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»Dass Erinnerungen lebensgefährlich sein können, davon handelt Fang Fangs Literatur. Dafür wird Fang Fang in ihrer Heimat drangsaliert. Trotzdem hört sie nicht auf, diesen Erinnerungen einen poetischen Raum zu geben.« Sandra Kegel, Frankfurter Allgemeine Zeitung Dies ist die faszinierende Geschichte einer leidenschaftlichen Mah-Jongg-Spielerin: Besessen vom Spiel blendet Hua Manyue (Blume Vollmond) die Ereignisse um sich herum so radikal aus, dass sie im aufflammenden chinesischen Bürgerkrieg die Flucht verpasst. Die Folgen sind dramatisch: Während ihre Familie sich nach Taiwan rettet, wird Hua über Nacht mittellos. Trotz des nun offiziellen Spielverbots hält Hua am Mah-Jongg fest – aber wird es sie durch die Zeiten tragen können? Eindrücklich und bewegend erzählt Fang Fang in diesem weltweit zuerst auf Deutsch erscheinenden Roman von der Wirkung gesellschaftlicher Umbrüche auf den einzelnen Menschen – und zugleich von deren begrenzter Macht über individuelle Leidenschaften.
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Seitenzahl: 188
Veröffentlichungsjahr: 2025
Fang Fang
Roman
Michael Kahn-Ackermann
Es dunkelte. An allen Ecken und Enden sah man herumjagende Soldaten, von überall war chaotisches Schießen zu hören. Die auf den Straßen panisch umherirrenden Passanten wussten nicht, was vor sich ging.
Seine Rikscha hinter sich herziehend, rannte Wang Vier aus Leibeskräften die Straße entlang. Inmitten des Durcheinanders drang eine Stimme kaum vernehmbar an sein Ohr: »Wang Vier! Wang Vier!« Er besaß kein ungewöhnlich gutes Gehör, aber sie war ihm allzu vertraut. Er sah sich um. Nein, er hatte sich nicht getäuscht, es war die Stimme von A Gui, dem Koch.
A Gui stand auf der gegenüberliegenden Straßenseite, in der Hand einen Bambuskorb, darin eine Flasche mit Chili und ein paar Päckchen fermentierte Sojabohnen. »Was rennst du hier auf der Straße herum?«, fragte er.
»Befehl vom Patron: Ich soll das gnädige Fräulein suchen und auf der Stelle nach Hause zurückholen«, antwortete Wang Vier.
»Was gibt es da zu suchen? Die sitzt zu hundert Prozent im Spielsalon der Familie Huang. Sie geht doch nirgends anders hin.«
»Weiß ich«, antwortete Wang Vier.
Er hatte während des kurzen Wortwechsels nicht angehalten. Ärgerlich rief A Gui dem Verschwindenden hinterher: »Wenn du nach Schweiß stinkend bei ihr ankommst, wird dich das gnädige Fräulein zur Sau machen!«
Wang Vier hörte es, reagierte jedoch nicht.
Der Spielsalon der Familie Huang befand sich ein Stück vom Stadtzentrum entfernt in einer südlichen Ecke der Stadt, direkt neben dem Garten der Familie Huang. Ringsherum gab es kaum Häuser und nur wenige Geschäfte. Der damalige Herr des Hauses Huang hatte erklärt, für ihn sei Ruhe am wichtigsten; wer hierherkommen wolle, den schrecke die Entfernung nicht ab. Der alte Huang war ein Warlord1 gewesen, der nach einer Niederlage im Nordfeldzug mit einem stattlichen Vermögen in seine Heimat zurückgekehrt war. Er nutzte das Geld, um einen Garten anzulegen, an dessen Rand er einen Spielsalon errichtete. Er gab sich keine Mühe, einen elegant klingenden Namen zu wählen, sondern nannte ihn schlicht »Spielsalon der Familie Huang«. Nach der Fertigstellung hatte der alte Warlord unter dem Schild des Spielhauses stehend geseufzt: »Um Erfolg zu haben, muss man sich ein ganzes Leben abmühen, aber essen, trinken und seine Tage genießen erfordert auch ein ganzes Leben.« Tatsächlich verschwendete er für den Rest seiner Lebenszeit keinen Gedanken mehr ans Vaterland oder an die Zukunft, sondern lebte bis zu seinem Ende nur noch für den Genuss. Womöglich hatten das im Krieg vergossene Blut und die vielen Toten ihn traumatisiert. Weder sprach er je von seinen Erlebnissen noch über die Herkunft seines Geldes. Die Ansichten des alten Warlords hatten das gegenwärtige Familienoberhaupt, seinen ältesten Sohn, tief geprägt. Er führte ein sorgloses Leben als Lebemann. Essen, Trinken, Glücksspiel und Frauen – nichts ließ er aus. Selbst den Betrieb des Spielsalons überließ er seiner Hauptfrau, während er sich ausschließlich dem Vergnügen widmete. Sie hieß Chen, stammte aus einer Kaufmannsfamilie und besaß von Natur aus Geschäftssinn. Sie führte den Spielsalon äußerst erfolgreich und war allgemein als die »ehrwürdige Dame Chen« bekannt.
