Blitzschnell in den Hades - Sarah Caudwell - E-Book

Blitzschnell in den Hades E-Book

Sarah Caudwell

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Beschreibung

Fünf Anwälte – Cantrip, Selena, Timothy, Ragwort und Julia – arbeiten auf der zweiten Etage der renommierten Londoner Kanzlei in Lincoln’s Inn. Die fünf Freunde sind mit der Änderung des Treuhandabkommens der Familie Remington-Fiske beschäftigt. Das Millionenvermögen soll auf die Tochter Camilla, die einzige noch lebende, direkte Erbin, überschrieben werden, denn so würden etwa drei Millionen Pfund Erbschaftssteuer gespart. Alle Familienmitglieder scheinen zu der benötigten Unterschrift bereit. Doch dann will Camillas Cousine Deirdre plötzlich 100.000 Pfund für ihr Einverständnis. Als Deirdre kurz darauf bei einem Familienfest tödlich verunglückt, verliert nicht nur die Familie Remington-Fiske die Fassung. Auch Deirdres Anwältin Julia glaubt, dass der Sturz von der Dachterrasse kein Unfall war. Die fünf Anwälte sind ratlos. Sie rufen Professor Hilary Tamar aus Oxford herbei, eine Koryphäe, die das unnachahmliche Talent besitzt, harte Fakten und zarte emotionale Bande miteinander zu kombinieren. Hilary Tamar soll herausfinden, warum jemand Deirdre aus dem Weg haben wollte, wenn doch Camilla das beträchtliche Vermögen erbt …

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Seitenzahl: 355

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„Ein überaus unterhaltsames Buch ... unwiderstehlich für alle, die geschliffene, gepflegte Prosa mögen.“

THE NEW YORK TIMES BOOK REVIEW

„Voller souveränem Witz, verfasst in tadellos abgewogener Prosa.“

H. R. F. KEATING, THE TIMES

„Zweifellos eine der witzigsten Krimiautor*innen überhaupt.“

MIKE RIPLEY

„Es gibt Grund zur Freude für alle, die geistreiche Dialoge und kultivierte, intelligente Charaktere mögen ... Sarah Caudwell hat ihren zweiten Kriminalroman vorgelegt.“

WASHINGTON POST BOOK WORLD

Sarah Caudwell studierte Rechtswissenschaften am St. Anne’s College in Oxford und praktizierte mehrere Jahre lang als Anwältin in Lincoln's Inn. Später spezialisierte sie sich bei einer großen Londoner Bank auf internationale Steuerplanung und begann gleichzeitig zu schreiben. Viele Jahre lang lebte sie mit ihrer Mutter und ihrer Tante in Barnes, London, bis sie im Januar 2000 im Alter von 60 Jahren an Krebs starb.

»Mein Beruf besteht vor allem darin, schlecht über Tote zu reden.« So beschreibt Hilary Tamar diese mit wachem Verstand, nicht nachlassender Neugier und beißendem Humor ausgeübte Nebentätigkeit als Detektiv. Oder Detektivin.

Die Autorin Sarah Caudwell fand es nämlich schon Anfang der 1980er Jahre so nebensächlich wie dröge sich, was die geschlechtliche Identität ihrer Hauptfigur angeht, festzulegen. Und das macht diese ohnehin spannenden und in bestem Oscar Wildeschen Sinne scharfen wie intelligent witzigen Krimis umso aktueller.

Jetzt, hier, in neu bearbeiteter Übersetzung, die dem Originaltext und der Hauptfigur diese zwischen den Identitäten changierende, aufregende Farbigkeit wieder zurück gibt. Mord, Lüge, Ironie und Jura sind, im richtigen Mix, eben einfach unschlagbar. You better call Hilary? Definitiv!

BLITZSCHNELL IN DEN HADES

EIN HILARY TAMAR-ROMAN

SARAH CAUDWELL

ÜBERSETZT VONINGRID KRANE-MÜSCHEN

Titel der englischen Originalausgabe THE SHORTEST WAY TO HADES, 1985

Copyright © 1984, 2022 by Sarah Caudwell

Copyright der deutschen Übersetzung © 2000, 2022 by Ingrid Krane-Müschen

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werks darf in irgendeiner Form ohne vorherige schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

ISBN: 978-3-945684-35-1

eBook v2.0, Juni 2022

Copyright © dieser Ausgabe 2022 bei spraybooks Verlag

Redaktion: Doris Engelke

Korrektorat: Ute Lüers

spraybooks Verlag Bielfeldt und Bürger GbR, Remigiusstr. 20, 50999 Köln

www.spraybooks.com

VORWORT

Im Herbst 1987 erhielt ich den Anruf einer aufgeregten Lektorin. Ich sollte wahrscheinlich dazu sagen, dass ich Literaturagent bin, knapp zwei Jahre vor diesem Telefonat meine eigene Agentur gegründet und einen gewissen Ruf für gute Kriminalliteratur  hatte. Meine Freundin, die Lektorin, war bekannt dafür, dass sie ziemlich gute Krimis verlegte. Sie, ein eigentlich eher ruhiger Mensch, war geradezu atemlos vor Begeisterung.

»Sarah Caudwell ist in der Stadt«, sagte sie und ihre Stimme klang nach jeder Menge Ausrufungszeichen. »Wer?«, fragte ich.

»Sarah Caudwell! Eine erstaunliche Autorin! Sie sucht einen Agenten! Ihr müsst Euch unbedingt kennenlernen!«

Seit dem Aufkommen von E-Mails und SMS leben wir in einer Welt der Ausrufungszeichen, aber die einzigen Ausrufungszeichen, die ich je von dieser Lektoren-Freundin als Reaktion bekommen habe, waren in diesem kurzen Gespräch unüberhörbar – und außerordentlich angebracht!

Ein paar Stunden später erwähnte ich einer Schriftstellerin und Freundin gegenüber (sie half mir aus in der Agentur), dass ich hoffte, bald eine Schriftstellerin namens Sarah Caudwell zu treffen, die auf der Suche nach einem Agenten war. Meiner Freundin, die im New Yorker veröffentlichte, selbst Romane schrieb und später einen berühmten New Yorker Autor heiratete, verschlug es die Sprache, als sie das hörte.

»Wirklich? Sarah Caudwell!!«

Sie kannte Sarahs Romane, ALSO MUSS ADONIS STERBEN (Thus Was Adonis Murdered) und BLITZSCHNELL IN DEN HADES (The Shortest Way to Hades) und war hingerissen. Natürlich ging ich auf der Stelle in die nächste Buchhandlung, kaufte die Bücher, verschlang sie und wurde zum neuesten Mitglied in Sarahs Fanclub. Ein oder zwei Tage später verabredeten wir uns auf einen Drink – im Algonquin Hotel. Natürlich wohnte sie dort während ihres Aufenthaltes in New York!

Das Algonquin, im Herzen von Manhattan gelegen, ist berühmt als die Heimat des Round Table, eines literarischen Zirkels von Schauspielern, Journalisten und anderen klugen Köpfen, die sich in den 1920er Jahren täglich mehrmals dort trafen. In den Achtzigern war es immer noch ein Treffpunkt von Literaten und Künstlern. William Shawn, damals Lektor des New Yorker, war berühmt dafür, dass er dort an fünf Tagen die Woche ausgiebig frühstückte. Das Algonquin hatte keine Bar im eigentlichen Sinne, oder vielmehr eine kleine, die an die Wand der großen, eigentlich recht schäbigen Lobby geschoben worden war. Hier trafen sich Intellektuelle und Künstler und genossen ihren Drink. Polstersessel und Sofas füllten den Raum, dazu herrschte ein angenehmes Stimmengewirr.

