Blöder Hund - Michael Lüders - E-Book

Blöder Hund E-Book

Michael Lüders

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Beschreibung

Carl, Architekt aus Worpswede, hat die Schnauze voll und will sich ins Jenseits befördern. Nach einem kläglichen ersten Versuch begibt er sich ins Teufelsmoor – und erlebt eine Überraschung. Direkt vor seinen Füßen landet ein Raumschiff vom Planeten Zorr. Ihm entsteigt Yrr, ein umtriebiger Außerirdischer, der jede Gestalt annehmen kann. Im Handumdrehen wird aus ihm Konrad, ein Pudel, der Carl nach Hause folgt und für große Konfusion sorgt. Yrr weiß, dass ihm nicht viel Zeit bleibt: Geplagt von unendlicher Langeweile wollen die Zorraner die Erde sprengen, um Platz zu schaffen für einen intergalaktischen Freizeitpark. Blöder Hund von Michael Lüders: im eBook erhältlich!

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Michael Lüders

Blöder Hund

Roman

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Erstes KapitelZweites KapitelDrittes KapitelViertes KapitelFünftes KapitelSechstes KapitelSiebtes KapitelAchtes KapitelNeuntes KapitelZehntes KapitelElftes KapitelZwölftes KapitelDreizehntes KapitelVierzehntes KapitelFünfzehntes KapitelSechzehntes KapitelSiebzehntes KapitelAchtzehntes Kapitel
[home]

Erstes Kapitel

Die Schlinge um den Hals

Den Beschluss, sich das Leben zu nehmen, fasste Carl Siering im Badezimmer, sich wie üblich selbst befriedigend. Die frühmorgendliche Handreichung unter der Dusche war der einzige Höhepunkt, den sein Leben noch bereithielt. In wenigen Tagen würde er vierzig werden – höchste Zeit, die Notbremse zu ziehen. Denn er war ein Versager, ohne Aussicht auf Veränderung. Er stellte das Wasser ab, trat aus der Dusche und griff nach dem Handtuch. Missmutig betrachtete er sein erschlaffendes Glied, das ihn höhnisch anzugrinsen schien. Carl seufzte, erleichtert, endlich eine Entscheidung getroffen zu haben. Wenn es stimmte, dass sich das Schicksal eines Menschen in einer Nussschale offenbarte, so wollte er dem Ozean, auf dem sie trieb, mit kalter Verachtung begegnen. Jawohl, er würde kurzen Prozess machen, die Schale versenken, Worpswede seinen nackten Hintern zeigen, und zwar noch vor seinem Geburtstag. Er rieb sich das Gesicht mit Creme ein und lächelte sein Ebenbild im Spiegel an. Dabei war er kein Nörgler oder notorischer Unruhestifter. Könnte er sich einreden, sein Leben verliefe in erträglichen Bahnen, wenigstens ein paar Wochen im Jahr, würde er niemandem Umstände bereiten. Weder sich selbst noch anderen.

»Carl!«

Er sah sie an seinem Grab stehen, wie sie angestrengt einzelne Tränen hervorpresste. Er hasste die jede Wand durchdringende, hochtonale Stimme seiner Frau, mit der sie mühelos ihre Schulklassen dirigierte, Furcht und Schrecken verbreitend. Alexandra rief vermutlich aus der Küche eine Etage tiefer zu ihm hoch, doch kam es ihm vor, als stünde sie neben ihm und habe ihn die ganze Zeit beobachtet.

Nun gut, er hatte nichts zu verbergen. Sex hatten sie schon seit Jahren nicht mehr, für jeden Hund in der Nachbarschaft empfand sie mehr Zuneigung als für ihn, ihren Mann.

»Carl!«

»Liebling?« Er bemühte sich, nicht zu schreien.

»Du kommst zu spät. Die Gruppe ist wahrscheinlich schon da.«

Und wenn schon. Sollten sie warten. Nur Dienstboten waren pünktlich.

»Nach der Tour will dich Bronsky sprechen.«

Bronsky. Wie üblich sprach Alexandra seinen Namen mit Ehrfurcht und Bewunderung aus. Wie kam sie dazu, sich zum Sprachrohr dieses Mannes zu machen, seines größten Widersachers und Arbeitgebers? Musste sie jede sich bietende Gelegenheit nutzen, ihn zu demütigen? Sollte Bronsky ihn doch anrufen, wenn er etwas von ihm wollte. Stattdessen wandte er sich an Alexandra. Wohl wissend, wie er Carl vorführte.

»Carl! Ich gehe jetzt.«

»Ich halte dich nicht auf!«

Er hörte, wie die Haustür krachend ins Schloss fiel. Unwillkürlich zuckte er zusammen.

 

Zügigen Schrittes begab sich Carl zur Infobox am Eingang der Wohnanlage. Er eilte vorbei an den großzügig gestalteten Einfamilienhäusern mit ihren gepflegten Vorgärten, grüßte vertraute Gesichter und fragte sich, warum er nicht das Fahrrad genommen hatte. Die hufeisenförmige Anlage erstreckte sich über fast zwei Kilometer. Nicht einmal die einfachsten Entscheidungen traf er mit Umsicht. Doch immerhin war er entschlossen zu sterben. Je mehr er darüber nachdachte, umso richtiger erschien ihm sein Tod. Er wusste auch, wie er seinem Leben ein Ende setzen würde.

Die Infobox war ein rot gestrichener Container, in dem sich ein Besucherbüro befand. Die stetig anwachsenden Besuchergruppen konnten sich hier über die einzigartige, weltweit als Vorbild dienende Siedlung informieren. Zweimal am Tag führte Carl über das Gelände, die Hintergründe und Besonderheiten erläuternd. Er war es gewohnt, unbedarfte Touristen mit seinem Wissen zu beeindrucken – das zwangsläufig umfassender war, als ihm selbst lieb sein konnte – und am Ende recht unverhohlen, bisweilen unverschämt, sein Trinkgeld einzufordern. Am liebsten waren ihm Japaner. Da reichten einige drohende Blicke, und sie zückten ihr Portemonnaie.