Die »ehrwürdige Dame Chen« hatte ihre eigene Geschäftsphilosophie, der sie folgte: »Jede reiche Familie bringt ein paar verzogene Sprösslinge hervor«, erklärte sie. »Und selbst wenn alle männlichen Vertreter der Sippe fähige Leute wären, müssen doch ihre gelangweilten Frauen, Nebenfrauen und Töchter irgendwo ihre Zeit verbringen. Ich liefere ihnen den perfekten Ort dafür. Mah-Jongg spielen schließlich alle gern!«
Sie behielt recht. Im Spielsalon der Familie Huang wurde ausschließlich Mah-Jongg gespielt, er wurde zum Treffpunkt aller leidenschaftlichen Mah-Jongg-Spieler im Bezirk. Was den Ort ringsumher jedoch einzigartig machte, war die Tatsache, dass man dort auch Tee und Speisen bereitstellte. Zwar wurde der gesamte Süden des Landes immer wieder von Kriegswirren erschüttert, aber in diesem abseits gelegenen Städtchen gab es noch immer hinreichend viele Damen und Herren der besseren Gesellschaft, die über genügend Geld und Muße verfügten, um sich auf den Weg in den Spielsalon der Familie Huang zu machen.
In diesem Moment saß Hua Manyue2, die Tochter der Familie Hua, am Spieltisch. Ihr Gesicht war hochrot; euphorisch ins Spiel vertieft, hatte sie alles um sich herum vergessen. Das knallende Niedersetzen der Spielsteine auf dem Tisch und das klappernde Geräusch beim Mischen klangen in ihren Ohren wie das Knistern und Knacken brennenden Feuerholzes, das ihre innere Glut immer weiter entfachte.
Plötzlich glaubte sie eine Stimme zu hören. Sie stach wie ein Dorn in ihr Trommelfell und irritierte sie. Verärgert wedelte sie mit den Armen. »Stör mich nicht! Verschwinde!« Damit widmete sie sich wieder ihrer Partie.
Doch die Stimme wurde lauter, für sie geradezu ohrenbetäubend und zerrte an ihren Nerven. Wütend darüber, dass jemand es wagte, sie zu stören, drehte sie sich mit drohendem Blick um und erblickte Wang Vier, den Rikschakuli der Familie. Ohne zu zögern, schrie sie ihn an: »Bist du lebensmüde?«
»Der Herr und die gnädige Frau Mutter haben mich geschickt, Sie zu holen«, murmelte Wang Vier. »Ich warte schon lange hier. Wahrscheinlich sind sie jetzt alle bereits losgefahren. Der Herr hat gesagt, wenn Sie zu spät kommen, sollen Sie direkt zum Hafen gehen – am Nachmittag fährt noch ein Schiff in die Provinzhauptstadt.«
Ohne auf seine Worte zu achten, drehte sich Hua Manyue wieder weg und rief: »Es war ausgemacht, dass ich hundert Runden spielen darf! Wir sind noch nicht mal bei der Hälfte!«
Verzweifelt und ratlos stampfte Wang Vier mit dem Fuß auf. Schließlich fand er kein anderes Mittel, als sie leicht am Ärmel zu zupfen.
Das machte sie rasend vor Wut. Ohne sich umzudrehen, schlug sie ihm ins Gesicht und kreischte: »Wie kannst du es wagen, mich anzufassen? Bist du lebensmüde?«
Wang Vier hielt sich die schmerzende Backe und sagte: »Der Herr ist wütend geworden. Er hat gesagt, wenn ich Sie nicht zurückbringe, darf ich das Haus nie wieder betreten. Die Familie ist bestimmt schon fort, und wenn sie das Schiff verpasst, wird der Herr mich schimpfen.«
»Ob du ins Haus darfst oder nicht, geht mich nichts an. Wenn sie gehen wollen, dann sollen sie gehen. Ich jedenfalls gehe nicht«, antwortete Hua Manyue kalt.