Ich weiß nicht mehr, wie ich sie erkannte (das war lange vor den Zeiten des Internets), aber da saß Sarah, eine kleine, schmale Frau mit kurzen dunklen Haaren und einem Gesicht, das so klug wie freundlich war. Auf dem Tisch neben ihr stand eine offene Flasche Chablis und nachdem ich mich vorgestellt und in einen Sessel gesetzt hatte, der im rechten Winkel zu ihrem stand, hob sie die Flasche und zog fragend eine Augenbraue hoch. Auf mein Nicken hin goss sie einen ordentlichen Schluck in das leere Glas neben dem ihren. Dann holte sie ihre Pfeife hervor (sie war eine berühmte Pfeifenraucherin), stopfte sie, zündete sie an und wir kamen ins Reden!! Wenn mich meine Erinnerung nicht täuscht, tranken wir mindestens noch ein Flasche Chablis, oder vielleicht waren es auch eher zwei. Irgendwann, es war kurz vor Mitternacht und die Putzleute saugten bereits die Lobby. waren wir die letzten Gäste. Ich war eigentlich mit meinem damaligen Partner zum Abendessen verabredet und rannte zu einem öffentlichen Telefon (es gab noch keine Handys) entschuldigte mich wortreich und versicherte ihm, dass ich nicht verunglückt war.

Noch nie in meinem Leben hatte ich jedes Zeitgefühl verloren – ich bin ein nüchterner Mensch, und ein wenig reserviert. Aber von Sarah ging etwas aus, was ihr Gegenüber entspannte und öffnete und sie weckte den freudigen Gesprächspartner in mir. Anfangs sprachen wir natürlich über ihre Bücher. Wie sie auf die Idee gekommen war, wie ihr erster Roman entstanden war. Von da aus gingen wir über zu den Büchern, die wir gerade lasen, und welche wir danach lesen wollten. Wir sprachen über unsere Familien. Ihre Mutter, Jean Ross, war Christoph Isherwoods beste Freundin in Berlin gewesen, und die Figur der Sally Bowles in seinen Berliner Geschichten basiert auf ihr. (Im Laufe der Jahre erfuhr ich, dass Jean Ross auch Kritikerin und Autorin und politische Aktivistin, und während des Spanischen Bürgerkriegs Kriegsreporterin gewesen war). Sarahs Vater war Claud Cockburn, kommunistischer Journalist in England. Wir sprachen über die Universität. In Oxford hatte sie Jura studiert und eine zentrale Rolle dabei gespielt, dass Frauen zur Oxford Union zugelassen wurden, dem hoch renommierten Debattierclub.  Als uns schließlich klar wurde, wie spät es war, stand Homer im Zentrum unseres Gesprächs – sie war eine unbeirrbare Anhängerin der Ilias und ich werde ein Anhänger des Odysseus sein, bis ich sterbe.

Sarah wurde meine Klientin – und eine liebe Freundin. Leider ist sie viel zu jung gestorben – im Jahr 2000 mit nur 60 Jahren. Aber sie lebt weiter in den 4 wunderbaren Romanen, die sie uns hinterlassen hat. Im Mittelpunkt ihrer Kriminalromane stehen das Liebesleben, der Witz und der juristische Scharfsinn einer Gruppe junger Rechtsanwälte, Mitglieder der Chancery Bar am Lincoln’s Inn in London, erzählt von Hilary Tamar, Oxford Professor für Rechtsgeschichte. Sarahs außerordentliche Intelligenz, Ironie und listige Lebensfreude werden Ihnen auf jeder Seite ihrer Romane begegnen.

PS: Vielleicht wird Ihnen Sarahs überraschend moderner literarischer Trick, eine der Hauptfiguren betreffend, auffallen. Ob Sie das bemerken oder nicht, wird Ihnen eine Menge verraten über Ihre Fantasie.

Barney Karpfinger im Mai 2021

Die in diesem Buch beschriebenen Charaktere und Ereignisse sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit lebenden Personen oder einem tatsächlichen Vorfall ist rein zufällig.

Diese Seite ist die Ausnahme von der Regel,

dass meine Freunde

J.T. und J.B. niemals einer Meinung sind.

Die Seiten, die hier folgen, sind ihnen beiden gewidmet.

In Dankbarkeit für ihre Freundlichkeit, Ermutigung

und die zahllosen Drinks im Corkscrew.

INHALT

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

PROLOG

Mag meine Offenheit mich auch noch so teuer zu stehen kommen – ich werde meine Leser nicht täuschen. Aufgrund einer Laune des Verlegers und meinen Protesten zum Trotz soll die Öffentlichkeit glauben, der folgende Bericht sei reine Fiktion. Nun, einen so haarsträubenden Schwindel werde ich auf keinen Fall unterstützen. Was folgt, ist kein Hirngespinst, sondern die schlichte, ungeschönte Wiedergabe realer Ereignisse, die, so fürchte ich, nur für Leser mit akademischen Neigungen von Interesse sind. Einige, vielleicht sogar viele, die sich von diesem Buch eher Unterhaltung als Belehrung erhofft haben, werden vielleicht zu ihrem Buchhändler eilen und mit allem Nachdruck, womöglich gar unter Androhung rechtlicher Schritte, die Rückerstattung des Kaufpreises verlangen, den aufzuwenden man sie verleitet hat. Diese Leser werden mir hoffentlich zugutehalten, dass ich ihnen durch mein freimütiges Geständnis an dieser Stelle ermögliche, das Buch ungelesen und in nahezu ungebrauchtem Zustand zurückzugeben. Ich für meinen Teil (für Verleger und Buchhändler kann ich nicht sprechen) würde lieber auf die bescheidene Summe verzichten, die mir aus dem Verkauf zufließt – sehr bescheiden, mager ist vielleicht das bessere Wort, fast möchte man sagen armselig – würde, wie gesagt, weitaus lieber auf diesen Betrag verzichten, als mich unter Vorspiegelung falscher Tatsachen zu bereichern.

Ach, geneigter Leser, könnte ich mich nur mit dem Rüstzeug der Literatur an mein Werk begeben, statt allein mit dem der Wissenschaft. Wäre es dem Historiker bloß gestattet, sich der Kunst verpflichtet zu fühlen, statt der Wahrheit, und folglich Schilderungen mit Szenen zu würzen, die nur auf Gerüchten und Spekulationen basieren. Mehr als alles andere wünschte ich, ich könnte meine Geschichte dort beginnen lassen, wo Schriftsteller dies gewöhnlich tun, nämlich am tatsächlichen Ausgangspunkt der tragischen Ereignisse, von denen zu berichten ich die Absicht habe: dem Verfassen des Testaments von Sir James Remington-Fiske an einem Märztag im Jahre 1934 in den Räumen der Rechtsanwaltssozietät der Solicitors Tancred & Co. in Lincoln’s Inn Fields.

