazu erwarteten andere Propheten den Messias, den Sohn Davids. Der Rabbi, dem am Anfang der Geschichte die Lehrfrage nach dem Sündengrund der Blindheit des Bettlers vorgelegt wurde, erklärt nun, dass er zum Gericht in die Welt gekommen sei, «auf dass» die, die nicht sehen, sehend werden, und die, die sehen, blind. Die Schriftgelehrten und Pharisäer, die das hören, spotten darüber und fragen, ob sie denn auch blind seien. Das ist die zweite Frage, die Christus in dieser Geschichte gestellt wird. Die Antwort hierauf ist wiederum unerwartet, aber weniger rätselhaft als die Antwort auf die Frage der Jünger: Weil sie sich für sehend halten, «bleibe» ihre Sünde. Das ist das Ende der Geschichte.

Worte wie «Sünde» bilden eine Grenzscheide. Leicht können sie als Merkmal für die Sprache einer Gläubigkeit gehalten werden, die jemanden, dem diese Sprache fremd ist, abschreckt. Aber der Begriff der Sünde gehört unverzichtbar in eine ernsthafte Anthropologie und Bewusstseinsgeschichte. Er spricht gegenüber dem Begriff des Makels oder der befleckten Ehre von einem neuen Ich-Bewusstsein, einem Bewusstsein der (eigenen) Schuld, einer dadurch aufgekommenen Eigenständigkeit der Persönlichkeit, die jetzt aus dem Gruppenzusammenhang herausgetreten ist.1 Der Begriff der Sünde beinhaltet eine neue Stufe der Selbsterfahrung als Individuum, das sich aus der Familie oder dem von Rudolf Steiner so beschriebenen Generationen-Ich herausgelöst hat und in einen direkten, persönlichen Gottesbezug eingetreten ist. In den Empfindungsseelenkulturen gibt es demgegenüber noch gar kein Schuldbewusstsein, sondern stattdessen ein Schambewusstsein. Hier geht es nicht um Schuld, sondern um Befleckung, die darüber hinaus meist von außen verursacht wird. Die Aufgabe ist das Reinwaschen und das Wiederherstellen der Ehre, die primär die Ehre der Familie ist. Das ist die Grundlage für die Blutrache. Der Begriff der Sünde hingegen beinhaltet eine ganz eigene, im einzelnen Menschen liegende Gottesbeziehung. Wer getötet hat, der hat sich nicht allein an dem Getöteten und an dessen Angehörigen schuldig gemacht, sondern auch an Gott und an sich selbst. Er hat sich von sich selbst entfremdet, und er hat sich Gott entfremdet. Die Überwindung dieser doppelten Entfremdung nennt die religiöse Sprache «Erlösung».

Worum geht es in dieser Geschichte? Geht es um die Frage der Jünger nach der Instanz im Menschen, die sündigt und sühnt? Dann wäre im Horizont der Anthroposophie die naheliegende Antwort, dass es der Mensch selbst war, der gesündigt hat, aber in einer früheren Inkarnation. Aber verneint Christus nicht die Sünde als Grund und verweist auf die Zukunft? Ist das Zukunftskarma gemeint? Aber können wir dem Johannesevangelium ansinnen, dass es das seinen damaligen Lesern sagen oder andeuten wollte? Und wie passt der weitere Gang der Geschichte zu dieser Vermutung? Oder berichtet die Geschichte einfach nur ein Heilungswunder, dessen Bezeugung Glauben an Christus wecken soll? Das wäre zu schlicht und geradezu anstößig. Und dann gibt es ja auch noch den eigenartigen Weg, den der Blindgeborene durch die Inquisition der Pharisäer hindurch beschreitet, um schließlich als einer der ersten Menschen in Jesus von Nazareth den verheißenen Menschensohn zu erkennen. Ist diese Gotteserkenntnis nicht viel wichtiger als ein Heilungswunder? Oder geht es letztendlich vor allem um das eigenartige Gericht, von dem der Menschensohn spricht, also um die Scheidung von Licht und Finsternis, bei der die Blinden sehend und die Sehenden zu Blinden werden?

Wenn wir darüber nachdenken, kommt unweigerlich unser Vorverständnis als anfängliche Weichenstellung ins Spiel: Glauben wir an Wunder? Suchen wir in Krankheit und Leid einen erklärbaren Sinn? Betrachten wir Jesus als Inkarnation des Logos, als Repräsentant Gottes oder nur als den Stifter des Christentums? Sehen wir mit Friedrich Wilhelm Joseph Schelling und Rudolf Steiner das Christentum als eine grundlegende Umwandlung der alten Mysterienreligionen an? Gehen wir mit Steiner davon aus, dass ein Wissen um die Seelenwanderung in den Mysterien verbreitet war und dass der Evangelist selbst ein Eingeweihter war, der im Evangelium zu allen Menschen gesprochen hat?