Tatsächlich warteten sie schon auf ihn. Keine Hinterwäldler, sondern Fachkundschaft. Architekturstudenten aus Hamburg, wie er zu seinem Schrecken erfuhr. Eine Begegnung mit seiner Vergangenheit, darauf legte er keinen Wert.

»Gut. Wie Sie wissen, ist der Paulaner die erste Siedlung ihrer Art in Europa. Benannt ist sie nach Paula Modersohn-Becker, die vor rund hundert Jahren in Worpswede Kunstgeschichte schrieb. Mit ihrer kantigen, erdigen, Mensch und Natur in einer mitunter beklemmenden Einheit erfassenden Subjektivität hat sie, die wohl bekannteste deutsche Malerin, den entscheidenden Schritt in die Moderne gewagt. Vergleichbar visionär ist auch Hartmut Bronsky, genannt Bronsky, der verantwortliche Architekt der Siedlung. Oberflächlich besehen ist sie amerikanischen Vorortsiedlungen nachempfunden: Einzelhäuser inmitten einer parkähnlichen Anlage, jeweils mit Garage, Grünstreifen vor dem Haus, Garten dahinter. Bronsky sieht darin das Wohnmodell des einundzwanzigsten Jahrhunderts.« Sofern die Mieter und Käufer über das nötige Kleingeld verfügten. Das hier war eine Tempelanlage der Superreichen. Sogar einige Russen hatten sich eingekauft.

»Das glauben Sie doch wohl nicht im Ernst: Wohnmodell des einundzwanzigsten Jahrhunderts«, sagte eine auffallend hübsche Studentin mit hüftlangen schwarzen Haaren, die ihn mit großen Mandelaugen ansah.

Carl ließ sich nicht beirren. »Allein die Auswahl Worpswedes als Standort für den Paulaner unterstreicht Bronskys unerschöpfliche Tatkraft. Nicht weit von Bremen, etwas weiter nach Hamburg – meine Damen und Herren, Bronsky sucht ein ausgewogenes Verhältnis zwischen ländlicher Idylle und Großstadtnähe. Das alles hier waren matschige Wiesen, auf denen gelangweilte Kühe ihr Gras wiederkäuten. Heute kommen Menschen aus aller Welt, voller Bewunderung für die Künstlerkolonie Worpswede, die im Paulaner ihre Vollendung findet.« Früher intonierte er solche Ausführungen mit leiser Ironie. Irgendwo auf dem langen Weg seiner wachsenden Verzweiflung hatte er sie offenbar verloren. Er hoffte nur noch, dass ihm niemand in die Seele schaute.

»Das Einzige, was hier noch fehlt, sind ein elektrischer Zaun und Sicherheitsschleusen«, sagte der Freund der Mandeläugigen. »In jeder südamerikanischen Großstadt gibt es solche Anlagen. Luxus vom Feinsten, teilweise in Sichtweite der Slums.«

Ein hoffnungsfroher Idealist, dachte Carl. Wie seine Freundin. Am liebsten hätte er sich irgendwo festgehalten. So war er auch einmal gewesen. Gradlinig. Euphorisch. Voller Ideen.

»Es ist ein Wohnmodell, das weltweit auf Anerkennung stößt«, erwiderte Carl und spürte, dass da nicht er selbst redete. Eher ein Roboter, versehen mit einer Maske, die seinem Gesicht entliehen war.

»Von wegen Anerkennung!«, empörte sich der Student. »Das hier ist Sozialismus für die Oberschicht. Eigene Geschäfte, Sportanlagen einschließlich Golfplatz, ein Reisebüro, mehrere Service-Agenturen, ärztliche Versorgung – alles, was teuer ist und exklusiv.«

Carl versuchte, schneller zu gehen, der Gruppe zu entkommen. Aber die Studenten hielten mühelos mit ihm Schritt und stellten ihn zur Rede, nachdem er lediglich mit den Schultern gezuckt hatte.

»Ich verstehe Sie nicht, Herr Siering«, sagte die schöne Studentin. »Sie haben in Hamburg studiert wie wir. Und wir kennen die Planungsentwürfe, die Sie in den letzten zehn Jahren eingereicht haben, auch den für den Paulaner. Sie wollten etwas ganz anderes. Eine Siedlung für mehrere Generationen, ein echtes Miteinander. Ältere Herrschaften, die sich tagsüber um die Kinder von Berufstätigen kümmern, im Gegenzug keine vereinsamenden Alten. Für alle Schichten, nicht nur für Reiche. Architektonisch ein Hauch Hundertwasser, jedes Haus bunt, einzigartig, mit persönlicher Note.«

Carl hatte das nicht vergessen, natürlich nicht. Aber in der Architektur zählten wie überall nicht allein Können und der Wille zum Erfolg. Sehr viel mehr kam es an auf Glück und Zufall, der rechten Fügung zur rechten Zeit. Nur wenigen Architekten gelang der Durchbruch, nicht zu reden von dem Starruhm eines Norman Foster oder Oscar Niemeyer.