Wang Vier sah sie ratlos an. Er stampfte erneut verzweifelt seufzend auf, doch Hua Manyue war vollkommen auf ihr Spiel konzentriert und schenkte ihm keinerlei Beachtung mehr. Resigniert schluckte Wang Vier ein paarmal, dann zog er sich einige Schritte zurück und kauerte sich in eine Ecke des Raums.
Am Spieltisch erhoben sich unterdessen Stimmen, die Hua Manyues Haltung lobten. Sie habe den Mut und die Entschlossenheit einer Heldin – Eigenschaften, die im Spiel unerlässlich seien. Selbst die ehrwürdige Dame Chen erklärte: »Der Spieltisch ist wie ein Schlachtfeld. Kein Wunder, dass Fräulein Hua immer gewinnt.«
Manyue strahlte. Zu Hause war ihr das Mah-Jongg-Spielen inzwischen verboten worden, und sie hatte mehrere Tage unter Hausarrest gestanden. Mit Geschrei, Schwüren bis hin zu der Drohung, sich das Leben zu nehmen, hatte sie schließlich dank der Unterstützung ihres jüngeren Bruders Hua Mantian erreicht, dass man sie freiließ. Die Bedingung ihrer Eltern hatte gelautet: Sie dürfe noch fünfzig Runden spielen, müsse aber danach für immer die Finger vom Mah-Jongg lassen.
Manyue fand diesen Handel äußerst unfair. Fünfzig Runden für ein ganzes Leben ohne Mah-Jongg? Der Preis war zu hoch. Sie protestierte weiter lautstark. Ihr Bruder Mantian half ihr erneut, und so wurde die Anzahl auf hundert Runden erhöht. Ihre Eltern stimmten zu, stellten jedoch eine noch härtere Bedingung: Sollte sie nach diesen hundert Runden nicht aufhören, würde die Familienstrafe vollzogen – man werde sie vor die Wahl stellen, ihr entweder die Hände abzuhacken oder sie aus der Familie zu verstoßen. Manyue war zu Tode erschrocken, doch um endlich wieder das Haus verlassen zu dürfen, gab sie nach. Sie schwor sogar unter Tränen, dass sie bereit sei, auf der Stelle zu sterben, anstatt auf diese Weise bestraft zu werden.
Der Gedanke, dass sie nach diesem Besuch des Spielsalons nie wieder dorthin zurückkehren würde, erfüllte sie mit Trauer und Wut. »Ich könnte es mir nie verzeihen, wenn ich die hundert Runden nicht voll ausnutze!«, dachte sie.
So saß sie den ganzen Tag und die ganze Nacht am Spieltisch und spielte ohne Unterbrechung. Sie war derart ins Spiel vertieft, dass sie nicht wusste, wie viel Zeit vergangen war oder ob jemand in der Zwischenzeit nach ihr gesucht hatte.
Plötzlich drang von draußen ohrenbetäubender Lärm ins Innere des Spielsalons. Zornentbrannt sprang Hua Manyue auf, schlug mit der Hand auf den Tisch und begann lauthals zu schimpfen. Sie hatte gerade eine besonders gute Hand.
Doch als sie schimpfend zur Eingangstür sah, bemerkte sie, dass etwas nicht stimmte. Hereingestürmt kam eine Gruppe von Männern, alle bewaffnet mit Gewehren und mit finster entschlossenem Gesichtsausdruck. Die Wucht, mit der sie auftraten, ließ alle im Raum vor Angst erstarren. Jemand sagte, es seien Soldaten der Befreiungsarmee. Hua Manyue war völlig verwirrt, sie hatte keine Ahnung, wer oder was die Befreiungsarmee war.
Auch ihre Mitspieler sprangen vor Schreck auf und brachten kein Wort hervor. Ihr Gegenüber am Spieltisch kroch sogar unter den Tisch.
Plötzlich schoss Manyue etwas durch den Kopf, und sie schrie: »Ich habe noch nicht zu Ende gespielt.«
Das stimmte, es fehlten ihr noch achtundzwanzig Runden.