Rudolf Steiner hat in mehreren Vorträgen Ansätze zu einer Interpretation der Geschichte vom Blindgeborenen entwickelt. Diese Ansätze sind eng mit grundlegenden Darstellungen dessen verflochten, was er später Anthroposophie nannte, was damals aber noch als Theosophie firmierte. Wenn wir diese Ansätze als Ansätze zum Verstehen der Geschichte vom Blindgeborenen lesen wollen, können wir die Darstellung der Grundgedanken der Anthroposophie nicht ausblenden. Aber unter dieser Leseperspektive müssen wir die Weichenstellung mit zum Thema machen. Denn es haben sich auch andere Interpreten mit dieser Geschichte beschäftigt, die durch andere Weichenstellungen hindurchgegangen sind. Das zu ignorieren und die Geschichte jeweils für die eigene Welt in Besitz zu nehmen wäre problematisch. Zudem versteht es sich auch nicht von selbst, dass Rudolf Steiners vergleichsweise wenige und knappe Ausführungen zu dieser Geschichte auch innerhalb einer anthroposophischen Weichenstellung die Geschichte ausschöpfen.

Diese Situation stellt uns eine vielschichtige Aufgabe: Wir wollen die Geschichte als solche verstehen, und wir wollen Rudolf Steiners Interpretation der Geschichte verstehen – und beides soll sich gegenseitig befruchten, aber nicht miteinander vermischen. Dazu kommt, dass wir, um Steiners Interpretation der Geschichte verstehen zu können, uns auch mit seinen jeweiligen grundlegenden Darstellungen der Anthroposophie befassen müssen, in die diese Ausführungen eng eingebettet sind. Die Weiche, von der wir gesprochen haben, kann also nicht einfach nur in eine Richtung durchlaufen werden; sie darf nicht vergessen werden, und wir müssen auch wieder hinter sie zurückgehen, um andere Interpretationen angemessen nachvollziehen zu können. Es kann ja keine spezifisch anthroposophische Wahrheit geben, keine speziell anthroposophische Interpretation der Geschichte, sondern auch als Anthroposophen sollten wir zu einer übergeordneten und weiteren Perspektive auf die Geschichte finden können, innerhalb derer dann jeder Einzelne auch seine Entscheidungen treffen kann.

Wunderglaube und Hermeneutik

Im ganz frühen Urchristentum haben Wundererzählungen die Glaubwürdigkeit der Messianität Jesu gestützt, aber in neueren Zeiten sind sie eher zu Einwänden gegen die Wahrheit der Evangelien geworden. Die Wundererzählungen erzeugen nicht mehr den Glauben daran, dass Jesus von Nazareth der Sohn Gottes ist, sondern sie stellen einen umgekehrt vor die zweifelnde Frage, ob man sie denn glauben muss, wenn man an Christus glaubt. In der katholischen Theologie gibt es sogar eine Debatte darüber, ob denn für den Christen das Grab Jesu wirklich leer gewesen sein muss.2 Die daran beteiligten Theologen nehmen die Rede von der Auferstehung ernst, ziehen aber in Erwägung, dass es sich bei den Begegnungen mit dem Auferstandenen um eine Erscheinung gehandelt haben könnte, deren Realität nicht an ihrer materiellen Körperlichkeit hängen muss, weshalb diese durchaus auch im Grab verwest sein darf, ohne der Berechtigung einer Rede vom Auferstandenen Abbruch zu tun.3 Berichte von Wundern jeglicher Art machen ihre Leser oder Hörer unfrei. Die einen werden «über-zeugt» und haben dann ihre geistige Freiheit verloren, und die anderen wenden sich ab, um genau das zu vermeiden. Damit scheiden sich exemplarisch die Verhaltensweisen des Fundamentalisierens und Relativierens, mit denen wir uns im Folgenden immer wieder beschäftigen werden (vgl. auch das einführende Kapitel «Fundamentalismus und Relativismus», S. 27ff.).

Wenn man sich von keiner dieser beiden Verhaltensweisen vereinnahmen lassen will, gilt es ein Bewusstsein für die Tätigkeit des Interpretierens zu entwickeln. Sowohl das unmittelbare Verständnis von Geschehnissen wie auch das Verstehen ihrer jeweiligen Darstellung fordert Interpretation. Was heißt «Auferstehung», was heißt «leiblich»? Wer ist der, dem die Auferstehung zugesprochen wird, und was heißt es, wenn er von sich sagt, dass er das Licht der Welt ist? – Wenn wir solche Fragen stellen und um ihre Antworten ringen, bewegen wir uns nicht im Gebiet von Fragen wie «War das wirklich so?» oder «Wie können wir den Vorgang erklären?», sondern in dem Bereich des Sinn-Verstehens. Hier liegt die Landschaft der «Hermeneutik», in deren neuem, im 20. Jahrhundert entwickelten Feld wir im Folgenden Fuß fassen. Sie war lange Zeit unerkundet, noch nicht einmal ein weißer Fleck auf einer Landkarte, hat sich aber im frühen Christentum vorbereitet.