Er hielt sich für einen guten Architekten. Doch er war gescheitert. Bronsky dagegen war drittklassig, aber erfolgreich. Er verstand es, sich zu vermarkten. War gut vernetzt mit Gremien und Kommissionen, fand Gehör bei Politikern und Investoren, besuchte wichtige Empfänge, lud ein zu Kulturveranstaltungen in exklusiven Hotels. Carl hatte schon Schwierigkeiten, seine Krawatte korrekt zu binden. Er hasste es, mit Leuten, die ihn nicht interessierten, Smalltalk zu pflegen. Dabei entglitten ihm die Gesichtszüge, wurde er übellaunig und lief Gefahr zu sagen, was er dachte. Hätte ihn Alexandra unterstützt – wahrscheinlich wäre sich Carl treu geblieben, hätte weiter auf seinen Erfolg gehofft. Sie aber wollte ein gutes Leben, sofort. Ständig lag sie ihm in den Ohren. Bis er tatsächlich nach einer Möglichkeit suchte, sein Geld leichter zu verdienen. Lange hatte er Bronskys Angebot, die technische Leitung des Paulaners zu übernehmen, abgelehnt. Doch Alexandra ließ nicht locker, und schließlich hatte er nachgegeben. Seither war er das Mädchen für alles. Eine Art Frühstücksdirektor. Der Mann, der die richtigen Handwerker bestellte und Reklamationen entgegennahm. Gewiss, er beteiligte sich noch immer an Architekturwettbewerben. Doch niemand in der Branche nahm ihn noch ernst.

Pausenlos redete die Studentin auf ihn ein. Sie heiße übrigens Judith, ihr Freund Matthias. Und sie fragten sich, wie städteplanerische Visionen am besten umzusetzen wären. Leider gebe es niemanden, mit dem sie sich wirklich austauschen könnten. An der Universität führten die Überangepassten das Wort. Was fehle, sei die Lust auf Neues, Unverbrauchtes.

»Wir mögen Ihre Entwürfe, weil Sie keine Kompromisse eingehen. Deswegen sind wir hier. Um von Ihnen zu lernen. Weg vom Mainstream. Der Paulaner kann doch nicht das letzte Wort für Sie sein.« Judith hörte sich an wie seine siebzehnjährige Tochter. Komm, lass uns die Welt retten. Carl sah ihr in die Augen, wandte sich ab. Zu schmerzhaft war der Gedanke an seine Fehler und Versäumnisse. An manchen Tagen konnte er kaum an sich halten. Dann schrie er Autofahrer oder Passanten an, wegen irgendwelcher Kleinigkeiten.

»Die Führung ist beendet«, sagte Carl in einem Tonfall, der an Unsicherheit kaum zu überbieten war.

 

Bronskys Villa war die ausgefallenste. Ein Haus aus Glas, abgesehen von den tragenden Teilen und dem Dach. Weitläufig, mit vielen Fluchten, auf zwei Etagen. Das Wohnzimmer ein Atelier, die Wirkungsstätte seiner Frau Charlotte. Einige Stahlrohrsessel mit Lederbezügen, eine spartanische Couch, ein Tisch. Postmodern, minimalistisch, unterkühlt. Vor der Staffelei saß Bronskys Frau und malte einen Akt. Als Modell diente Carls Tochter Lucia. Sie war gut gebaut, ging ihm durch den Kopf. Sobald ihr Vater erschien, bedeckte sie ihre Blöße. Die Tür stand offen. Es war Sommer und warm.

»Bronsky ist nicht da«, sagte Charlotte.

Carl nickte. An den Wänden hingen ihre Bilder, überwiegend Aquarelle. Er hielt die meisten Porträts, ob Landschaften oder Personen, für bloße Fingerübungen. Den Gemälden fehlte das Eigenwillige, Unverwechselbare. Charlotte spiegelte ihre Motive, ohne sie zu deuten. »Zeitgenössischen Impressionismus« nannte sie diesen Stil. Ein großes Wort für fehlende Begabung.

»Was wollte er denn von mir, der Bronsky?«, fragte Carl und ließ seinen Blick über die weitläufige Gartenanlage schweifen, das smaragdgrün schimmernde Wasser des Swimmingpools. Der Rasen kurz geschnitten, kein sichtbares Unkraut, die Platanen in einer Reihe, mehrere Rosenbeete in leuchtendem Rot. Ein umtriebiger Gärtner.

»Das muss er dir schon selbst sagen«, erwiderte Charlotte, die ihn bis zu diesem Moment keines Blickes gewürdigt hatte. Lucia bewegte sich unruhig auf ihrem Sessel. Auch Carl war unangenehm berührt. An seine Tochter hatte er nicht gedacht, als er beschloss, seinem Leben ein Ende zu setzen. Da sie sehr nach ihrer Mutter kam, dürfte sie den Verlust verschmerzen. Carl wusste nicht einmal zu sagen, wann die Entfremdung zwischen ihnen eingesetzt hatte. Als sie Kind gewesen war, hatten sie stundenlang miteinander gespielt. Was hatte er nicht alles mit ihr unternommen. Ausflüge in den Zoo, nach Disneyland bei Paris, an den Strand, in die Berge. Sie wollte ein Spielzeug, sie bekam es. Er legte großen Wert auf eine Erziehung, die ihre Kreativität förderte, darin ausnahmsweise einig mit seiner Frau. Lucia malte, deutlich besser als Charlotte, und sie spielte Klavier. So gut, dass sie bei privaten Veranstaltungen in Worpswede und Umgebung auftrat – Hochzeiten, Taufen, Jubiläen und dergleichen. Sportlich war sie auch. Bremer Landesmeisterin über hundert Meter Freistil, Dritte bei den deutschen Junior-Schwimmmeisterschaften in Berlin vor zwei Jahren. Doch irgendwann kam der Riss, die Enttäuschung. Sie ging ihre eigenen Wege, sprach kaum noch mit ihm. Einmal hatte er sie deswegen zur Rede gestellt. »Es ist nichts, Paps«, hatte sie geantwortet, die Augen auf den Boden gerichtet.

Mit Sicherheit hielt auch sie ihn für einen Versager. An ihrer Stelle würde er sich ebenfalls einen Vater wünschen, der war wie … ja, wie Bronsky, zum Teufel.