Wie virtuos, mit welch liebevoller Detailfülle würde der Romancier diese Szene schildern: das dunkle, altmodische Büro, die Wände bedeckt mit Urteilssammlungen und Enzyklopädien der Rechtsgeschichte, das Fenster, das den Blick auf die rechteckige Grünfläche von Lincoln’s Inn Fields freigibt, und der übermüdete, seriös gekleidete Anwaltsgehilfe, der, auf seinem hohen Hocker sitzend, die Reinschrift des Testamentes anfertigt, den Entwurf mühsam und in gestochener Handschrift auf Pergament überträgt. (So kurz bevor der Mandant eintraf, um es zu unterzeichnen? Ja, ich denke schon. Da Sir James bereits einen Monat später starb, darf man wohl davon ausgehen, dass er um seinen Zustand wusste und die Verfassung seines letzten Willens eine Angelegenheit von größter Dringlichkeit und Eile war.) Die fahlen Sonnenstrahlen spielen Haschen mit den Frühlingswolken, purpurfarbene Krokusse leuchten am Fuße der kahlen Bäume, ein Mädchen in einem hübschen Kleid geht vorbei und der Wind zerzaust ihr Haar. Als der Schreiber aufschaut und sie sieht, lächelt er und kehrt leichteren Herzens an seine Arbeit zurück.

Ein Wagen – ein Rolls-Royce vermutlich – hält vor dem Gebäude, der Motor surrt vornehm leise. Der Mann, der aus dem Fond steigt, hat auf den ersten Blick die robuste Statur, die ihn für die Jagd im rauen Gelände schottischer Moore zu prädestinieren scheint, und jene kräftige Gesichtsfarbe, die dieser Sport mit sich bringt, doch wenn man genauer hinschaut, erkennt man, dass das Gesicht von Krankheit gezeichnet ist, die Haut ungesunde Flecken aufweist. Die Frau an seiner Seite hat die mittleren Jahre noch nicht erreicht und ist trotz ihrer sechs Kinder immer noch eine elegante Erscheinung, doch sie wirkt beinah, als sei sie schon in Trauer. Ihr runder grauer Hut mit dem Schleier lässt sie wie eine Witwe wirken. Der Seniorpartner tritt aus seinem Büro, um das Paar mit der ernsten Ehrerbietigkeit zu begrüßen, die dem Mandanten und dem Anlass des Besuchs entspricht, und fragt besorgt …

Nein. Nein, ich kann das nicht. Ich weiß nicht, ob Sir James groß oder klein war oder welch einen Hut seine Frau trug, die Krokusse könnten ebenso gut gelb gewesen sein und vielleicht ist an jenem Tag kein hübsches Mädchen in Lincoln’s Inn Fields spazieren gegangen. Ich weiß es nicht und kann es nicht erfinden, denn die Gelehrsamkeit ist ein Diener der Wahrheit, nicht der Kunst. Vergeben Sie mir, geneigter Leser: Mein Bericht muss fast ein halbes Jahrhundert später einsetzen, an dem Tag nämlich, da dieser Fall mich zu interessieren begann.

1

Hilary Tamar – Mr Shepherd hat angerufen und bittet Sie, so schnell wie möglich nach London zu kommen. Sie können bei ihm übernachten und er lädt Sie zum Essen ein. Er sagt, es gehe um einen Mord.

Diese Nachricht, die mich in meinem Postfach in der Pförtnerloge des St George’s College erwartete, verblüffte mich ziemlich. Wenn mein ehemaliger Schüler Timothy Shepherd, heute praktizierender Barrister in Lincoln’s Inn, mir eine Einladung schickte, nahm ich diese nur zu gerne an. In der sechsten Woche des Sommertrimesters lasteten die akademischen Verpflichtungen schwer auf meinen Schultern und die Aussicht, einen Tag oder zwei fern von Oxford zu verbringen, war äußerst reizvoll. Doch der drängende Ton seiner Einladung war mir unerklärlich und was den Mord betraf …

Neugier beflügelte meine Schritte, als ich den Innenhof überquerte und die Treppe zu meinem Büro hinaufstieg. Ich rief Timothys Kanzlei an und eine verdrossene, feindselige Stimme am anderen Ende ließ mich ahnen, dass ich an eine Aushilfsschreibkraft geraten war. Unwillig räumte sie ein, dass Timothy zu sprechen sei.

»Hilary«, sagte mein einstiger Schüler. »Wie nett, dass du gleich zurückrufst. Wann kannst du nach London kommen?«

»Timothy«, erwiderte ich. »Was hat es mit diesem Mord auf sich?«

»Tja.« Er klang äußerst selbstzufrieden. »Dacht ich’s mir doch, dass dich das interessieren würde. Erinnerst du dich zufällig an den Remington-Fiske-Antrag?«

»War das die Geschichte mit dem griechischen Jungen, der eine so verheerende Wirkung auf Julia hatte?«

»So ist es. Du erinnerst dich?«

Allerdings, das tat ich.

Es war etwa drei Monate zuvor gewesen, an einem Donnerstag Ende Februar. Die Verpflichtung einem alten Freund gegenüber hatte mich gezwungen, an einem Seminar an der London School of Economics teilzunehmen. Um viertel nach fünf hielt ich es nicht mehr aus, schlich mich nach Lincoln’s Inn Fields und suchte Zuflucht in Nr. 62 New Square.

Ich ersparte es mir, mich im Vorzimmer anzumelden, denn Henry, der Bürovorsteher, ist mir nicht besonders gewogen. Stattdessen stieg ich die nackte Steintreppe zur zweiten Etage hinauf; dort waren Lincoln’s Inns jüngere Mitglieder untergebracht und der Ort wurde allgemein Kindergarten genannt. Timothys Büro war verwaist. Als ich an die gegenüber liegende Tür klopfte, wurde ich hereingebeten.

Desmond Ragwort und Michael Cantrip saßen sich an ihren Schreibtischen gegenüber und ihr Anblick bot eine recht dekorative Allegorie von ›Tugend‹ im Widerstreit mit ›Laster‹. Aus der feinen Röte, die die sonst übliche vornehme Blässe von Ragworts marmornen Wangen vertrieben hatte, und dem mutwilligen Funkeln in Cantrips pechschwarzen Augen schloss ich, dass Cantrip etwas getan hatte, was Ragwort missbilligte – ein Umstand, der nicht selten vorkam und deshalb nicht meine Neugier weckte.

Timothy, drei oder vier Jahre älter als die beiden anderen, stand am Kamin, seine lange, knochige Gestalt ans Sims gelehnt und einen Ellbogen aufgestützt. Er verschmähte die Bequemlichkeit des ausladenden Ledersessels gegenüber dem Fenster, der, jedenfalls soweit ich es von der Tür aus beurteilen konnte, unbesetzt war. Seine herzliche Begrüßung war äußerst schmeichelhaft.

»Hilary! Was für eine schöne Überraschung. Was führt dich nach Lincoln’s Inn?«

»Ich bin auf der Flucht vor einem Rudel Soziologen«, gestand ich, »und dachte, eure Gesellschaft könnte mich vielleicht aufheitern.«

»Soll heißen, du spekulierst darauf, dass wir dich zu einem Drink ins Corkscrew einladen«, sagte eine Stimme aus den Tiefen des Ledersessels.

Ein Richter vom Land, der einmal als Gast am High Table im St George’s College neben mir gesessen und mir diese Stimme mit den Worten beschrieben hatte, sie habe den Klang von Hymettos-Honig, verfeinert mit einem Tröpfchen Zitronensaft. Und so hätte es des kurzen Blickes auf den blonden Schopf und die zierliche Stupsnase gar nicht bedurft, den ein zweiter Blick auf den Ledersessel mir gewährte, um zu erkennen, dass er doch belegt war, und zwar vom vierten Mitglied des Kindergartens: Selena Jardine.