Wer Jesus war, stand ihm nicht ins Gesicht geschrieben. Auf die Frage des Täufers, ob er der verheißene Messias sei, verwies er auf die Zeichentaten, die er verrichtet hat. Jeder zeitgenössische Leser des Johannesevangeliums wusste, dass diese als Erfüllung der Prophezeiungen interpretiert werden können, denn verheißen war, dass mit seinem Kommen Lahme gehen und Blinde sehend würden. Es geht also bei diesen «Wundern» nicht einfach nur um einen Erweis spektakulärer göttlicher Macht, auch nicht nur um eine Legitimation dieses Wanderpredigers als Messias, sondern um das Verständnis von dessen Wesen anhand der prophetischen Verheißungen und zugleich kehrseitig um ein neues Verständnis der überlieferten prophetischen Texte anhand ihrer (möglichen) Erfüllung. Die Verheißungen bildeten den Horizont, innerhalb dessen Jesus als der erwartete Messias Gestalt annehmen konnte. Innerhalb des Johannesevangeliums schafft zudem der Prolog einen darüber hinausgehenden Horizont, vor dem der Leser die Gestalt Jesu nicht nur als die des verheißenen Messias, sondern auch als die des fleischgewordenen Gottes selbst verstehen kann. Im Prolog ist vom Logos die Rede, der bei Gott war, durch den die Welt geschaffen wurde, der als Licht in die Finsternis schien und schließlich «Fleisch wurde». Die im Evangelium anschließend erzählten Geschichten und Reden wollen vom Leser in Beziehung dazu gesetzt, interpretiert werden.

Der Akt des Interpretierens besteht im Knüpfen einer Verbindung zwischen einem Vorverständnis und einer sich ereignenden Geschichte und ist das Urphänomen einer Hermeneutik, die über das bloße Allegorisieren, über die sinnbildliche Auslegung des Buchstäblichen oder Historischen hinausgeht. Christus verhält sich nicht nur als der geistige Sinn zum Buchstaben des Gesetzes. Er wurde als der, der er ist, auch dadurch sichtbar, dass sich in ihm die Verheißung anders als erwartet erfüllt hat.

Es gab nebeneinander drei ganz unterschiedliche und sich ausschließende Verheißungen: den vom Himmel herabsteigenden «Menschensohn» (kein Mensch, sondern «gleich eines Menschen Sohn»), den Messias als Sohn Davids, als dessen Nachfahre, und den rätselhaften Gottesknecht, von dem es bei Jesaja heißt, dass er «unsere Sünden» trägt und der Allerverachtetste sei.4 Vom Messias heißt es hingegen, dass er ein zum Sohn Gottes gesalbter König aus der Nachkommenschaft Davids sein wird. Und der Menschensohn sollte als ein göttliches Wesen vom Himmel herabsteigen, und alle irdischen Machthaber und Reiche sollten mit seinem Kommen zugrunde gehen. Von keiner der drei Gestalten wurde erwartet, dass sie sterben und auferstehen würde, sondern mit dem Kommen des Menschensohnes sollten sich die Gräber auftun und die Verstorbenen zum endzeitlichen Gericht versammeln. Und niemand hatte die drei Verheißungen so interpretiert, dass alle zusammen von ein und derselben Wesenheit sprechen würden. Die Verheißungen scheinen das umgekehrt sogar geradezu auszuschließen.

Die drei Verheißungen sind also alle anders eingetreten als erwartet, aber sie waren deshalb als solche nicht falsch. Man hatte sie nur noch nicht angemessen zu interpretieren gewusst. Das war erst möglich, nachdem mit der Menschwerdung, der Passion, dem Tod und der Auferstehung des Christus der Boden für eine Neuinterpretation bereitet war. Christus hat also nicht nur die Verheißung erfüllt, sondern er hat sie durch sein Wesen und Handeln in der Erfüllung zugleich völlig neu interpretiert. Das Christentum beinhaltet wesenhaft eine lebendige und wechselseitige Beziehung zwischen dem Alten und dem Neuen. Sowohl Paulus wie auch Rudolf Steiner haben das so gesehen. Rudolf Steiner knüpft nicht nur an die Paulinische Rede vom alten und neuen Adam an, sondern legt eine ähnliche Beziehung zwischen den alten und den neuen Mysterien dar wie Paulus zwischen dem Alten und dem Neuen Testament. Darin unterscheidet Steiner sich grundlegend von H. P. Blavatsky und Annie Besant, den Ahnherrinnen aller heutigen «Esoterik».

Wir führen das hier an, weil die angedeutete Wechselbeziehung zwischen Vorverständnis und Erfüllung – auch über alle christlichen Inhalte hinaus – zum Prinzip der modernen philosophischen Hermeneutik wurde. Und wir führen es deshalb an, weil wir das mangelnde Bewusstsein für das Erfordernis des Interpretierens als problematische Gemeinsamkeit sowohl des fundamentalisierenden wie des relativierenden Verhaltens unserer Zeit ansehen – innerhalb und außerhalb des Christentums wie auch innerhalb und außerhalb der Anthroposophie.