»Gut. Dann lasse ich euch mal wieder«, sagte Carl, einen letzten Blick auf die hochgesteckte Frisur Charlottes werfend, den hennarotgefärbten Kegel auf ihrem Kopf. Er war schon in Höhe der Haustür, als er Charlotte sagen hörte: »Carl? Bitte sei so gut und nimm den Müll mit nach draußen.«

 

Nach dem Abendbrot, das er wie üblich schweigend an der Seite seiner Frau eingenommen hatte, begab sich Carl auf den Dachboden. Er war ruhig und gefasst, spürte keine Zweifel. Er sah das Leben als eine Kette von Zufällen, einen dunklen Strang aus Willkür und Beliebigkeit. Noch der größte Liebling der Götter konnte vom Blitz erschlagen, von einem herabfallenden Ziegel getötet oder von einer heimtückischen Krankheit dahingerafft werden – ohne Vorwarnung, ohne Erklärung, ohne Sinn. Das Leben machte, was es wollte, egal, wie Carl Siering darüber dachte. Das aber mochte er nicht länger hinnehmen. So, wie man den Fernseher ausschaltete, wenn das Programm endgültig unerträglich wurde.

Das Seil hatte er bei einem Schiffsausrüster in Bremen besorgt. Es war geeignet, eine Barkasse zu vertäuen, und für seine Zwecke mehr als ausreichend. Er legte die Schlinge um seinen Hals, prüfte ihren Sitz, stellte eine Leiter in die Mitte des Raums. Seit langem schon wollten sie den Dachboden ausbauen, der einer Rumpelkammer glich. Doch angesichts der Eiseskälte ihrer Gefühle hatten sie das Vorhaben immer wieder verschoben. Zielstrebig bestieg Carl die Leiter, um den höchsten Punkt des Giebelbogens zu erreichen, wo er vor einiger Zeit einen Dübel für eine Lampe angebracht hatte. In den Dübel drehte er einen Haken, an dem er das Seil befestigte. Mechanisch, ohne weiter nachzudenken, stieß er die Leiter beiseite und fiel. Er spürte den kurzen, schmerzhaften Ruck, der seinen Körper durchzog, dann raste er mit lautem Getöse zu Boden. Der Aufprall war so hart, dass er sich den Fuß verstauchte, zur Seite fiel und seinen Arm auf dem rauhen Boden aufscheuerte. Einen Moment war er wie betäubt, massierte seinen schmerzenden Fuß, sah das Blut an seinem Arm, den zerrissenen Hemdsärmel. Die Schlinge hing noch um seinen Hals.

Der Dübel war nicht stark genug, sein Gewicht zu halten. Er lag neben ihm auf dem Boden.

Carl versank in Gedanken, weiterhin seinen Fuß massierend. Was, wenn dieses Malheur einer Bestimmung unterlag? Eine Botschaft enthielt? Sollte er seine Frau mit anderen Augen sehen als bisher? Dort ansetzen, wo sie vor vielen Jahren aufgehört hatten? Dafür sorgen, dass sie einander wieder mit Zuneigung und Respekt begegneten? Natürlich ließe sich einwenden, seine Überlegungen seien eine kühne Konstruktion, um einen falsch bemessenen Dübel schönzureden. Andererseits hing alles mit allem zusammen, war das ganze Leben Behauptung. Umbringen konnte er sich immer noch. Und war es nicht Zeichen genug, wenn er im Moment des Innehaltens, nach verlorener Schlacht, seiner Frau gedachte?

Alexandra öffnete die Tür zum Dachboden, offenbar angelockt von dem Lärm. Mit einem Blick erfasste sie die Lage. Musterte ihn mit ausdruckslosen Augen, für lange Sekunden.

»Selbst dafür bist du zu dämlich«, sagte sie.

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Zweites Kapitel

Im Teufelsmoor

Bronsky war beat. Selten kam er allein. Meist war er umgeben von einer Heerschar Assistenten und blutjungen, wunderschönen Frauen, vornehmlich in Blond. Äußerlich erinnerte er an Andy Warhol, und wie dieser lebte auch Bronsky nach der Devise: Alt wirst du früh genug. Er warf Ideen in die Runde, die von seinen Assistenten aufgezeichnet und weitergedacht wurden. Wo immer er auftrat, erzeugte er einen Sog. Die wenigsten konnten sich seiner Aura entziehen.

Carl wusste von angehenden Architekten, die sich tagelang die Hände nicht wuschen, nachdem Bronsky sie geschüttelt hatte. Er unterhielt Niederlassungen in London, Paris, New York und Tokio. Aber sein Hauptsitz, die Zentrale seiner architektonischen Umtriebe, lag in Worpswede, nur wenige hundert Meter entfernt vom Paulaner. Gegen den Willen heimischer Kunstliebhaber hatte er den Barkenhoff erworben, einst Wohnsitz von Heinrich Vogeler und ein Kleinod des Jugendstils. Mit seiner großen Terrasse, der Freitreppe und den zwei Empire-Urnen zu beiden Seiten des Aufganges eignete sich dieser geschichtsträchtige, melancholische Ort wie kaum ein zweiter für die Vermählung von Kunst und Kommerz. Bronsky verehrte den Maler und Sozialisten, der im Zweiten Weltkrieg elendig in Kasachstan umgekommen war. Vor allem aber verspürte er das Bedürfnis, seinem Wirken den Glanz einer vergangenen Epoche zu verleihen. Er hatte der Stadtverwaltung eine so hohe Summe für das Museum geboten, dass sie alle Einwände gegen einen Verkauf vom Tisch fegte.

Zweimal in der Woche trafen sich alle Mitarbeiter im Barkenhoff. Es ging um neue Projekte und Marketing-Kampagnen. Erfolgsmeldungen trug Bronsky nur selten persönlich vor. Meist ergriff ein Adlatus das Wort. »Spanien – zwei Paulaner«, hieß es dann. »Frankreich – drei Projekte verkauft.« Oder »Franchise Brasilien, Option Chile«. Das bedeutete, ein lokales Unternehmen kopierte den Worpsweder Paulaner in Eigenregie, zahlte dafür aber hohe Lizenzgebühren. Denn der Paulaner war längst ein Warenzeichen geworden, die Rechte gesichert und somit geschützt, vergleichbar Mercedes oder BMW. Eine Luxusklasse urbanen Lebens.