»Ich habe mit dem Gedanken geliebäugelt«, räumte ich ein. »Welch ein glücklicher Zufall, dass Ihr alle im Augenblick nicht beschäftigt seid.«

»Nicht beschäftigt?«, wiederholte Ragwort. »Aber Hilary, du glaubst doch wohl nicht, dass wir unsere Arbeit schon so früh am Nachmittag haben fallen lassen, um uns eitler Plauderei zu widmen? Hier findet gerade eine Konferenz statt.«

»So ist es«, stimmte Cantrip zu. »Wir müssen allesamt morgen früh beim alten Loppylugs antanzen und ihn überreden, eine Treuhandverfügung auszuhebeln.«

Cantrip hat an der Universität von Cambridge studiert – wobei ›studieren‹ hier im allerweitesten Sinne zu verstehen ist – und ich habe manchmal Schwierigkeiten, ihn zu verstehen. Durch unsere langjährige Bekanntschaft bin ich inzwischen hinreichend mit dem Cambridge-Idiom vertraut, um zu ahnen, dass die Mitglieder des Kindergartens mit einem Antrag nach dem Treuhandänderungsgesetz beschäftigt waren, der am folgenden Tag dem ehrenwerten Richter Lorimer vorgetragen werden sollte.

Selena erklärte: »Es geht darum, unseren Mandanten eine gewaltige Summe Erbschaftssteuer zu ersparen. Zu diesem Zweck wollen wir – in Abänderung des Nießbrauchs auf Lebenszeit einer alten Dame von Ende Achtzig – die treuhänderische Bindung der Erbmasse aufheben. Die alte Dame ist leider nicht bei bester Gesundheit. Die Steuerersparnis tritt aber nur ein, wenn diese Änderung noch zu ihren Lebzeiten rechtskräftig wird. Darum müssen wir verhindern, dass unsere Beweisführung irgendeinen Mangel aufweist, der uns zwingen könnte, eine Vertagung zu beantragen. Deshalb gehen wir das Papier jetzt noch einmal durch. Wir wollen sicher sein, dass alles in Ordnung ist.«

Nach längerer Debatte entschieden sie, dass die Beweise nicht vertraulicher Natur waren und ich zuhören durfte. Anschließend würden wir uns umgehend zum Corkscrew begeben, versprachen sie. Nachdem ich mich auf dem unbequemsten der vorhandenen Stühle niedergelassen hatte, der sonst Mandanten oder Solicitors – Juristen ohne Gerichtszulassung – vorbehalten war, begann Selena, die beeidigte Erklärung ihrer Mandantin zu verlesen.

Ich, Jocasta Fiske-Purefoy, wohnhaft in Fiske House, Belgrave Place, London S.W.l, verwitwet, versichere unter Eid die Richtigkeit des hier Folgenden:

1. Ich bin Antragstellerin in diesem Verfahren und die nachfolgend aufgeführten Fakten entstammen, soweit keine andere Quelle ausdrücklich genannt ist, meiner Kenntnis.

2. Ziel dieses Antrages ist es, die Zustimmung des hohen Gerichts zur Abänderung der Verfügungen des Testamentes vom 20. März 1934 des Sir James Remington-Fiske, Baronet (im Folgenden ›Erblasser‹ genannt), verstorben am 16. April 1934, zu erwirken. Die Testamentsbestätigung wurde per Beschluss des Nachlassgerichtes vom 30. Mai 1934 erteilt.

3. Ein Stammbaum der Familie, welcher die derzeit lebenden Personen umfasst, die jetzt oder in Zukunft von den Verfügungen des o.g. Testamentes profitieren, wird mir an dieser Stelle vorgelegt und als Anlage ›J.F.-P.1.‹ bezeichnet. Die relevanten Geburts-, Heirats- und Sterbeurkunden wurden mir ebenfalls vorgelegt und zusammengeheftet unter der Bezeichnung Anlage ›J.F.-P.2.‹

Zum leichteren Verständnis habe ich für meine Leser eine Kopie dieser Anlage J.F.-P.1. meinem Bericht vorangestellt. Sicher ist Ihnen aufgefallen, dass die Geburts-, Heirats- und Todesdaten der Nachkommen des Baronets unvollständig sind, ein Umstand, der Selena verärgerte. Sie erwarte wirklich nicht viel von ihren Auftraggebern, den Solicitors Tancred & Co., erklärte sie, aber sie hätte doch gehofft, dass sogar eine so verschlafene Sozietät in der Lage sei, einen Familienstammbaum zu erstellen.

»Wir haben doch die Urkunden«, sagte Ragwort. »Wenn ich die durchblättere und die Daten notiere, während du die Versicherung vorliest, können wir das dem Richter in der Verhandlung übergeben.«

»Mit einer Entschuldigung«, fügte Selena hinzu, immer noch leicht verstimmt. »Denn es ist ein Verstoß gegen die Vorschriften. Trotzdem danke. Ragwort, das wäre sehr freundlich.«

4. Wie aus dem Stammbaum ersichtlich, hinterließ der Erblasser seine Witwe, Lady Frances Remington-Fiske, die heute noch lebt, und sechs Kinder. Seine drei Söhne sind inzwischen unverheiratet und ohne Nachkommen verstorben. Die beiden jüngeren sind im Zweiten Weltkrieg gefallen, der älteste starb einige Jahre später.

5. Ich bin die älteste der drei Töchter des Erblassers. Ich bin fünfundsechzig Jahre alt und war einmal verheiratet, nämlich mit dem verstorbenen Leonard Charles Purefoy. Aus der Ehe ging ein Kind hervor, meine bereits verstorbene Tochter Petronella. Petronella war einmal verheiratet, nämlich mit Rupert Galloway. Meine Enkeltochter, Camilla Fiske-Galloway, ist das einzige Kind aus dieser Ehe.

6. Die zweitälteste Tochter des Erblassers war meine verstorbene Schwester Lalage, die einmal verheiratet war, nämlich mit dem verstorbenen Arthur Robinson. Meine Nichte Deirdre Robinson ist das einzige Kind aus dieser Ehe.

»Es gibt bestimmt höchst angesehene Leute, die Robinson heißen«, bemerkte ich. »Aber ich habe den Verdacht, hier wurde nicht unbedingt standesgemäß geheiratet.«

»Genauso ist es«, bestätigte Selena. »Nachdem sie ihre erste Jugend – und auch den Großteil ihrer zweiten Jugend – in pflichterfüllter Jungfernschaft verlebt hatte, schnupperte Lalage die tabufreie Luft der Sechziger und brannte mit einem Automechaniker durch. Ich vermute, die Familie war nicht sehr erfreut.«

7. Meine Tochter Petronella und meine Schwester Lalage kamen bei einem tragischen Verkehrsunfall ums Leben. Auch der vorgenannte Ehemann meiner Schwester, der am Steuer saß, erlitt tödliche Verletzungen.

8. Zum Zeitpunkt dieser Tragödie war Camilla fünf Jahre und Deirdreein Jahr alt. Es wurde entschieden, dass beide Kinder fortan in Fiske House wohnen sollten, wo ich seit dem Tod meines Gatten mit meiner Mutter lebe. Sie wohnen noch heute dort mit meiner Mutter und mir. Camilla ist inzwischen einundzwanzig Jahre alt und studiert im zweiten Jahr Jura an der Universität von Cambridge. Deirdre ist siebzehn, folglich noch minderjährig und absolviert derzeit ihr letztes Schuljahr.