Werke werden nicht erkannt, sondern interpretiert

Im Christentum spricht man oft betont vom Glauben und in der Anthroposophie viel vom Erkennen. Beides ist einleuchtend, aber beide Schwerpunkte drohen sich auch jeweils zu verselbstständigen. Sowohl das Bekenntnis des Glaubens wie auch der Anspruch der Erkenntnis kann in eine Sackgasse führen. Als meine Frau und ich auf einer Wanderung in ein unerwartet intensives und persönliches Gespräch mit einem völlig unbekannten anderen Paar gerieten und wir – gefragt nach unseren literarischen Interessen – auch von den Evangelien sprachen, fühlten wir uns durch die freundliche Rückfrage, ob wir «gläubig» seien, nicht richtig verstanden. Das anschließende Bekenntnis, dass wir uns nicht nur mit dem Christentum beschäftigen, sondern auch mit der Anthroposophie, hat dann zu unserer Überraschung keine vergleichbar prägnante Reaktion hervorgerufen; wir wurden nicht gefragt, ob wir denn all das «glauben», was man bei Steiner lesen könne. Aus vielen anderen Begegnungen klingen mir jedoch Reaktionen im Ohr, die in diese Richtung gehen. Aber das nachtodliche Dasein, die Präexistenz des Menschen und das Leben zwischen Tod und neuer Geburt, die geistige Welt der Hierarchien und die Anthropologie der Wesensglieder sind definitiv keine Glaubensinhalte. Wenn ich gefragt würde, ob ich daran «glaube», so würde ich das verneinen, aber nachschieben, dass ich nicht daran zweifle, dass es sich so verhält. Aber wie erkläre ich das, und wie erkläre ich die existenzielle Bedeutung, die diese Inhalte für mich erlangt haben?

Rudolf Steiners vielfältige Erläuterungen seiner Erkenntnismethoden waren wichtig für meine Orientierung in der Erstbegegnung mit seinem Werk. In den rund dreißig Jahren der anschließenden Beschäftigung damit sind sie für mich jedoch in den Hintergrund getreten. Das Werk und die genannten Inhalte einschließlich Steiners durchaus eigenwilliger Interpretationen der Evangelien haben sich als wichtiger denn die Frage nach der Entstehung erwiesen, als wichtiger denn die Frage: «Woher weiß der das?»

Solange ich der Frage der Entstehung eines Werkes nachsetze, suche ich es zu erklären. Mir geht es aber um die Inhalte dieses Werkes, die ich zu verstehen suche. «Verstehen» ist kein Überprüfen von Richtigkeit und kein Nachvollzug seiner Entstehung, denn die Inhalte sind für mich keine Wissensinhalte. Verstehen ist nicht Wissensaufnahme, sondern Sinnerfahrung. Es sucht und schafft Zusammenhänge innerhalb des Werks und zwischen den Werken des einen Autors und den Werken anderer Autoren. Weil das Verstehen produktiv ist, mündet es in das, was man auch «Interpretation» nennt. Es geht also um ganz anderes als um das Aufnehmen von Informationen oder «Forschungsergebnissen».

Kein Werk ist der direkte Spiegel der Erkenntnisse seines Autors. Wer ein Werk mit den Erkenntnissen seines Autors kurzschließt, blendet zusammen mit der schöpferischen Tätigkeit seines Autors auch die eigene schöpferische Tätigkeit des Verstehens aus, nämlich den geheimnisvollen Vorgang des Interpretierens. Leicht glaubt er dann, selbst erkannt zu haben, während er nur bewusstlos verstanden hat. Das fordert gerade im Fall des Steinerschen Werkes mit seinen «hohen» Inhalten andere, die das bemerken, dazu heraus, für einen Ausgleich zu sorgen. Deshalb entsteht dann das Bedürfnis, die Ansprüche des Autors zu demaskieren, indem man die Entstehung seiner Inhalte reduktionistisch zu «erklären» sucht. Wo das Sinnverstehen sich bewusstlos vollzieht und sich als Erkenntnis darbietet, wo es die hermeneutischen Aufgaben versäumt, ruft es eine Verdachtshermeneutik auf den Plan. Wir werden uns später im Kapitel «Die Einwände Helmut Zanders» im Kontext des Karmaverständnisses damit näher befassen. Es ist wichtig, der Verdachtshermeneutik ein Gegengewicht in Form einer anderen Hermeneutik gegenüberzustellen, die sich als Hermeneutik besser versteht als die Verdachtshermeneutik und sich deshalb nicht als Erkenntnis ausgibt.

Wenn ich ein Werk aufnehme, «erkenne» ich das Werk nicht, sondern ich suche es zu verstehen. Verfährt dieses Verstehen im oben beschriebenen Sinn hermeneutisch, dann führt es über das Nach-Denken des Vorgedachten hinaus. Es setzt auseinanderliegende Inhalte zueinander in Beziehung und versucht, sich vor allem die Handlungen des Autors in seiner Darstellung dieser Inhalte bewusst zu machen, den dramatischen oder epischen Charakter des Gedankenganges zu erfassen.

Verstehen heißt nicht, über die mutmaßlichen oder expliziten Absichten des Autors zu spekulieren. Es geht nicht darum, die Entstehung eines Werkes zu erklären, sondern darum, den Wirkungen auf seine Leser, den Erfahrungen des Lesens nachzuspüren. Auch das gehört zum Interpretieren.