Auch Carl nahm an diesen Sitzungen teil. Im zweiten Glied, einer Stuhlreihe an der Wand, nicht am Konferenztisch selbst, der den Machern vorbehalten war. Heute litt er mehr noch als sonst. Sein Hals schmerzte, sein Fuß, sein Arm. Er verabscheute diese Runde und wünschte sich doch, ihr anzugehören. Es war so viel einfacher, mit dem Strom zu schwimmen. Den Erfolg zu leben. Sich auf große Werte zu berufen. Visionen zu verkünden, stets den eigenen Vorteil im Blick. Bronsky thronte über dem Ganzen, nickte wohlfeil oder legte die Augenbrauen in Falten, was jeden Redner augenblicklich zum Schweigen brachte. Bis Bronsky den Daumen wieder hob oder aber senkte: »Bitte mal jemand anders.«

Carl hielt es nicht länger aus. Er stand auf und wollte gehen.

»Carl, wohin?«, fragte Bronsky.

»Toilette, Pipi machen.«

»Warte, ich komme mit.«

Sie standen nebeneinander am Pissoir. Carl hasste solche Situationen. Er konnte nicht pinkeln, wenn er nicht allein war. Bronsky dagegen entlud einen Strahl, der von gesundem, ungebrochenem Selbstbewusstsein zeugte. Golden und hart schoss er gegen die Keramikwand, zog phantasievolle Kreise, wie Carl neidvoll feststellen musste. Er selbst tröpfelte, ohne Hoffnung auf kraftvollen Austritt. Mein Gott, was war er für eine jämmerliche Figur. Nicht einmal auf diesem Acker hatte er etwas zu bestellen.

»Ich habe gehört, du hattest einen Unfall?«, fragte Bronsky.

»Nicht der Rede wert.«

»Ich hoffe doch, dass du gut auf dich aufpasst.« Er schlug ab, verstaute sein Gemächt, schloss den Reißverschluss. »Wenn ich diese Schwätzer da reden höre«, fuhr Bronsky fort, »dann denke ich mir: Keiner von denen kann dir das Wasser reichen.«

»Tatsächlich.«

»Weißt du, sobald ich eine Idee habe, frage ich mich: Was würdest du davon halten? Und erst, wenn ich mir sicher bin, dass du zustimmen würdest, setze ich sie um.«

Carl grunzte.

»Ich bin dir dankbar, dass du damals mein Angebot angenommen hast, im Paulaner zu arbeiten. Hättest du das nicht getan, wäre ich nicht da, wo ich heute bin. Allein deine Gegenwart ist für mich eine Kraftquelle.«

Dasselbe Geräusch. Das Quieken eines Schweins, das abgestochen wird.

»Aber du bist zu Größerem berufen. Es wird Zeit, dass wir deine Talente richtig einsetzen. Ich habe Pläne mit dir.«

Verzweifelt schüttelte Carl sein Glied, ganz ohne Ergebnis konnte er es doch nicht wieder einpacken.

»Ich möchte dich zu meinem Geschäftsführer machen«, fuhr Bronsky fort. »Zu meiner rechten Hand.«

Wie um sein Angebot zu unterstreichen, nahm er Carl spontan in den Arm und klopfte ihm auf die Schulter. Bronsky seufzte tief und fest, sichtlich übermannt von seinen Gefühlen.

Carl allerdings hielt noch immer seine zierliche Rute in Händen, und als wäre ein Schalter umgelegt, löste sich endlich der erlösende Strahl warm und weich über Bronskys Hosenbeine.

Carl war einfach nicht geschaffen für diese Welt.

 

Keine Experimente. Nach seinen Erfahrungen mit dem Seil verwarf Carl den Gedanken, von einem Hochhaus zu springen. Vermutlich würde er überleben und als querschnittsgelähmtes Wunder von Ärztekongress zu Ärztekongress gereicht. Aus demselben Grund misstraute er auch einer Überdosis Tabletten. Stattdessen entschied sich Carl für das Teufelsmoor. Früher einmal war es die größte Moorlandschaft in Norddeutschland. Der Mensch hatte sie weitgehend zerstört, Äcker und Siedlungen angelegt. Doch Teile des Moores waren in den letzten Jahren wiederhergestellt worden. Mit etwas Glück sollte sich eine Stelle finden lassen, die Carl verschlingen würde wie einst im Mittelalter die zum Tode Verurteilten.

Kurz vor Mitternacht machte er sich auf den Weg, suchte trügerischen Boden. Niemand beachtete ihn, querfeldein lief er über Wiesen und Weiden, versank aber bestenfalls bis zu den Knöcheln. Geschäftsführer! Ein Knecht wäre er, Leibeigener, Sklave. Morgen in der Sitzung wollte Bronsky seine Entscheidung bekanntgeben. Bis dahin musste Carl ein Schlammloch gefunden haben, das ihn unwiderruflich in die Tiefe zog.

Doch sosehr er sich auch bemühte, er fand keines. Kilometer um Kilometer legte er zurück, wurde von Bullen gejagt, verhedderte sich in Stacheldrähten, erregte den Zorn eines Liebespaares, das sich in die Natur zurückgezogen hatte. Wo hatten sie bloß das Moor neu angelegt?

Erschöpft und resigniert legte sich Carl auf eine Wiese und betrachtete den sternenklaren Himmel. Er fragte sich, ob er etwas übersehen hatte in der Gebrauchsanleitung fürs Leben, die er ohnehin nicht verstand. Warum durfte er nicht sterben wie andere auch? Er war immerhin ein Freiwilliger. Eine Sternschnuppe fiel ihm auf, die hell über das Firmament zog, von links nach rechts, dann wieder nach links, und dabei näher zu kommen schien.