9. Meine Schwester Dorothea ist das jüngste Kind des Erblassers, heute zweiundfünfzig Jahre alt und war zweimal verheiratet. Ihre erste Ehe mit George Edward Fairfax wurde geschieden. Heute lebt sie mit ihrem zweiten Ehemann, nämlich Konstantin Demetriou, welcher griechischer Staatsbürger ist, in der Villa Miranda nahe der Ortschaft Kassiopi auf Korfu. Aus der ersten Ehe gingen zwei Kinder hervor, die Zwillinge Lucian und Lucinda Fairfax, die heute dreiundzwanzig Jahre alt sind. Aus zweiter Ehe hat meine Schwester einen Sohn, nämlich Leonidas Demetriou, der heute sechzehn Jahre und folglich noch minderjährig ist. Alle drei Kinder leben bei meiner Schwester auf Korfu, wenngleich die Zwillinge viel reisen und Leonidas das Godmansworth College, ein englisches Internat, besucht.

10. In besagtem Testament übertrug der Erblasser …

»Augenblick«, unterbrach Cantrip. »Sollte an der Stelle nicht stehen, dass irgendwer ihr eine Kopie des Testaments unter die Nase gehalten hat, die als Anlage J.F.-P. Nummer Dingsbums beigefügt wird?«

Die schockierten Reaktionen seiner Kollegen machte mir klar, dass sie dies für einen völlig abwegigen Vorschlag hielten. Die gerichtliche Testamentsbestätigung – soll heißen, die vom Nachlassgericht beglaubigte Fotokopie des Testaments, die in ein Dokument eingeheftet ist, welches die Bestallung der Nachlassverwalter bestätigt – diese gerichtliche Testamentsbestätigung also wurde als Teil einer richterlichen Verfügung angesehen und bedurfte daher keiner Verifikation. Sie gehörte zu den Unterlagen, die dem Gericht bereits vorlagen, und war über jeden Zweifel erhaben. Etwas anderes anzudeuten, ist ein grober Schnitzer oder, wie die Juristen es nennen, ein Solözismus.

»Kommt mir bloß nicht mit Solipsismus«, fuhr Cantrip fort. »Wenn ich der arme alte Loppylugs wäre, würde ich mich lieber mit ein paar Solipsismen abfinden, als mich durch diese Testamentsbestätigung zu arbeiten. Ich wette, es ist eins von diesen altmodischen Dingern: handschriftlich, ohne Kommas … Kommata, meinte ich, keine Absätze und zig Seiten lang.«

»Niemand erwartet, dass Richter Lorimer die Testamentsbestätigung tatsächlich liest«, sagte Selena. »Ich will doch hoffen, dass Tancred & Co. ihm eine getippte Abschrift angefertigt hat, genau wie die, die uns vorliegt. Aber das soll die Sache nur vereinfachen, verstehst du; es hat nichts mit den Beweisstücken zu tun.«

Ich gab mir große Mühe, mich von dieser haarfeinen Unterscheidung weniger verwirrt zu zeigen als Cantrip.

… die Verwaltung seines Grundbesitzes (der hauptsächlich aus größeren Agrarflächen im County Wiltshire bestand) seinen Treuhändern. Nießbraucher des Treuhandvermögens ist seine Witwe Lady Frances Remington-Fiske auf Lebenszeit. Nach deren Ableben sollte der Nießbrauch auf Lebenszeit auf seinen ältesten Sohn James übergehen, dessen alleiniger Nacherbenanspruch als unveräußerliches Erbgut an James’ ältesten Sohn, der das einundzwanzigste Lebensjahr vollendete, dessen alleiniger Nacherbenanspruch als unveräußerliches Erbgut an den Zweitältesten und jeden weiteren von James’ Söhnen, die dieses Alter erreichten und zwar in der Rangordnung ihrer Geburt, deren alleiniger Nacherbenanspruch sollte dann als unveräußerliches Erbgut auf James älteste Tochter übergehen, wenn sie einundzwanzig wird oder zuvor heiratet, deren alleiniger Nacherbenanspruch wiederum …

»Selena, nimmt das irgendwann ein Ende?«, fragte ich.

»Meine Zusammenfassung ist geradezu entstellend knapp«, entgegnete sie. »In allen Einzelheiten dargelegt, würden diese Verfügungen acht Seiten füllen.«

»Ich nehme an, es sind all diese alleinigen Nacherbenansprüche und unveräußerlichen Erbgüter, die dich fertig machen«, sagte Cantrip mitfühlend. »Wenn ein Kerl ein unveräußerliches Erbgut vermacht bekommt, bedeutet es, dass alles an seinen ältesten Sohn weitervererbt werden muss und dann an den ältesten Sohn seines ältesten Sohnes und immer so weiter bis zum Sankt Nimmerleinstag. Also kann er sein Erbe nicht einfach auf den Kopf hauen und das findet er vielleicht ärgerlich, aber er kann die festgelegte Erbfolge anfechten.«

Obwohl ich Mitglied der juristischen Fakultät der Universität von Oxford bin, gebe ich gern zu, dass ich mich eher den Historikern als den Juristen zugehörig fühle. Die Rechtsgepflogenheit der festgelegten Erbfolge war jedoch schon gegen Ende des dreizehnten Jahrhunderts Usus und ich kann, ohne unbescheiden zu sein, behaupten, dass sie mir hinreichend vertraut ist. Doch das sagte ich Cantrip nicht, denn ich wusste, dass er es niemals geglaubt hätte.

»Eine ununterbrochene Linie männlicher Nachkommen ist die größte Hoffnung des englischen Landeigentümers«, sagte Selena. »Sie sollen allesamt groß und rotgesichtig und jagdbesessen sein. Doch wenn er sein Testament macht, muss er die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass seine Söhne sterben und er nur Töchter hinterlassen könnte. Deshalb muss er entscheiden, ob sein Eigentum im Falle dieser unglücklichen Fügung in die inkompetenten Hände einer Tochter fallen oder nicht doch lieber an einen Angehörigen des bevorzugten Geschlechts der nächsten Generation übergehen soll. Man kann wohl sagen, dass Sir James der Geburtenfolge mehr Bedeutung beigemessen hat als dem Geschlecht, soll heißen, die Töchter eines älteren Sohnes sind vor den Söhnen eines jüngeren Sohnes an der Reihe. Vermutlich ist diese Sichtweise schon relativ progressiv«, schloss sie seufzend.

Unerbittlich verlas Selena die Nacherbenrechte aller Nachkommen des Erblassers. Da jedoch mein Pflichtgefühl Grenzen hat, werde ich von meinen Lesern nicht verlangen, aufmerksam zu verfolgen, was mich selbst nicht zu fesseln vermochte. Immerhin blieb mir aber im Gedächtnis, dass die Begünstigten des Testaments nur dann erben konnten, wenn sie die Witwe des Erblassers überlebten, und dass die Ansprüche seiner Töchter einer Schutzklausel unterlagen und im Falle eines Konkurses oder einer Veräußerung verloren gingen. Schon allein deswegen war es ratsam, das Testament nicht ohne Hilfe des Gerichts zu verändern.