Das Interpretieren wird manchmal unbedacht als subjektiv oder relativierend aufgefasst. Dann hält man ihm das Erkennen entgegen. Manchmal wird auch daran erinnert, dass Erkenntnis die Verbindung von Wahrnehmung und Begriff sei und daraus abgeleitet, dass wir zwar Steiners (übersinnliche) Wahrnehmungen höchstens ansatzweise reproduzieren, aber wenigstens die begriffliche Hälfte seiner Erkenntnis denken können, wodurch wir immerhin eine halbe Erkenntnis der geistigen Sachverhalte erlangen könnten.5

Abgesehen davon, dass die Rede von der Erkenntnis als Synthese von Wahrnehmung und Begriff auf Kant zurückgeht, hilft sie nicht beim Umgang mit solchen Werken wie etwa dem Symposion oder der Politeia Platons, nicht beim Lesen des Johannesevangeliums oder eben den Werken Steiners. Wer all diesen Werken gegenüber das Erkennen an die Stelle des Verstehens rückt, der überspringt die Schwelle zwischen den Erkenntnissen des Autors und deren Darstellung in seinem jeweiligen Werk. Dabei wird der in meinen Augen kaum hoch genug einzuschätzende Rang des Steinerschen Werks empfindlich irritiert, je länger und je häufiger es als Sammlung von Erkenntnissen genommen wird, die gelernt, aber nicht interpretiert werden sollen. Es wird damit zur Lehre herabgesetzt.

Die Hermeneutik des Ich bin

Es geht beim Lesen des Steinerschen Werkes weder um das Lernen des «Systems» Anthroposophie noch um eine Interpretation dieses Werkes in den Formen allgemeiner historischer Kritik oder literaturwissenschaftlichen Erschließens, sondern es geht um das Verstehen der Inhalte und ihrer Wirkung. Dabei begegnet als Erstes die Frage, als was wir denn diese Werke lesen. Die Anthroposophie ist in den herkömmlichen Kategorien von Kunst, Wissenschaft und Religion nicht leicht unterzubringen. Das hat sie ein Stück weit mit der Philosophie gemeinsam, und mit dieser teilt sie auch ihre Beziehung zur vorchristlichen Mysteriengeschichte. Von der buddhistisch stimulierten angelsächsischen Theosophie eines Henry Olcott und einer H. P. Blavatsky unterscheidet sie sich dabei genauso wie von der heute so populären Esoterik, und zwar durch ihren zentralen Bezug auf die Menschheitsgeschichte und das Christentum. Darauf hatten wir im Zusammenhang mit der Entstehung der Hermeneutik im Christentum bereits hingewiesen. Steiners erstes Buch nach der Jahrhundertwende trägt den Titel Das Christentum als mystische Tatsache, und weder aus den Rhythmen des Grundsteinspruchs der Weihnachtstagung von 1923/24 noch aus den Meditationen der sogenannten «Klassenstunden» lässt sich der Bezug auf Christus wegdenken.

Als was lesen wir also die Werke Steiners? So zu fragen heißt, aus verschiedenen Gewohnheiten herauszutreten, was hundert Jahre nach der Weihnachtstagung und bald hundert Jahre nach dem Tod des Begründers der Anthroposophie schlichtweg angesagt ist. Wir orientieren uns auf der Suche nach einer der Anthroposophie angemessenen Hermeneutik bewusst nicht am Selbstverständnis Steiners. Seinem beeindruckenden Werk stehen wir als Leser des 21. Jahrhunderts gegenüber, die sich ihren eigenen Weg des Verstehens erschließen müssen, wenn sie im Verhältnis zu ihren Zeitgenossen nicht zu einem Anachronismus werden wollen. Steiners Selbstverständnis ist durch die Welt des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts geprägt und auf die Menschen dieser Zeit und ihrer Bildung zugeschnitten. Sein Werk aber reicht weit über diese Zeit hinaus. Diese Potenz heute zu entbinden erfordert Methoden und Bewusstseinshaltungen, die erst nach Steiners Tod entwickelt wurden. Deshalb fragen wir: Als was lesen wir eine Vortragsreihe wie die im Mai 1908 unter dem Titel «Das Johannes-Evangelium» gehaltene oder ein Buch wie Das Christentum als mystische Tatsache?

Wenn wir unser Lesen bewusst und wissenschaftlich praktizieren wollen, dann können wir die Frage auch so stellen: Welche Form des Verstehens wollen wir praktizieren, an welche schon vorliegenden Erfahrungen wollen wir anschließen? Die hermeneutischen Formen des Verstehens haben wir oben anzudeuten versucht. Das Wort «Hermeneutik» ist ein vor wenigen Jahrhunderten geprägten Kunstwort, in dem der Götterbote Hermes steckt, der die Schwelle zwischen der göttlichen und der menschlichen Welt auf seinen Flügelschuhen schon seit Jahrtausenden immer wieder in beide Richtungen gekonnt überschreitet.6 Wir nehmen diese mythische Reminiszenz als ein gutes Omen, ist doch diese Schwelle, als Geburts- und als Todesschwelle ebenfalls ein Inhalt, der aus der Anthroposophie nicht wegzudenken ist. Mehr als ein gutes Omen ist jedoch die Einsicht, dass die Hermeneutik sich über die ansonsten weit auseinanderfallenden Gebiete von Kunst, Wissenschaft und Religion erstreckt. Deshalb bietet sich ein hermeneutischer Zugang zur Anthroposophie an, denn deren charakterisierendes Merkmal ist, dass sie in sich die Wesenszüge von Kunst, Wissenschaft und Religion enthält und umgreift.