Merkwürdig.

Irrlichternd torkelte die Sternschnuppe über den Himmel, fiel herab, entfernte sich wieder, schoss aus der Mitte eines schwarzen Nichts hervor, verschwand im Mond, stürzte erneut hernieder, fing sich ein weiteres Mal, als wäre den Gestirnen ein Rückwärtsgang bekannt. Carl traute seinen Augen kaum – die Sternschnuppe nahm Kurs Richtung Erde. Er sprang auf, mit offenem Mund ins Universum starrend. Näher, näher und immer näher kam das gelbweiße Licht, sank herab in Wolkenhöhe, Hochhaushöhe. Keine fünf Minuten nachdem er es gesichtet hatte, landete das Ding. Im Teufelsmoor unweit von Worpswede, rund fünfzig Meter über Normalnull. Und, für Carl vergleichsweise bedeutender, zum Greifen nah vor seinen Füßen. Es ging nieder mit einem Flirren und Rauschen, prallte auf mit einem wenig spektakulären Plopp!, ohne sich nennenswert in den Boden zu bohren.

Carl schlug sich ins Gesicht. Er wollte sichergehen, dass er nicht schlief und träumte. Das konnte doch gar nicht sein. Vor ihm lag eine fliegende Untertasse. Nicht, dass er so etwas schon einmal gesehen hätte, in freier Natur. Wohl aber in alten Spielfilmen und Comics. Eine fliegende Untertasse! Sie hatte einen Durchmesser von zehn bis zwölf Metern, schätzte Carl. Und war etwa zwei Meter hoch. Die Oberfläche glänzte metallicfarben, silbergrau. Keine Öffnung, kein Fenster war zu sehen. Und kein Geräusch mehr zu hören. Nichts. Furcht empfand Carl nicht. Soll das Ding doch explodieren, dann habe ich den Mist hinter mir. He, Fremder, bist du ein Alien? Das unheimliche Wesen aus einer anderen Welt? Sei mir willkommen. Zum Paulaner immer geradeaus, merke dir den Namen Bronsky, verschlinge ihn und seine Brut.

Carl klopfte auf die Oberfläche wie an eine Tür. Nichts geschah. Er trat dagegen. Dann, sich vergewissernd, dass ihn niemand sah, öffnete er die Hose und versuchte sein Glück. Und siehe da, dieses Mal entlud er einen vollen, satten Strahl, zeichnete Kreise auf dem Ufo, hinterließ flüchtige kleine Signaturen. Guck an, dachte er. Geht doch. Dabei entstanden schwarze Schlieren, bildeten sich Blasen, stiegen Dämpfe auf. Donnerwetter, sagte sich Carl nicht ohne Stolz.

Dann aber flog der Deckel auf, die kegelförmige Haube der Untertasse. Der rechte Fachbegriff wollte ihm mangels Vergleich nicht einfallen. Jedenfalls wurde dieser Deckel mit großer Entschlossenheit geöffnet. Ein Wesen trat hervor, das aussah wie ein Reptil, vielleicht einen Meter fünfzig groß. Schlank, dunkelgrün, der Körper schuppenbewehrt, zwei Arme und Beine, ein Kopf auf schlankem Hals. Bevor Carl in Ohnmacht fallen konnte, spürte er eine unsichtbare Kraft, die ihn am ganzen Körper schüttelte und rüttelte. Anschließend erhielt er zwei gewaltige Ohrfeigen, die seine Zähne förmlich zum Tanzen brachten. Obwohl ihn niemand berührte, nicht sichtbar. Das Wesen allerdings hielt die linke Hand auf ihn gerichtet und zeigte mit der rechten auf die schwarzen Schlieren. Dazu sagte es etwas in einer Sprache, die sich anhörte wie das Rascheln von Blättern, gepaart mit einer Kehlkopfkrankheit.

»Tut mir … tut mir wirklich leid … ich wusste ja nicht, dass Ihr Flugzeug so empfindlich ist. Wissen Sie, ich habe schon als Kind leidenschaftlich gerne in Waschbecken gepinkelt. Um ehrlich zu sein, ich mache das heute noch, vor allem in Zügen der Deutschen Bundesbahn. Sie haben Glück, Sie müssen damit ja nicht fahren. Das sind die, die ihre Preise zweimal im Jahr erhöhen. Nur damit Sie mal eine Vorstellung bekommen, wo Sie hier eigentlich gelandet sind. Na ja, jedenfalls herzlich willkommen in Worpswede. Das liegt in Niedersachsen, Deutschland, auf dem Planeten Erde. Ich heiße Carl Siering. Und Sie?«

Das Wesen stieg herab auf die Wiese und baute sich mit verschränkten Armen vor ihm auf. Carl zitterte am ganzen Körper. Es war eine Sache, sterben zu wollen. Das hier war etwas ganz anderes. Ohnehin hatte er keine Ahnung von Reptilien. Vor einiger Zeit hatte er mal mit dem Fahrrad eine Blindschleiche überfahren. Mehr konnte er zu dem Thema nicht beisteuern.

»Schon – als – Kind – leidenschaftlich – gerne – in – Waschbecken«, wiederholte das Wesen im Tonfall eines schlecht geölten Automaten.

»Gepinkelt«, ergänzte Carl, dankbar für die Sprachtalente des Kleinen. Er wirkte nicht mehr so bedrohlich, ungeachtet seiner offenbar ungeahnten Möglichkeiten. Die Augen waren das Größte in seinem Gesicht. Es waren runde, hervorstehende Glupschaugen, die ihn neugierig und fragend ansahen. War das ein gutes Zeichen? Ein schlechtes?