Meine Aufmerksamkeit wurde wiederbelebt, als der Wert des Nachlasses erwähnt wurde: Ein Vermögen von fünf und einer Viertelmillion Pfund weckt irgendwie Interesse.

11. Die Vermögenswerte, die das im Testament des Erblassers bezeichnete Treuhandvermögen umfasst, bestehen aus den Agrarflächen, die unter I des Wertgutachtens näher bezeichnet sind, welches mir nun vorgelegt und als Anlage ›J.F.-P.3‹ beigefügt wird, und aus Investitionen (Kapital resultierend aus dem Verkauf genannter Farmen, die früher zum Landbesitz gehörten), näher bezeichnet in II des Wertgutachtens. Danach beläuft sich der Wert des Landbesitzes derzeit auf ca. £ 4.500.000 ohne unbebaute Flächen und der Wert der genannten Investitionen am Tag vor Abgabe dieser beeideten Versicherung auf £ 753.000.

»Das ist doch ein ganz ansehnliches Sümmchen«, bemerkte ich. »Und wer bekommt es nun letztendlich?«

»Hättest du zugehört, dann wüsstest du, dass Camilla es als einzige Nachkommin der ältesten Tochter erben soll, vorausgesetzt, sie überlebt ihre Urgroßmutter. Stirbt sie vor Lady Remington-Fiske und hinterlässt Kinder, dann erhalten es diese Kinder. Stirbt sie ohne Nachkommen, dann ist Deirdre Robinson als einziges Kind der zweitältesten Tochter an der Reihe. Stirbt sie ebenfalls vor der Witwe, dann geht alles an Lucian. Und so weiter. Sollten alle Nachkommen des Erblassers vor dessen Witwe sterben, fällt das letzte Nacherbenrecht an die Testamentsbegünstigten seines ältesten Sohnes. Sein ältester Sohn hat wiederum alles, was er besaß, Camilla hinterlassen, also gibt es da kein Problem.«

»Und wer von Euch vertritt nun wen?«, wollte ich wissen.

»Meine Mandantin ist Jocasta, aber ihr Hauptvertreter in der Verhandlung wird Basil Ptarmigan sein. Technisch gesehen ist all dies zwar zu Camillas Vorteil, aber dennoch ist Jocasta die Antragstellerin. Ich fand, die Höhe des Vermögens rechtfertigt, dass sie einen Hauptvertreter hat.«

»Und ich«, meldete Timothy sich zu Wort, »vertrete die Treuhänder, also Mr Tancred von der Kanzlei Tancred & Co., unseren Auftraggebern, und Camillas Vater, Rupert Galloway. Meine Aufgabe wird es sein, an deren Stelle zu erwägen, welche Folgen die Verfügungen für noch ungeborene oder unbekannte Begünstigte des Nachlasses haben könnten. Ragwort ist in einer vergleichbaren Position: Er vertritt Dorothea Demetriou, die wiederum als Bevollmächtigte für die beiden minderjährigen Begünstigten auftritt.«

»Mrs Demetriou hat klargestellt, dass sie selbst keine Ansprüche geltend machen will«, erklärte Ragwort. »Daher schien es passend und nahe liegend, dass sie ad litem als Bevollmächtigte für ihre Nichte und ihren jüngsten Sohn auftritt und ich sie vor Gericht vertrete.«

»Ich vertrete Camilla«, sagte Cantrip, »aber ich konnte sie nicht davon überzeugen, dass wir uns treffen müssen. Das macht einen wirklich krank. Da hat man mal eine sagenhaft attraktive Frau als Mandantin und kriegt keine Chance, ihr zu begegnen.«

»Woher willst du wissen, dass sie sagenhaft attraktiv ist, wenn du ihr nie begegnet bist?«, fragte ich.

»Wenn eine Frau im Begriff ist, fünf Millionen zu erben, braucht man sie nicht zu sehen, um zu wissen, dass sie sagenhaft attraktiv ist«, antwortete Cantrip.

12. Mir wurde erklärt, dass beim Tode meiner Mutter auf den Nachlass keine Erbschaftssteuer anfällt. Wird vor diesem Zeitpunkt jedoch nichts unternommen, wird beim Erlöschen meines eigenen Nießbrauchs Erbschaftssteuer in Höhe von mindestens drei Million Pfund fällig, möglicherweise auch wesentlich mehr. Ziel dieses Antrages ist es, diese Steuer zu vermeiden.

13. Ein Entwurf der angestrebten Verfügung wird mir nun vorgelegt und als Anlage ›].F.-P.5.‹ beigefügt. Sie sieht vor, dass mein Nacherbenanspruch gegen Zahlung einer Summe von £ 200.000 – erlischt. Diese Zahlung wird beim Tode meiner Mutter fällig. Die Verfügung sieht weiterhin vor, dass der Nacherbenanspruch meiner Schwester Dorothea, welcher mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ohnehin nie zum Tragen kommen würde, ohne Ausgleichszahlung erlischt.

14. Die Verfügung sieht weiterhin die Einrichtung von zwei Fonds von je £ 20.000 am Todestag meiner Mutter vor. Begünstigte dieser Fonds sollen die minderjährigen und ungeborenen Nachkommen von Lalage und Dorothea sein. Aller Wahrscheinlichkeit nach wird einer dieser Fonds an meine Nichte Deirdre Robinson und der andere an meinen Neffen Leonidas Demetriou gehen.

»Ich verstehe nicht, warum sie etwas bekommen sollten«, sagte ich. »Wenn sie nicht erben, entsteht ihnen durch die Verfügung kein Schaden, wenn sie erben, haben sie den Vorteil der Steuerersparnis.«

»Völlig richtig«, stimmte Cantrip zu, offenbar hoch erfreut über meinen Einwurf. »Genau das habe ich auch gesagt: Gebt den kleinen Schmarotzern keinen Penny. Aber Timothy und Ragwort konnten sich mit diesem Gedanken einfach nicht anfreunden.«

»Im Interesse der ungeborenen und minderjährigen Begünstigten fühlten wir uns verpflichtet, auf Anerkennung unserer Verhandlungsposition zu pochen und eine bescheidene Zahlung zu verlangen«, erklärte Timothy.

»Was sie meinen, ist folgendes«, warf Cantrip ein. »Wenn die kleinen Bälger volljährig wären, könnten sie ihre Zustimmung verweigern und so die ganze Verfügung kippen. Wenn Camilla also den dicken Steuerbescheid umgehen will, müsste sie ihnen vermutlich ein paar Tausender zustecken, damit diese kooperieren. Das wäre in ihren Augen eine angemessene Verhandlungsposition.«

Ragwort sah von seinem Dokumentenstapel auf. »Wir fanden es opportun, nicht weniger für unsere jungen Mandaten zu verlangen, als sie bei Volljährigkeit selbst verlangen könnten. Da wir bemüht waren, die goldene Mitte zwischen Habgier und Donquichotterie zu finden, kamen wir zu dem Schluss, dass vierzigtausend, hälftig geteilt, ein angemessenes Geldgeschenk sei.«

Ich fragte, ob nicht auch Dorotheas erwachsene Kinder ein Geldgeschenk erwarteten.