Innerhalb des hermeneutischen Raums gibt es nun einen besonderen Ansatz, der sich auf eine ganz erstaunliche Weise dafür anbietet, den Zugang zum Werk Steiners zu befruchten. Das ist die Hermeneutik des Ich bin des im Jahre 2005 verstorbenen französischen Philosophen Paul Ricœur. Weil die Rede vom Ich bin auch im Mittelpunkt von Steiners christologischem Ansatz steht, weckt das die Frage, ob Ricœurs Ideen nicht einen guten Ausgangspunkt für die Aufgabe zur Entwicklung einer anthroposophischen Hermeneutik bilden könnten.

Ricœur sieht in der Zeit der ersten Konzeption seiner hermeneutischen Philosophie in den 60er-Jahren des 19. Jahrhunderts zwei große und gegensätzliche Geistesströmungen am Werk: die auf Descartes zurückgehende Suche nach der Selbstvergewisserung im Ich-denke und die auf Sigmund Freud aufbauenden kulturphilosophischen Strömungen. Die gemeinsame Zielrichtung dieser letzteren Strömungen ist die Demaskierung des unmittelbaren menschlichen Selbstverständnisses. Das Grundprinzip des gewöhnlichen Bewusstseins ist Freud zufolge die Verdrängung des Niederen im Menschen, das Grundprinzip der Kultur ist dann die Sublimation des Niederen.

Descartes’ Leistung ist die Entdeckung des Ich-denke als Grundlage der Wissenschaft; Freuds Leistung ist die Entdeckung, dass der Mensch mehr umfasst, als er von sich weiß. Einseitig und letztlich unhaltbar an der durch Descartes begründeten Strömung ist die Verselbständigung und Selbstüberhebung der Gewissheit gegenüber der Wahrheit. Einseitig und letztlich unhaltbar an der von Freud in Bewegung gebrachten Kulturphilosophie ist die Reduktion des Menschseins auf die Verdrängung und die Reduktion der Kultur auf die Sublimation des Niederen. Descartes’ Ansatz der rein denkenden Selbstvergewisserung führt in die Aporie, dass dem Ich, das sich durch die Selbstwahrnehmung im Akt des Denkens begründet, kein Sein außerhalb des Denkens mehr zukommt, das seine Identität über den Schlaf hinwegträgt. Umgekehrt mindert der Ansatz Freuds das Ich als solches unangemessen und droht es aufzulösen. Aber zu den Innovationen Freuds gehört die Entdeckung der Verbindung zwischen den Symbolen und ihren Kraftwirkungen sowie der Unumgänglichkeit, die Symbole zu interpretieren. Diese Arbeit verquickt sich jedoch unglücklich mit einer verschatteten Form des Denkens, einem Denken, das das Höhere nicht anders angehen kann als dadurch, dass es beginnt, es auf ein Niederes zurückzuführen und damit zu relativieren.

Freud ist ein Vertreter der Verdachtshermeneutik. Verkürzt gesprochen: Descartes und Freud verhalten sich zueinander wie die Selbstüberhebung im Gewissheitsanspruch zur Selbstüberhebung im Relativierungsdrang. Wir stehen vor zwei Formen der Vermessenheit, in denen aber jeweils auch etwas Berechtigtes verborgen ist. Und so will Ricœur das im Ich gelegene Sein, das über das Bewusstsein des Ich-denke hinausgeht, auf dem hermeneutischen Weg der Interpretation mit einem «horchenden» Denken verbinden, um so einen Weg zum Höheren im Menschen zu beschreiten, der weder auf neuer Verdrängung beruht noch in Selbstvermessenheit mündet.

Für uns als Interpreten Steiners bildet Ricœurs Hermeneutik des Ich bin somit einen Schlüssel, weil es Steiner im Kontext seiner Auffassung von der Geschichte des Blindgeborenen ebenfalls um das Ich bin geht, um die Unterscheidung zwischen einem gewöhnlichen und einem höheren Bewusstsein. Ferner erlaubt sie uns, das Problem der Verdachtshermeneutik auf eine sachliche Grundlage zu stellen, die über die Anthroposophie hinaus Bedeutung hat. Im Sinne einer solchen Hermeneutik des Ich bin können wir den allgemeinen geisteswissenschaftlichen Entwicklungen der letzten hundert Jahre Rechnung tragen, die uns von der Zeit der Entstehung des Steinerschen Werkes trennen. Konkret bedeutet das: Auf dem Weg des Verstehens und der Interpretation begegnet uns das Werk Steiners nicht als eine Summe von Erkenntnissen, die überprüft werden müssten. Es ist unabhängig von der Anerkennung der Steinerschen Erkenntnistheorie und stellt sich dem Streit der Interpretationen, deren Maßstab nicht die Richtigkeit, sondern die Angemessenheit in der Beziehung zu anderen Werken und auch die Wirkung auf den Leser ist.