»Ge – pin – kelt.«

»Recht so, gepinkelt, gute Aussprache. Lassen Sie sich Zeit. Wasser lassen oder abschlagen wäre ein anderer Ausdruck, der dasselbe bezeichnet. Ebenso Pipi machen, pieseln oder pullern. Urinieren sagt der Wissenschaftler, pissen die Dumpfbacke. Sie sehen, das menschliche Ausdrucksvermögen ist durchaus vielschichtig.«

»Vielschichtig.«

»Jawohl. Ob Sie nun allerdings Fäkalien sagen oder Scheiße – es stinkt beides. Darin liegt ein grundsätzliches Dilemma menschlicher Existenz. Sprache kann übrigens töten, obwohl sie geruchlos ist.«

»Was – ist – eine – Dumpfbacke?«

»Ich würde sagen ein Mensch, der Macht oder Drogen mit Glück verwechselt.«

»Demzufolge wäre Ohnmacht ein anderes Wort für Glück?«

Carl kam nicht dazu, eine Antwort zu geben. Ihn packte das nackte Entsetzen.

Das Reptil, das Wesen, veränderte seine Form. Es wuchs, wurde größer und kräftiger, entwickelte sich zu seinem Ebenbild. Außerdem wiederholte es alles, was Carl soeben gesagt hatte, Wort für Wort. Noch mehr versetzte Carl allerdings in Panik, dass ES im selben Tonfall sprach wie er selbst und sich die neue Sprache mit erstaunlichem Tempo aneignete. Vor ihm stand, bis hin zur Kleidung, niemand Geringeres als sein Klon.

»Ich bin nicht Carl Siering«, sagte das Wesen. »Auch wenn ich jetzt aussehe wie du. Ich möchte dich lediglich ein wenig kennenlernen. Was machst du hier auf der Wiese?«

»Ich suche eine Stelle im Moor, um mich in Ruhe zu versenken.«

»Du möchtest sterben?«

»Wenn es keine Unannehmlichkeiten bereitet …«

»Warum?«

»Ist meine Sache.«

Sein Ebenbild nickte und richtete den rechten Zeigefinger, der offenbar eine Art Joystick war, auf Carl. Der verlor den Boden unter den Füßen und stieg von einer unsichtbaren Kraft getragen höher und höher empor, bis auf vielleicht hundert Meter. Dort, in luftiger Höhe, stand er wie auf einem unsichtbaren Boden. Sah den Paulaner, Worpswede und die Lichterkette Bremens. Vorsichtig setzte er einen Fuß vor den anderen und stellte fest, dass er nicht fiel. Er war fasziniert und entsetzt. Kam sich vor wie auf einer Bühne, mit sich selbst als Publikum.

Dann stürzte er in die Tiefe. Ohne Vorwarnung, wie ein Stein. Carl schrie, er raste der Erde entgegen, konnte nicht mehr atmen. Sterbende Menschen sahen angeblich ihr ganzes Leben im Zeitraffer an sich vorüberziehen. Carl dagegen fiel in ein Meer aus Licht und Farben, schemenhaft nahm er Figuren wahr, die ihn zu grüßen schienen. Abrupt endete seine Höllenfahrt auf halber Strecke zum Boden. Kopfüber hing er in der Luft, entdeckte seinen Klon tief unter sich. Er ruderte in der Luft, doch es gelang ihm nicht, sich aufzurichten.

»Warum willst du sterben?«, rief das Wesen.

»Ich … ich weiß nicht, ich …« Carl war nicht in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen. Er strampelte wie ein Insekt im Spinnennetz.

Wieder fiel er. Fiel und schrie, den Aufprall vor Augen. Erst im letzten Moment, zwei Meter über der Wiese, wurde er gebremst. Es gelang ihm, sich in der Luft zu drehen und mit beiden Füßen Tritt zu fassen.

»Du hast Glück im Unglück«, sagte sein Klon. »Das Ganze noch mal?«

»Nein! Um Gottes willen, nein … Da war dieses Licht …« Carl zitterte am ganzen Körper.

Das Wesen nickte. »Es gibt viele Arten zu sterben. Die meisten sind grausam. Oder banal. Nur wenigen gelingt es, eins zu werden mit der Unendlichkeit.«

»Ich verstehe nicht …«

»Ich mache dir einen Vorschlag, Carl. Wenn du wirklich sterben willst, werde ich dich nicht daran hindern. Hilfst du mir aber, so helfe ich dir. Dann bereite ich dir einen Tod, der schöner nicht sein könnte. Der dir den Weg ebnet in eine andere Welt.«

Carl sah seinem Ebenbild in die Augen und schwieg. Das alles war absurd. Doch spürte er noch immer die Wärme, die von diesem Licht ausging. Als läge eine Hand auf seinem Bauch, die ihn sanft massierte.

»In meiner Heimat«, fuhr der Klon fort, »ist das Sterben denen vorbehalten, die du Dumpfbacken nennst. Alle anderen sind dazu verurteilt, ewig zu leben. Es ist ein Fluch, dem sich niemand entziehen kann.« Und während Carls Doppelgänger sprach, veränderte er einmal mehr seine Form, wurde kleiner und schuppiger, verwandelte sich erneut in den zarten, kleingliedrigen Außerirdischen von der Größe eines Liliputaners, die Haut lindgrün und schuppig, der Kopf haarlos und schrundig, ähnlich einer Schildkröte. Seine Ausstrahlung war beinahe kindlich. Er hatte vier statt fünf Zehen und Finger und war unbekleidet bis auf einen kleinen Lendenschurz, der farblich nicht von seinem Körper zu unterscheiden war. Er heiße Yrr und stamme vom Planeten Zorr, »drei Millionen Lichtjahre entfernt«.

»Verdammt weit weg«, sagte Carl. Was sollte er sagen? Und jetzt, was geschah jetzt? Yrr nahm seine Hand und zog ihn hinab auf die Wiese. Lächelte freundlich und legte ihm Handschellen an.