Zwei Soldaten der Volksbefreiungsarmee traten mit eisernen Gesichtern auf sie zu und sagten: »Ihr seid jetzt befreit und spielt immer noch Mah-Jongg? Ab nach Hause!«
Die Gäste im Spielsalon stoben in wildem Durcheinander nach draußen. Manyue wollte etwas erwidern, aber angesichts der Gewehre in den Händen der Männer verließ sie der Mut, und sie folgte widerwillig den anderen. Vage erinnerte sie sich daran, dass der Kutscher Wang Vier nach ihr gesucht hatte. An der Tür stehend, blickte sie auf der Suche nach ihm und seiner Rikscha umher.
Die meisten Besucher des Spielsalons waren bereits verschwunden. Als sie Wang Vier nicht entdeckte, rief sie laut nach ihm.
Schließlich kam Wang Vier taumelnd auf sie zu. Ihre gute Hand war nutzlos geworden, die hundert Runden waren nicht zu Ende gespielt. Hua Manyue war außer sich vor Wut. Der Anblick von Wang Viers verschreckter Haltung ließ sie explodieren: »Wenn ich dich nicht brauche, schwirrst du wie eine Fliege um meinen Kopf herum. Wenn ich dich brauche, verkriechst du dich in ein Loch!«
»Die ganze Straße ist voller Soldaten!«, verteidigte sich Wang Vier.
Hua Manyue rollte mit den Augen, antwortete ihm nicht und sagte einfach: »Nach Hause!« Dann, als sie das Fehlen der Rikscha bemerkte, schrie sie: »Wo ist der Wagen?«
Eingeschüchtert antwortete Wang Vier: »Er wurde von den Soldaten beschlagnahmt, um Verwundete zu transportieren. Ich habe versucht, ihn zurückzubekommen, aber sie haben ihn mir nicht wiedergegeben.«
»Du bist ja wirklich großzügig!«, fauchte Hua Manyue wütend. »Bestimmst du über unseren Wagen? Ersetzt du ihn, wenn er weg ist? Papa ist ein Geizkragen, er wird dir das Fell über die Ohren ziehen. Mein großer Bruder hat eine harte Hand, er wird dich damit nicht davonkommen lassen!«
»Aber die Soldaten haben Gewehre, da kann man nichts tun«, stammelte Wang Vier.
Seine Antwort machte Hua Manyue noch wütender: »Das Beste wäre, sie verpassten dir eine Kugel!«
Ohne Rikscha war sie gezwungen, zu Fuß zu gehen. Nachdem sie mit viel Mühe die Erlaubnis erstritten hatte, das Haus zu verlassen, hatte sie keine Sekunde verlieren wollen, an den Spieltisch zurückzukehren, daher hatte sie keine Zeit darauf verschwendet, sich zurechtzumachen. Sie hatte achtlos eine alte geblümte Jacke übergestreift, an den Füßen trug sie zwar Schuhe mit hohen Absätzen, aber auch die waren alt und unansehnlich. Die Steinplatten, mit denen die Straße gepflastert war, waren willkürlich und unregelmäßig verlegt. Schon nach wenigen Schritten brach ein Absatz ihrer Schuhe ab. Sie blickte an sich hinunter, fand es jedoch zu anstrengend, ihn aufzuheben, und humpelte stolpernd in Richtung ihres Hauses.
Wang Vier folgte ihr, er dachte daran, sie zu stützen, zögerte jedoch, da es ihm unpassend schien. Leicht gekrümmt ging er zwei bis drei Schritte hinter ihr her. Als er den abgefallenen Absatz bemerkte, bückte er sich rasch, um ihn aufzuheben. Er fühlte sich schuldig, weil er nicht gut genug auf die Rikscha aufgepasst hatte, sodass das gnädige Fräulein nun diesen weiten Weg zu Fuß gehen musste. Er holte sie mit ein paar eiligen Schritten ein und sagte: »Der Soldat der Volksbefreiungsarmee war sehr höflich, er hat gesagt, dass er den Wagen nur kurz ausleihen muss und dass ich ihn abends im Krankenhaus abholen soll.«
Hua Manyue beachtete ihn nicht.
Tatsächlich kamen ihnen aus allen Richtungen Soldaten entgegen. In ihren von Staub bedeckten Gesichtern stand jedoch zumeist ein Lächeln. Manyue war anfangs nervös, aber nach einigen Begegnungen merkte sie, dass die Soldaten sie nur von der Seite und ohne böse Absicht ansahen, und entspannte sich.