Dazu kommt ein Weiteres. Wir befinden uns heute gesamtgesellschaftlich in einer Polarisierung fundamentalisierender und relativierender Kräfte, die eine Verwandtschaft mit den philosophischen Polaritäten aufweisen, zwischen die sich Ricœur in der Mitte und der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts gestellt sah. Wir kennen innerhalb der Anthroposophie den Gegensatz dieser Kräfte als Polarität der luziferischen und ahrimanischen Abweichungen. Sowohl Christus als auch das Ich des Menschen stehen in der Mitte dieser Kräfte – mit der Aufgabe, sie auszugleichen.

Beide Dimensionen des Ich, die des göttlichen Ich-bin, das am Dornbusch zu Mose gesprochen hat, und die Dimension des Menschen-Ichs, verbinden sich in Steiners Interpretationen der Geschichte vom Blindgeborenen. Dabei geht es besonders auch um die anthropologischen Voraussetzungen der von Steiner ins Spiel gebrachten besonderen Reinkarnations- und Karmaperspektive. In Ricœurs Hermeneutik des Ich bin werden wir auch hierzu Anregung und Unterstützung finden.

Was es mit den Kräften der Fundamentalisierung und der Relativierung auf sich hat, lässt sich am besten im Blick auf die Bibelauslegung erläutern. Das Phänomen dieser Polarität begegnet uns heute zwar gesamtgesellschaftlich und keineswegs auf die Religion beschränkt. Aber verstehen, was es damit auf sich hat, lässt es sich am besten durch einen Rückblick auf die Entstehung des Fundamentalismus im Amerika des beginnenden 20. Jahrhunderts.

Fundamentalismus und Relativismus

Selbstverständlich war Descartes kein Vorläufer des Fundamentalismus, und der Kulturpessimismus Freuds lässt sich nicht als Zeugnis eines bloßen Relativismus abtun. Doch hat sowohl der Fundamentalismus als auch die Cartesische Philosophie eine starke Affinität zur Gewissheit, wenngleich sie auf sehr unterschiedlichen Wegen gesucht wird. Und auf der anderen Seite gibt es eine Verwandtschaft zwischen Freuds Kulturphilosophie und diversen relativistischen Strömungen. Freuds Menschenbild und Kulturdeutung ist ihrerseits eine der drei großen Kränkungen des menschlichen Selbstverständnisses, von denen Freud spricht, nämlich die Kränkung durch die Einsicht, dass das Ich nicht Herr in seinem eigenen Haus ist. Zuvor gab es die kosmologische Kränkung durch Kopernikus und die biologische durch Darwin. Vor allem die Letztere stimuliert die fundamentalisierende Gegenbewegung des christlichen Kreationismus. Es wird nun darauf ankommen, dass die Anthroposophie nicht mit einer vergleichbaren fundamentalisierenden Gegenbewegung zu der «psychologischen» und der kosmologischen Kränkung verwechselt werden kann beziehungsweise sich tatsächlich zu einer solchen entwickelt. Dazu ist ein Verständnis für das Phänomen des Fundamentalismus erforderlich.

In den Jahren von 1910 bis 1915 ist in Chicago die Schriftenreihe The Fundamentals. A Testimony to the Truth veröffentlicht worden. Mit den Fundamenten, die ein Zeugnis für die Wahrheit bilden sollen, sind grundlegende Inhalte des Christentums angesprochen, die durch die Leben-Jesu-Forschung, die sogenannte «liberale Theologie» und die historisch-kritische Methode der Bibelauslegung bedroht wurden. Genannt werden die Irrtumslosigkeit und Autorität der Bibel, die Schöpfung der Welt durch Gott, die Gottheit Jesu Christi, die Jungfrauengeburt, die Wunder Jesu und seine leibliche Auferstehung. Wir finden in zwölf Bänden auf fast 2000 Seiten einen umfangreichen Katalog bedrohter biblischer Wahrheiten, die damals gleichsam unter Artenschutz gestellt wurden. Manche dieser Wahrheiten sind Teil des allgemeinen christlichen Credos, aber das Zentrum aller der hier formulierten Wahrheiten ist es nicht, und das ist die Behauptung, dass die Bibel buchstäblich das Wort Gottes ist. Indem die «wortwörtliche» Wahrheitsautorität der Bibel zu einer Sonne wird, um die alle anderen Inhalte interpretationslos wie Planeten kreisen, entsteht der Fundamentalismus.