»Ich muss schlafen«, sagte er. »Du solltest dich auch ein wenig ausruhen.«

Eine Zeitlang musterte Carl den merkwürdigen Besucher an seiner Seite, dessen Gefangener er nunmehr war. Der hielt die Augen geschlossen und atmete ruhig.

»Was wollen Sie hier? Auf der Erde?«, fragte Carl.

»Das wirst du früh genug erfahren.«

Irgendwann schlief auch Carl ein, fortgetragen von wilden, zügellosen Träumen, in denen er Furcht und Schrecken verbreitete.

 

Es war früher Morgen, als sie erwachten. Vor ihnen standen mehrere Bauern. Sprachlos, mit offenem Mund, glotzend.

»Moin, Carl«, sagte einer von ihnen. »Hast’n neuen Freund?«

Yrr brauchte einen Moment, um sich zu orientieren. Er wollte aufstehen, doch es gelang ihm nicht. Erst musste er die Handfesseln lösen. Als Yrr zum Raumschiff rannte, wichen die Bauern unwillkürlich zurück. Kurz darauf zeigte er sich mit einem Gerät, das wie eine übergroße Wasserpistole aussah. Bevor die Männer reagieren konnten, hatte Yrr bereits abgedrückt. Für einen Moment ging ein blauer Lichtschein über sie nieder, danach war alles wie zuvor. Friedlich und still. Die Bauern trotteten in Richtung Straße zu ihren Traktoren.

»Was war das denn?«

»Eine Gedächtnispistole. Sie löscht jede Erinnerung. An die letzten Sekunden, Minuten, Stunden, bis hin zu Jahren. Je nachdem, wie ich sie einstelle. Diese Leute haben uns vollständig vergessen. Selbst wenn man sie fragte, ob sie etwas Ungewöhnliches gesehen hätten, würden sie nur den Kopf schütteln.«

»In dem Fall lassen Sie die Pistole am besten gleich draußen. Sie werden sie brauchen, bei Ihrem Aussehen.«

Yrr nickte. »Wir müssen uns was einfallen lassen«, sagte er.

Wir?, dachte Carl. »Warum fliegen Sie nicht einfach wieder nach Zorr?«

Yrr sah ihn lange und eindringlich an, ohne zu antworten.

Carl fühlte sich unbehaglich. Hatte er den Burschen provoziert? »Sie sollten«, lenkte er ein, »wenigstens Ihr Raumschiff tarnen.«

Yrr begab sich erneut in die fliegende Untertasse, kehrte zurück mit einer Tasche. Anschließend richtete er seinen rechten Zeigefinger auf das Ufo und versenkte es im Boden. Begleitet von schmatzenden Geräuschen wurde es vom Erdreich verschluckt, bis Augenblicke später nur noch die Spitze des Kegels herausragte. Der Anblick erinnerte an eine lieblos verscharrte Leiche.

Carl musste lächeln: Vor ihm stand dieser übermächtige Troll, in der einen Hand die Gedächtnispistole, in der anderen eine Reisetasche, blinzelte in die Sonne und unterdrückte dabei ein Gähnen. Der Fremde sagte, er sei »ein Außenseiter hier und ein Außenseiter dort. Weil ich den Horizont nicht für das Ende der Welt halte.«

»Sie werden schon wissen, was Sie tun. Wie wär’s mit einem Frühstück?«

»Heißt das, wir sind Partner?«

Carl atmete laut durch die Nase ein, hielt kurz die Luft an. Dann blies er sie hörbar wieder aus. Yrr reichte Carl die Hand, der sie ergriff und laut aufschrie. Es fühlte sich an, als habe er in eine Steckdose gegriffen.

»Entschuldigung, in mir steckt noch zu viel Energie. Tut mir leid. Das legt sich in den nächsten Tagen.«

»Verdammt noch mal!«, fluchte Carl und hielt sich die schmerzende Hand. »Sie sollten lernen, sich anzupassen. Sonst bleiben Sie ewig Außenseiter.«

»Okay, kommt nicht wieder vor.«

»Wenn Sie wollen, dass ich Ihnen helfe, gehen Sie mir bloß nicht auf den Wecker. Außerdem kann ich Sie so nicht in den Paulaner mitnehmen.«

Zu seiner eigenen Überraschung fühlte sich Carl für den merkwürdigen Besucher aus dem All irgendwie verantwortlich. Soweit möglich, ließ er niemanden im Regen stehen. Das war nun mal sein Naturell.

Langsam gingen sie zurück nach Worpswede, auf der Suche nach einer Lösung. Sie wanderten über Geestrücken, ließen den Blick schweifen über Waldränder, Felder, Torf- und Heidelandschaft, vereinzelte Häuser. Der Fluss, die Hamme, durchzog die Landschaft und spiegelte sie. Ein Autofahrer musterte sie beide so neugierig, dass er, glücklicherweise bei geringer Geschwindigkeit, von der Straße abkam und in einem Entwässerungsgraben landete. Yrr legte seine Pistole an und drückte ab. Wenig später begegneten sie einer Spaziergängerin mit Hund, der ebenfalls die Augen ausfielen. Yrr schoss lässig aus der Hüfte.

Der Hund! Das wäre die Lösung, fürs Erste.

»Schauen Sie! Ist das nicht ein reizendes Kerlchen?«

»Den Köter meinst du?«

»Ein weißer Zwergpudel. Familienfreundlich, unauffällig, verspielt. Eine bessere Tarnung können Sie sich gar nicht wünschen.«

»Glaubst du ernsthaft, dass ich drei Millionen Lichtjahre zurücklege, um mich in einen Pudel zu verwandeln?«

»Haben Sie eine bessere Idee?«

Yrr dachte lange nach. Dann seufzte er und sagte: »Ein Dobermann wäre mir lieber.«