Das Anwesen ihrer Familie befand sich im Norden der Stadt. Auf dem Weg vom Spielsalon im Süden bis nach Hause musste sie fast die ganze Kreisstadt durchqueren. Sie war nicht groß, eine Rikschafahrt dauerte nur etwa zehn Minuten, aber zu Fuß brauchte man mindestens eine halbe Stunde. Als sie den Spielsalon verließen, war es bereits Nachmittag, und als sie das Haus ihrer Familie erreichten, hatte sich der Himmel verdunkelt. Hua Manyue, die den ganzen Tag, ohne richtig zu essen oder sich auszuruhen, am Spieltisch gesessen hatte, fühlte sich nahezu am Ende ihrer Kräfte.
Etwa zehn Meter vom Eingang zum Haus entfernt bemerkte Wang Vier plötzlich einen Wachsoldaten am Tor und sagte hinter Hua Manyues Rücken: »Warum stehen Soldaten der Volksbefreiungsarmee vor dem Haustor?«
Stolzgeschwellt erwiderte Hua Manyue: »Wie nennt man meinen Vater? Den Herrn Hua Ohnefeind! Und meinen Bruder? Hua den Tyrannen! Wenn ein neuer Beamter in die Stadt kommt, muss er zuerst unserer Familie seine Aufwartung machen, nicht wahr? Erst nachdem er uns besucht hat, darf er sich in den Yamen3 begeben, das ist die Regel!«
Wang Vier kannte diese Regel natürlich. Fast alle hochrangigen Persönlichkeiten der Stadt waren ihm im Haus der Familie Hua begegnet. Hua Daoguang, der Hausherr, galt als klug und umsichtig und trug den Beinamen »Ohnefeind«, sein Sohn, Hua Manjiang, war stark und ungestüm und wurde »der Tyrann« genannt. Diese Bezeichnungen waren nicht unbegründet. Das Geschäft der Familie nahm fast die halbe Straße ein, und die Straße selbst hieß »Halbe Hua-Straße«.
Aber nun wurde Hua Manyue, der erstgeborenen Tochter der Familie Hua, von einem mit Gewehr bewaffneten Soldaten der Zutritt zum eigenen Haus verwehrt. Der Soldat musterte sie mit strengem Blick und sagte: »Wer bist du? Zutritt verboten.«
Verblüfft fragte Manyue: »Wer bist du denn? Du stehst vor meiner Haustür und fragst, wer ich bin? Ich bin Hua Manyue, die Tochter des Herrn dieses Hauses, und will nach Hause.«
»In der neuen Gesellschaft gibt es keine Herren mehr«, erwiderte der Soldat. »Diese Familie ist komplett geflohen, und das leer stehende Haus wurde von uns beschlagnahmt. Jetzt befindet sich hier die provisorische Sicherheitsabteilung der Kreisregierung. Bitte verlasse sofort das Gelände.«
Voller Empörung rief Hua Manyue »Und wo soll ich wohnen? Mit welchem Recht nehmt ihr uns unser Haus weg?«
Der Soldat verzog keine Miene und fragte zurück: »Was heißt hier wegnehmen? Hast du Beweise, dass dieses Haus dir gehört? Weißt du überhaupt, welche Leute hier gewohnt haben?«
Hua Manyue deutete auf Wang Vier: »Das ist Wang Vier, unser Kutscher. Er kann es bezeugen – das hier ist das Haus der Familie Hua.«
Während sie sprach, kam ein Mann aus dem Haus. Manyue erkannte ihn auf der Stelle: Es war A Gui, ihr Koch. Aufgeregt rief sie: »A Gui, du kommst gerade rechtzeitig! Herr Soldat, sehen Sie, das ist unser Koch, er kann es bezeugen. A Gui, sag ihm, dass das unser Haus ist. Ich will nach Hause!«
Der Soldat musterte A Gui mit einem verwirrten und zugleich argwöhnischen Blick.
Das plötzliche Erscheinen des gnädigen Fräuleins brachte A Gui zunächst außer Fassung, auf seinem Gesicht machte sich Furcht breit. Er spürte die erwartungsvoll auf sich gerichteten Blicke des Soldaten und Manyues und zögerte einen Augenblick, als bereite er sich auf einen harten und grausamen Entschluss vor.