Während die presbyterianische Kirche im Jahr 1893 noch erklärt hatte, dass die Bibel nach Abzug aller Überlieferungs- und Übersetzungsfehler das wirkliche Wort Gottes sei, hält L.W. Munhall, einer der Autoren der Schriftenreihe, in seinem Beitrag zum Thema Inspiration dagegen, dass alle Worte, die die Bibel bilden, direkt von Gott eingegeben wurden. Er sucht das mit Paulus zu begründen und beruft sich dazu auf dessen zweiten Brief an Timotheus.7 Abgesehen davon, dass die von ihm angeführte Aussage dort lediglich einen Nebensatz bildet, handelt es sich hier um eine Begründung, die das, was sie beweisen will, bereits voraussetzt: Die einer Schriftstelle entnommene Aussage wird als Selbstverständnis der Bibel gelesen, das seinerseits dann vom Autor als allgemeiner Anspruch geltend gemacht wird. Bezeichnend ist, dass er dabei die Metonymie «Heilige Schrift» (hierà grámmata) wörtlich nimmt und daraus ableitet, dass die Bibel nicht nur vom Heiligen Geist inspiriert, sondern «buchstäblich» wahr ist. Eine Metonymie ist eine rhetorische Figur, in der ein Wort nicht in seiner eigentlichen Bedeutung, sondern in einem übertragenen Sinn gebraucht wird. Die Sprache lebt in ihren rhetorischen Figuren, die Kraftwirkungen erzeugen können und die Darstellung dessen erlauben, für das es keine eindeutigen Begriffe gibt. Das Überspringen der sprachlichen Darstellung zugunsten einer behaupteten Wörtlichkeit ist ein Charakteristikum fundamentalisierender Autoren, das in einer anderen Form auch in den philosophischen Strömungen der Reflexionsphilosophie und der Logik auftaucht.

Die sprachliche Darstellung des Gotteswortes und sein Inhalt oder Gedanke wurden von den genannten amerikanischen Autoren somit gänzlich zusammengeworfen und damit die Möglichkeit oder Notwendigkeit einer Interpretation prinzipiell verworfen. Es geht dabei um mehr als um die Frage, ob in der Überlieferung der Bibelworte Entstellungen und Verzerrungen möglich sind. Es geht um die Auffassung, dass das Wort direkt schon der Gedanke ist. Das direkte Gegenbild ist die Voraussetzung, der zufolge die Sprache auf «Schrift» reduziert wird, der eine bloße Zeichen- oder Vermittlungsrolle zukommt.

Auf der Gegenseite praktizierte die Leben-Jesu-Forschung einen radikal historischen und relativierenden Umgang mit den Evangelien. Sie war für das Christentum etwas Ähnliches wie der historistische Zugriff eines Helmut Zander auf das Werk Rudolf Steiners. An der Geschichte des christlichen Umgangs mit der Bibel können wir für die Anthroposophie durchaus lernen. Auch hier polarisieren sich nämlich unterschiedliche Haltungen. So wie der historisch-kritische Umgang mit der Bibel als Gegenreaktion die Fundamentalisierung hervorgerufen hat, so ruft der historisch-kritische Umgang mit dem Werk Steiners ebenfalls tendenziell eine Fundamentalisierung hervor. Und so wie im christlichen Kontext die Fundamentalisierung darin besteht, die «Bibeltreue» zu praktizieren, die Bibel bis in den Wortlaut hinein als Produkt des inspirierenden Heiligen Geistes aufzufassen und teils aggressiv zu behaupten, so entsteht im anthroposophischen Kontext etwas Vergleichbares, wenn auf die Anerkennung der von Steiner beschriebenen Methoden zur Gewinnung höherer Erkenntnis mit einer Eindringlichkeit gepocht wird, die sich vor die Inhalte schiebt, um die es geht. Dabei droht Steiners Selbstverständnis zum Maßstab einer «richtigen» Auslegung seines Werkes gemacht zu werden, was letztlich zu einer Isolierung des Werkes führen müsste.

Die Schwellenvergessenheit

Die «Fundamente» des Christentums, die in Amerika Anfang des 20. Jahrhunderts aufgelistet wurden, beinhalten viele zentrale Themen. Aber das Problem liegt weniger in den Inhalten als in der Art und Weise ihrer Behauptung durch die Absolutsetzung der Bibel. Dass es unterschiedliche Wege zu deren Verstehen geben könnte, unterschiedliche Maßstäbe ihrer Interpretation, fällt weg. Die Bibel wird nur vermeintlich zu ihrem eigenen Maßstab, in Wahrheit aber wird ihr der Maßstab einer bewusstlosen Interpretation übergestülpt. Dadurch wird die Bibel selbst zum Glaubensinhalt gemacht, statt dass sie solche Inhalte vermittelt.8 Man könnte sagen: Wer die Bibel oder ein anderes großes Werk der Geistesgeschichte auf solche Weise liest, gleicht einem Kinobesucher, der, nachdem er die Türschwelle des Kinosaals überschritten hat, sogleich vergisst, dass er einen Film sieht. Oder er gleicht einem Internetnutzer, dem das Bewusstsein für die Virtualität abhandengekommen ist.

Der dazu komplementäre Vorgang wäre hingegen eine Bühneninszenierung, die das Drama so zur Darstellung bringt, dass es die Besucher zwar durchaus «packt» und gefühlsmäßig aufrüttelt, der es dabei aber dennoch gelingt, gleichzeitig bewusst zu machen, dass die Bühne nicht die Wirklichkeit, sondern der Ort der Darstellung von Wirklichkeit ist.9 Ein Kunstwerk macht auf diesen Unterschied aufmerksam und arbeitet damit. Aber es fordert auch von seinem Betrachter die Fähigkeit, dieses Bewusstsein zu entwickeln. Wenn wir nun am Ende unserer Geschichte mit dem Satz vom Sehendwerden der Blinden und dem Blindsein der Sehenden konfrontiert werden, dann handelt es sich um ein «Sehen», das dieser Bewusstseinsfähigkeit entspricht.