»Nein«, antwortete Selena. »Sie zeigen eine äußerst noble Gesinnung, sind glücklich, dass sie Camilla helfen können, Steuern zu sparen, und kämen im Traum nicht darauf, einen Penny von ihr zu nehmen. Ihr Vater, George Fairfax, ist ein erfolgreicher Handelsbankier. Ich nehme an, sie können sich eine so edle Geste leisten. Also haben wir sie einfach mit Camilla zusammen in Cantrips Mandat gepackt. Aber wenn du uns nicht unterbrechen würdest, Hilary, während wir die Dokumente bezüglich des Treuhandvermögens durchgehen, die klarmachen, dass weder Jocasta noch Dorothea die Pleite droht, dann können wir in absehbarer Zeit im Corkscrew unsere Gläser heben.«

15. Mein Rechtsberater hat mir in aller Ausführlichkeit erklärt, durch welche Handlungen oder Ereignisse ich meinen Erbschaftsanspruch verwirken könnte. Ich habe gewissenhaft erwogen, ob ich mich dergleichen je schuldig gemacht habe, und kann behaupten, dass dies nicht der Fall ist. Ich bin nicht verschwenderisch und lebe problemlos von meinem derzeitigen Einkommen, den Erträgen der Summe nämlich, die mir anlässlich meiner Hochzeit überschrieben wurde. Meine Mutter beabsichtigt, mir in ihrem Testament das Haus zu vermachen, welches wir derzeit bewohnen, und die Summe, die mir gemäß der Verfügung zufließen soll, wird ausreichen, die Kosten der Haushaltsführung zu decken, die meine Mutter derzeit bestreitet. Bei allem Respekt bin ich der Auffassung, dass die treuhänderische Bindung keinem ersichtlichen Zweck mehr dient.

16. Des Weiteren bin ich der Auffassung, dass die Verfügung den Interessen aller minderjährigen, ungeborenen und unbekannten Personen dient, die als Erben infrage kommen könnten, und bitte daher auch um ihretwillen um Bewilligung des Antrages.

Beeidet vor dem ehrenwerten Richter Lorimer am …

»Und so weiter«, schloss Selena. »Möchtest du Dorotheas Erklärung vorlesen. Ragwort? Schließlich ist sie deine Mandantin.«

»Ich bin noch nicht ganz fertig mit den Geburtsurkunden«, antwortete Ragwort. »Sei so gut und lies du sie für mich, ja?«

Dorotheas Beweisführung hinsichtlich ihres Nacherbenanspruchs besaß große Ähnlichkeit mit der ihrer Schwester – kein Wunder, denn Selena und Ragwort hatten sich am gleichen Präzedenzfall orientiert. Dorotheas Rechtsberater hatten ihr ebenfalls in aller Ausführlichkeit erklärt, unter welchen Umständen ihr Erbanspruch verfallen wäre, sie hatte ebenso gewissenhaft erwogen, ob sie sich diesbezüglich je etwas hatte zu Schulden kommen lassen, doch sie war wenig verschwenderisch und zudem in der Lage, von ihren Einkünften zu leben. Das Haus, in dem sie auf Korfu wohnte, gehörte ihr und ihrem Mann zu gleichen Teilen, außerdem besaß sie eine Wohnung in Hampstead, die sie mit ihren Kindern bewohnten, wenn sie sich in London aufhielten. Sie war Designerin und Miteigentümerin einer kleinen Fabrik nahe Kassiopi, wo Töpfereiartikel hergestellt wurden, und sie verfügte darüber hinaus über Zinseinkünfte – und zwar ziemlich hohe, so schien es, bedachte man die Umstände – aus der Abfindung, die sie anlässlich der Scheidung von ihrem ersten Ehemann erhalten hatte. Bei allem Respekt war sie der Auffassung und so weiter…

»Ragwort, du siehst so beunruhigt aus«, bemerkte Selena. »Stimmt etwas nicht?«

»Weißt du zufällig, welches Datum wir heute haben?«, fragte Ragwort.

»Den sechsundzwanzigsten Februar.«

»Das habe ich befürchtet«, sagte Ragwort mit finsterer Miene. »Deirdres Geburtstag war am dreiundzwanzigsten.«

»Na und? Sie wird kaum erwartet haben, dass wir ihr etwas schenken, oder?«, warf Cantrip ein.

»Es war ihr achtzehnter Geburtstag«, erklärte Ragwort. »Sie ist volljährig.«

Ohne recht zu begreifen warum, ahnte ich, dass die Chancen auf eine baldige Erfrischung im Corkscrew sich dramatisch verschlechtert hatten. Man hätte doch annehmen sollen, dass Ragwort ein Mädchen von achtzehn ebenso kompetent vertreten konnte wie eines von siebzehn. Aber nein, das kam nicht infrage. Es war die Pflicht ihrer Rechtsberater, sie jetzt, da sie volljährig war, über die Einzelheiten der angestrebten gerichtlichen Verfügung genauestens zu informieren und über ihr Recht, ihre Zustimmung zu verweigern. Danach könnte sie jedoch auf den Gedanken kommen, andere Konditionen zu verlangen als die, die Ragwort ausgehandelt hatte, und ihn so in eine äußerst peinliche Situation bringen.

»Es hilft alles nichts«, sagte Timothy. »Sie braucht einen eigenen Rechtsberater. Wir sollten lieber sofort bei Tancred & Co. anrufen und es ihnen sagen. Ein Jammer, wenn man bedenkt, wie eilig der Antrag ist. Ich glaube kaum, dass sie rechtzeitig für den Termin morgen jemanden finden.«

»Unsinn«, widersprach Selena. »Wir sagen ihnen, sie sollen Julia das Mandat übertragen. Ich rufe an und finde heraus, ob sie noch da ist.«

Als Selena eine Stunde später im Corkscrew zu uns stieß, sah sie äußerst zufrieden aus. Sie nahm ihren Platz am kerzenerhellten Eichentisch ein und ließ sich von Timothy ein Glas Rotwein einschenken.

Die Lage habe sich durchaus nach Wunsch entwickelt, meinte sie. Julia sei gewillt, das Mandat zu übernehmen, Tancred & Co., es zu erteilen; die erforderlichen Telefonate seien erfolgreich geführt worden und die junge Deirdre sei mit einem Taxi unterwegs nach Lincoln’s Inn, wo Julia sie erwarte, um sie zu beraten.

»Es wird Julia guttun, sich einmal mit einer gewöhnlichen Nachlass-Sache zu befassen«, bemerkte Selena. »In einer reinen Steuerrechtskanzlei läuft man Gefahr, den Kontakt zum wirklichen Leben zu verlieren.«

Da sie dem wirklichen Leben nur selten begegnete, bestand Julias Strategie darin, sich ganz still zu verhalten und zu hoffen, dass es sie übersehen und wieder verschwinden werde. Deshalb befürchtete ich, dass die raue Wirklichkeit eines Antrags zum Treuhandänderungsgesetz sie überfordern könnte, doch die zu erwartende finanzielle Entlohnung rechtfertigte vermutlich das Risiko.