Hua Manyue vollständig ignorierend, trat er auf den Soldaten zu und sagte: »Jeder in der Stadt weiß, dass die gesamte Familie Hua geflohen ist, es gibt hier kein gnädiges Fräulein mehr. Dieser Mann hier, Wang Vier, war tatsächlich der Kutscher der Familie. Aber … diese Frau ist seine Geliebte. Sie haben es schon seit längerem darauf abgesehen, das Haus der Familie Hua an sich zu nehmen, sobald die Besitzer verschwunden sind. Ich weiß davon schon seit einer Weile.«
Hua Manyue trafen seine Worte wie ein Faustschlag, dann explodierte sie. Mit einem lauten »Pfui!« spuckte sie A Gui an, der Speichel landete auf dessen Hosenbein, bevor er ausweichen konnte. A Gui sprang in die Höhe und schrie in Richtung des Soldaten: »Sehen Sie sich das an! Benimmt sich so eine Tochter aus gutem Hause? Das junge Fräulein der Familie Hua war sanftmütig und tugendhaft – niemals würde sie sich so … ordinär benehmen!«
Wang Vier schlotterten bereits die Knie vor Angst, A Guis Worte machten ihn vollends fassungslos. Er konnte sich nicht erklären, wie der Koch solch eine Lügengeschichte erfinden konnte. Sprachlos und völlig überfordert, wie er war, kam es ihm nicht in den Sinn zu widersprechen. Hua Manyue hingegen tobte und schrie, sie wollte sich sogar auf A Gui stürzen, um ihn zu schlagen. Der suchte Schutz hinter dem Rücken des Soldaten.
In diesem Moment trat ein großer, sehr imposanter Mann durch das Tor. Er strahlte Autorität aus und sagte in scharfem Ton zu dem Soldaten: »Was ist das hier für ein Lärm? Wir haben eine Besprechung. Schaff diese Leute sofort weg!«
Der Soldat hob seine Waffe und machte Anstalten, sie fortzujagen. Dabei brüllte er: »Verschwindet! Sofort! Los, verschwindet! Meine Kugeln kennen kein Erbarmen!«
A Gui hatte offenkundig panische Angst vor dem großen Mann. Er zitterte mit einem Mal wie Espenlaub.
Er zwinkerte Wang Vier zu und deutete mit dem Mund in eine bestimmte Richtung. Wang Vier schien die Andeutung zu verstehen, er zog Hua Manyue, die weiter streiten wollte, kurzerhand am Arm weg und zerrte sie bis zur Straßenecke auf der gegenüberliegenden Straßenseite.
Zähneknirschend vor Wut stieß sie hervor: »Kann ich nicht einmal mehr in mein eigenes Haus zurück? Wohin sind meine Leute gegangen? Ist wirklich niemand mehr zu Hause?«
Mit bedrückter Miene antwortete Wang Vier: »Gnädiges Fräulein, während Sie beim Mah-Jongg-Spielen waren, sind der Herr, die gnädige Frau und die jungen Herren gemeinsam fortgegangen. Sie haben einige Diener mitgenommen, die anderen sind nach Hause zurückgekehrt. Der Herr hat mir aufgetragen, Sie zu finden und direkt zum Hafen am Fluss zu bringen.«
»Warum hast du mir das nicht früher gesagt?«
»Ich habe es Ihnen gesagt, aber Sie saßen am Spieltisch und wollten nicht hören.« Er rieb sich beim Sprechen die Backe.
Sie erinnerte sich plötzlich an die Ohrfeige, die sie Wang Vier gegeben hatte. Ein kleiner Anflug von Reue überkam sie. Es war ihr nur um das Spiel gegangen. Wie konnten daraus nur solche Folgen entstehen?, dachte sie bei sich.
Mittlerweile war es vollständig dunkel geworden, und es gab für Hua Manyue keinen Ort, an den sie hätte flüchten können. Daher führte Wang Vier sie an diesem Abend zu sich nach Hause.
Die Wohnung von Wang Vier befand sich in einer engen Gasse am Fuß der Stadtmauer. Sie hatte jedoch einen eleganten, wohlklingenden Namen: Westmondgasse. Den habe ihr der Großvater Hua vor vielen Jahren gegeben, erklärte Wang Vier. Ihm habe missfallen, dass in seinem Haus mehr Bedienstete als Familienangehörige lebten, daher hatte er hier eine Reihe von Holzbaracken bauen lassen. Nach der Fertigstellung sei er zur Besichtigung gekommen, es war kurz vor Einbruch der Nacht gewesen, am westlichen Himmel habe durch die Wolken eine blasse Mondsichel geschienen. Hier entsteht früher oder später eine Straße, habe der Großvater gesagt, wir taufen sie Westmondgasse.
Die Baracke der Familie Wang Vier war winzig, sie bestand nur aus einem einzigen Raum. In einer Zimmerecke führte eine schmale Treppe zu einem niedrigen Dachboden. Wang Vier lebte mit seiner betagten Mutter zusammen. Die Mutter bewohnte das Zimmer, während Wang Vier auf dem Dachboden schlief.
Die Mutter war hocherfreut, als sie erfuhr, dass es sich bei der von ihrem Sohn ins Haus gebrachten jungen Dame um das gnädige Fräulein der Familie Hua handelte. Sie lachte vor Begeisterung, dass ihr fast die Kinnlade herunterfiel, sie überschüttete Hua Manyue mit Schmeicheleien und bereitete ihr sogar eigens ein Spiegelei zu. Mutter und Sohn waren arm, in ihrem Haus gab es wenig Essbares.
Auch A Guis Familie wohnte im Viertel der Westmondgasse, allerdings am anderen Ende. Um von A Guis Haus zum Haus von Wang Vier zu gelangen, musste man enge und verwinkelte Wege passieren, so chaotisch und verschlungen, dass man dafür mehr als zehn Minuten benötigte.
Wang Vier war tief beunruhigt und überlegte die ganze Zeit, ob er nicht direkt zu A Gui gehen und ihn fragen sollte, warum er solchen Unsinn erzählt hatte. Er hatte keine Angst davor, ihn zur Rede zu stellen – schließlich waren sie beide Diener, und im schlimmsten Fall würden sie einfach ihren Kontakt zueinander abbrechen. Dass A Gui nicht davor zurückgeschreckt war, das gnädige Fräulein zu beleidigen, war für Wang Vier unbegreiflich. Spielte er nicht mit seinem Leben? Wenn der gnädige Herr zurückkam und von der Sache erfuhr, würde er A Gui ganz sicher totprügeln! Sogar er selbst konnte deshalb in Schwierigkeiten geraten.
Wang Vier bewunderte A Gui seit jeher. A Gui war früher Chefkoch im Restaurant »Zum Goldenen Überfluss« in der Stadt gewesen. Der alte Hua hatte besonders ein Gericht des Restaurants geschätzt: rot geschmorten Fisch. Er erklärte, dieses Gericht gäbe es zwar in vielen Restaurants, aber keines reiche geschmacklich an das im »Goldenen Überfluss« heran. Eines Tages hatte er seine alte Mutter dorthin geführt, und auch sie war begeistert gewesen. Daraufhin hatte der alte Hua den Koch mit einem hohen Lohnangebot in seinen Haushalt gelockt.
Dank seiner außergewöhnlichen Kochkünste und seines geölten Mundwerks war A Gui im Hause Hua bald allgemein beliebt. Später heiratete er und gründete eine Familie. Da die Familie Hua ihn sehr schätzte, bekam A Gui ein Haus im Viertel der Westmondgasse zugeteilt, das deutlich größer war als das von Wang Vier. Ursprünglich war es die Unterkunft des Verwalters der Ölmühle gewesen, die sich im Besitz der Familie Hua befand, aber nachdem dieser in ein neues Haus im Stadtzentrum gezogen war, wurde A Gui dort einquartiert. A Gui erwähnte oft, dass er seinen gegenwärtigen Erfolg der Wertschätzung des alten Herrn Hua verdanke. Wie also konnte er es wagen, das gnädige Fräulein so zu beleidigen? Je länger Wang Vier darüber nachdachte, desto mehr trieb ihn diese Frage um.
In diesem Moment, noch bevor die Familie Wang ihr Abendessen beendet hatte, erschien überraschend A Gui, eine Platte mit geschmortem Fleisch in den Händen, an ihrer Tür. Hua Manyue schleuderte ihm wütende Blicke entgegen, als sie ihn da stehen sah. A Gui schlich sich unterwürfig über die Türschwelle und schielte dabei immer wieder in ihre Richtung.