»Ich habe Tancred & Co. gegenüber angedeutet, dass sie Miss Larwood dieses Mandat ausgesprochen kurzfristig antragen und ihr Büro bestimmt erwartet, dass sich diese Tatsache auf die Höhe des Honorars auswirkt. Dann hab ich ihren Bürovorsteher angerufen und gesagt, was er fordern soll. Das Honorar wird also großzügig ausfallen.«

Timothy erstand eine zweite Flasche Wein und die Unterhaltung wandte sich den bei den Anwälten des Kanzleigerichts beliebten Themen zu: den Unzulänglichkeiten der Administration und des Büropersonals. Die Tyrannei ihres Bürovorstehers Henry und die Inkompetenz der Teilzeitschreibkraft wurden hingebungsvoll, detailliert und mit anschaulichen Anekdoten geschmückt erörtert. So verging die Zeit auf das Angenehmste und eine dritte Flasche war gerade entkorkt worden, als eine weibliche Erscheinung ins Corkscrew stolperte: ihr dunkles Haar war zerzaust, ihre Kleidung ein heilloses Durcheinander und sie sah sich so verwirrt wie beunruhigt um, als wisse sie nicht, wo sie sich befand oder befinden sollte. Da Julia meistens so auftrat, schöpften wir keinerlei Verdacht.

Sie legte den Weg von der Tür zu unserem Tisch ohne größere Missgeschicke zurück – das heißt, ohne Gläser umzustoßen oder über anderer Leute Aktenkoffer zu stolpern – und ließ sich erschöpft in einen der Sessel sinken. Ich erkannte sofort, dass ihr etwas Sorgen bereitete. Ihre Begrüßung war noch zerstreuter als sonst und selbst ihre Komplimente an Ragwort waren nicht so euphorisch wie üblich. Sie steckte sich eine Gauloise an, nahm einen kräftigen Schluck aus ihrem Rotweinglas und blickte schuldbewusst in die Runde.

»Ich glaube zwar nicht, dass es meine Schuld ist,« begann Julia, »aber ich fürchte, es wird euch nicht gefallen.«

»Natürlich ist es nicht deine Schuld«, erklärte Selena großmütig. »Wo genau liegt denn das Problem? Ist deine Mandantin nicht erschienen?«

»Nein, nein, das ist es nicht. Die Solicitors haben sie wie geplant vor etwa einer halben Stunde bei mir abgeliefert und es mir überlassen, ihr den Antrag zu erklären.«

»Und sie begreift nicht, worum es geht?«

»Oh, ich denke, sie ist über die entscheidenden Details durchaus im Bilde.« Julia trank einen weiteren großen Schluck Wein und zog an ihrer Zigarette. »Ich habe ihr selbstverständlich klargemacht, dass sie nicht verpflichtet ist, dem Antrag zuzustimmen und ablehnen kann, wenn ihr das lieber ist.«

»Natürlich«, stimmte Selena zu. »Das war nur recht und billig, Julia.«

Die schien nicht so sicher.

»Ach du meine Güte«, sagte Timothy. »Sie hat doch nicht etwa ihre Zustimmung verweigert?«

»Das kann sie nicht!«, warf Cantrip entrüstet ein.

»O doch«, widersprach Ragwort. »Das kann sie durchaus.«

»Ich würde nicht sagen, dass meine Mandantin ihre Zustimmung verweigert.« Julia leerte ihr Glas und starrte versonnen hinein. »Jedenfalls nicht direkt.« Ihre Miene hellte sich plötzlich auf, als habe sie eine erleuchtende Inspiration. »Es wäre treffender zu sagen, dass sie eine Änderung des Antrags erbittet. Wirklich nur eine ganz unerhebliche Änderung, der Antrag müsste kaum umformuliert werden. Dieser Rotwein ist wirklich wunderbar, mir geht es schon viel besser. Kann ich noch ein Glas haben?«

»Natürlich«, antwortete Selena. »Und kannst du uns sagen, worin diese unerhebliche Änderung besteht?«

»Momentan sieht die Verfügung, wenn ich mich recht entsinne, bei Erlöschen des derzeitigen Nießbrauchs eine Zahlung von zwanzigtausend Pfund an meine Mandantin vor, richtig?« Alle nickten. »Die kleine Abänderung, die uns vorschwebt«, fuhr Julia fort, »ist die Aufstockung auf einhunderttausend Pfund.«

Schockiertes Schweigen.

»Hunderttausend?« Cantrip hatte erkennbar Mühe, seine Sprachlosigkeit zu überwinden. »Wenn du glaubst, dass meine Mandantin zusätzlich achtzigtausend locker macht, dann hast du offenbar noch ein paar Tassen weniger im Schrank, als ich bisher angenommen habe. Das kannst du dir abschminken, Larwood, altes Haus.« Die professionellen Wortgefechte kanzleigerichtlicher Anwälte werden normalerweise nicht in diesem Ton geführt, aber Julia und Cantrip hatten einmal eine Art Beziehung gepflegt, die gern mit „intimer als Freundschaft“ umschrieben wird, was ihren Verzicht auf Förmlichkeiten möglicherweise erklärt.

»Mein lieber Cantrip«, entgegnete Julia. »Ich brauche mir gar nichts abzuschminken. Wenn deine Mandantin wünscht, dass wir ihrem Antrag zustimmen, dann kostet sie das hunderttausend Pfund. Über die Höhe dieser Summe besteht von unserer Seite aus keinerlei Verhandlungsbereitschaft. Du möchtest dich sicher mit deiner Mandantin beraten – soweit ich weiß, ist Camilla heute Abend in London; das sollte also kein Problem sein.«

»Nun, ich werde ihr raten, deiner Mandantin zu empfehlen, den Mund zu halten. Das ist Erpressung.«

»Ich bedaure, dass du es so siehst, Cantrip, ›eine starke Verhandlungsposition‹ ist eher der passende Ausdruck, findest du nicht?«

»Nein, das finde ich ganz und gar nicht. ›Erpressung‹ ist der passende Ausdruck.«

»Wie auch immer. Wir sind hoffentlich schon zu lange befreundet, um uns über semantische Fragen zu streiten. Natürlich musst du deiner Mandantin raten, was du für richtig hältst. Aber wenn ich es recht verstanden habe, beträgt die zu erwartende Erbschaftssteuer drei Millionen Pfund, wenn zu Lebzeiten der Witwe nichts geschieht. Ich kann mir kaum vorstellen, dass du über die kleine Niederlage so gekränkt bist, dass du die Erbschaft deiner Mandantin womöglich um diese horrende Summe reduziert sehen willst?«

»Moment mal, Larwood. Sei doch vernünftig. Du erwartest doch nicht ernsthaft von mir, dass ich Tancred bitte, Camilla mitten in der Nacht aus dem Bett zu holen …«

»Es ist erst halb acht«, warf Selena ein.

»Meinetwegen, sie zu fortgeschrittener Stunde beim Abendessen zu stören, um ihr zu sagen, dass sie weitere achtzigtausend Pfund ausspucken muss …«

»Ich fürchte«, unterbrach Timothy, »dass es sich um weitere hundertundsechzigtausend Pfund handelt. Ich bedaure, deinen Kummer zu mehren, Cantrip. Aber wenn Deirdre hunderttausend bekommt, sehe ich keinen Grund für Ragwort und mich, einer geringeren Summe für Dorotheas minderjährige und ungeborene Nachkommen zuzustimmen. Der Richter würde es höchst merkwürdig finden, das musst du doch einsehen.«

»Süßer, seliger Raffzahn«, fluchte Cantrip und fasste sich mit einer dramatischen Geste an die Stirn. »Es sollte ein Gesetz geben, das so etwas verbietet. Soll ich Camilla sagen, dass sie weitere hundertsechzigtausend Pfund ausspucken muss, wenn sie will, dass die Verfügung erlassen wird, und dass sie bis morgen früh halb elf Zeit hat, sich zu entscheiden.«